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Leseprobe. Lucinda Riley Die Mondschwester Roman - Die sieben Schwestern 5. Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

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Leseprobe

Lucinda Riley

Die Mondschwester Roman - Die sieben Schwestern 5

Bestellen Sie mit einem Klick für 10,99 €

Seiten: 768

Erscheinungstermin: 16. März 2020

Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

www.penguinrandomhouse.de

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Inhalte

 Buch lesen

 Mehr zum Autor

Zum Buch

Die große Saga von Bestsellerautorin Lucinda Riley.

Tiggy d’Aplièse ist wie ihre Schwestern ein Adoptivkind und kennt ihre Herkunft nicht. Als ihr Vater Pa Salt stirbt, hinterlässt er ihr einen Brief, in dem er sie auffordert, nach Granada zu reisen, zu den sieben Hügeln von Sacromonte vor den Toren der Stadt. Tiggy taucht ein in die üppige und exotische Schönheit Spaniens und stößt dabei auf die unglaubliche

Geschichte ihrer Großmutter Lucía – einer schillernden Persönlichkeit, die im vergangenen Jahrhundert die berühmteste Flamenco-Tänzerin ihrer Zeit gewesen ist. Zum ersten Mal versteht Tiggy, welch reiches Erbe sie in sich trägt – und dass sie bereit ist, in ein neues Leben aufzubrechen.

Der fünfte Band aus der Bestseller-Serie um die sieben Schwestern.

Autor

Lucinda Riley

Lucinda Riley wurde in Irland geboren und

verbrachte als Kind mehrere Jahre in Fernost. Sie liebte es zu reisen und war nach wie vor den Orten ihrer Kindheit sehr verbunden. Nach einer Karriere als Theater- und Fernsehschauspielerin konzentrierte sich Lucinda Riley ganz auf das Schreiben – und das mit sensationellem Erfolg: Seit ihrem gefeierten Roman »Das Orchideenhaus« stand jedes ihrer Bücher an der Spitze der internationalen

Bestsellerlisten. Lucinda Riley lebte mit ihrem Mann

und ihren vier Kindern im englischen Norfolk und in

West Cork, Irland. Sie verstarb im Juni 2021.

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Buch

Tiggy d’Aplièse hat sich schon als Kind mit Hingabe um kran­

ke Tiere gekümmert. Auch jetzt, als junge Zoologin, ist die Be­

schäftigung mit Tieren ihre Erfüllung. Als sie das Angebot erhält, auf einem weitläufigen Anwesen in den schottischen Highlands Wildkatzen zu betreuen, zögert sie nicht lange. Dort trifft sie auf Chilly, einen weisen, alten Zigeuner aus Andalusien. Es ist eine schicksalshafte Begegnung, denn er hilft Tiggy, die ein Adoptiv­

kind ist, das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften. Sie reist nach Granada, wo sie dem ebenso glamourösen wie dramatischen Lebensweg ihrer Großmutter Lucía folgt, der berühmtesten Flamenco­Tänzerin ihrer Zeit. Und Tiggy versteht endlich, welch großes Geschenk ihr zur Stunde ihrer Geburt zuteil wurde … Weitere Informationen zu lieferbaren Titeln der Autorin finden

Sie am Ende des Buches.

Lucinda Riley Die Mondschwester

Der fünfte Band der

»Sieben­Schwestern­Serie«

Roman

Deutsch von Sonja Hauser

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Lucinda Riley Die Mondschwester

Der fünfte Band der

»Sieben­Schwestern­Serie«

Roman

Deutsch von Sonja Hauser

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Für Jacquelyn, Freundin, Gefährtin und Schwester in einem anderen Leben

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Sei selbst die Veränderung, die du in der Welt zu sehen wünschst.

Mahatma Gandhi

♌ ♍

♓ ♒

Capricorn

Taurus

Gemini

Cancer Leo

Virgo Libra

Scorpio Sagittarius Pisces

Aries

Aquarius

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Personen

»Atlantis«

Pa Salt Adoptivvater der Schwestern (verstorben) Marina (Ma) Mutterersatz der Schwestern

Claudia Haushälterin von »Atlantis«

Georg Hoffman Pa Salts Anwalt Christian Skipper

Die Schwestern d’Aplièse Maia

Ally (Alkyone) Star (Asterope) CeCe (Celaeno) Tiggy (Taygeta) Elektra

Merope (fehlt)

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I

»Nie werde ich vergessen, wo ich war und was ich tat, als ich hör­

te, dass mein Vater gestorben war.«

»Ich weiß auch noch genau, wo ich war, als der meine starb.«

Charlie Kinnaird musterte mich mit einem intensiven Blick seiner blauen Augen.

»Und, wo waren Sie?«

»In Margarets Wildtierschutzgebiet. Ich habe Rotwildkot ge­

schippt. Natürlich hätte ich mir eine passendere Umgebung ge­

wünscht, aber so war’s nun mal. Letztlich ist es auch okay. Ob­

wohl …« Ich schluckte und fragte mich, wie um Himmels willen wir in diesem Bewerbungsgespräch auf Pa Salts Tod gekommen waren. Schon als Dr. Charlie Kinnaird die stickige Krankenhaus­

kantine betreten hatte, war mir aufgefallen, dass sich die Augen aller auf ihn richteten. Mit seiner schlanken, eleganten Figur, den welligen dunkelbraun­rötlichen Haaren und dem grauen Anzug wirkte er nicht nur attraktiv, sondern besaß natürliche Autorität.

Einige der Klinikangestellten hatten ihm respektvoll zugenickt.

Als er mir zur Begrüßung die Hand hinstreckte, hatte so etwas wie ein kurzer Stromschlag meinen Körper durchzuckt. Nun, da Charlie Kinnaird mir gegenübersaß, beobachtete ich, wie seine langen Finger nervös mit einem Pager herumspielten.

»›Obwohl‹ was, Miss d’Aplièse?«, hakte Charlie in leicht schot­

tischem Tonfall nach.

»Ähm … ich bin mir nicht sicher, ob Pa wirklich tot ist. Er muss tot sein, denn er ist verschwunden und würde seinen

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Tod bestimmt nicht vorspielen – schließlich wüsste er, wie viel Schmerz er seinen Mädchen damit zufügen würde –, aber ich habe das Gefühl, dass er ständig in meiner Nähe ist.«

»Eine völlig normale Reaktion«, erklärte Charlie. »In Gesprä­

chen mit Hinterbliebenen höre ich immer wieder, dass sie die Anwesenheit geliebter Menschen auch nach deren Tod noch spü­

ren.«

Er als Arzt musste es wissen, denn er hatte beruflich häufig mit dem Tod und trauernden Angehörigen zu tun.

»Merkwürdig«, meinte er seufzend, nahm den Pager von der Kunstharzoberfläche des Tischs und drehte ihn zwischen den Fingern. »Wie ich gerade erwähnt habe, ist auch mein Vater vor Kurzem gestorben, und ich werde von Albträumen geplagt, dass er aus dem Grab heraussteigt!«

»Sie standen einander also nicht nahe?«

»Nein. Er war mein biologischer Vater, doch da endet unsere Beziehung auch schon. Sonst hatten wir keine Gemeinsamkeiten.

Bei Ihnen ist das offenbar anders.«

»Ja, obwohl meine Schwestern und ich als Babys von ihm ad­

optiert wurden und wir folglich nicht blutsverwandt mit ihm sind. Trotzdem habe ich ihn sehr geliebt. Er war ein erstaunlicher Mensch.«

»Was nur beweist, dass die Biologie im Verhältnis zu unseren Eltern nicht die Hauptrolle spielt. Es ist so etwas wie eine Lotte­

rie, nicht wahr?«

»Das glaube ich nicht«, widersprach ich. »Meiner Ansicht nach finden wir einander aus einem bestimmten Grund, egal, ob blutsverwandt oder nicht.«

»Sie denken also, alles ist vorherbestimmt?« Er hob spöttisch eine Augenbraue.

»Ja, doch ich weiß, dass die meisten Menschen mir da nicht beipflichten würden.«

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»Ich leider auch nicht. Als Kardiologe beschäftige ich mich tagtäglich mit dem menschlichen Herzen, das angeblich der Sitz der Gefühle und der Seele ist. Ich muss es als großen Muskel be­

trachten, der oft nicht richtig funktioniert. Man hat mir beige­

bracht, die Welt rein wissenschaftlich zu sehen.«

»Ich glaube, auch in der Wissenschaft ist Raum für Spirituali­

tät«, entgegnete ich. »Es gibt so viele Dinge, für die die Wissen­

schaft keine Erklärung hat.«

»Sie haben recht, aber …« Charlie warf einen Blick auf sei­

ne Uhr. »Irgendwie sind wir vom Thema abgekommen, und ich muss in fünfzehn Minuten auf Station sein. Entschuldigen Sie, wenn ich mich wieder unserem eigentlichen Thema zuwende.

Was hat Margaret Ihnen über das Kinnaird­Anwesen gesagt?«

»Dass es sich um eine sechzehntausend Hektar große Wildnis handelt und Sie jemanden brauchen, der sich mit einheimischen Tieren, zum Beispiel Wildkatzen, auskennt und wie man sie dort ansiedeln kann.«

»Genau. Nach dem Tod meines Vaters geht das Kinnaird­

Anwesen nun auf mich über. Dad hat es jahrelang als seinen persönlichen Spielplatz missbraucht, gejagt und geangelt und die örtlichen Destillerien leer getrunken, ohne einen Gedanken an das ökologische Gleichgewicht zu verschwenden. Der Fair­

ness halber muss ich erwähnen, dass nicht nur er so vorgegan­

gen ist – sein Vater und dessen männliche Vorfahren haben im vergangenen Jahrhundert tatenlos zugesehen, wie riesige mit schottischen Kiefern bewachsene Flächen für den Schiffsbau gerodet wurden. Damals wusste man es nicht besser. Natürlich kann man die Uhr nicht zurückdrehen, aber ich möchte einen Anfang machen. Der beste Verwalter der Highlands beginnt für mich mit der Wiederaufforstung. Und wir haben die Jagdhütte, in der Dad wohnte, auf Vordermann gebracht. So können wir sie an zahlende Gäste vermieten, die sich die frische Luft der

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Highlands um die Nase wehen lassen und sich am kontrollier­

ten Abschuss beteiligen wollen.«

»Aha.«

»Sie scheinen nicht viel vom kontrollierten Abschuss zu hal­

ten.«

»Ich bin gegen jegliche Tötung von Tieren. Aber mir ist klar, dass es nicht anders geht«, fügte ich hastig hinzu. Schließlich be­

warb ich mich um eine Stelle auf einem Anwesen in den High­

lands, wo der organisierte Abschuss von überzähligem Rotwild gesetzlich vorgeschrieben war.

