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Psyche zwischen Natur und Kultur

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Psyche zwischen Natur und Kultur

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P A R O D O S

Psyche zwischen Natur und Kultur

Herausgegeben von

Kai Vogeley, Thomas Fuchs und Martin Heinze

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Pabst Science Publishers, Lengerich 2008 Parodos Verlag, Berlin 2008

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Claudia Wagner, Berlin Satz: MetaLexis, Niedernhausen Druck: KM Druck, Groß Umstadt Printed in Germany

PABST SCIENCE PUBLISHERS ISBN: 978-3-89967-519-1 P A R O D O S ISBN: 978-3-938880-19-7

www.pabst-publishers.com www.parodos.de

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Inhalt

Vorwort 7

Christian Kupke

Psyche zwischen Natur und Kultur

Eine dialektische Analyse 9

Hinderk M. Emrich

Mimesis: die Psyche als Mediateur zwischen Kultur und Natur 39 Andreas Heinz, Klaus Leferink, Yvonne Bühman,

Martin Heinze

»Autismus und Konkretismus« – widersprüchliche Konzepte

schizophrener Denkstörungen? 47

Thomas Fuchs

Sind psychische Krankheiten Gehirnkrankheiten? 67 Paul Hoff

Psychiatrische Diagnostik zwischen Naturalismus und Hermeneutik 81 Jann E. Schlimme

Über die Verständnislosigkeit 93

Oliver Müller

Wie die Gefangenen in Platons Höhle

Ernst Cassirer und Kurt Goldstein: Die Psychopathologie

in der philosophisch-anthropologischen Grundlegung 105 Matthias Brand und Hans J. Markowitsch

Das autobiographische Gedächtnis: Ein biokulturelles

Relais zwischen Individuum und Umwelt 121

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Kai Vogeley

Zum Begriff der Metapathologie von Psychopathologie

und Neuropathologie 153

Gottfried Vosgerau, Tobias Schlicht, Anne Springer, Kirsten G. Volz

Kulturabhängigkeit in einer Stufen-Theorie

der Selbst-Repräsentationen 177

Autorenverzeichnis 199

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Vorwort

Die unübersehbaren Fortschritte der Neurowissenschaften suggerieren, dass eine Erklärung psychopathologischer Phänomene und psychischer Erkran- kungen auf neurowissenschaftlicher Grundlage möglich werden könnte. Diese Erklärungsansprüche müssen kritisch geprüft werden, da das subjektive Erle- ben und seine Veränderungen Angelpunkte der Psychopathologie und Psychi- atrie und die Explananda psychiatrischer Forschung bleiben. Damit hängt na- türlich auch das Phänomen der Intersubjektivität eng zusammen, das ebenfalls unerlässlich für die psychiatrische Praxis ist, dies sowohl in diagnostischer als auch therapeutischer Hinsicht.

Wenngleich subjektives Erleben und damit auch psychiatrisch relevante Stö- rungen dieses Erlebens nicht auf neurobiologische Prozesse reduziert werden können, können sie gleichwohl unter bestimmten Umständen zu legitimen Forschungsgegenständen neurowissenschaftlicher Forschung gemacht wer- den. Andererseits ist das subjektive Erleben aber auch wesentlich geprägt von den historischen Entwicklungen, gesellschaftlichen Verhältnissen und kultu- rellen Umgebungen, in denen es auftritt. Psychische Prozesse werden damit sowohl naturwissenschaftlichen als auch kulturwissenschaftlichen Untersu- chungen zugänglich. So lässt sich in der kulturvergleichenden Psychologie zei- gen, dass in sogenannten individualistischen und kollektivistischen Kulturen unterschiedliche Formen des Selbst auftreten, die sich entweder als »indepen- dentes Selbst« weitgehend unabhängig von anderen entwickeln oder aber als

»interdependentes Selbst« ausbilden, das durch eine enge Bezogenheit des In- dividuums auf sein Kollektiv charakterisiert ist. Wenn kulturelle Aspekte aber einen derartig wichtigen Einfluss auf das Selbst und seine Gruppeneinbindung haben, wird die Frage umso virulenter, wie sich neurobiologische Prozesse, die naturwissenschaftlich feststellbaren, quasi-objektiven Regeln folgen, zu kultu- rellen Einflüssen verhalten.

Dieses Verhältnis soll im vorliegenden Band in mittlerweile bewährter Weise interdisziplinär, nämlich aus philosophischer, neurowissenschaftlicher und psychiatrischer Sicht beleuchtet werden. Er führt insofern eine Tradition wei- ter, die in den Vorjahren mit den Titeln Willensfreiheit – eine Illusion? Naturalis­

mus und Psychiatrie und Subjektivität und Gehirn begonnen wurde. Die Aufsät- ze gehen überwiegend auf Beiträge zum letzten Jahreskongress der Deutschen

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Gesellschaft für Psychiatrie (DGPPN) im Jahr 2007 zurück, bei dem das Thema der Kultur und seine Einflussnahme auf psychische Prozesse in verschiedenen Veranstaltungen ausführlich diskutiert wurde.

Die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren für die Mitarbeit an diesem Band, besonders aber auch den beiden Verlagen Parodos und Pabst Science Publishers, die die Redaktion wieder so zügig und kompetent vornah- men, dass der Band rechtzeitig zum Jahreskongress der DGPPN 2008 erschei- nen kann. Wir wünschen ihm nun zahlreiche Leser nicht nur aus der Psychia- trie und den Neurowissenschaften, sondern auch aus den Nachbardisziplinen und natürlich ebenso aus der interessierten Öffentlichkeit.

