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Gott und Götter im alten Ägypten. Gedanken zur persönlichen Frömmigkeit

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Hartwig Altenmüller

Gott und Götter im alten Ägypten

Gedanken zur persönlichen Frömmigkeit*

I. Einleitung

Die persönliche Frömmigkeit des alten Ägypten steht seit einigen Jah­

ren verstärkt im Fokus der ägyptologischen Forschung. Dabei sind vor allem zwei Richtungen zu beobachten.

Die eine wird durch die Arbeiten von Jan Assmann geprägt, der seine Untersuchungen des Phänomens der „persönlichen Frömmigkeit" vor allem an der Phraseologie der Texte festmacht.

1

Die andere ist durch John Baines bestimmt, der die archäologischen Denkmäler an die Seite der literarischen Zeugnisse stellt und die kultu­

relle Auswirkungen der persönlichen Frömmigkeit in der praktischen Ausübung des täglichen Lebens untersucht.

2

In der vorliegenden Untersuchung soll die persönliche Frömmigkeit im Blick auf die Denkmäler der Privatpersonen betrachtet werden.

Hierbei geht es entscheidend um die Frage, in welcher Weise sich in Ägypten die Menschen an Gott wenden und in welcher Weise die Zu­

wendung Gottes zum Menschen erfolgt. Dokumente, die sich für eine Untersuchung dieser Frage eignen, sind vor allem aus zwei Perioden bekannt. Eine erste Phase ist mit Texten und Bildern aus dem frühen Neuen Reich verbunden, aus einer Zeit die vor dem Regierungsantritt des Echnaton liegt, während die zweite Phase hauptsächlich durch Texte und Bilder aus der Ramessidenzeit zu erfassen ist. Die Ander­

* Um Fußnoten erweiterte Fassung eines Vortrags vom 18. November 2006 anlässlich des 80. Geburtstags von Klaus Koch.

1 Jan Assmann, Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur (Urban Taschenbücher 366), Stuttgart 1984, 192­284; Oers., Ägyptische Hymnen und Gebete, Übersetzt, kommentiert und eingeleitet, Zweite verbesserte Auflage, Freiburg, Schweiz/ Göttingen, 1999.

2 John Baines, Practical Religion and Piety, JEA 73 (1987) 79­98; Ders., Society, Morality, and Religious Practice, in: Byron E. Shafer (Hg.), Religion in Ancient Egypt. Gods, Myths, and Personal Practice, Cornell University 1991, 123­200.

Originalveröffentlichung in: Friedhelm Hartenstein / Martin Rösel (Hg.), JHWH und die Götter der Völker. Symposium zum 80. Geburtstag von Klaus Koch, Neukirchen-Vluyn, 2009, S. 17-58

(2)

18 Hartwig Altenmüller

sartigkeit der Gotteserfahrung der Ramessidenzeit wird dabei häufig

mit den vorausgegangenen religiösen Reformen des Echnaton um 1350 v. Chr. in Verbindung gebracht, die sich trennend zwischen die erste und zweite Phase der persönlichen Frömmigkeit schieben, ist aber, wie sich zeigen lässt, nicht unbedingt davon abhängig.

3

Die Veränderungen der Gottesvorstellung treten besonders deutlich in den Texten der Sonnenreligion auf, bei denen im Anschluss an die Un­

tersuchungen von J. Assmann zwischen „traditionellen Sonnenhym­

nen", die sich aus dem traditionellen Tageszeitenlied des Neuen Reich­

es entwickelt haben, und Hymnen einer „neuen Sonnentheologie" zu unterscheiden ist.

4

II. Die traditionelle Sonnentheologie

1. Elemente der traditionellen Sonnentheologie

Unter dem Begriff der traditionellen Sonnentheologie werden die Aus­

sagen über den Sonnengott subsumiert, die auf eine Beschreibung des Sonnenlaufes zielen.

Die Texte, die die für die Sonnentheologie relevanten Aussagen machen, sind in zwei Literaturgattungen erhalten, und zwar einmal in den sogenannten Unterweltsbüchern, die seit der 18. Dynastie die Nachtfahrt des Sonnengottes durch die Unterwelt während der 12 Stun­

den der Nacht beschreiben, und zum anderen in den Sonnenhymnen, deren Gegenstand der Sonnenlauf am Tageshimmel ist, der sich eben­

falls in 12 Stunden vollzieht.

Der wichtigste Vertreter der Texte zur Unterweltsfahrt ist das so genannte Amduat, das seit dem Beginn des Neuen Reiches fast aus­

schließlich in den Königsgräbern

5

und im Neuen Reich nur ein einziges Mal in einem Privatgrab aufgezeichnet ist

6

, und bei dem in allen Aufzeichnungen eine feste Form vorherrscht. Im Unterschied zum Amduat und den anderen Unterweltsbüchern variieren die Texte der Sonnenhymnen sehr stark. Zwar gehen auch sie letztlich auf einen Standardtext zurück, doch liegen im Einzelnen sehr verschiedene

3 Hellmut Brunner, Persönliche Frömmigkeit, LÄ 4 (1982) 951.

4 Grundlegend sind die Arbeiten: Assmann, Hymnen und Gebete, 1­69 sowie Ders., Re und Arnim (OBO 51), Freiburg, Schweiz/Göttingen 1983, 96­143.

5 Erik Hornung, Ägyptische Unterweltsbücher, Zürich/München 1984, 59­194.

6 Die einzige Ausnahme ist aus dem Grab des Wesir User(amun) bekannt: Erik Hornung, Die Grabkammer des Vezirs User (NAWG 5), Göttingen 1961, 99­120;

Ders., Die „königliche" Dekoration der Sargkammer, in: Eberhard Dziobek, Die Gräber des Vezirs User­Amun Theben Nr 61 und 131 (AV 84), Mainz 1994, 42­47, Taf. 9­16, 28­35.

(3)

Gott und Götter im Alten Ägypten 19

Ausformungen vor.7 Eine Gemeinsamkeit aller Tageszeitenlieder besteht darin, dass der Sonnenlauf in verschiedene Phasen unterteilt ist, die im Einzelnen aus dem Aufgang der Sonne am Morgen, der Him- melsüberquerung der Sonne am Mittag, dem Sonnenuntergang am

Abend bestehen. Nur ganz selten wird in den Sonnenhymnen als vierte Phase die Fahrt der Sonne während der Nacht durch die Unterwelt the­

matisiert. Für diesen Nachtbereich sind die Unterweltsbücher als eigene Gattung zuständig.

Die Phasenstruktur des Sonnenlaufes kann summarisch etwa in der fol­

genden Weise skizziert werden.

Tagfahrt des Re

Sonnenaufgang im Osten Chepri

Nachtfahrt des Atum Diagramm des Sonnenlaufs8

2. Das Tageszeitenlied

Bei der Beschreibung des Sonnenlaufs werden unterschiedliche Mittel eingesetzt. Der Sonnenlauf wird teils mit Begriffen der altägyptischen Kosmologie, teils mit Begriffen des allgemeinen Lebens, der Königs­

herrschaft oder des Mythos ausgedeutet.

9

In der kosmischen Ausdeutung geht es im Wesentlichen um die Bewe­

gung und das Licht. Die Bewegung der Sonne wird in der Art einer Barkenfahrt vorgestellt. Die Sonne steigt in der Barke auf, wird im Ost­

horizont sichtbar, überquert in gutem Segelwind den Himmel und geht

7 Eine gute Übersicht über die verschiedenen Fassungen der Sonnenhymnen liefert Harry M. Stewart, Traditional Egyptian Sun Hymns of the New Kingdom, Bulletin of the Institute of Archaeology 6(1967) 29­74.

8 Vgl. Jan Assmann, Sonnengott, LÄ 5 (1984) 1088; Bernd Janowski, Rettungs­

gewissheit und Epiphanie des Heils (WMANT 59), Neukirchen­Vluyn 1989, 137 Abb. 19; Silvia Wiebach-Koepke, Phänomenologie der Bewegungsabläufe im Jen­

seitskonzept der Unterweltbücher Amduat und Pfortenbuch und der liturgischen

„Sonnenlitanei" (ÄAT 55), Wiesbaden 2003, 6.

9 Vgl. dazu Assmann, Hymnen und Gebete, 31­36.

Diesseits Tag Nacht Unterwelt

Sonnenuntergang im Westen Atum

(4)

20 Hartwig Altenmüller

am Abend in den Westhorizont ein. Während der Nacht wird sie von

Westen nach Osten getreidelt.

Bei der personhaften Ausdeutung des Sonnenlaufs werden mythische Bilder verwendet, in die auch die Mitreisenden in der Sonnenbarke ein­

bezogen sind. Diese Gefährten bilden für den Sonnengott innerhalb des polytheistischen Weltbilds eine „Sphäre des Seinigen", sind seine Kon­

stellationen.