»Der Mensch hat das Gleichgewicht der Natur in Schottland durcheinandergebracht. Hier gibt es keine natürlichen Feinde wie Wölfe oder Bären, die die Rotwildpopulation in Schach hal­

ten. Deswegen müssen wir das übernehmen. Immerhin können wir es so human wie möglich tun.«

»Ich muss gestehen, dass ich nicht in der Lage wäre, beim Ab­

schuss zu helfen. Ich bin es gewöhnt, Tiere zu schützen, nicht, sie zu töten.«

»Das kann ich nachvollziehen. Ihr Lebenslauf ist beeindru­

ckend. Sie haben nicht nur einen ausgezeichneten Abschluss in Zoologie, sondern sind auch auf Umweltschutz spezialisiert?«

»Ja. Die theoretische Seite meiner Ausbildung – Anatomie, Biologie, Genetik, Verhaltensmuster einheimischer Tiere und so weiter – kommt mir dabei zugute. Ich habe eine Weile in der Forschungsabteilung des Zoo de Servion gearbeitet, jedoch sehr schnell gemerkt, dass es mir wichtiger ist, Tieren zu helfen, als sie aus der Ferne zu beobachten und ihre DNA zu analysieren.

Ich liebe Tiere, und obwohl ich keine Veterinärsausbildung habe, scheine ich ihnen, wenn sie krank sind, helfen zu können.« Ich zuckte verlegen die Achseln.

»Margaret hat Sie sehr gelobt und mir erzählt, Sie hätten sich um die Wildkatzen in ihrem Schutzgebiet gekümmert.«

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»Ja, ich habe das Tagesgeschäft erledigt, aber die Expertin ist letztlich Margaret. Wir hatten gehofft, dass die Katzen sich diese Saison im Rahmen des Auswilderungsprogramms paaren, doch jetzt wird das Schutzgebiet geschlossen, und die Tiere müssen umgesiedelt werden, weswegen das vermutlich nicht geschieht.

Wildkatzen haben ihren eigenen Kopf.«

»Das sagt mein Verwalter Cal auch. Er ist nicht sonderlich glücklich darüber, dass ich die Katzen übernehmen will, aber weil Schottland ihr natürlicher Lebensraum ist und sie extrem selten sind, empfinde ich es als unsere Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Art zu erhalten. Und Margaret meint, wenn überhaupt jemand in der Lage ist, die Katzen an ihre neue Umgebung zu gewöhnen, dann Sie. Hätten Sie also Lust, mit ih­

nen herzukommen?«

»Ja, doch es wäre kein Fulltime­Job, mich um sie zu kümmern.

Könnte ich mich sonst noch irgendwie nützlich machen?«

»Bisher hatte ich keine Zeit, über detaillierte Zukunftspläne für das Anwesen nachzudenken. Mit meiner Arbeit in der Kli­

nik und der Regelung des Nachlasses bin ich momentan voll be­

schäftigt. Aber ich würde mich freuen, wenn Sie sich das Terrain ansehen und seine Tauglichkeit für andere einheimische Arten beurteilen könnten. Ich spiele mit dem Gedanken, rote Eich­

hörnchen und Schneehasen dort anzusiedeln. Außerdem prü­

fe ich gerade die Eignung von Wildschweinen und Elchen und möchte die Wildlachsbestände in den Bächen und Lochs aufsto­

cken sowie Lachstreppen errichten, um sie zum Laichen zu ani­

mieren. Mit ausreichenden Investitionen eröffnen sich zahlrei­

che Möglichkeiten.«

»Klingt interessant. Allerdings muss ich Sie warnen: Mit Fi­

schen kenne ich mich nicht so gut aus.«

»Kein Problem. Und ich muss Sie warnen, dass ich Ihnen nur ein eher geringes Gehalt sowie Kost und Logis bieten kann. So­

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sehr ich Kinnaird liebe: Es entpuppt sich immer mehr als zeitin­

tensives und komplexes Projekt.«

»Ihnen war doch sicher klar, dass Sie das Anwesen eines Tages erben würden, oder?«, meinte ich.

»Ja, aber ich dachte, Dad wird steinalt. Er hat sich nicht ein­

mal die Mühe gemacht, ein Testament aufzusetzen. Obwohl ich Alleinerbe bin und das Ganze reine Formsache ist, muss ich jede Menge Papierkram bewältigen, und das hasse ich. Bis Januar dürfte endlich alles geregelt sein, meint mein Anwalt.«

»Wie ist er gestorben?«, erkundigte ich mich.

»Ironie des Schicksals: Er hatte einen Herzinfarkt und wur­

de mit dem Hubschrauber hierher zu mir ins Krankenhaus ge­

bracht.« Charlie seufzte. »Allerdings war nichts mehr zu machen, die Engel hatten ihn bereits auf einer Whiskywolke gen Himmel getragen, hat die Obduktion ergeben.«

»Das muss hart für Sie gewesen sein.«

»Es war ein Schock, ja.«

Ich beobachtete, wie seine Finger sich erneut um den Pager schlossen.

»Könnten Sie das Anwesen denn nicht verkaufen, wenn Sie es nicht wollen?«

»Nach dreihundert Jahren Kinnairds?« Er verdrehte belustigt die Augen. »Dann würden sämtliche Familiengeister mich bis ans Lebensende verfolgen! Für meine Tochter Zara muss ich es wenigstens versuchen. Sie liebt das Anwesen. Zara ist sechzehn.

Wenn ich sie ließe, würde sie gleich morgen die Schule schmei­

ßen und in Kinnaird arbeiten. Aber ich habe ihr gesagt, sie muss zuerst ihren Abschluss machen.«

Ich sah Charlie erstaunt an. Der Mann wirkte nicht so alt, als könnte er schon eine sechzehnjährige Tochter haben.

»Später wird sie eine gute Herrin für Kinnaird abgeben«, fuhr Charlie fort. »Doch zuerst soll sie ein paar Jahre unbelastet leben,

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studieren und reisen und am Ende sicher sein, dass sie sich wirk­

lich für den Familienbesitz engagieren will.«

»Ich wusste bereits mit vier Jahren, was ich machen woll­

te. Damals habe ich eine Dokumentation darüber gesehen, wie Elefanten des Elfenbeins wegen getötet werden. Nach der Schu­

le habe ich mir kein freies Jahr gegönnt, sondern bin gleich auf die Uni gegangen. Ich kenne nicht viel von der Welt«, gestand ich achselzuckend. »Meiner Ansicht nach lernt man am meis­

ten durch die Arbeit.«

»Zaras Worte.« Charlie verzog den Mund zu einem Lächeln.

»Bestimmt werden Sie beide sich gut verstehen. Eigentlich sollte ich den Job hier aufgeben und mich ganz auf Kinnaird konzen­

trieren, bis Zara übernehmen kann. Aber solange das Anwesen finanziell nicht besser dasteht, wäre das nicht sinnvoll. Und offen gestanden weiß ich auch nicht, ob ich für das Leben als Laird ge­

schaffen bin.« Er sah noch einmal auf seine Uhr. »Ich muss mich auf den Weg machen. Wenn die Sache Sie interessiert, sollten Sie nach Kinnaird kommen und es sich selbst anschauen. Dort oben hat’s noch nicht geschneit, doch lange dürfte es nicht mehr dau­

ern. Es ist ziemlich abgelegen.«

»Margarets Cottage ist ebenfalls weit vom Schuss«, erinner­

te ich ihn.

»Verglichen mit Kinnaird ist Margarets Cottage der Times Square«, erwiderte Charlie. »Ich gebe Ihnen die Nummer von meinem Verwalter Cal MacKenzie und die Festnetzverbindung der Lodge. Wenn Sie eine Nachricht auf beiden hinterlassen, be­

kommt er sie auf jeden Fall und ruft Sie zurück.«

»Okay. Ich …«

Charlies Pager piepste.

»Ich muss jetzt wirklich los.« Er stand auf. »Schreiben Sie mir doch eine Mail, falls Sie noch Fragen haben. Und wenn Sie mir mitteilen, wann Sie nach Kinnaird kommen wollen, versuche ich,

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zu der Zeit dort zu sein. Bitte machen Sie sich ernsthaft Gedan­

ken über mein Angebot. Ich brauche Sie wirklich. Danke für das Gespräch, Tiggy. Tschüs.«

»Tschüs.« Als ich ihm nachsah, wie er sich zwischen den Ti­

schen hindurch Richtung Ausgang bewegte, war ich auf merk­

würdige Weise euphorisch, weil ich den Eindruck hatte, dass eine echte Verbindung zwischen uns bestand. Charlie erschien mir ir­

gendwie vertraut, als würde ich ihn schon ewig kennen. Und da ich an Wiedergeburt glaube, ging ich davon aus, dass dem tat­

sächlich so war. Ich schloss kurz die Augen und versuchte, mich auf meine Gefühle ihm gegenüber zu konzentrieren. Das Ergeb­

nis schockierte mich: Ich reagierte auf Charlie nicht wie auf ei­

nen potenziellen väterlichen Arbeitgeber, sondern mit meinem Körper.

Nein! Ich öffnete die Augen und stand auf. Er hat eine Tochter im Teenageralter, was bedeutet, dass er viel älter ist, als er aussieht, und vermutlich verheiratet, ermahnte ich mich, als ich den hell erleuchteten Krankenhausflur entlang und hinaus in den nebli­

gen Novembernachmittag ging. Die Dämmerung brach bereits herein über Inverness, obwohl es erst kurz nach drei Uhr war.