Köln, Heidelberg, Bremen, im Oktober 2008 Kai Vogeley, Thomas Fuchs, Martin Heinze

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9 Christian Kupke

Psyche zwischen Natur und Kultur Eine dialektische Analyse

Das Verhältnis von Natur und Kultur kann in unterschiedlichen logischen Denkmodellen konzeptualisiert werden: Man kann einen monistisch-realis- tischen Standpunkt oder einen Monismus der Natur vertreten und behaup- ten, der Mensch sei als Kulturwesen immer noch Naturwesen. Man kann einen monistisch-idealistischen Standpunkt oder einen Monismus der Kultur vertreten und behaupten, der Mensch sei als Naturwesen schon immer ein Kulturwesen. Und man kann einen dualistischen Standpunkt vertreten und gegen den monistisch-realistischen Standpunkt behaupten, der Mensch sei als Kulturwesen nicht mehr Naturwesen, und gegen den monistisch- idealistischen Standpunkt behaupten, der Mensch sei als Naturwesen noch nicht Kulturwesen. Die monistischen Thesen kann man als Identitäts- Thesen bezeichnen (sie betonen das Moment der Kontinuität von Natur und Kultur) und die dualistischen Thesen als Nichtidentitäts-Thesen (sie betonen das Moment der Diskontinuität von Natur und Kultur). Stellt man, ausgehend vom principium significationis, das Verhältnis von Natur und Kultur auf diese Weise dar, das heißt verzichtet man auf die Entgegenset- zung eines radikalen Realismus bzw. Naturalismus und eines radikalen Idealismus bzw. Spiritualismus – eine Entgegensetzung, die zunehmend unglaubwürdig und deshalb im Text auch nicht dargestellt wird –, so gibt es eine vierte, vereinheitlichende Position, die starke Argumente für die dialektische Identität der Identität und der Nichtidentität von Natur und Kultur beibringen kann. Diese Position ist dadurch charakterisierbar, dass die Kultur als das (diskontinuierliche) Emergent der Natur, aber zugleich die Natur als das (kontinuierliche) Implement der Kultur begriffen wird.

Der Text versucht, diese Form der Dialektik als eigenständige, asymme- trische Form der Dialektik zu profilieren, die, da sie ihren Schwerpunkt und ihr innovatives Potential im Gedanken der Implemenz hat, als ›implemen- täre Dialektik‹ bezeichnet wird.

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1 Das principium significationis : Natur und Kultur als wechselseitig aufeinander bezogene Begriffe

1.1 Wenn der Begriff der Kultur, nach einer gegenwärtig vertretenen These, seine Pointe darin hat, die Situation des Menschen als ein Problem zu formu- lieren, das in der aktuellen Lage der Gesellschaft nach neuen Formulierungen sucht (vgl. Baecker et al. 2008), so könnte eine dieser Problemformulierungen dem Titel der hier vorliegenden Publikation entsprechend lauten: Wie situiert sich heute der Mensch als psychisches Wesen zwischen Natur und Kultur? Was bedeutet dieses Zwischen, das zwar in der alten anthropologischen These vom

»Doppelcharakter des Menschen als Natur- und Kulturwesen« vielfach, so z. B.

bei Scheler, Plessner und Gehlen bedacht (vgl. Engels 1997, 15ff), aber selten systematisch analysiert wurde? Und was bedeuten in dieser Relation des Zwi- schen deren Relata Kultur und Natur? Sind sie nur erneut Chiffren für den mitt- lerweile schon anachronistisch anmutenden, weil intersubjektivitätstheoretisch überbotenen Binarismus von Subjekt und Objekt sowie für den auf diesem Bo- den erwachsenen Unterschied von Apriorischem und Aposteriorischem, von Transzendentalem und Empirischem? Und kehrt darin deshalb nur die mitt- lerweile schon sprichwörtliche »empirisch-transzendentale Dublette« wieder, deren kritischer Analyse sich bereits Foucault in der Ordnung der Dinge gewid- met hatte (vgl. Foucault 1966, 384ff)?

Derartige Fragen stellen die Philosophie vor einige fast unlösbar scheinende historische und systematische Probleme. Vor historische Probleme: denn die Debatte um Natur und Kultur ist in ihrem Kern, als Frage nach dem Unter- schied zwischen fÚsij und qšsij bzw. nÒmoj, zwischen dem von Menschen Vorgefundenen und dem von Menschen Gemachten fast schon so alt wie die Philosophie selbst (vgl. Spaemann 1973, 957f; Deitz 1989; Rorty 1997; Recki 1999). Und vor systematische Probleme: denn Natur und Kultur sind, wie die ihnen in dieser Hinsicht in nichts nachstehenden Begriffe Subjekt und Objekt, quasi Makrokonzepte, das heißt derart polyvalente, vielseitig verwandte Begriffe, dass es fraglich erscheinen muss, ob man mit ihnen überhaupt noch zu greifbaren Ergebnissen gelangen kann.1 Aber zugleich – das zeigt auch der Sammelband, für den der vorliegende Text geschrieben wurde – ist die mit die- sen Konzepten verbundene Debatte hochaktuell, da sich mittlerweile, ausgelöst vom Streit um Willensfreiheit und neuronalen Determinismus (vgl. Libet 2004;

Geyer 2004; Heinze et al. 2006), erneut, wie schon in den 80er und 90er Jahren, monistisch-naturalistische, also »objektivistische«, und dualistisch-mentalisti- sche, also »subjektivistische« Positionen scheinbar unversöhnlich gegenüber- stehen (zur näheren Charakterisierung dieser Positionen vgl. Vogeley 1995, 156ff; Kupke 2000).