10

Neben die mythischen Bilder treten weiter Bilder, in de­

nen Elemente des Lebens sowie Phasen der Königsherrschaft erschei­

nen. Das wohl wichtigste Phänomen der mythischen Aussage sind die unterschiedlichen Manifestationen des Sonnengottes in den drei Phasen der Sonnenfahrt, die zu einer Dreigestalt des Sonnengottes zusammen­

gefasst werden. Die unterschiedlichen Gestalten des Sonnengottes las­

sen sich in der folgenden Weise bestimmen:

Am Morgen ist der Sonnengott Chepre in Gestalt eines Skarabäus, am Mittag ist er Re oder Harachte in Menschengestalt mit Falkenkopf, am Abend ist er der gealterte menschengestaltige Atum mit Widderkopf.

Die Bilder des Lebens, mit denen der Sonnenlauf in Verbindung ge­

bracht wird, erstrecken sich auf die Zeiträume zwischen Geburt und Tod. Die Geburt der Sonne erfolgt am Morgen durch die Himmels­

göttin Nut. Der Untergang der Sonne am Abend bedeutet, dass die Son­

ne in den Leib der Himmelsgöttin Nut zurückkehrt und von ihr ver­

schlungen wird. Die Bilder der Herrschaft greifen auf das Vorbild des Königtums zurück. In ihnen wird der Sonnengott am Morgen als ein König, der seine Herrschaft über die Götter antritt, vorgestellt.

Am Mittag triumphiert er über seine Feinde und am Abend tritt er als Herrscher in die Unterwelt ein.

Die ausführlichsten Belege für diese Gottesvorstellung stammen aus der Sonnenhymnik des Neuen Reiches.

11

Doch sind die Vorstellungen von der Phasenstruktur des Sonnenlaufs wesentlich älter. Sie sind be­

reits in Pyramidenspruch [606] 1695a­c fassbar. Dort bezieht sich die Aussage auf die Teilnahme des Königs an der täglichen Sonnenfahrt, die für den verstorbenen König eine Auferstehung am Morgen eines je­

den neuen Tages ermöglicht:

[Aufgang wie Re am Morgen]

Sie (die Götter) lassen den König hier entstehen wie Re in jenem seinem Namen „Chepre".

[Überfahrt über den Tageshimmel wie Re am Mittag]

Du steigst auf zu ihnen (den Göttern) wie Re in jenem seinem Namen „Re".

10 Jan Assmann, Liturgische Lieder an den Sonnengott (MÄS 19), Berlin 1969, 342­352.

11 Das weite Spektrum der Gottesvorstellungen ist in den Sonnenhymnen ver­

arbeitet, die Assmann in verschiedenen Arbeiten zusammengestellt hat: Liturgische Lieder an den Sonnengott, 333­339 diskutiert er die Thematik erstmals ausfuhrlich.

(5)

Gott und Götter im Alten Ägypten 21

[Untergang wie Re an Abend]

Du entschwindest aus ihrem Blick wie Re in jenem seinem Namen „Atum" (PT 1695a­c).12

Diese frühe Beschreibung des Sonnenlaufs und dessen Unterteilung in mehrere Phasen ist die Folie, vor der das traditionelle Tageszeitenlied des Neuen Reiches steht. Doch hat sich jetzt der Bezug geändert.

Jetzt ist der Verstorbene nicht mehr Teilnehmer an der Sonnenfahrt ­ wie einst der König in den Pyramidentexten ­ sondern hat dazu Abstand genommen. Er tritt aus dem Grab heraus und betet den Sonnengott mit erhobenen Armen an. Er übernimmt auf diese Weise die Rolle eines Beobachters des Sonnenlaufs und Verehrers des Sonnengottes.

Die Mehrzahl der Sonnenhymnen des traditionellen Typs des Tages­

zeitenlieds sind aus Gräbern der 18. und 19. Dynastie des Neuen Rei­

ches bekannt. Sie stehen meist an den Eingangswänden des Grabes, das der Grabherr bei Sonnenaufgang zu verlassen wünscht.

Oft sind die Lieder auch Teil des Totenbuchs, das dem Grabherrn mit ins Grab gegeben wird. Durch den Besitz einer Aufzeichnung des Ta­

geszeitenlieds ist der Verstorbene in der Lage, beim Heraustreten aus dem Grab mit der Rezitation der Lieder an den Sonnengott zu begin­

nen.

Die in den Tageszeitenliedern klar hervortretende Phasenstruktur des Sonnenlaufs wird besonders deutlich im oft überlieferten Kapitel 15 des Totenbuchs. In der Fassung des Ani aus der frühen 19. Dynastie expliziert das Tageszeitenlied die Phasenstruktur des Sonnenlaufs in der folgenden Form:

[Titel und Überschrift]

Re anbeten bei seinem Aufgang

bis zum Eintritt seines Untergangs im Leben:

[Begrüßung des Gottes bei Sonnenaufgang; Stichworte: Licht, mythische Gestalt]

Gegrüßt seiest du, Re bei seinem Aufgang, Atum, Harachte.

Ich bete dich an, deine Schönheit in meinen Augen, dein Glanz entfaltet sich auf meiner Brust.

[Überfahrt über den Tageshimmel; Stichworte: Bewegung und Herrschaft]

Du ziehst dahin, du gehst unter in der Nachtbarke, dein Herz ist weit im Segelwind.

Die Tagesbarke, ihr Herz ist froh.

Du durchwanderst den Himmel in Frieden.

Gefällt sind alle deine Feinde.

[„ Sphäre des Seinigen "; Akklamation durch die Begleiter]

Die „Unermüdlichen" jubeln dir zu, die „Unvergänglichen" beten dich an.

12 Pyramidenspruch [606] 1695a­c. Vgl. dazu auch Hartwig Altenmüller, Aspekte des Sonnenlaufes in den Pyramidentexten, in: Hommages ä Francois Daumas, Montpellier 1986, 1­15.

(6)

22 Hartwig Altenmüller

[Untergang und Nachtfahrt]

Du gehst unter im Lichtland des Westbergs, du hast dich vollendet als Re Tag für Tag.

Du lebst und dauerst als mein Herr.13

Die den Sonnenlauf komplementierende vierte Phase der Nachtfahrt, die im letzten Teil des Sonnenlieds des Ani angesprochen wird, wird fast immer ausgelassen und fehlt häufig im Korpus der Hymnen.14 Ihre Beschreibung ist dem großen Korpus der Unterweltsbücher vorbehal­

ten. Sie wird in den Hymnen des Neuen Reiches daher auch nur selten dokumentiert. Eines der wenigen Beispiele stammt aus der Zeit Ame­

nophis III. aus dem Grab des Cheriuf in Theben (TT 192)15, ein an­

deres ist, in etwas kürzerer Form, in Papyrus Leiden I, 344 erhalten:16

[Untergang, Nachtfahrt, Herrschaft], Du bist gekommen als Sonnenscheibe, Machtbild des Himmels.

Du hast dich vereinigt mit dem Herrscher der Unterwelt, du überweist deine Schönheit der Unterwelt.

[Nachtfahrt, Licht]

Du leuchtest denen, die in der Urfinsternis sind:

Die in den Höhlen sind in Frohlocken.

Sie beten dich an, wenn du dich ihnen näherst.

[Aufgang, Leben]

Die Himmelsgöttin verbringt die Nacht in Schwangerschaft täglich, die Erde wird hell zu [deiner Geburt, Tag für Tag]

als [ein Jüngling, vollkommen] in seiner Gestalt.

[Bezug zum Sonnenlauf]

Der aus dem Leib seiner Mutter hervor kommt ohne Unterlass und darin untergeht zu seiner Stunde.17

13 Assmann, Liturgische Lieder, 282 Text III 2A mit den Parallelfassungen aus verschiedenen Totenbüchem der 19.­21. Dyn. und aus Gräbern, sowie in Kurzfas­

sungen auf Stelen und Statuetten; vgl. auch Stewart, Traditional Egyptian Sun Hymns, 58­59, Nr. VII; Assmann, Hymnen und Gebete, 116 [31].

14 Vgl. die Aufstellung der Phasen bei Assmann, Liturgische Lieder, 335.

15 Theben, Grab des Cheriuf, Eingang, rechts (Nord); PM I, 298 [192.4]; The Epi­

graphic Survey in Cooperation with the Department of Antiquities of Egypt, Chica­

go, Illinois, The Tomb of Kheruef. Theban Tomb 192. (OIP 102), Chicago 1980, 30­32, Taf. 7; Assmann, Hymnen und Gebete, 150 [ÄHG 56,33­45].

16 Jan Zandee, Ein doppelt überlieferter Text eines ägyptischen Hymnus an die Nachtsonne aus dem Neuen Reich: Hieratischer Papyrus Leiden I 344 vso. IV, 1­5 und thebanisches Grab des Cheriüf, Nr. 192, JEOL 27 (1981­82) 7; Assmann, Hymnen und Gebete, 552 [Anhang 1, Strophe 8}.