Als ich an der Haltestelle auf den Bus wartete, der mich zum Bahnhof bringen würde, zitterte ich – ob vor Kälte oder Aufre­

gung, wusste ich nicht. Mir war lediglich klar, dass die Arbeit in Kinnaird mich interessierte, auch wenn sie nur vorübergehend wäre. Also kramte ich die Nummer von Cal MacKenzie hervor, die Charlie mir gegeben hatte, nahm das Handy und wählte sie.

* * *

»Und«, fragte Margaret, als wir es uns wie jeden Abend mit ei­

ner Tasse Kakao vor dem Kamin gemütlich machten. »Wie ist es gelaufen?«

»Am Donnerstag schaue ich mir das Kinnaird­Anwesen an.«

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»Gut.« Margarets Augen leuchteten blau in ihrem faltigen Ge­

sicht. »Wie findest du den Laird oder Lord, wie die Engländer sagen würden?«

»Er war sehr … nett. Ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte«, fügte ich hinzu und hoffte, dass ich nicht rot wurde. »Ich hatte einen deutlich älteren Mann erwartet, glatzköpfig und mit dickem Bauch vom vielen Whisky.«

»Aye.« Sie lachte. »Er sieht nicht schlecht aus, was? Ich kenn Charlie seit seiner Kindheit. Mein Vater hat auf dem Kinnaird­

Anwesen für seinen Opa gearbeitet. Charlie war ein reizender junger Mann. Wir wussten alle, dass er einen Riesenfehler macht, als er diese Frau geheiratet hat. Er war so unerfahren.« Margaret verdrehte die Augen. »Aber ihre Tochter Zara ist ein prima Mä­

del, wenn auch ein bisschen wild. Sie hatte nicht grade die leich­

teste Kindheit. Was hat Charlie sonst noch gesagt?«

»Ich soll mich nicht nur um die Wildkatzen kümmern, son­

dern obendrein prüfen, welche einheimischen Tierarten man auf dem Anwesen ansiedeln kann. Sonderlich strukturiert wirkt das alles nicht. Schätze, es wäre ein zeitlich begrenzter Job, nur so lange, bis die Katzen sich eingewöhnt haben.«

»Egal. Durch das Leben und die Arbeit auf dem Anwesen wür­

dest du eine Menge lernen und vielleicht endlich begreifen, dass du nicht alle hilflosen Tiere retten kannst. Und auch nicht alle Menschen«, meinte sie mit einem spöttischen Lächeln. »Jedes Lebewesen hat sein eigenes Schicksal. Mehr als bemühen kannst du dich nicht.«

»Den Anblick eines leidenden Tieres werde ich nie ertragen können, Margaret, das weißt du.«

»Ja, und genau das macht dich so besonders. In deinem klei­

nen Körper schlägt ein großes Herz, aber mute ihm nicht zu vie­

le Gefühle zu.«

»Wie ist denn dieser Cal MacKenzie?«

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»Er wirkt grob, aber eigentlich ist er sanft wie ein Lamm und geht ganz in der Arbeit für das Anwesen auf. Du kannst viel von ihm lernen. Und was würdest du denn machen, wenn du die Stelle nicht nimmst? Du weißt, dass die Tiere und ich bis Weih­

nachten hier weg sind.«

Ihrer schweren Arthritis wegen zog Margaret nach Tain, das fünfundvierzig Autominuten von dem feuchten, heruntergekom­

menen Cottage entfernt lag, in dem wir gerade saßen. Margaret hatte die letzten vierzig Jahre mit ihrem bunten Haufen Schutz­

befohlener auf dem acht Hektar großen, hügeligen Grund am Dornoch Firth gelebt.

»Bist du denn nicht traurig wegzugehen?«, fragte ich sie. »Ich an deiner Stelle würde die ganze Zeit heulen.«

»Natürlich, Tiggy, aber ich hab dir doch beizubringen ver­

sucht, dass alle guten Dinge mal ein Ende haben. Und so Gott will, beginnen dann neue, bessere. Es hat keinen Sinn, der Ver­

gangenheit nachzuweinen, man muss in die Zukunft schauen.

Dass der Umzug ansteht, weiß ich schon lang, und dank deiner Unterstützung konnte ich ja sogar noch ein Jahr länger hierblei­

ben. Außerdem gibt’s in meiner neuen Bleibe eine Heizung, die man hochdrehen kann, wann immer man will, und man hat per­

manent Fernsehempfang!«

Sie lächelte breit. Obwohl ich mir etwas auf meine Sensibilität einbildete, wusste ich nicht, ob sie sich tatsächlich auf die Zu­

kunft freute oder ihr nur tapfer ins Auge blickte.

Ich stand auf und umarmte sie. »Du bist wirklich ein erstaun­

licher Mensch, Margaret. Du und die Tiere, ihr habt mich viel gelehrt. Ihr werdet mir schrecklich fehlen.«

»Nicht, wenn du den Job bei Kinnaird annimmst. Ich wohn ja nicht weit weg und kann dir bei Bedarf jederzeit Ratschläge für die Wildkatzen geben. Und du musst Dennis, Guinness und But­

ton besuchen kommen, die haben bestimmt Sehnsucht nach dir.«

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Ich sah die drei räudigen Geschöpfe vor dem Kamin an, eine uralte dreibeinige Katze mit rötlichem Fell und zwei betagte Hunde. Sie alle hatte Margaret gesund gepflegt, als sie jung waren.

»Ich schaue mir das Anwesen von Kinnaird erst mal an. Wenn ich mich dagegen entscheiden sollte, fahre ich über Weihnach­

ten nach ›Atlantis‹. Soll ich dir noch ins Bett helfen, bevor ich raufgehe?«

Die Frage stellte ich Margaret jeden Abend, und wie stets ant­

wortete sie stolz: »Nein, ich bleibe noch eine Weile vor dem Ka­

min sitzen, Tiggy.«

»Schlaf gut, Margaret.«

Ich küsste sie auf die faltige Wange und stieg die schmale, un­

ebene Treppe zu meinem Schlafzimmer empor. Das hatte frü­

her Margaret gehört, bis es ihr zu mühsam geworden war, sich jeden Abend die Stufen hochzuquälen. Deshalb hatten wir ihr Bett nach unten ins Wohnzimmer gestellt. Vielleicht erwies es sich nun als Segen, dass sie nie genug Geld gehabt hatte, oben ein Bad einbauen zu lassen, denn die Waschgelegenheit befand sich nach wie vor in dem eisig kalten Anbau nur wenige Meter von dem Raum entfernt, in dem sie jetzt schlief.

Während ich mich wie üblich aus meiner Kleidung schälte und mehrere Lagen Nachtgewänder anlegte, bevor ich fröstelnd zwi­

schen die Laken schlüpfte, empfand ich es als tröstlich, dass meine Entscheidung, hierher zu diesem Schutzgebiet zu kommen, sich als richtig erwiesen hatte. Nach sechs Monaten in der Forschungs­

abteilung des Zoo de Servion bei Lausanne war mir klar gewor­

den: Ich wollte mich um Tiere kümmern. Also hatte ich mich auf eine Onlineanzeige hin beworben und war zu dem herunterge­

kommenen Cottage am Loch gefahren, um einer arthritischen al­

ten Dame bei der Führung ihres Wildtierschutzgebietes zu helfen.

Vertrau auf deinen Instinkt, Tiggy, der wird dich nie im Stich lassen.

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Das hatte mir Pa Salt ein ums andere Mal geraten. »Der Mensch lässt sich von der Intuition leiten, dazu kommt eine Pri­

se Logik. Wenn du die richtige Balance aus beidem findest, ist jede Entscheidung richtig«, hatte er erklärt, als wir in seinem geheimen Garten in »Atlantis« zusahen, wie der Vollmond über dem Genfer See aufging.

Ich hatte ihm von meinem Traum erzählt, mich eines Tages in Afrika mit Tieren in freier Wildbahn zu beschäftigen, nicht mehr mit armen Geschöpfen in Gefangenschaft.

Als ich nun meine Zehen in einen Teil des Betts schmiegte, den ich mit den Knien angewärmt hatte, wurde mir bewusst, wie weit ich von der Realisierung meines Traums entfernt war. Sich um vier schottische Wildkatzen zu kümmern, war nicht gerade Großwildarbeit.

Ich schaltete das Licht aus und musste daran denken, wie meine Schwestern mich als »esoterische Spinnerin« der Fami­

lie neckten. Das konnte ich ihnen nicht verdenken. Als Kind war mir meine Andersartigkeit noch nicht bewusst gewesen, und ich redete offen über Dinge, die ich erlebte oder empfand. Ein­

mal, ich war noch sehr jung, hatte ich meiner Schwester CeCe gesagt, sie solle nicht auf ihren Lieblingsbaum klettern, weil ich gesehen habe, dass sie heruntergefallen sei. Sie hatte mich ausgelacht und entgegnet, sie sei schon hundertmal hinaufge­

klettert, ich solle nicht albern sein. Als sie dann eine halbe Stun­

de später tatsächlich heruntergefallen war, hatte sie verlegen den Blick abgewandt. Seitdem hatte ich gelernt, den Mund zu hal­

ten, wenn ich Dinge »ahnte«. Zum Beispiel, dass Pa Salt nicht tot war …

Ich hätte es gespürt, als seine Seele die Erde verließ. Aber abgesehen von dem schrecklichen Schock beim Anruf meiner Schwester Maia hatte ich nichts gefühlt. Ich war nicht vorberei­

tet gewesen, hatte keine »Vorahnung« gehabt. Entweder funkti­

(20)

onierte meine Intuition in diesem Fall nicht, oder ich sträubte mich gegen die Wahrheit.

Meine Gedanken wanderten zu Charlie Kinnaird und dem seltsamen Bewerbungsgespräch. Bei der Erinnerung an seine leuchtend blauen Augen und die schmalen Hände mit den lan­

gen, sensiblen Fingern, die schon so viele Leben gerettet hatten, flatterten Schmetterlinge in meinem Bauch.