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11 Allerdings scheint mir die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kul- tur, anders als die nach dem Verhältnis von Leib und Seele und Gehirn und Geist bzw. Selbst (die das Zentrum der klassischen Debatten bildete; vgl. etwa Linke/Kurthen 1988; Krämer 1994; Newen/Vogeley 2000), auch eine eigen- tümliche begriffliche Verschiebung zu signalisieren. Denn zum einen rückt die Psyche oder das Psychische und der mit ihr verwandte Geist mehr und mehr in die Position einer vermittelnden bzw. vermittelten Instanz; sie ist nicht mehr nur eines der Relata der Relation und entlastet dadurch auf spürbare Weise den in den letzten Jahren über Gebühr strapazierten dualistischen Begriff des Sub- jekts. Und zum anderen wird im Begriff der Kultur eher eine »objektive« Di- mension angesprochen, die sich überhaupt nur aus dem intersubjektiven Zu- sammenwirken der Menschen untereinander verstehen lässt und insofern eine breite Palette von sozialen Artikulationsformen und Konstrukten umfasst2. Kultur sei, so Thomas Göller in einer Diskussion zur gegenwärtigen kultur- wissenschaftlichen Wende in den Geisteswissenschaften, »der gesamte Kosmos menschlicher Handlungen, Produkte, Artefakte, Prozesse sowie Möglichkeiten individueller und kollektiver Selbstgestaltung in der Gesamtheit ihrer Artiku- lationsformen« (Göller et al. 2005, 28). Und Andreas Reckwitz ergänzt: Kultur sei »der Komplex von Sinnsystemen oder – wie häufig formuliert wird – von

›symbolischen Ordnungen‹, mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermöglichen und einschränken« (Reckwitz 2000, 84).

Muss man dann aber nicht auch die – auf solche Sinn- und Handlungssys- teme bezogene – Psychiatrie eher als eine Kultur- denn als eine Naturwissen- schaft verstehen?3 Vor dem Hintergrund dieser Frage lassen sich jedenfalls zwi- schen einzelnen Arbeitsbereichen der Psychiatrie mittlerweile Annäherungen beobachten, die noch vor einigen Jahren völlig undenkbar schienen: So wird z. B. im Bereich der phänomenologischen Psychiatrie das Gehirn mittlerweile selbst als »Beziehungsorgan« in eine vermittelnde Position gerückt (vgl. Fuchs 2007), während auf der anderen Seite, der stärker neurobiologisch ausgerich- teten Psychiatrie, dem für die Kultur schlechthin grundlegenden Gedanken des sozialen Zusammenwirkens größere Aufmerksamkeit gewidmet wird (vgl.

Vogeley 2008a–c). So wie das Gehirn als Beziehungsorgan zwischen Innenwelt und Umwelt eine Brücke schlägt, und zwar so, dass sich Innen und Außen überhaupt erst vermittels dieses Organs in konkreter Weise ausdifferenzieren lassen, so bezeichnet auch der Bereich des Sozialen und des Intersubjektiven ein Zwischen, aus dem das vormals noch eher monologisch gedachte Selbst- bewusstsein allererst hervorgeht. Der Grundgedanke sei hier, so Kai Vogeley,

»dass das Selbst geradezu eine sozial generierte Struktur ist, die für sich allein gar nicht stehen kann, sondern nur als sozial konstruiert vorgestellt werden kann«

(Vogeley 2008b, 155). Eine Neurophilosophie, die sich diesem Grundgedanken

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verschreibt, muss daher letzten Endes auch die Funktionsweise des Gehirns im, wie es heißt, sozialen »Selbst-Fremd-Austausch« fundieren und damit unwei- gerlich sozial- und kulturtheoretische Züge annehmen.

1.2 Dass die Frage des Zwischen, des Vermittelnden und Vermittelten immer mehr in den Fokus sowohl der phänomenologisch als auch neurobiologisch orientierten Psychiatrie gerät, ist allerdings aus einer logisch-dialektischen Per- spektive, wie sie im vorliegenden Text vorgestellt werden soll, kaum überra- schend. Dem semantischen principium significationis gemäß, dass jede positive Bestimmung eines Ausdrucks durch die von ihr implizit oder explizit negierte Bestimmung eines anderen Ausdrucks bestimmt ist (vgl. Kupke 2000, 219;

2006, 33f), können Natur und Kultur für uns, die wir diese Unterscheidung machen, überhaupt nur in ihrer Beziehung bzw. Unterscheidung das sein, was sie sind; denn außerhalb dieser Beziehung bzw. Unterscheidung ließen sie sich gar nicht begreifen. Und zwar vor allem deshalb nicht, weil ja der Mensch im- mer schon ein Kulturwesen ist: Er kann seine Kultur zwar idealiter (nicht rea- liter) hinter sich zurücklassen, etwa indem er von ihr abstrahiert. Aber gerade in diesem Abstraktionsprozess bleibt er doch immer noch, z. B. in seiner im principium significationis gründenden Sprache, von dem bestimmt, von dem er abstrahiert: von Kultur.