17 Vgl. auch Harry M. Stewart, Some Pre­Amarnah Sun­Hymns, JEA 46 (1960) 86­87.

(7)

Gott und Götter im Alten Ägypten 23

III. Die Transformation der traditionellen Sonnentheologie zu einer

„neuen Sonnentheologie" ­ Vorläufer der persönlichen Frömmigkeit 1. Die „neue Sonnentheologie"

In den Sonnenhymnen der traditionellen Konzeption überwiegen die Elemente der Kosmographie. Wenn der Sonnengott in seinen my­

thischen Namen Chepre, Re oder Re­Harachte und Atum angerufen wird, ist jede dieser Manifestationen mit einer der Phasen oder Zeit­

abschnitte verbunden, in denen der Sonnengott seine Barkenfahrt über den Himmel vollzieht. Bei seiner Bewegung über den Tageshimmel ist er von göttlichen Wesen umgeben, die zur Besatzung seiner Barke gehören, ihn rudern oder preisen und die als je eigene Konstellationen für den Sonnengott die „Sphäre des Seinigen" bilden.

Dabei fällt auf, dass im kosmographisch bestimmten traditionellen Tageszeitenlied der Bezug von Gott zu Mensch gänzlich fehlt. Fragen, die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch betreffen, werden weit­

gehend ausgeklammert. Zu diesen Fragen gehören:

(1) die Frage nach dem Schöpfergott und Erhalter der Schöpfung, (2) die Frage nach der Verantwortlichkeit des Gottes für die Menschen,

also die Frage nach dem „hörenden Gott",

(3) die Frage nach dem Richter, der über Recht und Ordnung wacht.

Diese Fragen kommen erst in Texten zu Wort, die Jan Assmann einer von ihm so bezeichneten „neuen Sonnentheologie" zuordnet.'

8

Die Betrachtung Gottes, die bisher auf eine Beschreibung des Sonnen­

laufs und seiner Konstellationen ausgerichtet war, weicht in dieser

„neuen Sonnentheologie" einer anthropozentrischen Betrachtungs­

weise. Darin wird auf das Wirken Gottes für die Welt der Menschen Bezug genommen und die Verantwortung Gottes für die Menschen herausgestellt.

Vorstufen dieser „neuen Sonnentheologie" sind bereits früh zu beob­

achten. Sie liegen am Beginn des Mittleren Reiches und haben ihre Wurzeln in den menschlichen Erfahrungen der Ersten Zwischenzeit.

Damals, um 2000 v. Chr., war Ägypten von politischen Krisen er­

schüttert und Staat und Gesellschaft in tiefer Not. In dieser Zeit, in der der Zentralstaat zerfiel, sich die Gaue als eigene politischen Einheiten verselbständigten und sich neue Herrschaftsgruppen bildeten, verfiel das Land in chaotische Zustände.

Über die wirklichen Zustände dieser Zeit kann man nur spekulieren, vermutlich liefern ein annähernd realistisches Bild die aus dieser Zeit

18 Assmann, Hymnen und Gebete, 36­44; Ders., Re und Amun, 96­143.

(8)

24 Hartwig A Itenmüller

stammenden Ermahnungen des Ipuwer, die sog. „Admonitions" des

Papyrus Leiden I 344, die allerdings nur in einer Abschrift aus der 19.

Dynastie erhalten sind. In diesem hochrangigen Literaturwerk werden soziale Umstände beschrieben, die gut in die Chaoszeit zwischen dem Alten und Mittleren Reich passen:

Wahrlich, Arme sind zu Reichen geworden,

wer sich keine Sandalen leisten konnte, ist jetzt ein Herr von Schätzen.19

oder:

Wahrlich, die Edlen klagen, die Armen jubeln,

jede Stadt sagt: Lasst uns die Herren aus unserer Mitte vertreiben.20

Diese Umkehrung der Verhältnisse führt zu einer Frühform der Theo­

dizee. Aus der gegebenen historischen Situation erwächst die Frage, wie die Existenz Gottes mit der Existenz des Übels ­ oder des Bösen ­ in der Welt vereinbar ist.

Das Verhalten Gottes zu den Menschen wird hinterfragt. Es werden die folgenden Fragen gestellt:

(1) Warum behandelt Gott alle Menschen, gute wie böse, in gleicher Weise?

(2) Hat denn Gott das Böse im Charakter der Menschen nicht erkannt?

Warum hat er sie nicht bereits bei Beginn der Schöpfung vernichtet?

(3) Warum straft Gott auch dann nicht, wenn das Böse sich gegen ihn selbst wendet?

(4) Hat Gott möglicherweise das Böse selbst verursacht und damit indirekt befohlen?2 1

2. Das Wirken Gottes in der Welt

Das neue Bewusstsein über die Veränderbarkeit der Welt und der sozialen Lage der Menschen führt zu einem Versuch der Recht­

fertigung Gottes hinsichtlich des von ihm zugelassenen Übels in der Welt. Die ausführlichste frühe Abhandlung zu diesem Problem liegt in der Lehre für König Merikare aus der 10. Dynastie um 2000 v. Chr.

vor, also ebenfalls aus der Ersten Zwischenzeit.

22

19 Adm. 2,4­5: Alan H. Gardiner, The Admonitions of an Egyptian Sage, Leipzig 1909, 24; Wolfgang Helck, Die „Admonitions" Pap. Leiden I 344 recto (KÄT 11), Wiesbaden 1995, 6; Jan Assmann, Stein und Zeit, Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten, München 1991, 261.

2 0 Adm. 2,7­8: Gardiner, Admonitions, 26; Helck, Die „Admonitions", 8;

Assmann, Stein und Zeit, 261.

21 Winfried Barta, Das Gespräch des Ipuwer mit dem Schöpfergott, SAK 1 (1974) 22­23.

22 Joachim F. Quack, Studien zur Lehre für Merikare (GOF IV. 23), Wiesbaden 1992.

(9)

Gott und Götter im Alten Ägypten 25 Dort wird erstmals über das Wesen und Wirken eines anonymen Gottes

in der Funktion eines Schöpfers und Erhalters der Schöpfung gehandelt und das Wirken Gottes unter einen anthropozentrischen Blickwinkel gestellt.

23

Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem angesproch­

enen anonymen Gott um den Sonnengott Re handelt.

In der Lehre für Merikare wird festgestellt, dass die persönliche Hin­

wendung des Menschen zu Gott die gnädige Zuwendung des Gottes zum Menschen zur Folge hat. Explizit heißt es dazu: „Gott vergisst den nicht, der für ihn gehandelt hat" (E 67).

24

Alle Handlungen Gottes geschehen den Menschen zuliebe, d.h. „um ihretwillen" [n ib=sri). Die einzelnen Schöpfungstaten werden nach­

einander aufgezählt (E 130­138):

[Erschaffung von Himmel und Erde und der Menschen]

Wohl versorgt sind die Menschen, das Kleinvieh Gottes.

Ihnen zuliebe (n ib=sn) schuf er Himmel und Erde, er bezwang die Gier des Wassers

und schuf die Luft, damit sie leben können.

Seine Ebenbilder sind sie, aus seinem Leib hervorgegangen.

[Sonnenlauf]

Ihnen zuliebe (n ib=sn) geht er am Himmel auf.

[Erschaffung von Pflanzen und Tieren]

Für sie erschuf er die Kräuter,

Vieh und Vögel und Fische, (um) sie zu ernähren.

[Strafender Richter]

Wenn er seine Feinde tötete und gegen seine Kinder vorging, dann nur, weil sie auf Rebellion sannen.

[Das Wirken Gottes in Licht und Bewegung]

Ihnen zuliebe (n ib=sn) lässt er es Licht werden.

Um sie zu sehen, fährt er dahin ( ­ gemeint ist: in der Barke über den Himmel)

[Der „ hörende Gott"]

Er errichtete sich eine Kapelle hinter ihnen.

Wenn sie weinen, hört er.

[Gott handelt. Er überträgt sein Handeln an den König, der an seiner Stelle Recht spricht]

Er schuf ihnen Herrscher im [Ei]

und Machthaber, um den Rücken des Schwachen zu stärken.

Dieser neue Aspekt der ethischen Instanz wird in der Lehre für Meri­

kare noch zurückhaltend zur Sprache gebracht. Doch ist der Gedanke, dass „Gott die Menschen hört, wenn sie weinen", ein direkter Vorläufer der „neuen Sonnentheologie", die sich im Verlauf des Neuen Reiches weiter entfaltet und in deren Zentrum die Fürsorge Gottes für die Men­

schen und die von ihm erschaffene Welt steht.

23 Assmann, Theologie und Frömmigkeit, 201 ff.

24 Quack, Merikare, 41; vgl. Assmann, Re und Amun, 160.

(10)

26 Hartwig A Itenmüller

3. Der Amunhymnus des Pap. Kairo 5803825

Die in der Ersten Zwischenzeit um 2000 v. Chr. erstmals fassbare sog.