Herrgott, Tiggy, reiß dich zusammen!, ermahnte ich mich selbst.

Vielleicht lag es daran, dass mir in dieser einsamen Gegend nicht allzu viele attraktive, intelligente Männer über den Weg liefen.

Doch Charlie Kinnaird war mindestens zehn Jahre älter als ich … Trotzdem, dachte ich, als ich die Augen zumachte, freute ich mich auf meinen Besuch auf dem Kinnaird­Anwesen.

* * *

Drei Tage später stieg ich in Tain aus dem kleinen Zug und ging auf einen zerbeulten Land Rover zu – das einzige Auto, das ich vor dem Bahnhof entdecken konnte. Der Mann auf dem Fahrer­

sitz kurbelte das Fenster herunter.

»Bist du Tiggy?«, fragte er mich in breitem schottischem Ton­

fall.

»Ja. Und du bist Cal MacKenzie?«

»Ja. Steig ein.«

Ich hatte Mühe, die schwere Tür auf der Beifahrerseite hinter mir zu schließen.

»Hochheben und richtig fest zuziehen«, riet Cal mir. »Die Blechkiste hat wie das meiste in Kinnaird bessere Zeiten gese­

hen.«

Da erklang hinter mir Bellen, und als ich mich umdrehte, sah ich einen riesigen grauen Deerhound auf dem Rücksitz. Er schnupperte kurz an meinen Haaren, bevor er mir mit seiner rau­

en Zunge übers Gesicht leckte.

(21)

»Thistle, lass das!«, ermahnte Cal ihn.

»Macht nichts«, sagte ich und kraulte Thistle hinter den Oh­

ren. »Ich liebe Hunde.«

»Aye, aber verwöhn ihn mir nicht, das ist ein Jagdhund.«

Nach einigen Fehlversuchen gelang es Cal, den Motor an­

zulassen, und wir fuhren durch Tain, einen kleinen Ort mit düsteren grauen Schiefergebäuden, dem einzigen in einem weitläufigen ländlichen Gebiet, in dem sich ein gut bestückter Supermarkt befand. Schon bald ließen wir die letzten Häuser hinter uns und folgten einer Straße, die sich zwischen sanften, mit Heidekraut und schottischen Kiefern bewachsenen Hügeln hindurchwand. Ihre Kuppen verbargen sich hinter dichtem Ne­

bel, und nach einer Kurve tauchte rechts vor uns ein Loch auf.

In dem Nieselregen hatte es Ähnlichkeit mit einer riesigen an­

thrazitfarbenen Pfütze.

Obwohl Thistle seinen zotteligen Kopf auf meine Schulter gelegt hatte und meine Wange mit seinem heißen Atem wärm­

te, zitterte ich. Ich musste an meine Ankunft am Flughafen von Inverness fast ein Jahr zuvor denken. In der Schweiz war ich bei klarem blauem Himmel und leicht mit dem ersten Schnee der Saison überzuckerten Bergen losgeflogen und hatte mich dann dem düsteren schottischen Pendant gegenübergesehen.

Während der Taxifahrt zu Margarets Cottage hatte ich mich gefragt, was mir da eingefallen war. Nun, nachdem ich sämtli­

che Jahreszeiten in den Highlands kannte, wusste ich, dass diese Hügel im Frühling mit sanft lilafarbenem Heidekraut bedeckt sein und das Loch blau in der herrlichen schottischen Sonne schimmern würden.

Ich musterte meinen Fahrer, einen stämmigen Mann mit ge­

röteten Wangen und schütter werdenden rötlichen Haaren, ver­

stohlen von der Seite. Die großen Hände, die das Lenkrad um­

schlossen, benutzte er als Werkzeuge: Unter den Nägeln befand

(22)

sich Schmutz, die Finger waren mit Kratzern übersät, die Knö­

chel rot von der Kälte. Da Cal körperlich schwere Arbeit verrich­

tete, vermutete ich, dass er jünger war, als er wirkte. Ich schätzte ihn zwischen dreißig und fünfunddreißig.

Wie die meisten Menschen, die ich in dieser Gegend kannte und die es gewohnt waren, isoliert vom Rest der Welt zu leben und zu arbeiten, redete Cal nicht viel.

Aber er ist ein guter Mensch …, sagte meine innere Stimme.

»Wie lange bist du schon in Kinnaird?«, erkundigte ich mich.

»Seit meiner Kindheit. Mein Vater, Großvater, Urgroßvater und Ururgroßvater haben auch schon dort gearbeitet. Ich war mit Pa auf dem Land unterwegs, sobald ich laufen konnte. Hat sich viel geändert in der Zwischenzeit. Und Veränderungen brin­

gen Probleme. Beryl freut’s nicht sonderlich, dass sich bald Sas­

senachs in ihrem Reich tummeln werden.«

»Beryl?«, fragte ich.

»Die Haushälterin von Kinnaird Lodge. Ist seit über vierzig Jahren dort.«

»Und was sind ›Sassenachs‹?«

»Engländer. Zum Jahreswechsel kommt ’ne Wagenladung rei­

cher Schnösel aus England her. Die wollen in der Lodge bleiben.

Und darüber ist Beryl alles andere als glücklich. Du bist der erste Gast seit der Renovierung. Die hat die Frau vom Laird geleitet, und die hat nicht gekleckert, sondern geklotzt. Allein die Vor­

hänge haben bestimmt Tausende gekostet.«

»Hoffentlich hat Beryl sich wegen mir keine Umstände ge­

macht. Ich bin das einfache Leben gewohnt«, versicherte ich Cal. Schließlich wollte ich nicht, dass er mich für eine verwöhn­

te Prinzessin hielt. »Du solltest Margarets Cottage sehen.«

»Aye, das kenn ich. Die ist die Cousine von meiner Cousine, wir sind entfernt verwandt. Ist in dieser Gegend bei den meis­

ten Leuten so.«

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Wenig später bog Cal bei einer winzigen verfallenen Kapel­

le mit einem verwitterten »Zu verkaufen«­Schild, das schief an eine Wand genagelt war, scharf nach links ab. Die Straße wurde enger; wir holperten durch offenes Land mit Bruchsteinmauern zu beiden Seiten, die die Schafe und Rinder in sicherem Abstand zur Fahrbahn hielten.

In der Ferne sah ich graue Wolken zwischen den Hügeln.

Links und rechts von uns tauchte hin und wieder ein Gehöft auf, aus dessen Kamin Rauch aufstieg. Es wurde schnell dunkel, und die Anzahl der Schlaglöcher erhöhte sich. Von der Federung des alten Land Rover war so gut wie nichts zu spüren, als Cal ihn über schmale gewölbte Brücken manövrierte, unter denen sich das Wasser schäumend und sprudelnd über Steine nach unten ergoss.

»Wie weit ist es noch?«, erkundigte ich mich. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass wir bereits eine Stunde unterwegs waren.

»Nicht mehr weit«, antwortete Cal und lenkte den Wagen scharf nach rechts. Hier verwandelte sich die Straße in einen Kiesweg, und die Schlaglöcher waren so tief, dass der Schlamm daraus bis zu unseren Fenstern hochspritzte. »Die Einfahrt ist direkt vor uns.«

Als das Licht unserer Scheinwerfer über zwei Steinsäulen glitt, wünschte ich mir, noch bei Tageslicht angekommen zu sein.

Dann hätte ich mich mit der Orientierung leichter getan.

»Gleich haben wir’s geschafft«, versicherte Cal mir, während wir die gewundene Auffahrt hinaufrumpelten. Auf dem feuch­

ten Kies des steilen Anstiegs hatten die Reifen Mühe, Halt zu finden. Wenig später stoppte Cal den Wagen und schaltete den Motor aus.

»Willkommen in Kinnaird«, sagte er und stieg, trotz seiner Körpermasse leichtfüßig, aus. Er ging um das Auto herum, öff­

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nete die Beifahrertür und streckte mir die Hand hin, um mir zu helfen.

»Danke, das schaffe ich schon«, meinte ich und landete prompt in einer Pfütze. Thistle sprang neben mir heraus und leckte kurz meine Finger, bevor er, erfreut darüber, sich wieder auf be­

kanntem Terrain zu befinden, in der Auffahrt herumzuschnüffeln begann.

Die Umrisse von Kinnaird Lodge hoben sich im Licht des Mondes scharf vom Himmel ab. Das steile Dach und die hohen Kamine warfen dunkle Schatten, und hinter den Schiebefens­

tern in den Schieferwänden schimmerte behaglich warmes Licht.

Cal nahm meine Reisetasche aus dem Land Rover und führte mich um die Lodge herum zur hinteren Tür.

»Dienstboteneingang«, murmelte er und streifte den Schmutz von seinen Schuhen an einem Kratzer vor der Tür ab. »Bloß der Laird, seine Familie und geladene Gäste benutzen die Vordertür.«

»Verstehe«, sagte ich. Beim Eintreten empfing mich wohlige Wärme.

»Gott, hier ist’s heiß wie in ’nem Backofen«, beklagte sich Cal, als wir einen Flur entlanggingen, der stark nach frischer Far­

be roch. »Die Frau vom Laird hat ’ne moderne Heizungsanlage einbauen lassen, und die hat Beryl noch nicht richtig im Griff.

Beryl!«, rief er und führte mich in eine große Küche, die von zahlreichen Spotlights erhellt wurde. Ich blinzelte, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnten. In der Mitte befand sich eine riesige glänzende Kochinsel, dazu kamen schimmernde Wand­

schränke und zwei topmoderne Herde.

»Sehr schick«, bemerkte ich.

»Aye. Das hättste mal vor dem Tod vom alten Laird sehen sol­

len. Der Dreck von hundert Jahren, und ’ne große Mäusefamilie hat hier drin auch gehaust. Aber Beryl schafft’s noch nicht, die schnieken Öfen zu bedienen. Sie hat ihr Leben lang auf dem al­

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ten Herd gekocht, und für die Dinger da muss man Computer­

fachmann sein.«

In dem Moment trat eine elegante, schlanke Frau mit Ha­

bichtsnase, langem, schmalem Gesicht und schneeweißen, zu einem Knoten gefassten Haaren ein, die mich mit ihren blauen Augen musterte.