Hat aber dann nicht Richard Rorty recht, wenn er den alten Binarismus von Natur und Kultur, zwischen dem, was fÚsei, und dem, was qšsei, dem, was Gefundenes, und dem, was Gemachtes ist, für unsinnig erklärt und als meta- physisch-platonistische These zurückweist (vgl. Rorty 1997, 10f)? »Es hat kei- nen Sinn«, schreibt er, »die Wechselwirkung zwischen Organismen und ihrer Umwelt auf diese Weise einzuteilen. Betrachten wir ein Beispiel. Normalerweise sagen wir, daß ein Bankkonto eine soziale Konstruktion und kein Gegenstand der natürlichen Welt ist, während eine Giraffe ein Gegenstand der natürlichen Welt und keine soziale Konstruktion ist. Banknoten werden gemacht, Giraf- fen werden gefunden. Die Wahrheit dieser Ansicht besteht einfach darin, daß, wenn es keine Menschen geben würde, es immer noch Giraffen geben würde, jedoch keine Banknoten. Diese kausale Unabhängigkeit der Giraffen gegen- über den Menschen bedeutet allerdings nicht, daß Giraffen unabhängig von menschlichen Bedürfnissen und Interessen das sind, was sie sind.« (ebd., 19) Sie sind, müsste man ergänzen, einfach das, was sie für uns sind. Aber eben des- halb muss man sie – dem principium significationis gemäß – auch in ihrem An sich von diesem Für uns unterscheiden; und insofern macht die Unterschei- dung, anders als Richard Rorty behauptet, doch auch wieder Sinn.

Alle Bestimmungen von ›Kultur‹, auch die soeben bereits zitierten, rekur- rieren daher, entweder implizit oder explizit, auf Natur. Explizit, indem sie Natur und Kultur direkt einander gegenüberstellen; und implizit, indem sie

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13 vor allem das menschliche Tun ins Zentrum ihrer Betrachtung rücken, um es, in einer mehr oder weniger anthropozentrischen Bestimmung, vom nicht- menschlichen Tun oder überhaupt der nicht-menschlichen Sphäre abzugren- zen. So betont etwa Reinhart Maurer mit Bezug auf die Unterscheidung von Natur und Kultur bei Claude Lévi-Strauss: »Kultur ist das, was die Menschen aus sich und ihrer Welt machen und was sie dabei denken und sprechen. So ist alles Kultur, was nicht Natur ist. Kultur ist geleistet, ist Schöpfung nach menschlichem Entwurf; Natur ist gewachsen. Dabei sind Kultur und Natur keineswegs getrennte Bereiche. Unsere Wirklichkeit ist die Verbindung und Trennung von Natur und Kultur. Kultur ist die Emanzipation des Lebewe- sens Mensch aus der Natur (…)« (Maurer 1973, 823). Und in ähnlicher Weise referiert Helmut Holzhey Samuel Pufendorfs mittlerweile klassische Abgren- zung des status culturalis vom status naturalis des Menschen mit den Worten:

Kultur bestehe in der »Anstrengung des Menschen (…), mittels Aneignung technischer, moralischer und gesellschaftlicher Fertigkeiten über den Naturzu- stand hinauszugelangen« (Holzhey 2006, 24; vgl. Perpeet 1976, 1309).

Für die Kultur, so scheint es, ist also deren »einziges Antonym« (Rudolph 2006, 18) die Natur – und umgekehrt die Kultur das einzige Antonym der Natur.

»Kultur sei«, so Enno Rudolph, »verstanden als das Ensemble von Symbolen und Tätigkeiten, durch die der Mensch die gegebene Welt in eine bedeu- tungsvolle transformiert, um sie sich so zum Schauplatz seiner Geschichte zu machen« (ebd.). Und da auch Birgit Recki zufolge der Anspruch des kultur- schaffenden Menschen darin besteht, »etwas aus den vorgefundenen Bedin- gungen und aus sich selbst zu machen« (Recki 1999, 1093), ist die gegebene, noch nicht mit Sinn und Geschichte erfüllte Welt, sind die vorgefundenen Be- dingungen eben Natur. Aber auch sich selbst ist der Mensch offenbar gegeben, auch sich selbst findet der Mensch vor, denn sonst könnte er ja nichts aus sich selbst machen. Er ist also seinerseits Natur und wirft damit als das, was er ist, Natur und Kultur, die grundlegende, in all diesen Definitionen untergründig schwelende Frage auf, wie er eigentlich als Natur schon Kultur und vor allem umgekehrt als Kultur noch Natur sein kann.

2 Die drei Denkmodelle: Monismus der Natur, Monismus der Kultur und Dualismus von Natur und Kultur

2.1 Das semantische principium significationis, so hilfreich es im ersten Moment sein mag, klärt also noch nicht darüber auf, wie das Verhältnis von Natur und Kultur in concreto beschaffen ist. Es macht zwar deutlich, dass Natur und Kul- tur nicht unabhängig voneinander zu verstehen sind: Jede Bestimmung ist hier die Negation der anderen. Aber wie diese Negation – als immanente Unter- scheidung der Kultur von sich selbst – zu begreifen ist, was sie bedeutet, ist

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damit noch nicht gesagt. Will man daher nicht bei der unverbindlichen und noch wenig differenzierten These vom »Doppelcharakter des Menschen als Natur- und Kulturwesen« (Scheler, Plessner, Gehlen) stehen bleiben, so müss- te eine begrifflich-methodisch vorgehende Analyse zunächst die prinzipiellen Möglichkeiten darstellen, die das Verhältnis von Natur und Kultur dem Den- ken eröffnet, also die Denkmodelle für dieses Verhältnis erörtern. Drei solcher Modelle sind naheliegend und sollen im Folgenden kurz diskutiert werden:

Man kann einen Monismus der Natur vertreten, in dem die Natur das die Kul- tur Übergreifende darstellt, einen ebenso möglichen Monismus der Kultur, in dem die Kultur das die Natur Übergreifende darstellt, und schließlich einen die Relation dieser Monismen auf den Begriff bringenden Dualismus von Natur und Kultur, der die prinzipielle Unvereinbarkeit des natürlichen und kultu- rellen Seins des Menschen behauptet.