„neue Sonnentheologie", in der von der Fürsorge Gottes für den Men­

schen die Rede ist, wird im Neuen Reich weiter entfaltet.

Einen entscheidenden Schritt vorwärts stellt der Amunhymnus des Papyrus Kairo 58038 aus der Zeit Amenophis II. dar.26 Der Hymnus gehörte noch in der Ramessidenzeit zu den Texten des Schulbetriebs.27

Er sollte bis zum Ende des Neuen Reiches an Bedeutung nicht ver­

lieren.

Der Hymnus baut auf den traditionellen Gottesvorstellungen des Ta­

geszeitenliedes auf und nennt die traditionellen Konstellationen des Sonnengottes:

[Anrufung]

[Amun­Re],

Herr der Nachtbarke und der Tagbarke,

sie (die beiden Barken) überqueren für dich das Urgewässer in Frieden.

Deine Mannschaft jubelt,

sie sieht, dass der Rebell gefällt ist.28

Einen breiten Raum nehmen die Gottesvorstellungen der „neuen Son­

nentheologie" ein. Amun­Re ist den Menschen nahe und wendet sich ihnen zu. Er ist Schöpfer und Erhalter der Schöpfung und ethische In­

stanz:

[Einziger, Schöpfer und Erhalter der Schöpfung]

Du bist der Eine, der alles Seiende geschaffen hat, der Eine Einsame, der schuf, was ist.

Die Menschen gingen aus seinen Augen hervor, und die Götter entstanden aus seinem Mund.

Der die Kräuter erschafft, die das Vieh am Leben erhalten, und den „Lebensbaum", für die Menschheit,

der hervorbringt, wovon die Fische im Fluss leben und die Vögel, die den Himmel bevölkern.

Der dem, der im Ei ist, Luft gibt,

der das Junge der Schlange am Leben erhält, der erschafft, wovon die Mücke lebt, Würmer und Flöhe gleichermaßen;

25 Maria Michela Luiseiii, Der Amun­Re Hymnus des P. Boulaq 17 (P. Kairo CG 58038) (KÄT 14), Wiesbaden 2004; Malte Römer, Der Kairener Hymnus an Amun­Re: zur Gliederung von pBoulaq 17, in: Form und Maß, Beiträge zur Liter­

atur, Sprache und Kunst des alten Ägypten, FS Fecht (ÄAT 12), 1987, 405­428;

Assmann, Hymnen und Gebete, 196­206 [ÄHG 87]; Ders., Re und Amun, 170­182.

2 6 Teile des Hymnus sind bereits auf einem Statuenfragment aus der 17. Dynastie (London BM 40959) erhalten.

27 Assmann, Re und Amun, S. 170­171; Luiseiii, Amun­Re Hymnus, XX­XXI.

2 8 P. Kairo 58038, 9,6­7; Übersetzung nach Assmann, Hymnen und Gebete, 202 [ÄHG 87, Vers 176­179]; vgl. Luiseiii, Amun­Re Hymnus, 93 [IV, Vers 12­15].

(11)

Gott und Götter im Alten Ägypten 27

der für die Mäuse in ihren Löchern sorgt

und die Käfer (?) am Leben erhält in jeglichem Holz.

Sei gegrüßt, der dies alles geschaffen hat,

der Eine Einzige mit seinen vielen Armen (gemeint sind die Strahlen des Gottes).29

[Ethische Instanz]

Vollendeter Herrscher, der in der weißen Krone erscheint, Herr der Strahlen, Schöpfer des Lichts,

dem die Götter Loblieder anstimmen;

der seine Hand dem reicht, den er lieb hat, aber seine Feinde verbrennt im Feuer.30

und:

Der das Flehen dessen hört, der in Bedrängnis ist, wohl geneigten Herzens gegenüber dem, der zu ihm ruft;

der den Furchtsamen rettet aus der Hand des Gewalttätigen und richtet zwischen dem Armen und dem Reichen.31

4. Amenemope und seine Frau Hathor (Berlin 6910)

Die Frage nach der sozialen Instanz des Schöpfergottes, eines der The­

men des Amunhymnus von Kairo, wird im Verlauf der 18. und 19. Dy­

nastie unter Berücksichtigung zahlreicher neuer Aspekte erweitert und zugleich weiter differenziert. Ein bemerkenswertes Dokument des neuen Sonnenglaubens findet sich auf der Rückenplatte einer heute in Berlin befindlichen Sitzgruppe aus dem Grab des Amenemope (TT 265) in Deir el Medineh aus der frühen 19. Dynastie.32 Der dort aufge­

zeichnete Hymnus an Amun­Re berührt sich in vielen Punkten mit dem Amunhymnus aus Kairo, ist aber durch seine Aufzeichnung auf einem Gegenstand der Grabausrüstung singulär:33

[Einziger und Schöpferp4

Du bist der Eine Gott, der keinen Zweiten hat!

Re ist das, der im Himmel aufgeht, Atum, der die Menschheit erschuf.

2 9 P. Kairo 58038, 6,2­7; Übersetzung nach Assmann, Hymnen und Gebete, 199­

200 [ÄHG 87, Vers 107­122]; vgl. Luiseiii, Amun­Re Hymnus, 72­77 [III, Vers 26­41].

3 0 P. Kairo 58038, 3,5­7; Übersetzung nach Assmann, Hymnen und Gebete, 198 [ÄHG 87, Vers 54­58]; vgl. Luiseiii, Amun­Re Hymnus, 58­59 [II, Vers 14­18].

3 1 P. Kairo 58038, 4,3­5; Übersetzung nach Assmann, Hymnen und Gebete, 198 [ÄHG 87,Vers 69­72]; vgl. Luiseiii, Amun­Re Hymnus, 63­64 [II, Vers 29­32].

3 2 P M P , 346 [TT 265]; Berlin 6910.

3 3 KRI I, 387­388; Übersetzung nach Assmann, Hymnen und Gebete, 394­395 [ÄHG 169]; Kommentar in: Jan Assmann, Sonnenhymnen in thebanischen Gräbern, Theben 1, Mainz 1983, 282­284.

3 4 Vgl. Pap. Kairo 58038, 6,2­3.

(12)

28 Hartwig Altenmüller

{Ethische Instanz]3-5

Der die Gebete dessen erhört, der zu ihm ruft, der einen Mann errettet vor dem Gewaltherzigen.

[Erhalter der Schöpfimg]36

Der den Nil heraufführt, damit sie zu essen haben, der Jedem Auge" Gutes zuführt;

wenn er aufgeht, lebt die Menschheit, ihre Herzen leben, wenn sie sehen.

Der dem, der im Ei ist, Luft gibt, der Fische und Vögel am Leben erhält.

Der für die Mäuse sorgt in ihren Höhlen und für Würmer und Flöhe gleichermaßen.37

5. Erste Zusammenfassung

Jan Assmann hat die Transformation der traditionellen Sonnenreligion zur „neuen Sonnentheologie" in einer Reihe von Arbeiten ausführlich beschrieben und die Charakteristika der traditionellen und der „neuen Sonnentheologie" abgegrenzt.

38

Er stellt fest, dass der Sonnengott in der traditionellen Sonnenreligion in einen Vorgang eingebunden ist, der in den Konstellationen der

„Sphäre des Seinigen" verläuft.

Der Sonnenlauf spielt sich in Handlungskonstellationen ab, die sich durch die Präsenz anderer am Sonnenlauf beteiligter Götter und Wesen ergeben. So gehören zum Bild des Sonnenaufgangs die akklamierenden Paviane und Isis und Nephthys als Ammen (des Sonnenkindes) (Abb. I)

39

, zum Bild des Sonnenuntergangs dagegen die Schakale, die das Sonnenschiff treideln und es in die Unterwelt befördern.

Die Rollen und mythischen Bilder sind festgelegt wie die Bilder in den Kultszenen der Tempel oder wie die Vignetten des Totenbuchs. Der Sonnengott wird ohne einen erkennbaren Willen charakterisiert.

In der „neuen Sonnentheologie" dagegen wird die geradezu ikonhafte Beschreibung der Welt mit ihren darin stattfindenden und mit dem Sonnenlauf zusammenhängenden Vorgängen aufgebrochen und die Welt des Menschen einbezogen.

Jetzt zeigt sich die „Wirksamkeit Gottes im Horizont der Menschen­

welt". Gott ist für die Menschen da. Der Sonnengott belebt die Men­

schen und erhält sie durch seine Fürsorge.

35 Vgl. Pap. Kairo 58038,4,4.

36 Vgl. Pap. Kairo 58038, 6,6­7.

37 Assmann, Hymnen und Gebete, 395 [ÄHG 169,11­23].

38 Z.B. Assmann, Hymnen und Gebete, 30­44; Ders., Re und Amun, 96­143;

Ders., Sonnenhymnen in thebanischen Gräbern, X­XXXVIII.