»Miss d’Aplièse, nehme ich an?«, begrüßte sie mich mit leich­

tem, wohlklingendem schottischem Akzent.

»Ja, aber bitte sagen Sie doch Tiggy zu mir.«

»Gern. Und mich nennen alle nur Beryl.«

Ihr Name stand in krassem Widerspruch zu ihrem Aussehen.

Ich hatte mir eine Matrone mit üppigem Busen, roten Wangen und rauen Händen, so groß wie die Pfannen, mit denen sie tag­

ein, tagaus hantierte, vorgestellt. Nicht diese attraktive, streng anmutende Dame in ihrer makellosen schwarzen Haushälterin­

nenkleidung.

»Danke, dass ich heute Nacht hierbleiben kann. Ich hoffe, ich mache Ihnen keine Umstände.« Ich fühlte mich unsicher wie ein Kind vor der Direktorin der Schule.

»Haben Sie Hunger? Ich habe Suppe gekocht – mehr kann ich auf dem neuen Herd noch nicht.« Sie bedachte Cal mit einem grimmigen Lächeln. »Der Laird sagt, Sie sind Veganerin. Mögen Sie Karotten und Koriander?«

»Wunderbar, danke.«

»Dann lass ich euch beide mal allein«, meinte Cal. »Ich muss im Schuppen noch ein paar Hirschköpfe von der gestrigen Jagd auskochen. Gute Nacht, Tiggy, schlaf gut.«

»Danke, Cal, gleichfalls.« Bei dem Gedanken an das, was er im Schuppen vorhatte, wurde mir übel.

»Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Es ist oben.« Beryl forderte mich mit einer forschen Geste auf, ihr zu folgen. Am Ende des Flurs erreichten wir einen gefliesten Eingangsbereich mit einem im­

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posanten Steinkamin, über dem ein Hirschkopf mit prächtigem Geweih hing. Von dort aus führte sie mich die frisch mit Teppich belegten Stufen hinauf, an den Porträts früherer Kinnairds vor­

bei und einen breiten Treppenabsatz entlang, bevor sie die Tür zu einem großen, in warmen Beigetönen gehaltenen Zimmer öff­

nete. Ein riesiges Himmelbett mit einer rot karierten Tagesdecke beherrschte den Raum. Neben dem Kamin standen Ledersessel mit dicken Kissen, und zwei alte Messinglampen auf hochglanz­

polierten Mahagonitischchen verbreiteten sanftes Licht.

»Wunderschön«, murmelte ich. »Wie in einem Luxushotel.«

»Hier hat der alte Laird bis zu seinem Tod geschlafen. Nun würde er das Ganze, besonders das Bad, vermutlich nicht mehr wiedererkennen.« Beryl deutete auf eine Tür links von uns. »Den Raum hat er als Ankleidezimmer genutzt. Am Schluss habe ich ihm einen Nachtstuhl hineingestellt, weil die Örtlichkeiten sich am anderen Ende des Flurs befanden.«

Beryl seufzte tief. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass ihre Ge­

danken in der Vergangenheit weilten – möglicherweise einer Vergangenheit, nach der sie sich sehnte.

»Ich würde Sie gern als Versuchskaninchen missbrauchen.

Sie können mir berichten, welche Probleme es in der Suite noch gibt«, fuhr Beryl fort. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir nach dem Duschen sagen, wie lange es dauert, bis das Wasser heiß wird.«

»Gern. Dort, wo ich im Moment wohne, habe ich nicht oft heißes Wasser.«

»Der Esszimmertisch ist noch nicht fertig restauriert, also bringe ich Ihnen die Suppe wohl am besten auf einem Tablett herauf.«

»Wie es für Sie am bequemsten ist, Beryl.«

Sie nickte und verließ das Zimmer.

Ich setzte mich auf die Bettkante. So recht schlau wurde ich

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aus Beryl nicht. Und diese Lodge … Mit einem solchen Luxus hatte ich nicht gerechnet. Nach einer Weile erhob ich mich und ging ins Bad. Darin befanden sich ein Doppelwaschbecken mit Marmorablage, eine frei stehende Badewanne und eine Dusch­

kabine mit einem riesigen runden Brausekopf. Nach den zahlrei­

chen Monaten, in denen ich in Margarets angeschlagener Email­

wanne gebadet hatte, konnte ich es kaum erwarten, mich hier zu duschen.

»Himmlisch«, hauchte ich, zog mich aus und drehte das Was­

ser auf. Erst nach einer geraumen Weile trat ich wieder hinaus und trocknete mich ab, bevor ich in den herrlich flauschigen Ba­

demantel schlüpfte, der an der Rückseite der Tür hing. Während ich meine widerspenstigen Locken mit einem Handtuch abrub­

belte, kehrte ich ins Zimmer zurück, wo Beryl gerade ein Tablett auf einem Tisch neben einem der Ledersessel abstellte.

»Ich habe Ihnen eine hausgemachte Holunderblütenlimonade zu der Suppe gebracht.«

»Danke. Das Wasser war übrigens sofort heiß.«

»Gut«, meinte Beryl. »Dann lasse ich Sie mal in Ruhe essen.

Angenehme Nachtruhe, Tiggy.«

Mit diesen Worten marschierte sie aus dem Raum.

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II

Kein bisschen Helligkeit drang durch die dicken Vorhänge, als ich nach dem Lichtschalter tastete, weil ich einen Blick auf die Uhr werfen wollte. Zu meiner Überraschung war es fast acht – ziemlich spät für jemanden, der normalerweise um sechs auf­

stand, um die Tiere zu füttern. Ich rollte aus dem riesigen Bett und trat ans Fenster, um die Vorhänge aufzuziehen und den atemberaubend schönen Ausblick zu genießen.

Die Lodge stand auf einem Hügel über dem Tal. Das Gelän­

de fiel sanft zu einem schmalen, mäandernden Fluss ab und erhob sich auf der anderen Seite wieder zu einer Gebirgskette mit schneebedeckten Gipfeln. Die Morgensonne ließ die Land­

schaft im Frost glitzern. Ich öffnete die frisch gestrichenen Fens­

ter, um die saubere Highlandluft tief einzuatmen. Dabei nahm ich den Geruch torfiger Herbsterde aus verrottendem Gras und Laub wahr, die Grundlage für das neue Wachstum im folgenden Frühjahr.

Es zog mich hinaus in die prächtige Natur. Ich schlüpfte in Jeans, Pullover und Anorak, setzte eine Mütze auf, schnürte mei­

ne dicken Stiefel und ging hinunter zur Haustür. Sie war unver­

schlossen. Ich trat hinaus in dieses vom Menschen unberührte Paradies.

»Das alles gehört mir«, flüsterte ich, als ich über das hart ge­

frorene Gras schritt. Da hörte ich von den Bäumen zu meiner Linken ein Rascheln und entdeckte ein junges Reh mit großen spitzen Ohren, langen Wimpern und rötlich braun gesprenkel­

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tem Fell, das leichtfüßig dazwischen herumsprang. Obwohl Mar­

garets Rotwildschutzgebiet weitläufig und dem Lebensgebiet der Tiere nach ihrer Auswilderung ähnlich war, stand doch ein Zaun drum herum. Hier auf dem Kinnaird­Anwesen hingegen konnte sich das Wild auf Tausenden von Hektar frei bewegen und muss­

te nur den Menschen fürchten.

Nichts in der Natur konnte sich in Sicherheit wiegen, nicht einmal der Mensch, der selbst ernannte Herr der Schöpfung.

In unserer Überheblichkeit glaubten wir, unbesiegbar zu sein, obwohl ein von den Göttern gesandter mächtiger Wirbel­ oder Schneesturm in der Lage war, sekundenschnell Tausende ins Jen­

seits zu befördern.

Auf halber Höhe des Hügels blieb ich an einem plätschernden Bach stehen, atmete tief ein und schaute mich um.

Könnte ich eine Weile hier leben?

Ja, ja, ja!, rief meine Seele begeistert.

Doch selbst mir erschien die Abgeschiedenheit dieser Gegend extrem. Kinnaird war tatsächlich eine Welt für sich. Ich wusste, dass meine Schwestern mich für verrückt erklären würden, weil ich mich in diese Einsamkeit zurückziehen wollte. Sie würden mir empfehlen, mehr Zeit in Gesellschaft von Menschen zu ver­

bringen – am besten von geeigneten Männern –, aber das war nicht das, was mein Herz zum Singen brachte. In der Natur fühlte ich mich lebendig. Sie schärfte und stärkte meine Sinne und ließ sie jubilieren, als würde ich mich über die Erde erheben und Teil des Universums werden. Wenn ich jeden Morgen zum Anblick dieses magischen Tals erwachte, konnte mein Inneres, das ich vor der Welt verbarg, in Kinnaird erblühen und wachsen.

»Soll ich nach Kinnaird kommen, Pa? Was meinst du?«, frag­

te ich den Himmel und sehnte mich nicht zum ersten Mal da­

nach, Kontakt zu dem Menschen herstellen zu können, den ich am meisten liebte. Doch wieder verpuffte meine Frage im Nichts.

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Wenige hundert Meter von der Lodge entfernt blickte ich von einem Felsen auf einen dicht bewaldeten Hang hinunter. Eine ab­

gelegene Stelle, die sich jedoch als leicht zugänglich erwies. Dies war der ideale Ort für das Gehege von Molly, Igor, Posy und Pol­

son, den vier Wildkatzen.

Ich erkundete das Gebiet. Der baumbestandene Abhang wür­

de den Wildkatzen das Gefühl der Sicherheit bieten, das sie be­

nötigten, um sich hinauszuwagen und sich irgendwann fortzu­

pflanzen. Er befand sich lediglich zehn Minuten von der Lodge und dem Cottage entfernt – nahe genug für mich, um ihnen jeden Tag, auch mitten im Winter, problemlos Futter bringen zu können. Zufrieden über meine Wahl kehrte ich zu dem un­

ebenen schmalen Pfad zurück, der offenbar als Zugang zum Tal diente.