Ein Monismus der Natur bzw. dessen Thesen lassen sich etwa mit folgenden Sätzen umschreiben: Der Mensch sei ein Produkt der natürlichen Evolution, und insofern dürften auch seine Denk- und Erkenntnisstrukturen, die seiner Kultur zugrunde liegen, natürlich entstanden und entsprechend erklärbar sein.

Zwar sei der Mensch ohne Zweifel ein kulturelles Wesen, aber als dieses sei er immer noch in die ihn bedingenden natürlichen Prozesse eingebunden und damit den physikalischen und biologischen Gesetzen unterworfen, denen er selbst wissenschaftliche Objektivität und damit allgemeine Gültigkeit zuspre- che. Insofern unterliege auch er einem naturgeschichtlichen Prozess, der sei- nen kulturgeschichtlichen Aktivitäten und Konstrukten enge, z. B. genetische Grenzen setze. Selbst die menschliche Sprache, auf die seit dem so genann- ten linguistic turn von Anti-Naturalisten so großes Gewicht gelegt werde, sei in ihrer Struktur (als langue) und in ihrer Performanz (als parole) natürlichen Determinanten unterworfen: Sie weise gewisse genetische, also natürliche uni- versale Eigenschaften auf, die es jedem Menschen ermöglichten, jede belie- bige natürliche Sprache zu erlernen; und ihre individuelle Aktualisierung sei wiederum an gewisse organische und zuletzt neuronale Funktionskreisläufe gebunden, die der Sprechende als Sprecher gar nicht überschreiten könne. Der Mensch sei also als Kulturwesen immer noch ein Naturwesen und daher die Kultur ein – wenn auch evolutionär ungewöhnliches – Epiphänomen der sie übergreifenden Natur.

Dieser sehr weitreichenden These kann allerdings der Vertreter eines Mo­

nismus der Kultur Folgendes entgegnen: Er kann zum einen, konstitutionslo- gisch, geltend machen, dass ein Wissen von der Natur immer nur ein kultu- relles, nie ein natürliches Wissen sein könne, ein Wissen also, das die Differenz von Natur und Kultur in Abhängigkeit von der kulturgeschichtlichen Entwick- lung selbst erst konstituiere und daher die Natur übergreife. Die These derjeni- gen Anti-Naturalisten, die sich auf die Sprache berufen, laute daher dem Kul-

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15 turalisten zufolge nicht einfach, dass die Universalien der Sprache (la langue) kulturelle Universalien seien, sondern dass die Erkenntnis dieser Universalien einen Selbstbezug der Sprache (auf sich) impliziere, der nicht natürlichen Ur- sprungs sein könne und den man daher der Natur noch voraussetzen müsse.

Und der Vertreter eines Monismus der Kultur kann zum anderen, anthropo- logisch, geltend machen, dass die so genannte ›Natur‹ des Menschen gerade in dessen Kultur bestehe, also darin, die Natur zu transformieren und sie zum in- neren Differential seiner sie übergreifenden Kultur zu machen. Der Mensch sei insofern als Naturwesen schon immer ein Kulturwesen, und eine eigenständige Natur ließe sich dieser kulturellen Dimension gegenüber gar nicht isolieren.

Allerdings ist auch diese monistische Position, wie sich leicht erkennen lässt, argumentativ nicht wirklich schlüssig und scheint eher einer dualisti- schen Intuition recht zu geben; denn wie sollte die Kultur die Natur, ob nun methodisch oder inhaltlich übergreifen, wenn sie nicht von dieser unabhängig wäre oder zumindest ihr gegenüber, wie Hegel sagen würde, eine »unabhän- gige Seite« hätte? Der Vertreter eines Dualismus von Natur und Kultur kann daher gegen die per se einseitigen Monismen von Natur und Kultur geltend machen, dass sich diese in eine Reihe von Widersprüchen verwickelten: Man könne nicht auf der übergreifenden Macht des Einen bzw. des Anderen, der Natur bzw. der Kultur, beharren, wenn man nicht anerkenne, dass die sich dar- in ausdrückende Dominanz des Einen über das Andere oder des Anderen über das Eine deren gegenseitige Unabhängigkeit bzw. Irreduzibilität voraussetze.

Insofern könne der Mensch als Kulturwesen schon nicht mehr Naturwesen sein (so die idealistische Fassung des Dualismus) bzw. umgekehrt als Naturwesen noch nicht Kulturwesen sein (so die realistische Fassung des Dualismus). Man müsse also von einer Trennung von Natur und Kultur ausgehen, einer Kluft – der so genannten explanatory gap –, die weder durch den evolutionstheore- tischen Ansatz der Naturalisten noch auch durch den geltungstheoretischen Ansatz der Kulturalisten zureichend erklärt werden könne.

2.2 Die dualistische Position ist nicht nur auf den ersten, sondern auch auf den zweiten Blick eine ernst zu nehmende Alternative zu den jeweils einseitigen, also dualistisch aufeinander bezogenen Monismen der Kultur auf der einen und der Natur auf der anderen Seite. Dass der Monismus der Kultur und der der Natur ihre Gedanken, wie Hegel sagen würde, nicht wirklich »zusammen- bringen«, nicht konsistent machen können, beantwortet der Dualismus damit, dass er sie wieder trennt und in der Auseinandersetzung mit beiden Monismen zeigt, dass ihnen ein verleugneter Dualismus zugrunde liegt, von dessen Wahr- heit sie zehren. Genau darin liegt aber die Überzeugungskraft des Dualismus.