39 Kurt Sethe, Altägyptische Vorstellungen vom Lauf der Sonne (SPAW) 1928, 275.

(13)

Gott und Götter im Alten Ägypten 29

IV. Frühe Äußerungen der persönlichen Frömmigkeit

1. Ein Harfnerlied aus dem Grab des Antefoker in Theben (TT 60) Für die in der „neuen Sonnentheologie" vertretene Form des personalen Gottesbegriffs existieren nur wenige Beispiele aus dem Mittleren Reich.

Ein frühes, wenn auch noch unsicheres Textbeispiel liefert das Harfner­

lied aus dem Grab von Antefoker von Theben aus der Zeit von Sesos­

tris I. (1956­1911) (Abb. 2). In diesem Harfnerlied wendet sich der Sänger an Hathor mit der Bitte um Erhörung. Die Anrufung verwendet Formeln, die später in der persönlichen Frömmigkeit wieder aufgenom­

men werden:

40

Ich bitte, dass du ­ Majestät, Goldene ­ (mein) Flehen erhörst:

Wende dein Herz mir zu!

Es folgt eine Aretalogie der Gottheit, in der das Wesen der Göttin Hathor gepriesen wird:

Gruß dir, Herrin des Wohlgeruchs, Große Mächtige, mächtige Allherrin, Utet­Schlange auf dem Haupt ihres Vaters.

Größte, befindlich vor dem, der sie gemacht hat, deren Platz vom ist in der Barke des Leibes.41

Die Zielrichtung des Liedes ist nicht eine Bitte um Errettung aus einer Notsituation, sondern eine um Aufmerksamkeit der Gottheit für den Gesang des Harfenspielers, so dass das Lied vermutlich als ein Beispiel der frühen persönlichen Frömmigkeit ausscheiden muss.

2. Ein Harfnerlied aus dem Grab des Djehuti (TT 11)

Anders liegt der Fall beim Harfnerlied aus dem thebanischen Grab des Djehuti aus der frühen 18. Dynastie (Abb. 3), in dem unmittelbar auf die soziale Instanz der Gottheit verwiesen wird.

42

Das im Hymnenstil verfasste Lied entspricht den Kriterien der „neuen Sonnentheologie". Amun­Re wird darin als „Vater der Väter", d.h. als

40 Ludwig D. Morenz, Beiträge zur Schriftlichkeitskultur im Mittleren Reich und in der 2. Zwischenzeit (ÄAT 29), Wiesbaden, 1996, 66.

41 Alan H. Gardiner I Norman de Garis Davies, The Tomb of Antefoker, vizier of Sesostris I., and of his wife, Senet (No. 60) (TTS 2), London 1920, 24, Taf. 29. S.

Allam, Beiträge zum Hathorkult (bis zum Ende des Mittleren Reiches) (MÄS 4), 1963, 139.

42 PM P, 21­24 [TT 11]; Torgny Säve-Söderbergh, Eine Gastmahlsszene im Grabe des Schatzhausvorstehers Djehuti, MDAIK 16 (1958) 283­285 Abb. 3.

(14)

30 Hartwig Altenmüller

Urgott, sowie als Schöpfer von Himmel und Erde und aller darin

lebenden Wesen bezeichnet, er ist „Erhalter der Schöpfung" und für seine Verehrer und Gefolgsleute die soziale Instanz:

[Amun-Re als Schöpfer]

(Amun­Re) Vater der Götter,

Herr des Himmels, Herr der Erde, Herr des Wassers,

der das Seiende erschafft, die Gewächse entstehen lässt und alles, was ist, hervorbringt!

[Amun-Re als soziale Instanz]

Der die Atemluft gibt dem, der ihn anbetet

und die Lebenszeit trefflich macht dessen, der auf seinem Wasser (d.h.

loyal) handelt.

Gib, dass gesund sei dieser ruhige Fürst, der bleibend fortdauern wird.

Eine Variante dieses Harfnerlieds aus dem Grab des Djehuti ist auf ei­

ner Beterstatuette in Kairo (CG 921) erhalten.

43

3. Das Gebet des Djehutinefer aus der Zeit der Hatschepsut auf einer Stele in Turin

44

In die gleiche Tradition gehört der Text auf einer in Turin aufbe­

wahrten Stele des Schatzhausschreibers Djehutinefer aus Theben.

Die Steleninschrift, die wahrscheinlich wie das Harfnerlied des Djehuti in die Zeit der Hatschepsut (1479­1458) zu datieren ist, enthält eine ähnliche ­ eulogische ­ Aussage.

Der Text beginnt mit einer Opferformel, in der Amun­Re als Urgott und Schöpfer gepriesen wird. Es folgt eine Bitte mit dem Wunsch für ein segensreiches Leben:

[Opferformel: Amun-Re als Urgott]

Ein Opfer, das der König gibt, dem Amun­Re, dem Herrn von Karnak, Urgott des Anbeginns, Erster von Theben,

herrliches Machtbild, Selbstentstandener.

[Amun-Re als soziale Instanz]

Möge er (Amun­Re) Leben geben dem, den er liebt, und ein Alter dem, der ihn sich in sein Herz gibt, den Hauch seines Mundes dem, der in seiner Gunst steht, und der in Ewigkeit nicht aufhört, ihn zu schauen.45

43 Assmann, Hymnen und Gebete, 192 [ÄHG 83]; Ders., Re und Amun, 164;

Ders., Sonnenhymnen in thebanischen Gräbern, 11 [Text 13].

4 4 Turin Nr. 46 (Orcurti); Alessandro Roccati, Religious and Funerary Texts of the 2nd Millenium, in: Egyptian Museum of Turin. Egyptian Civilization, Religious Beliefs, Turin 1988, 139 Abb. 187 ["Steh belonging to the Treasury Scribe Thotnefer, recalling his presence in the temple of Amun at Karnak"].

45 Assmann, Hymnen und Gebete, 181 [ÄHG 72,5­8]; Ders., Re und Amun, 165.

(15)

Gott und Götter im Alten Ägypten 31

Das Harfnerlied des Djehuti (TT 11) und das Gebet des Djehutinefer (Stele Turin), beide aus der frühen 18. Dynastie aus der ersten Hälfte

des 15. Jh. v. Chr., verwenden eine Phraseologie, die später für die Texte der persönlichen Frömmigkeit der 19. Dynastie kennzeichnend ist. Die entscheidenden Phrasen, die noch in den Texten der persön­

lichen Frömmigkeit der 19. Dynastie vorkommen, beziehen sich auf das reziproke Verhältnis von Mensch und Gott.

Die Verehrer der Gottheit „handeln auf dem Wasser des Gottes".

46

so das Harfnerlied des Grabherrn Djehuti, oder ,geben den Gott in das

Herz", so die Opferformel des Djehutinefer,47

und liefern durch ihr Tun die Gewähr, dass es ihnen gut ergehen wird. In den gleichen Zusammenhang von Tun und Ergehen verweist auch die Stele des Antef aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. v. Chr., in der es mit Bezug auf Amun­Re heißt:

48

Er (Antef) sagt: „Gegrüßt seiest du, Amun­Re, vollendeter Ba, ältester der Götter!

Vater und Mutter für den, der ihn sich im Herz gibt,

der sich aber abkehrt von dem, der an seiner Stadt achtlos vorübergeht.

4. Das Gebet des Paheri aus Elkab an Osiris (Abb. 4)

Belege für eine direkte Kommunikation von Privatpersonen mit einer Gottheit sind in der 18. Dynastie selten.

Dies liegt vermutlich daran, dass es nicht möglich war, die innere Haltung des Einzelnen zu Gott in ein Bild umzusetzen. Denn nur der König war berechtigt, vor den Gott zu treten. Gebetszenen vor einer Gottheit gehören daher nicht zum Dekorum der 18. Dynastie.

Eine Ausnahme bildet eine Szene im Grab des Paheri von Elkab aus der Zeit Thutmosis' III. (1479/1458­1425), in dem der Grabherr in Ver­

ehrung vor Osiris gezeigt wird. Der Verstorbene richtet ein sehr per­

46 Jan Assmann, Weisheit, Loyalismus und Frömmigkeit, in: Erik Hornung / Othmar Keel (Hg.), Studien zu altägyptischen Lebenslehren (OBO 28), 1979, 11­

72; vgl. auch die Statue des Nehi aus der Zeit Thutmosis III.: Percy E. Newberry, A Statue and a Scarab, JEA 19 (1933) 54: „Sie (Anuket) möge Leben geben dem, der loyal handelt, und ein Alter dem, der sie in sein Herz gibt" (dj=s lnh n jrj hr mw=s jßwt dj sjm jb=f); ähnlich auch auf der Schreiberpalette des Rennefer: Etienne Drioton, La cryptographie par Pertubation, ASAE 44 (1944) 20 und Stefan Seidlmayer, Eine Schreiberpalette mit änigmatischer Aufschrift, MDAIK 47 (1991) 320­321: „Er (Amun) möge ein vollkommenes Leben geben dem, der loyal handelt, und ein Alter dem, der ihn in sein Herz gibt." (dj=f cnh nfr n jrj hr mw=f jßw.t n dj sw m jb=f). Vgl. Winfried Barta, Aufbau und Bedeutung der altägyp­

tischen Opferformel, ÄF 24 (1968) 90 (Bitte 5.d)/ 97 (Bitte 123.b)/150 (Bitte 123.b).