Da hörte ich, wie sich das Geräusch eines Motors näherte.

Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Cal sich erleichtert aus dem Fenster des Land Rover beugte.

»Da bist du ja! Wo warst du? Beryl hat das Frühstück seit Ewigkeiten fertig. Als sie’s dir bringen wollte, warst du nicht da.

Sie hatte Angst, MacTavish the Reckless, das Hausgespenst der Lodge, hätte dich heute Nacht geholt.«

»Entschuldigung. Es ist so ein schöner Morgen, da bin ich rausgegangen, um mir die Gegend anzuschauen. Ich hab die per­

fekte Stelle für das Wildkatzengehege gefunden. Sie ist gleich da unten.« Ich deutete den Abhang hinunter.

»Dann hat sich’s immerhin gelohnt, Beryls Blutdruck hoch­

zutreiben. Schadet gar nichts, wenn sie sich mal ein biss­

chen aufregt, wenn du weißt, was ich meine.« Cal zwinkerte mir zu, als ich die Tür auf der Beifahrerseite so öffnete, wie er es mir gezeigt hatte. »Sie hält sich für die eigentliche Hausher­

rin, und letztlich ist sie das auch. Steig ein, ich bring dich zu­

rück.«

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Sobald ich im Wagen saß, setzten wir uns in Bewegung.

»Wenn’s schneit, wird’s ziemlich glatt«, teilte Cal mir mit.

»Ich bin in der Nähe von Genf aufgewachsen und Schnee ge­

wöhnt.«

»Gut, denn hier kriegst du den monatelang zu sehen. Schau.«

Cal deutete nach vorn. »Hinter dem Bach zwischen den Birken haben die Hirsche ihr Nachtlager.«

»Viel Schutz scheint die Stelle nicht zu bieten«, bemerkte ich mit einem Blick auf die weit auseinanderstehenden Bäume.

»Aye, das ist genau das Problem. Leider gibt’s im Tal nicht mehr viel Wald. Wir fangen grade mit dem Wiederaufforsten an und müssen das Gebiet einzäunen, sonst knabbert das Rotwild das junge Grün an. Der neue Laird hat sich ziemlich was vor­

genommen. Ach nein, Beryl, nicht jetzt.« Ein knirschendes Ge­

räusch, als Cal versuchte, den Gang einzulegen. Kurz stotterte der Wagen, dann lief der Motor wieder rund.

»›Beryl‹?«, wiederholte ich.

»Aye.« Cal schmunzelte. »Der Landy ist nach unserer Haus­

hälterin benannt. Ist genauso zäh und bis auf ein paar Aussetzer zuverlässig.«

Als Cal und ich die Lodge erreichten, entschuldigte ich mich wortreich bei Beryl dafür, dass ich vor dem Frühstück ver­

schwunden war. Und ich fühlte mich verpflichtet, mich durch den Berg Marmite­Sandwiches zu kämpfen, die sie für mich her­

gerichtet hatte.

»Anstelle des Frühstücks, das Ihnen entgangen ist.«

Dabei mochte ich Marmite nicht besonders.

»Ich hab das Gefühl, dass sie mich nicht leiden kann«, mur­

melte ich Cal zu, als sie die Küche verließ und er mir half, die Sandwiches zu essen.

»Ach was, Tig, die arme Frau hat einfach bloß Stress«, beru­

higte mich Cal, während seine gewaltigen Kiefer die Sandwiches

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zermalmten. »Mit welchem Zug willst du zurückfahren? Um kurz vor halb vier ginge einer, liegt ganz bei dir.«

Irgendwo klingelte ein Telefon und verstummte gleich wieder.

Bevor ich Cal antworten konnte, betrat Beryl die Küche.

»Der Laird möchte Sie sprechen, Tiggy. Wäre es Ihnen jetzt recht?«, fragte sie mich.

»Natürlich.« Ich verabschiedete mich mit einem Achselzucken von Cal und folgte Beryl über den hinteren Flur zu einem kleinen Raum, der offenbar als Büro diente.

»Ich lasse Sie allein.« Sie deutete auf den Hörer, der auf dem Schreibtisch lag, bevor sie die Tür hinter sich schloss.

»Hallo?«, sagte ich in den Hörer.

»Hallo, Tiggy. Tut mir leid, dass ich nicht zu Ihnen nach Kin­

naird kommen kann. Im Moment haben wir im Krankenhaus ziemlich viele Notfälle.«

»Kein Problem, Charlie«, log ich, obwohl ich enttäuscht war.

»Und, wie finden Sie Kinnaird?«

»Atemberaubend. Ich glaube, die perfekte Stelle für das Wild­

katzengehege gefunden zu haben.«

»Tatsächlich?«

»Ja.« Ich erklärte ihm, wo sie sich befand und warum ich sie ausgewählt hatte.

»Da verlasse ich mich ganz auf Sie. Und was ist mit Ihnen?

Würden Sie die Katzen gern begleiten?«

»Mir gefällt es wahnsinnig gut hier. Ich bin restlos begeistert.«

»Könnten Sie sich vorstellen, eine Weile auf dem Anwesen zu leben?«

»Ja«, antwortete ich, ohne zu zögern.

»Das ist … fantastisch! Cal wird das besonders freuen. Wir ha­

ben noch nicht übers Geld und die Modalitäten geredet – kann ich Ihnen eine Mail schicken? Sind Sie mit erst einmal drei Mo­

naten einverstanden?«

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»Ja, gern. Ich sehe mir die Mail an und melde mich dann.«

»Prima. Nächstes Mal zeige ich Ihnen das Anwesen persön­

lich. Ich hoffe, Beryl hat dafür gesorgt, dass Sie sich in der Lodge wohlfühlen.«

»Ja, das hat sie.«

»Wunderbar. Ich schicke Ihnen also die Mail. Könnten Sie, wenn Sie mit den Konditionen einverstanden sind, Anfang De­

zember mit den Wildkatzen kommen?«

»Klingt gut.«

Wir verabschiedeten uns, und ich fragte mich, ob ich soeben die klügste oder die dümmste Entscheidung meines Lebens ge­

troffen hatte.

* * *

Nachdem ich mich bei Beryl überschwänglich für ihre Gast­

freundschaft bedankt hatte, zeigte Cal mir kurz das rustikale, aber durchaus hübsche Cottage, das ich mit ihm teilen würde.

Dann stiegen wir in den Land Rover und machten uns auf den Weg zum Bahnhof von Tain.

»Kommst du nun mit den Katzen her oder nicht?«, erkundig­

te sich Cal.

»Ja.«

»Gott sei Dank!« Er schlug vor Begeisterung mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Die Viecher haben mir bei allem, was ich sowieso schon zu tun hab, grade noch gefehlt.«

»Ich bringe sie im Dezember, was bedeutet, dass du die Errich­

tung des Geheges anleiern solltest.«

»Aye. Da brauch ich deinen Rat. Freut mich sehr, dass du kommst. Bist du sicher, dass du die Einsamkeit hier aushältst?«, fragte er, als wir die Straße, die aus dem Anwesen herausführte, entlangholperten. »Die ist nicht jedermanns Sache.«

In dem Moment tauchte die Sonne hinter einer Wolke auf und

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ließ das Tal, in dem surreal anmutende Nebel hingen, hell er­

strahlen.

»O ja, Cal.« Vor Aufregung schlug mein Herz schneller. »Die halte ich sogar sehr gut aus.«

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III

Die folgenden Wochen vergingen wie im Flug; ein Monat schmerz licher Abschiede von unseren geliebten Tieren. Das Rot­

wild, zwei rote Eichhörnchen, die Igel, Eulen und der eine ver­

bliebene Esel wurden alle in ihr neues Zuhause gebracht. Marga­

ret nahm das bedeutend gelassener hin als ich – ich weinte mir bei jedem fast die Augen aus.

»So ist das Leben nun mal, Tiggy, und du tätest gut daran, dir das so schnell wie möglich klarzumachen«, riet sie mir.

Mit Cal, der ein Unternehmen beauftragte, das Wildkatzenge­

hege zu errichten, stand ich in regem telefonischem und E­Mail­

Kontakt.

»Über die Kosten muss ich mir keine Gedanken machen«, er­

klärte Cal. »Der Laird hat ’nen Zuschuss vom Staat beantragt. Er möchte unbedingt, dass die Katzen sich fortpflanzen.«

Auf den Fotos, die er mir schickte, sah ich ein topmodernes Gehege – eine Reihe pavillonartiger Käfige, verbunden durch schmale Tunnels und umgeben von Bäumen und anderer Vege­

tation, in der die Tiere sich verstecken konnten. Insgesamt wür­

de es vier solcher Pavillons geben, damit alle ihr eigenes Revier hatten und die Katzen sich von den Katern trennen ließen, falls sie trächtig würden.

An unserem letzten gemeinsamen Abend zeigte ich Marga­

ret die Bilder bei einem Gläschen Sherry. »Gütiger Himmel! In dem Gehege könnte man bequem zwei Giraffen unterbringen«, meinte sie schmunzelnd.