Man kann, so sein stärkstes Argument, nicht von der Beobachtung natürlicher Phänomene, gleichsam prospektiv, auf das Auftauchen kultureller Phänomene

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schließen. Und man kann ebenso wenig, gleichsam retrospektiv, von kultu- rellen Phänomenen auf natürliche Phänomene zurückschließen, das heißt, man kann sie nicht im Rückgang auf natürliche Prozesse erklären oder sie gar auf solche reduzieren. Vielmehr müsse man, statt von einer quantitativ-gradu- ellen von einer qualitativ-essenziellen Differenz von Natur und Kultur ausge- hen, kurz: von einem Bruch, einem Wesensunterschied zwischen beiden.

Aber auch eine solche Behauptung kann nicht unwidersprochen bleiben.

Denn wie wäre ein derartiger Bruch, ein derartiger Wesensunterschied genauer zu verstehen? Nimmt man an, dass die Kultur aus der Natur evolutionär her- vorgegangen ist, widerspräche die Annahme eines Bruchs dem Gedanken zeit- licher Kontinuität bzw. es käme einem Wunder oder Mysterium gleich, wenn in der Evolution und durch die Evolution selbst Prozesse möglich würden, die einen Bruch mit der Evolution bedeuteten. Und nimmt man an, dass sich die- ser Bruch, gleichsam nachträglich, daran erweisen ließe, dass die menschliche Kultur zu Leistungen in der Lage ist, die in der Natur kein Vorbild haben bzw.

sich aus Naturgesetzen nicht erklären lassen, wäre kaum mehr verständlich, warum sich die Kultur, wie die Natur, nicht kraft ihrer eigenen Gesetze aus sich selbst erhält und generiert. Denn eben dazu ist sie, ohne die Natur zu ihrer Grundlage zu haben, nach allem, was wir wissen, gerade nicht in der Lage. Ob man also den behaupteten Bruch mit Rekurs auf ein Drittes, auf ein Mysteri- um, eine Art übernatürliche bzw. sogar göttliche Schöpfermacht erklärt, oder aber das Zweite, die Kultur, selbst zu einem solchen Mysterium oder einer sol- chen Macht deklariert, immer ist es ein deus ex machina oder etwas Unerklär- liches, das hier ins Spiel kommt. Und indem der Dualismus auf diese, wissen- schaftlich nicht ganz unproblematische Weise die Wahrheit der Trennbarkeit bzw. Diskontinuität von Natur und Kultur (Hegel würde sagen: deren Nich- tidentität) betont, unterläuft er zugleich die Wahrheit, die in den genannten – naturalistischen und kulturalistischen – Monismen selber liegt: nämlich die Annahme ihrer Untrennbarkeit und Kontinuität (Hegel würde sagen: deren Identität).

Soll daher der Dualismus von Monismus und Dualismus nicht das letzte Wort behalten, denn jeder macht hier seine Wahrheit gegen den anderen und nicht mit dem anderen geltend (der Dualismus gegen den naturalistischen und kulturalistischen Monismus sowie der Naturalismus gegen den Kulturalismus und umgekehrt), muss man nach einem höherstufigen Monismus, nach einer einheitlichen Theorie des Monismus und Dualismus von Natur und Kultur su- chen, in der die Wahrheiten beider Positionen aufgehoben, das heißt ineinan- der überführt werden können und in der man vor allem nicht zu theologischen oder kryptotheologischen Argumenten Zuflucht nehmen muss. Denn theolo- gische Erklärungen sind zwar, entgegen einer weitverbreiteten Meinung, aus dem philosophischen Diskurs nicht gänzlich auszuschließen (Philosophie ist

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17 keine klassisch wissenschaftliche Disziplin), aber wenn es andere Erklärungen gibt als derartige Erklärungen durch das Unerklärliche, sind sie dem Abbruch von Erklärung, den sie faktisch bedeuten, doch prinzipiell vorzuziehen. Im vorliegenden Fall scheint eine solche Lösung eine dialektische Lösung zu sein.

Aber was heißt das, bzw. wie sähe eine solche Lösung aus? Wenn gleichzeitig die (dualistische) Trennbarkeit und (monistische) Untrennbarkeit, die Diskon­

tinuität und Kontinuität von Natur und Kultur behauptet würde, müsste sich dann eine solche Lösung nicht in Widersprüche verwickeln? Oder würde sie nicht sogar, um solche Widersprüche zu vermeiden, zu einer Verwechslung von Natur und Kultur führen? Sagt nicht die dialektische Formel der Einheit von Verbindung und Nichtverbindung (wie sie der frühe Hegel geprägt hat) oder der Identität von Identität und Nichtidentität (wie es beim späteren Hegel heißt), dass zwischen Verbindung und Nichtverbindung, Identität und Nich- tidentität und also auch zwischen Natur und Kultur kein wesentlicher Unter- schied besteht? Führt sie nicht zu einem unverbindlichen, sophistischen Gere- de darüber, dass Natur und Kultur gar nicht zu trennen seien, sich das eine im anderen reflektiere, die Natur letztlich Kultur und die Natur im Grunde Kultur sei? In der Tat besteht die Gefahr einer solchen Unverbindlichkeit und damit die eines Missverständnisses von Dialektik als Sophistik. Eine Gefahr, der man nur dadurch begegnen kann, dass man die Beziehung von Natur und Kultur noch in anderen, klareren Begriffen artikuliert als in denen von Kontinuität und Diskontinuität oder – was besonders missverständlich ist – von Identität und Nichtidentität. Als solche Begriffe schlage ich im Folgenden die Begriffe der Emergenz und der Implemenz vor.