47 Assmann, Weisheit, Loyalismus und Frömmigkeit, 25­26.

48 Assmann, Sonnenhymnen in thebanischen Gräbern, 228­230 [Text 165]; Ders., Hymnen und Gebete, 184­185 [ÄHG 75].

(16)

32 Hartwig A Itenmüller

sönlich gehaltenes Gebet um Gnade für seine Jenseitsexistenz an den in seinem Schrein sitzenden Gott. Das Gebet steht im Anschluss an eine Darstellung des Bestattungsrituals in der abschließende Phase des Rituals:

[Bitte des Beters um Gnade]

Mögest du (o Osiris) meinen Ruf erhören, mögest du das, was ich gesagt habe, erfüllen.

Denn ich bin einer von denen, die dich verehren.49

5. Orte der persönlichen Frömmigkeit

Nur an wenigen Plätzen fühlte sich der Verehrer seiner Gottheit so nahe, dass er dort sein Gebet verrichtete.

Generell schwierig scheint es gewesen zu sein, in eine direkte Kontaktaufnahme mit der Gottheit eines Tempels zu treten.

Die Tempel waren Bollwerke nach außen und boten nur an wenigen Stellen die Möglichkeit zu einem direkten Kontakt mit dem Gott des Tempels. Für eine solche Möglichkeit der direkten Kontaktaufnahme wurden besondere Orte der Gebetserhörung außerhalb des Tempels, meist auf deren Rückseiten, geschaffen.5 0

In Karnak liegt ein solcher Ort östlich von der inneren Umwallung in einem Heiligtum, das als Osttempel von Karnak bekannt ist.

Dort wurde A m u n mit den Beiworten „Amun, der die Bitten erhört"

(sdm nht) und „Amun, das hörende Ohr" (msdr sdm) bis in die griechisch­römische Zeit von der Bevölkerung angerufen.5 1

Die Kultstätte selbst stammt aus der Zeit Thutmosis III. Bei dieser Kultstätte ergeben sich erste Hinweise auf die Möglichkeit zum direk­

ten Gebet an Gott. Die für die Bevölkerung und den Einzelnen einge­

richtete Kultstätte wurde unter Ramses II. (1279­1213) erweitert und hatte bis in die Ptolemäerzeit Bestand. 5 2

49 Joseph John Tylor I Francis Llewellyn Griffith, The Tomb of Paheri at El Kab (MEEF 11), London 1894, Taf. 5 (Westwand).

50 Eine Aufzählung von Gebetsorten in Theben enthält Pap.Bologna 1094, 10,11­

114 (=Alan H. Gardiner, Late Egyptian Miscellanies (BiAeg 7), Brüssel 1937, 10).

Zu den Gebetsorten siehe Waltraud Guglielmi, Die Funktion von Tempeleingang und Gegentempel als Gebetsort, in: Rolf Gundlach I Matthias Rochholz (Hg.), Ägyptische Tempel ­ Struktur, Funktion und Programm (Akten der Ägyptolo­

gischen Tempeltagungen in Gosen 1990 und in Mainz 1992) (HÄB 37), Hildes­

heim 1994, 55­60.

51 Guglielmi, Tempeleingang und Gegentempel, 55­60; Waltraud Guglielmi I Johanna Dittmar, Anrufungen der persönlichen Frömmigkeit auf Gans­ und Wid­

der­Darstellungen des Amun, in: Ingrid Gamer-Wallert I Wolfgang Helck (Hg.), Gegengabe (FS Brunner­Traut), Tübingen 1992, 127.

52 Paul Barguet, Le temple d'Amon­Re ä Karnak, Essai d'Exegese (Recherches d'Archeologie, de philologie et d'histoire 21), Kairo 1962, 223 ff; Labib Habachi, Nia, the Wab­Priest and Doorkeeper of Amun, BIFAO 71 (1972) 79­82; Charles

(17)

Gott und Götter im Alten Ägypten 33

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Verehrung eines Gottes in einem Bereich außerhalb des Tempels liefert der Opferstein eines Amenemhet aus der 19. Dynastie (Abb. 5), der in Memphis gefunden wurde5 3. Der Stifter, dessen Statue ursprünglich auf einer der Schmal­

seiten mit dem Stein verbunden war, weiht dem Gott Ptah von M e m ­ phis ein Bild seines Tempels, das in Kleinformat auf die Lehmziegel­

umfassung des Ptahtempels von Memphis reduziert ist.

In den Inschriften wird die Mauer „die große Umwallung, der Ort der Gebetserhörung" ausdrücklich genannt.5 4 Auf den Vor­ und Rück­

sprüngen der Tempelmauer sind die Ohren des Gottes angebracht und die verschiedenen Beinamen des Gottes genannt, unter denen der Gott des Tempels gepriesen wird. Der Tempel selbst wird als ein „Ohr Gottes" vorgestellt.5 5

6. Mittlerstatuen

Als Ersatz für das direkte Gebet wurden die Dienste von Mittlern in Anspruch genommen. Die Rolle eines Mittlers haben zunächst gewiss die Priester übernommen, die im Auftrag ihrer Klienten dem Gott die Bitten vortrugen und die Antwort des Gottes entgegennahmen.

Auf diesen Umstand nehmen einige Tornamen aus dem Neuen Reich Bezug5 6, darunter in Karnak Tornamen wie „Amun­Re, der die Bitten erhört" (Jmn-R" sdm nht)51 oder in Soleb in Nubien „Nebmaatre (d.i.

der in Soleb vergöttlichte Amenophis III.), der das Flehen hört" (Nb- m/t-Rc sdm ss^f)58.

F. Nims, The Eastern Temple at Karnak (Beiträge zur ägyptischen Bauforschung und Altertumskunde 12), Wiesbaden 1972, 107 ff.; Jean Frangois Carlotti I Laetitia Gallet, Le temple d'Amon­qui­ecoute­les­prieres ä Karnak, Oeuvre de Ramses II ou d'un predecesseur?, in: Jean-Claude Goyon I Christine Cardin, Proceedings of the Ninth International Congress of Egyptologists (OLA 150), Leuven 2007, 271­282.

53 Rudolf Anthes, Mit Rahineh .1956, Museum Monographs, The University Museum, University of Pennsylvania, Philadelphia 1965, 73 Tf. 24­25, Abb. 5.

54 Jean Jacquet, Un Bassin de Libation du Nouvel Empire dedie ä Ptah. Premiere Partie. L'architecture, MDAIK 16 (1958) 161­167; Helen Wall-Gordon, A New Kingdom Libation Basin Dedicated to Ptah. Second Part. The Inscriptions, MDAIK 16(1958) 168­175.

5 5 Andere Beispiele für „Gottesfestungen", auf denen sich Bilder von Ohren der Gottheit befinden, sind: Joceline Berlandini, La chapelle de Sethi I. Nouvelles Decouvertes: Les Deesses Tsmt et Mn­nfr, BSFE 99 (1984) 28­52; Harry M. Stewart, Egyptian Stelae, Reliefs and Paintings from the Petrie Collection III, London 1983, Nr. 126.

56 Thomas Grothoff, Die Tornamen der ägyptischen Tempel (Aegyptiaca Monas­

teriensia 1), Aachen 1996, 247­248; 275­276.

5 7 KRI II, 1979, 585,4; Name des zentralen Tors zum „Osttempel" von Karnak:

PM II, 211 (29); Grothoff, Tornamen, 444 [Dok. 30a­b].

58 Grothoff, Tornamen, 247­248; 275­276.

(18)

34 Hartwig A Itenmüller

Auf einem verworfenen Block aus der Zeit Thutmosis III. in Karnak ist der Tornamen: „Aniun, gr o

ß

a

n Kraft, den das Volk anbetet" (Jmn wr

phtj dwjw rhjt) verzeichnet.59

Im Verlauf der 18. Dynastie setzte eine neue Entwicklung ein, die ver­

mutlich vom König ausging, der nun verdienten Beamten die Möglich­

keit gab, im äußeren Bereich eines Tempelbezirks Statuen aufzustellen, die für andere Personen als Mittler dienen konnten.