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»Charlie scheint’s ernst zu sein mit dem Zuchtprogramm.«

»Aye, unser Charlie ist Perfektionist. Schade, dass er seinen Traum in jungen Jahren aufgeben musste. Schätze, von dem Schock hat er sich nie wieder richtig erholt.«

Ich spitzte die Ohren. »Von was für einem Schock?«

»Vergiss es. Der Sherry lockert die Zunge. Lass es mich so ausdrücken: Er hatte Pech in der Liebe. Ein anderer hat ihm sein Mädchen ausgespannt, und gleich danach hat er seine jetzige Frau geheiratet, um sich über den Verlust hinwegzutrösten.«

»Kennst du seine Frau?«

»Ich hab sie bloß ein einziges Mal persönlich gesehen, bei ih­

rer Hochzeit, und die ist mehr als sechzehn Jahre her. Wir haben ein paar Worte gewechselt. Sonderlich sympathisch war sie mir nicht. Sie ist sehr attraktiv, aber wie im Märchen garantiert äuße­

re Schönheit keine innere, und Charlie ist im Hinblick auf Frauen immer schon ziemlich blauäugig gewesen. Bei der Hochzeit war er einundzwanzig, damals hat er im dritten Jahr Medizin in Edin­

burgh studiert.« Margaret seufzte. »Da war sie schon schwanger mit Zara. Charlies Leben davor war eine einzige Reaktion auf das Verhalten seines Vaters. Das Medizinstudium und die Heirat waren Fluchtmöglichkeiten. Vielleicht ist das jetzt endlich seine Chance.« Margaret leerte ihr Sherryglas. »Verdient hätte er’s.«

* * *

Am folgenden Morgen schob ich die Transportboxen mit Molly, Igor, Posy und Polson, die sich lautstark beklagten, in den hinte­

ren Teil des Land Rover. Es war gar nicht so leicht gewesen, sie in die Boxen zu verfrachten. Obwohl ich einen dicken Pullover und Arbeitshandschuhe trug, prangten tiefe Kratzer auf meinen Handgelenken und Armen. Schottische Wildkatzen haben zwar in etwa die gleiche Größe und Färbung wie Hauskatzen, doch da enden die Ähnlichkeiten auch schon. Nicht umsonst tragen

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sie den Spitznamen »Highland­Tiger«. Besonders Polson neigte dazu, zuerst zuzubeißen und später Fragen zu stellen.

Trotz ihres mürrischen und angriffslustigen Wesens liebte ich sie alle. Sie repräsentierten einen kleinen Hoffnungsschimmer in einer Welt, in der so viele einheimische Arten verschwan­

den. Von Margaret wusste ich, dass man in Schottland mehre­

re Programme zur reinrassigen Zucht initiiert hatte. Die Jungen sollten später ausgewildert werden. Als ich die Heckklappe des Land Rover unter dem entrüsteten Fauchen der Katzen schloss, wurde mir bewusst, dass ich für ihre Zukunft mitverantwort­

lich war.

Mein Hausigel Alice – so benannt, weil das Tierchen kurz nach der Geburt in ein Kaninchenloch gefallen war und ich es aus den Fängen von Guinness, dem Hund, gerettet hatte, der es heraus­

ziehen wollte – befand sich in seiner Schachtel auf dem Vorder­

sitz neben meinem Rucksack mit der wenigen Kleidung, die ich besaß.

»Fertig?«, erkundigte sich Cal, der bereits hinter dem Steuer saß und sich auf den Weg machen wollte.

»Fast«, antwortete ich mit einem Kloß im Hals. Bevor wir los­

fuhren, musste ich mich von Margaret verabschieden. »Noch fünf Minuten, ja?«

Cal nickte verständnisvoll, und ich eilte zum Cottage zurück.

»Margaret? Wo bist du? Hallo?«

Da ich sie drinnen nirgends entdecken konnte, suchte ich draußen nach ihr und fand sie in dem leeren Wildkatzengehe­

ge. Sie saß auf dem Boden, Guinness und Button standen bei ihr. Den Kopf hatte sie in die Hände gestützt, und ihre Schul­

tern bebten.

»Margaret?« Ich trat zu ihr, kniete neben ihr nieder und legte die Arme um sie. »Bitte nicht weinen, sonst fang ich auch noch an.«

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»Ich kann nicht anders, Tiggy. Bis jetzt hab ich versucht, mich zusammenzureißen, aber heute …« Als sie die Hände vom Ge­

sicht nahm, sah ich, dass ihre Augen rot waren. »Heute ist das Ende einer Ära, weil du mit den Katzen weggehst.«

Sie streckte ihre knotigen, arthritischen Finger nach mir aus, die an die einer Hexe aus einem Märchen erinnerten. Doch Mar­

garet war das genaue Gegenteil, die Güte in Person.

»Du bist wie eine Enkelin für mich, Tiggy. Wie du dich um die Tiere gekümmert hast, weil ich nicht mehr die Kraft dazu hatte, werde ich dir nie vergessen.«

»Ich besuche dich bald in deinem neuen Zuhause, das ver­

spreche ich dir. So weit weg bin ich ja nicht.« Ich drückte sie ein letztes Mal. »Es war schön bei dir, und ich habe viel gelernt. Dan­

ke, Margaret.«

»Das Vergnügen war ganz meinerseits. Apropos Lernen: Be­

such dort auf jeden Fall Chilly, einen alten Zigeuner, wie man früher gesagt hätte. Er lebt auf dem Anwesen. Der kennt jede Menge natürliche Heilmittel für Mensch und Tier.«

»Gut, mach ich. Dann erst mal auf Wiedersehen, Margaret.«

Ich stand auf und ging, ebenfalls den Tränen nahe, hastig in Rich­

tung Tor, wo Cal auf mich wartete.

»Sorg dafür, dass unsere Katzen ein paar hübsche Junge krie­

gen, ja?«, rief Margaret mir mit einem letzten Winken nach, als ich in den Land Rover kletterte und mich daranmachte, das nächste Kapitel im Buch meines Lebens aufzuschlagen.

* * *

»Dein Schlafzimmer, Tig«, teilte Cal mir mit und ließ meinen Rucksack auf den Boden fallen.

Ich sah mich in dem kleinen Raum um. Der Verputz der nied­

rigen Decke war mit feinen Rissen und Dellen durchzogen, das Zimmer eisig kalt und spartanisch eingerichtet, aber immerhin

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stand ein Bett darin. Und eine Kommode, auf der ich die Schach­

tel mit Alice, dem Igel, platzierte.

»Kann ich den Käfig von dem Igel auch hier reinstellen?«, frag­

te Cal. »Im Wohnzimmer möcht ich ihn nicht haben. Am Ende tret ich noch drauf, wenn ich nachts aufs Klo muss! Halten Igel jetzt nicht Winterschlaf?«

»In der Wildnis ja, aber bei Alice wäre das zu riskant«, er­

klärte ich. »Die Kleine hat seit ihrer Rettung noch nicht genug Gewicht zugelegt. In ihrem derzeitigen Zustand würde sie den Winter nicht überstehen. Sie muss es hübsch warm haben und ordentlich fressen.«

Cal brachte den Käfig herein, und nachdem ich Alice hin­

eingesetzt und ihr eine Dose von dem Katzenfutter aufgemacht hatte, das sie liebte, wurde ich plötzlich so müde, dass ich aufs Bett sank.

»Danke für deine Hilfe, Cal. Allein hätte ich die Wildkatzen nicht zu den Gehegen runtertransportieren können.«

»Aye.« Cal musterte mich. »Du bist ein schmales Persönchen.

Schätze, dich kann ich nicht bitten, mir beim Ausbessern der Zäune oder beim Holzhacken für den Winter zu helfen.«

»Ich habe mehr Kraft, als man mir ansieht«, log ich.

»Bestimmt hast du andere Fähigkeiten, Tig.« Cal schaute sich in dem kalten, kahlen Raum um. »Das Cottage könnte eine weib­

liche Hand gebrauchen. Ich hab da kein Geschick.«

»Es dürfte nicht so schwer sein, es ein bisschen wohnlicher zu gestalten.«

»Möchtest du was essen? In der Tiefkühltruhe ist Wildein­

topf.«

»Danke, nein. Ich bin Veganerin, das habe ich dir ja gesagt …«

»Klar. Tja.« Er zuckte mit den Achseln, während ich herzhaft gähnte. »Vielleicht solltest du schlafen gehen.«

»Ja, ich glaub, das mache ich tatsächlich.«

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»Im Bad ist eine Wanne. Du kannst zuerst rein, solang das Wasser noch warm ist.«

»Nicht nötig. Ich bin hundemüde«, entgegnete ich. »Gute Nacht, Cal.«

»Nacht, Tig.«

Kurz darauf schloss sich die Tür hinter ihm, und ich sank rückwärts auf die durchgelegene Matratze, zog das Bettzeug bis zur Nase hoch und schlief auf der Stelle ein.

* * *

Am folgenden Morgen weckten mich die eisige Kälte und meine innere Uhr um sechs. Als ich das Licht einschaltete, sah ich, dass es draußen noch dunkel und die Innenseite der Fenster mit einer Frostschicht überzogen war.

Da ich noch meinen Pullover und die schmutzige Jeans trug, musste ich mich nicht komplett neu anziehen. Ich schlüpfte nur in eine Strickjacke und die übliche Kleidung für draußen. Dann ging ich ins Wohnzimmer, nahm die Taschenlampe von dem Haken an der Haustür, schaltete sie ein und trat hinaus. Ich folg­

te dem Weg, den ich mir eingeprägt hatte, zu der großen Scheu­

ne, in der sich ein Kühlraum befand, um die Tauben­ und Ka­

ninchenkadaver für die Katzen zu holen. Als ich die Tür öffnete, fiel mein Blick auf Thistle, der auf einem Strohballen in der Ecke schlief. Er wachte auf und streckte sich, bevor er auf seinen stak­

sigen Beinen zu mir trottete und zur Begrüßung seine spitze Nase in meine ausgestreckte Hand schob.

»Komm, mein Junge, wollen mal sehen, ob wir für dich auch was zu fressen auftreiben.«

Nachdem ich das Futter für die Katzen und einen saftigen Knochen für Thistle ausgewählt hatte, kehrte ich nach draußen zurück. Thistle wollte mir folgen, doch ich schob ihn schweren Herzens in die Scheune.

(41)

»Vielleicht ein andermal, mein Lieber.« Ich konnte nicht ris­

kieren, die Wildkatzen so kurz nach ihrer Ankunft auf dem An­

wesen zu erschrecken.

Über den mit Raureif bedeckten Rasen und den Abhang schlit­

terte ich hinab zu den Gehegen. Einen schwärzeren Himmel hat­

te ich noch nie gesehen, denn hier gab es keinerlei menschlich erzeugte Lichtquellen. Dem Strahl der Taschenlampe folgend, erreichte ich das Tor zu den Gehegen.