3 Das vierte, dialektische Denkmodell: Kultur als Emergent der Natur und Natur als Implement der Kultur

3.1 Mit dem aus den Selbstorganisations- und emergentistischen Theorien (etwa Samuel Alexanders, Conwy Lloyd Morgans, Charlie Dunbar Broads oder auch Roger Sperrys; vgl. Sperry 1985; Stephan 1999a) bekannten Begriff der Emergenz möchte ich zunächst das Moment der Trennbarkeit, d. h. der Nicht- identität und Diskontinuität im Verhältnis von Natur und Kultur betonen – und zwar ausgehend vom monistisch-naturalistischen Argument, von dem man, aufgrund seines evolutionstheoretisch-genetischen Charakters, eher eine Betonung der Kontinuität und – in diesem Sinne – der Identität von Natur und Kultur erwarten würde. Wie sieht dieses Argument aus? – Die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur beantwortet der naturalistische Monis- mus, so wie ich ihn weiter oben bereits kurz dargestellt habe, primär (wenn auch nicht ausschließlich) mit dem Hinweis auf die evolutionäre Genese der Kultur aus der Natur. Er argumentiert: Insofern auch die Kultur ein Produkt

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der Evolution und damit den Naturgesetzen unterworfen sei, sei sie im Grun- de nichts anderes als die Fortsetzung der natürlichen Evolution mit anderen Mitteln, eine Art »(Hyper)-Epiphänomen« der Natur, wie Verbeek (1997, 78) sagen würde.

In der Tat scheint diese naturalistische These zunächst das Moment der Un- trennbarkeit von Natur und Kultur zu betonen. Dieses Moment muss jedoch in doppelter Weise relativiert werden. Zum einen: Die Naturgesetze, von de- nen der Naturalist, sicherlich mit einigem Recht, behauptet, dass ihnen auch kulturelle Phänomene unterworfen seien, lassen sich offensichtlich nicht mit Erfolg auf das Verhältnis von Natur und Kultur selbst und damit auf den evo- lutionären Übergang von Natur in Kultur anwenden. Sie erklären diese Genese nicht (z. B. das Aufkommen von Sprache und Selbstbewusstsein als Basis der Kultur). Zwar wird gelegentlich darauf verwiesen, dass diese Unerklärlichkeit nur unserer mangelnden Kenntnis bzw. dem fragmentarischen Charakter un- seres Wissens geschuldet sei und daher keinen prinzipiellen Einwand darstel- le. Aber es ist fraglich, ob dies wirklich ein stichhaltiges Argument ist. Denn hier wird (nach dem Vorbild Hempels, Oppenheims und Nagels; vgl. Stephan 1999b, 304) offenbar in ähnlicher Weise argumentiert, wie schon Einstein in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts versucht hatte, dem probabilis- tischen Naturverständnis der Quantenmechanik durch den Vorwurf des »Sub- jektivismus« entgegenzutreten, um dadurch den »Objektivismus« des deter- ministischen Naturverständnisses (»Gott würfelt nicht.«) aufrechterhalten zu können (vgl. Popper 1979, 223ff). Mittlerweile wissen wir aber, dass ein deter- ministisches Naturverständnis nicht alternativlos ist und wir auch Übergänge in der Natur anerkennen können, die keine deterministischen Übergänge sind (vgl. Bachelard 1988, 100ff; Prigogine/Stengers 1993, 125ff). Es sei hervorzu- heben, so Prigogine, »daß die Natur eine beträchtliche Spontaneität besitzt. In der Natur erleben wir das Auftreten spontaner Prozesse, die wir nicht so streng kontrollieren können, wie wir es entsprechend der klassischen Mechanik für möglich gehalten haben.« (Prigogine 1989, 54)

Und zum zweiten: Die evolutionäre Genese erklärt auch umgekehrt nicht die Existenz von Naturgesetzen. Denn Naturgesetze sind selbstverständlich keine natürlichen Gesetze, sondern kulturgeschichtliche Errungenschaften, die, wie wir wissen und wie das angeführte Beispiel aus der Physik deutlich macht, stän- dig revidiert werden. Die behauptete Geltung mag zwar überzeitliche Geltung sein, aber der Geltungsanspruch unterliegt einer ständigen, kulturgeschicht- lichen, in diesem Fall wissenschaftsgeschichtlichen Korrektur: Er kann sich als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, als begründet oder unbegründet erweisen, er kann plausibel oder unplausibel, verifizierbar bzw. verifiziert oder falsifizier- bar bzw. falsifiziert sein; und ob er es ist, hängt nicht nur und noch nicht ein- mal primär vom Gegenstand, sondern von den Techniken und symbolischen

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19 Ordnungen ab, mit denen wir Zugang zur Natur finden. »Die wahre Ordnung der Natur«, heißt es bei Gaston Bachelard, »ist die Ordnung, die wir technisch in die Natur hineinlegen.« (Bachelard 1988, 108) Mag also auch die natura- listische Geltung der Genese naturgesetzliche Geltung sein (naturgesetzlich in einem weiten, nicht-deterministischen Sinn), so lässt sie sich doch ihrerseits nicht wieder aus derjenigen Genese ableiten, für die ihre Gesetze gelten. Hier- für muss man vielmehr genau denjenigen Umweg über die Kultur gehen, von dem wiederum der Kulturalismus – und zwar mit Recht – behauptet, dass er gar kein Umweg sei, sondern der direkte und einzig gangbare Weg.