60

Verschiedene Kriterien lassen die Bestimmung solcher Mittlerstatuen zu: Sie stellen meist Personen der Elite dar; ihre Inschriften richten sich direkt an die Besucher des Tempels, denen sie ihre Dienste als Mittler bei Gott anbieten; schließlich weisen sie an der Statuenoberfläche Ge­

brauchsspuren auf, die angeben, dass ihre Dienste auch tatsächlich in Anspruch genommen wurden.

61

Die bedeutendsten Statuen dieser Gattung sind zwei Schreiberstatuen des bereits zu seiner Zeit berühmten Weisen Amenophis Sohn des Hapu aus der Zeit Amenophis III. (1428­1397).

62

Sie standen vor dem Eingang des Amuntempels von Karnak beim 10. Pylon.

63

In ihnen bie­

tet Amenophis Sohn des Hapu seine Dienste als Mittler bei Amun­Re von Karnak an. Bemerkenswert dabei ist, dass die Sockelinschrift der einen Statue (Kairo JE 44862) sich an die Bürger von Karnak (Abb. 6), die der anderen (Kairo JE 44861) an die Pilger aus Ober­ und Unter­

ägypten wendet (Abb. 7):

Kairo JE 44862 (Abb. 6):

O ihr Menschen aus Karnak, die ihr den Amun sehen wollt, kommt zu mir, dann werde ich eure Bitten weitergeben.

Ich bin der Herold dieses Gottes (Amun),

als welchen mich Nebmaatre (Amenophis III.) eingesetzt hat, damit ich ihm (dem Gott) die Worte der beiden Länder verkünde.64

59 Grothoff, Tornamen, 491 [Dok. 12]; 500 [Dok. 21: Urk. IV, 169,16].

6 0 Ein unsicheres Beispiel für Mittlerstatuen aus dem Mittleren Reich stellen die Statuen des Mentuhotep dar, die im Vorhof des Karnaktempels aufgestellt waren und teilweise Gebrauchsspuren aufweisen: Luxor Museum J 36 und J 37:

Alexandra Verbovsek, „Als Gunsterweis des Königs in den Tempel gegeben Private Tempelstatuen des Alten und Mittleren Reiches (ÄAT 63), Wiesbaden 2004, 400­403.

61 Jean Yoyotte, Les pelerinages dans l'Egypte ancienne, in: Sources orientales 3.

Les pelerinages, Paris 1960, 42­43.

62 Alexandre Varille, Inscriptions concernant l'architecte Amenhotep, fils de Hapou (BdE 44), Le Caire 1968.

6 3 P M I P , 188 (584).

6 4 Kairo JE 44862; Varille, Inscriptions, 24­25, Taf. 3; Urk. IV, 1835,1­9; Über­

setzung bei Wolfgang Helck, Urkunden der 18. Dynastie. Übersetzung zu den Heften 17­22, Berlin 1961, 277­278 [664].

(19)

Gott und Götter im Alten Ägypten 35

Kairo JE 44861 (Abb. 7):

(O ihr Menschen aus) Ober- und Unterägypten, jedes Auge, das die Sonnenscheibe sieht,

und die nach Norden und nach Süden fahrend nach Theben kommen, um den Herrn der Götter zu verehren: Kommt zu mir!

Ich melde, was mir gesagt wird, dem Amun in Karnak.65

V. Die erste Phase der persönlichen Frömmigkeit: Gebetsostraka aus Scheich Abdel Qurna

66

Eine andere Form der persönlichen Frömmigkeit, in der ein direkter Kontakt mit Gott ermöglicht ist, wird durch Gebetsostraka dokumen­

tiert, die zeitlich nur wenig später als die Aufzeichnungen des Djehuti und des Djehutinefer anzusetzen sind.

Sie wurden auf dem Gräberberg von Scheich Abdel Gurnah deponiert und enthalten Gebete an Amun­Re, dem für die Rettung jeweils aus einer Notlage gedankt wird. Aus paläographischen Gründen können sie nicht später als in die Zeit Amenophis IL (1428.1397) datiert werden.

Sie sind die ersten Zeugnisse einer persönlichen Frömmigkeit und bestehen aus einer Anrufung der Gottheit, aus der Schilderung einer Notlage, aus der der Gott errettet hat, sowie aus der anschließenden Verkündigung der Macht Gottes. •

Die in der thebanischen Nekropole in Scheich Abdel Gurna gefundenen Gebetsostraka, die sich an Amun bzw. an Amun­Re richten, stehen ver­

mutlich mit der Prozession des Gottes Amun anlässlich des „Schönen Festes vom Wüstental" in Verbindung.

Bei dieser Prozession, die einmal im Jahr im 10. Monat des Jahres (=

Paeninet) durchgeführt wurde, zieht die Barke des Amun aus Karnak zu den Totentempeln der Könige von Theben West. Bei dieser Prozession konnte die Bevölkerung dem Gott Bitten mündlich vortragen oder in Form von Ostraka schriftlich vorlegen. Obwohl die Ostraka extrem kurz gefasst sind, lassen sie ein Formular erkennen, das später in den Stelen der Persönlichen Frömmigkeit der 19. Dynastie wiederkehrt.

Man kann daher an ein bestimmtes Kultverhalten beim Vortrag der Bitten denken. Eines der Ostraka, das Ostrakon Kairo JE 12212, wen­

det sich an Amun­Re, den Hirten der Armen:

67

6 5 Kairo JE 44861; Varille, Inscriptions, 31, Taf. 4; Urk. IV, 1833,10­19; Über­

setzung bei Helck, Urkunden der 18. Dynastie. Übersetzung, 276­277 [663].

66 George Posener, La piete personnelle avant l'äge amarnien, RdE 27 (1975) 195­210.

6 7 Das Thema von Amun dem Guten Hirten ist eines der Hauptthemen von Pap.

ehester Beatty IV, recto, vgl. Dieter Müller, Der gute Hirte. Ein Beitrag zur Geschichte ägyptischer Bildrede, ZÄS 86 (1961) 126­144; Assmann, Hymnen und Gebete, 429­440 [ÄHG 195].

(20)

36 Hartwig Altenmüller

[Anrufung]

l\ O Amun-Re, du Hirte 2| aller Armen!

[Schilderung der Errettung aus der Not]

Er hat mein Leiden 3| bei seinem Auszug gewendet (d.h. mit Orakel).

[Bitte um Gnade]

Möge er dem eine Ration (?) geben, den er lieb gewonnen hat.

[Vertrauensbeweis und Verkündigung]

4| Amun­Re, Herr der Kraft, mein Herr, stark an Machterweisen,

5| und größer an Liebe als irgendein anderer Gott.68

Den gleichen Aufbau hat das Gebet auf dem Ostrakon Kairo JE 12202, das aus demselben Konvolut stammt und auf der Vorder­ und Rück­

seite beschriftet ist.69 Auf der Vorderseite folgen im Anschluss an eine Anrufung Amun­Res ein Rückblick auf die Notlage und auf die erfolg­

te Errettung. Der Text der Vorderseite schließt mit dem Preis Gottes und einem Vertrauensbekenntnis.

Möglicherweise folgt in den anschließenden Zeilen (5­6) die Bitte um einen Gnadenerweis. Doch ist der Text nicht gut genug erhalten, um diesen Sachverhalt zu bestätigen. Auf der Rückseite folgt eine indivi­

duelle Bitte um Gnade für die eigene Person, die um eine Bitte für das Land und die Menschen erweitert wird:

Recto:

[Anrufung]

'| O Amun­Re, groß an Machterweisen,70 2| Herr der Gnade!

[Klage über Notlage]

Du hast geschehen lassen, dass ich den Tag {hrw) 3|wie die Nacht (grh) sehe.71

[Schilderung der Errettung]

Du hast mein Auge wieder hell werden lassen, so dass es wieder sieht.

[ Vertrauensbekenntnis]

Amun­Re, 4| du bist der von mir Geliebte

Du bist der Eine, der mit seinen Machterweisen wiederkehrt (?) [Bitte um Gnade (?)]

5| [...] entferne [...]6| [...].7 2

™ Posener, La piete personnelle, RdE 27 (1975) 202­205.

69 Posener, La piete personnelle, RdE 27 (1975) 196­202.

70 Joris F. Borghouts, Divine Intervention in Ancient Egypt and its Manifestation (baw), in: Robert J. Demaree I Jac.J. Janssen (Hg.), Gleanings from Deir el­

Medina (Egyptologische Uitgaven 1), Leiden 1982, 9.

7 1 Die Phrase verweist nicht auf die Blindheit des Beters. Sie erinnert vielmehr an Phrasen in denen von der „Finsternis bei Tage" (kkw m hrw) die Rede ist: Jose M.

Galan, Seeing Darkness, CdE 74 (1999) 24­26. Möglicherweise handelt es sich an allen Stellen um eine Metapher für eine Notsituation, die aus der Strafe Gottes für eine begangene Sünde resultiert.

7 2 Der Zeilenrand von Z. 5­6 ist gegenüber Z. 1­4 verschoben, so dass nicht sicher ist, ob Z. 5­6 zum Text gehören.