»Molly?«, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein. »Igor? Posy?

Polson?« Als ich schon die Klinke heruntergedrückt hatte, fiel mir ein, dass es hier ein Keypad über dem Schloss gab, damit keine Unbefugten die Wildkatzen störten. Ich versuchte mich zu erinnern, welchen Code Cal mir genannt hatte, drückte die Zahlenkombination, und beim dritten Anlauf glitt das Tor end­

lich mit einem leisen Klicken auf. Ich trat ein und zog es hin­

ter mir zu.

Dann rief ich noch einmal die Namen der Katzen, ohne ir­

gendeine Reaktion zu erhalten. Kein Rascheln, nichts. Sie konn­

ten sich irgendwo in den vier riesigen Pavillons aufhalten. Ver­

mutlich schmollten sie und versteckten sich.

»Hey, ihr Lieben, ich bin’s, Tiggy.« Vor meinem Mund bildeten sich Atemwolken. »Ihr müsst keine Angst haben. Hier seid ihr in Sicherheit. Und ich bin auch da.« Ich wartete, ob sie auf meine Stimme reagieren würden, doch das taten sie nicht. Nachdem ich in jeden Pavillon geschaut und so lange gelauscht hatte, wie ich es in der Kälte aushielt, verteilte ich das Futter, ging durch das Tor hinaus und den Abhang wieder hinauf.

* * *

»Wo warst du denn schon so früh am Morgen?«, erkundigte sich Cal, als er mit zwei Tassen dampfendem Tee aus der winzigen Küche kam.

(42)

»Ich hab nach den Katzen gesehen, aber die haben sich nicht blicken lassen. Wahrscheinlich sind die Armen völlig verstört.

Immerhin haben sie meine Stimme gehört.«

»Wie du weißt, bin ich kein großer Katzenfreund. Das sind egoistische, kratzende Einzelgänger. Die wanzen sich an jeden ran, der ihnen was zu fressen gibt. Da sind mir Hunde wie Thistle allemal lieber«, meinte Cal.

»Den habe ich heute Morgen in der Scheune gesehen. Ich hab ihm einen Knochen aus dem Kühlraum gegeben«, gestand ich und nahm einen Schluck von dem heißen Tee. »Schläft er im­

mer dort?«

»Aye, der ist ein Jagdhund, das hab ich ja schon gesagt, nicht so ein verwöhntes Schoßhündchen aus der Stadt.«

»Könnte er nicht wenigstens hin und wieder im Cottage schla­

fen? Da draußen ist es furchtbar kalt.«

»Tig, du hast ein zu weiches Herz. Der ist das gewöhnt.« Cal verschwand in Richtung Küche. »Lust auf Marmeladentoast?«

»Gern, danke«, rief ich ihm nach, während ich mein Zim­

mer betrat und vor Alices Käfig niederkniete, um das Türchen zu öffnen. Aus der kleinen Holzhütte, in der sie sich gern ver­

barg, leuchteten mir zwei Knopfaugen entgegen. Bei dem Sturz in das Kaninchenloch hatte sie sich eines ihrer winzigen Beine gebrochen, und das war nicht richtig zusammengewachsen. Sie hinkte in ihrem Käfig herum wie ein altes Tier, obwohl sie erst ein paar Monate alt war.

»Guten Morgen, Alice«, begrüßte ich sie. »Hast du gut geschla­

fen? Wie wär’s mit einem Stück Gurke?«

Ich kehrte in die Küche zurück, um die Gurke aus dem Kühl­

schrank zu holen. Der war, wie ich nun sah, hinten und an den Seiten mit grünem Schimmel bedeckt und musste dringend ge­

putzt werden. In der Spüle stapelten sich die schmutzigen Töp­

fe und Pfannen. Ich nahm den Toast aus dem Toaster und be­

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strich ihn auf der mit Brotkrumen übersäten Arbeitsfläche mit Margarine.

Typisch Mann, dachte ich. Ich war nicht überpenibel, aber die­

se Unordnung überschritt meine Toleranzgrenze. Nachdem ich Alice gefüttert hatte, setzte ich mich mit Cal an den kleinen Tisch in der Ecke des Wohnzimmers und aß meinen Toast.

»Was gibst du den Katzen am Morgen?«, erkundigte er sich.

»Heute hab ich ihnen Tauben und ein paar Kaninchen reinge­

worfen, die ich noch von Margaret hatte.«

»In der Kühltruhe sind jede Menge Rehherzen. Die kannst du haben. Ich zeig dir die Truhe – sie ist in einem Schuppen hinter der Lodge.«

»Die schmecken ihnen bestimmt, Cal, danke.«

»Ich versteh das nicht, Tig: Wie kannst du als Veganerin jeden Tag mit rohem Fleisch umgehen?«

»Das ist die Natur, Cal. Wir Menschen sind hoch genug ent­

wickelt, um bewusste Entscheidungen über unsere Ernährung zu treffen, und uns stehen ausreichend Nahrungsquellen zur Verfü­

gung. Bei Tieren ist das anders. Alice frisst Fleisch, weil ihre Art das tut, und für die Katzen gilt das Gleiche. So ist das nun mal.

Obwohl ich zugeben muss, dass ich Rehherzen nicht so gern in die Hand nehme. Im Herzen steckt unser Wesen, nicht wahr?«

»Dazu kann ich nichts sagen. Ich bin ein Mann und mag ein anständiges Stück Fleisch, egal, ob Innereien oder ein teu­

res Steak. Eins kann ich dir versprechen, Tig: Ich bin und bleibe Fleisch fresser.«

»Und ich verspreche dir, dass ich nicht versuchen werde, dich zu bekehren, aber Lammkoteletts und Ähnliches werde ich nicht für dich kochen.«

»Ich dachte, ihr Franzosen liebt rotes Fleisch?«

»Ich komme aus der Schweiz, nicht aus Frankreich, das mag es erklären«, entgegnete ich grinsend.

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»Margaret meint, du bist ein richtiger Schlaumeier. Hast ’nen Uniabschluss mit allem Drum und Dran. Bestimmt könntest du

’nen gut bezahlten Job in irgend’nem Labor finden, statt dich um ein paar räudige Katzen zu kümmern. Warum Kinnaird?«

»Ich habe tatsächlich ein paar Monate in einem Zoolabor ge­

arbeitet und Daten analysiert. Die Bezahlung war gut, aber ich hab mich nicht wohlgefühlt. Am Ende zählt doch die Lebensqua­

lität, findest du nicht?«

»Aye, bei dem Geld, das ich hier für die harte Arbeit krieg, muss ich das wohl glauben!« Cal lachte. »Schön, dass du hier bist.

Bin froh über die Gesellschaft.«

»Wenn es dir recht ist, mach ich heute mal klar Schiff im Cottage.«

»Gute Idee. Bis später dann.«

Mit diesen Worten schlüpfte er in seine alte Barbour­Jacke und stapfte zur Tür.

* * *

Den restlichen Vormittag verbrachte ich unten bei den Katzen, ohne sie zu Gesicht zu bekommen.

»Es wäre eine Katastrophe, wenn meine Schützlinge schon in der ersten Woche sterben«, sagte ich zu Cal, als er mittags ins Cottage kam, um eines seiner riesigen Sandwiches zu vertilgen.

»Sie rühren das Futter nicht an.«

»Hm«, brummte er. »Ein paar Tage überstehen die schon. Die gewöhnen sich noch an ihre neue Umgebung, Tig.«

»Hoffentlich. Ich müsste Lebensmittel und Putzsachen kaufen gehen. Wo mach ich das am besten?«

»Ich zeig dir unsern Tante­Emma­Laden. Da kriegst du gleich

’ne Fahrstunde mit Beryl – sie ist ein bisschen eigenwillig.«

Auf der Fahrt zum örtlichen Laden und zurück lernte ich Be­

ryl und ihre Eigenheiten kennen. Das Geschäft entpuppte sich als

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Enttäuschung, weil es dort abgesehen von allen möglichen Sorten Shortbread für die Touristen kaum etwas gab. Immerhin konnte ich Kartoffeln, Kohl und Karotten sowie gesalzene Erdnüsse und jede Menge Baked Beans als Proteinquelle erwerben.

Im Cottage überließ Cal mich meinem Schicksal. Da ich trotz intensiver Suche weder einen Mopp noch einen Besen finden konnte, würde ich Beryl bitten müssen, mir Putzgerät zu leihen.

Ich überquerte den Hof und trat an den hinteren Eingang der Lodge. Weil auf mein Klopfen niemand reagierte, öffnete ich die Tür und ging hinein.

»Beryl? Ich bin’s, Tiggy, vom Cottage! Sind Sie da?«, rief ich auf dem Flur zur Küche.

»Ich bin oben und zeige der neuen Haushaltshilfe, wo alles ist«, hörte ich eine Stimme aus dem Obergeschoss. »Bin gleich bei Ihnen. Setzen Sie schon mal das Teewasser auf, ja?«

Ich suchte gerade nach einer Teekanne, als sie mit einer bleich­

gesichtigen jungen Frau hereinkam, die eine Schürze und ein Paar Gummihandschuhe trug.

»Das ist Alison, die die Lodge an Weihnachten für die Gäs­

te blitzblank hält. Stimmt’s, Alison?« Beryl sprach langsam und deutlich, als wäre das Mädchen schwerhörig.

»Ja, Mrs McGurk.«

»Gut, Alison, dann sehen wir uns morgen um Punkt acht Uhr.

Es gibt noch viel zu tun, bevor der Laird eintrifft.«

»Ja, Mrs McGurk«, wiederholte das Mädchen, das großen Res­

pekt vor der neuen Chefin zu haben schien. Dann nickte die jun­

ge Frau kurz und verließ hastig die Küche.

»Oje«, stöhnte Beryl, öffnete einen Schrank und holte eine Teekanne heraus. »Sonderlich helle ist die gute Alison nicht, aber in dieser Gegend kann man sich das Personal nicht aussuchen.

Immerhin kommt sie vom Haus ihrer Eltern zu Fuß her. Das hilft im Winter ungemein.«

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