Insofern klafft zwischen Genesis und Geltung ein Hiatus: Die behauptete naturgesetzliche Geltung ist nicht – oder zumindest auf nicht oder noch nicht nachvollziehbare Weise – die Geltung der Genese; und die evolutionäre Genese ist nicht unmittelbar die Genese der Geltung. Dann aber ist es, aus naturalisti- scher Sicht, naheliegend, zwischen Natur und Kultur eine qualitative Differenz anzunehmen, ohne zu leugnen, dass die Kultur gleichwohl aus der Natur her- vorgegangen ist, es also in der Evolution des Lebens und schließlich des selbst- bewussten Lebens »natürlich« zugegangen ist. Für eine solche Differenz bietet sich der Begriff der Emergenz an (vgl. Sperry 1985; Stephan 1999a–b; Welsch 2007). Und zwar nicht der hermeneutische Emergenzbegriff, dem zufolge sich bestimmte Eigenschaften eines Ganzen nicht aus seinen Teilen erklären lassen, auch nicht der panpsychistische, dem zufolge Bewusstsein und Selbstbewusst- sein in der Natur immer schon vorausgesetzt werden müssen, und schließlich auch nicht der klassisch-dialektische, der einen Umschlag von Quantität in Qualität meint, sondern der wissens- und erkenntniskritisch-funktionalistische Emergenzbegriff. Dieser Begriff besagt erstens, anti-reduktionistisch: dass die als emergent bezeichneten Entitäten nicht mehr auf die Ebene zurückgeführt werden können, aus der sie entstanden sind. Und er besagt zweitens, anti-pro- spektivistisch: dass die emergenten Entitäten auch nicht mittels einer Analy- se der Eigenschaften der Ebene, aus der sie emergieren, vorhergesagt werden können.4

3.2 Muss man aber dann nicht eine dualistische Theorie vertreten? Das heißt, muss man aus der zugestandenen prospektiven wie retrospektiven Erklärungs- lücke nicht zwingend auf eine essenzielle Differenz von Natur und Kultur schlie- ßen, also auf eine solche, die sich nur mit Rekurs auf eine andere Instanz, z. B.

auf eine außernatürliche Schöpfermacht begründen lässt? Dass das nicht der Fall ist, möchte ich nun noch anhand einer Analyse des monistisch-kulturalis- tischen Arguments zeigen. Dieses Argument verbindet sich nämlich auf signi- fikante Weise mit dem soeben dargestellten Naturalismus und ergänzt so den auf die Trennbarkeit (Diskontinuität und Nichtidentität) von Natur und Kultur abhebenden Begriff der Emergenz mit dem auf das Moment der Untrennbarkeit

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(Kontinuität und Identität) abhebenden Begriff der Implemenz. – Wie sieht dieses Argument aus? Die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur beantwortet der kulturalistische Monismus, den ich weiter oben bereits kurz dargelegt habe, vor allem mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Be- zugnahme auf Natur an sich. Er argumentiert: Nicht die evolutionäre Genese sei das für die monistische These Entscheidende und damit Primäre, sondern die Tatsache, dass die Grenze zwischen Natur und Kultur eine in der Kultur- geschichte variable Grenze darstelle und daher diese Grenze bzw. Differenz der Kultur notwendigerweise immanent sei.

Der Kulturalismus beruft sich also auf die Variabilität in der theoretischen wie praktischen Bestimmung dessen, was jeweils unter Natur zu verstehen ist.

Aber indem er dies tut, muss er auf Geschichte rekurrieren und nimmt da- her an, wie dies zunächst auch der Naturalismus tut, dass es zwischen Genesis und Geltung, hier der Kulturgeschichte auf der einen und den in ihr erho- benen Geltungsansprüchen auf der anderen Seite, keinen prinzipiellen Un- terschied gibt, m. a. W. dass eine Analyse der Genese der Geltung uns diese Geltung auch verständlich machen kann. Und anders als der Naturalismus kann der Kulturalismus diesen Anspruch zu Recht erheben. Denn anhand von wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten, etwa denen von Kuhn und Bachelard, lässt sich auf beeindruckende Weise zeigen, wie naturwissenschaftliche Gel- tungsansprüche in der Tat von kulturgeschichtlichen Variablen dependieren:

z. B. wie sie gewissen epistemologischen Profilen folgen (vgl. Bachelard 1980, 31ff & 55ff) oder in ein Netz kultureller Verpflichtungen begrifflicher, theo- retischer, instrumenteller und methodologischer Art eingebunden sind (vgl.

Kuhn 1976, 54ff & 60ff), – ein Netz, das sich jederzeit verändern und insofern auch die bis dahin gültigen Naturgesetze umstoßen kann. Zwischen Geltung und Genesis klafft also im Kulturalismus, ganz anders als im Naturalismus, kein Hiatus. Die Untrennbarkeit von Genesis und Geltung ist garantiert. Oder genauer, der Kulturalismus muss nicht den Umweg über den Naturalismus ge- hen, um sein Argument aufrechterhalten zu können. Er zeigt ein gewisses Maß an Geschlossenheit.5

Der Preis, den er für diese Geschlossenheit zahlt, ist allerdings hoch. Denn der Kulturalismus schränkt die Geschichte willkürlich auf die Kulturgeschichte ein. Er abstrahiert von jener geschichtlichen Dimension, die wir als Naturge- schichte kennen und blendet damit die vom Monismus der Natur zurecht be- hauptete, nur vom Dualismus bezweifelte qualitative Identität von Natur und Kultur, also das Faktum aus, dass der Mensch als Kulturwesen immer noch Naturwesen und also auch die Kulturgeschichte immer noch Naturgeschichte ist. Eben dadurch gerät er aber in ein Dilemma: Soll die Geschichte auf Kul- turgeschichte begrenzt bleiben, kann eine solche Begrenzung nur durch ei- nen expliziten Dualismus von Natur und Kultur gerechtfertigt werden. Der

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