(21)

Gott und Götter im Alten Ägypten 37

Verso:7 3

[Bitte des Beters um Gnade für sich selbst]

11 Amun, komme ... in Gnade

\ Möge ich die Güte deines Antlitzes sehen.

[Bitte des Beters um Gnade für das ganze Land und die Menschen]

3| Das gütige Gesicht des Amun, möge es 4| das ganze Land sehen.

Mögen es alle (?) Menschen sehen, bis sie trunken sind

5| und in jeder guten Disposition sind.

VI. Die zweite Phase der persönlichen Frömmigkeit: die Votivstelen aus Deir el Medineh

1. Die Stele des Neferabu mit einer Anrufung des Ptah (London BM

589)74

Das eigentliche Zeitalter der persönlichen Frömmigkeit setzt unter den Ramessiden nach der Amarnazeit (1351­1333) ein.

Aus dieser Zeit sind zahlreiche Denkmäler vor allem aus der Arbeiter­

siedlung von Deir el Medineh erhalten, die eine persönliche Hinwen­

dung des Menschen zu Gott enthalten und auf die erwartete und erhoff­

te Zuwendung Gottes zum Menschen eingehen.

Eine direkte Hinwendung des Menschen zu Gott bezeugen zwei Stelen des Neferabu, eines Nekropolenarbeiters aus Deir el Medineh, der in der Zeit Ramses II. (1279­1213) im Tal der Könige gearbeitet hat. Die eine ist dem memphitischen Gott Ptah, die andere der Lokalgöttin Me­

resger geweiht.

Die für Ptah geweihte Stele ist beidseitig beschriftet. Auf der Vorder­

seite der Stele ist der Nekropolenarbeiter Neferabu in Beterhaltung vor Ptah zu sehen (Abb. 8). Der Gott thront in einem Schrein, wodurch auf den Gott im Heiligtum verwiesen wird.

Vor dem Schrein sind Opfergaben deponiert, über dem Schrein vier Ohren und zwei Augen eingezeichnet, die das Hören und das Sehen des Gottes andeuten.

Auf der Rückseite beginnt das Gebet nach einem lehrhaften Titel („Be­

ginn der Verkündigung der Machterweise des Ptah") mit einem Sün­

denbekenntnis. Neferabu hat falsch geschworen und den Namen Gottes missbraucht. Die Sünde hat ihn in die „Finsternis" der Gottesferne ge­

stoßen. Er hat gesühnt und seine Lehre daraus gezogen, die er in Form von Mahnworten weiter gibt:

7 3 Die Zugehörigkeit des Verso zum Recto ist nicht ganz sicher, doch wahrschein­

lich, obwohl auf dem Recto Amun­Re angerufen wird und auf dem Verso die ange­

rufene Gottheit Amun ist.

74 Thomas G. H. James, Hieroglyphic Texts from Egyptian Stelae, part 9, 36, Taf.

31; KRI III, 771­772; Assmann, Hymnen und Gebete, 377­378 [ÄHG 150]. Die genaue Herkunft der Stele ist unklar, möglicherweise stammt sie aus dem Heilig­

tum der Meresger: PM 1.2, 728 (b).

(22)

38 Hartwig Altenmüller

[Titel und Verfasserschaft^^

Anfang der Verkündigung der Machterweise des Ptah Südlich­seiner­Mauer,

seitens des Dieners der „Stätte der Wahrheit" (= Deir el Medineh) auf der Westseite von Theben

Nefer­abu, gerechtfertigt. Er spricht:

[Sündenbekenntnis]

„Ich bin der Mann, der falsch geschworen hat bei Ptah, dem Herrn der Maat.

[Schilderung der Notlage]

Er hat mich Finsternis sehen lassen am Tage.

[ Verkündigungsgelübde]

Ich werde seine Machterweise künden dem, der ihn nicht kennt und dem, der ihn kennt, Kleinen und Großen:

[Mahnworte]

„Hütet euch vor Ptah, dem Herrn der Maat, denn er lässt niemandes Frevel (ungestraft).

Fürchtet euch, den Namen des Ptah zu Unrecht auszusprechen, denn wer ihn zu Unrecht ausspricht,

der kommt zuschanden!"

[Retrospektive von Schuld und Sühne]

Er bewirkte, dass ich lebe wie die Hunde der Straße, indem ich in seiner Hand bin;

er bewirkte, dass Menschen und Götter auf mich sahen,

indem ich wie einer bin, der seinem Herrn Abscheuliches angetan hat.

Gerecht ist Ptah, der Herr der Maat!

Was mich betrifft, er hat mir eine Lehre erteilt.

[Bitte um Gnade auch in der Zukunft; Kolophori]

Sei mir gnädig! Möchte ich doch deine Gnade sehen!"

Seitens des Dieners der „Stätte der Wahrheit" (= Deir el Medineh) auf der Westseite von Theben

Neferabu, gerechtfertigt beim großen Gott.

2. Die zweite Stele des Neferabu mit einer Anrufung der Lokalgöttin Meresger (Turin 50058)76

Eine ähnliche Konzeption besitzt die zweite Stele des Neferabu, die querrechteckig gestaltet ist und in der sich der Stifter an Meresger wen­

det (Abb. 9). Die thebanische „Göttin, die das Schweigen liebt", ist am rechten Bildrand dargestellt. Sie besitzt Schlangengestalt und wird mit drei Köpfen, einem Geier­, einem Menschen­ und einem Schlangen­

kopf abgebildet. Der Stifter selbst tritt im Bild nicht auf, stattdessen ist sein Name genannt.

Auch dieses Gebet enthält eine Lehre. Die Art der Versündigung wird, wie auch sonst in den meisten Fällen, nicht ausgesprochen. Die Strafe

7 5 Übersetzung nach Assmann, Hymnen und Gebete, 377­378 [ÄHG 150].

7 6 Turin, Ägyptisches Museum 50058; PM 1.2, 728(c); Mario Tosi I Alessandro Roccati, Stele e altre epigrafi di Deir el Medina, Turin 1972, 94­96, 286, Nr.

50058; KRI III, 772­773; Assmann, Hymnen und Gebete, 375 f. [ÄHG 149].

(23)

Gott und Götter im Alten Ägypten 39 für die begangene Sünde ist, wie sich aus dem Text ergibt, eine schmerzhafte Krankheit:

[Titel]

Lob spenden der westlichen Bergspitze, . die Erde küssen vor ihrem Ka.

[Anrufung]

Ich spende Lob ­ erhöre das Rufen, denn ich bin ein Gerechter auf Erden.

[ Verfasserschaft]

Verfasst von dem Diener der „Stätte der Wahrheit" (= Deir el Medineh) Neferabu, gerechtfertigt,

[Sündenbekenntnis]

(Ich), ein unwissender Mann, der keinen Verstand hat, der nicht das Gute vom Bösen unterscheiden konnte,

ich beging diesen Fall von Übertretung an der Bergspitze (= Sünde gegen die Bergspitze)

und sie erteilte mir eine Lehre (sb$w)).

[Schilderung der Notlage]

Ich war in ihrer Hand, des Nachts wie am Tage, und saß auf dem Gebärziegel wie die Schwangere;77

ich rief nach Luft und sie kam nicht zu mir.

Ich brachte ein Trankopfer dar der westlichen Bergspitze, der gewaltigen Starken,

und allen Göttern und Göttinnen.

[Verkündigung der Mahnworte und Wende zur Gnade]

Sehet, ich werde sagen

zu Großen und Kleinen in der Mannschaft (der Nekropolenarbeiter):

„Hütet euch vor der Bergspitze,

denn ein Löwe ist im Inneren der Bergspitze!

Sie schlägt zu mit dem Schlag eines wilden Löwen, sie ist hinter dem her, der sich gegen sie vergeht!"

(So) rief ich zu meiner Herrin

und fand, dass sie zu mir gekommen war in süßem Hauch.

[Gnädige Errettung aus der Not, die wilde Göttin wird zur besänftigten Göttin]

Sie war mir gnädig, nachdem sie mich ihre (strafende) Hand hatte schauen lassen.

Sie wandte mir wieder Gnade zu.

Sie ließ mich das Leid vergessen, das in meinem Herzen war.

Siehe aber, die Bergspitze, sie ist gnädig, wenn man zu ihr ruft!

[Lehre von den Machterweisen der Göttin]

Es sprach aber Neferabu, gerechtfertigt, in dem er sagte:

„Sehet und höret, alle Ohren, Ihr, die ihr auf Erden lebt:

Hütet euch vor der westlichen Bergspitze!"78

7 7 Die Schmerzen, die durch die Krankheit verursacht sind, werden vor der weib­

lichen Gottheit mit denen einer „Schwangeren auf dem Gebärziegel" verglichen.

78 Assmann, Hymnen und Gebete, 375­376 [ÄHG 149].

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