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Sarah Moss Geisterwand Roman Aus dem Englischen von Nicole Seifert ISBN Erscheint am Berlin Verlag in Piper Verlag GmbH,

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1 Sarah Moss

Geisterwand Roman

Aus dem Englischen von Nicole Seifert ISBN 978-3-8270-1413-9

Erscheint am 03.05.2021

© Berlin Verlag in Piper Verlag GmbH, Berlin / München Leseprobe

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Sie bringen sie raus. Die Augen nicht verbunden, sondern geweitet, zum letzten Himmel, zum letzten Licht. Die letzte Kälte sticht ihre Finger und ihr Gesicht, die Steine – nicht die letzten Steine –

verwunden ihre bloßen Füße. Sie taumelt. Wird von ihnen aufrechtgehalten. Kein Grund, grob zu sein, jeder weiß, was nun kommt. Aus den Tiefen ihres Körpers, aus dem Mark ihrer Wirbelsäule und den breiten Blutbahnen unter den Rippen, aus der Leere ihres Unterleibs und der Erhebung ihrer Brust zittert sie. Ein Körper in Angst. Sie führen den angsterfüllten Körper über das Gras, den Pfad entlang, ihre bloßen Füße zumeist taub für die Schmerzen durch Steine und scharfe Binsen. Gesang hebt an, Trommeln klingen schleppend, unsynkopisch zur letzten Panik ihres Herzens. Andere folgen, eingehüllt gegen die Kälte, eine Prozession dunkler Gestalten in der Abenddämmerung.

Angekommen, ziehen sie sie aus. Es geht leicht; sie haben sie in eine weite Tunika gesteckt.

Ihr Körper ist im hellroten Licht weiß, fest vor Schwaden aus Nebel und einem Muster aus Blättern.

Sie versucht sich mit den Händen zu bedecken und darf es nicht. Einer hält sie, während der andere sie festbindet. Ihr Atem geht immer schneller, kondensiert auf ihrem Gesicht. Sie alle begleitet ihr ausgestoßener Atem, der langsam in der Luft vergeht. Sie drehen sie mit dem Gesicht zur Menge, stellen sie ihren Nachbarn und ihrer Familie zur Schau, den Menschen, die ihre Hände hielten, als sie laufen lernte, die ihr beibrachten, ihr Brot in die Schüssel zu tunken und sich die Lippen abzulecken, einen Korb zu flechten und einen Fisch auszunehmen. Mit den Kindern, die sie jetzt hinter ihren Müttern hervor anlugen, hat sie gespielt, hat bei ihrer Geburt für sie Gebete gemurmelt. Sie war eine von ihnen, normal. Ihr Bruder und ihre Schwester sehen sie zurückschrecken, als die Männer das Messer nehmen, ihr helles Haar an der linken Seite des Kopfes hochnehmen und wegschneiden. Sie scheren sie kahl. Jetzt sieht sie nicht mehr aus wie eine von ihnen. Sie zittert. Sie stecken das Haar in das Seil an ihren Handgelenken.

Sie wimmert, klagt. Der Ton hallt übers Moor, singt in den kahlen Ästen von Birke und Vogelbeere.

Es gibt keine Überraschungen.

Sie legen ihr ein Seil um den Hals, halten das Messer in Richung der untergehenden Sonne, die sich hinter die Felsen schiebt. Was nötig ist, liegt bereit, die gespitzten Weidenruten, ein Haufen Steine, die kleinen Messer und das große. Der Stock, um das Seil aufzuwickeln.

Noch nicht. Es ist eine Kunst, sie an dem Ort zu halten, an den sie nun kommt, am Rand der Wasser-Erde, einem Ort und einer Zeit zwischen Leben und Tod, zu spät, um zu den Lebenden zurückzukehren, aber nicht an der Zeit, noch nicht, für eine ganze Weile noch nicht, richtig tot zu sein.

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Es dunkelte über lange Zeit. Das Feuer knisterte, durchscheinend vor den Bäumen, sein Zweck nicht mehr, nicht weniger als zeremoniell. Die Hitze, die niemand wollte, hatte uns auseinander getrieben.

Rauch brannte mir in den Augen, und in meinen Rücken drückte der Fels, die grobe Tunika juckte unter meinen Oberschenkeln. Ich zog den Fuß aus seinem Mokassin und hielt die Zehen ohne Grund Richtung Feuer, nur um zu sehen, wie das war. Dir kann doch nicht kalt sein, sagte mein Vater, dabei hatte er das Feuer gemacht und darauf bestanden, dass wir uns darum versammelten. Kann es doch, dachte ich, wenn ich das so will, aber ich sagte, nein, Dad, mir ist nicht kalt. Durch die Flammen konnte ich die Jungs sehen, wie sie miteinander sprachen, halb hinter den Bäumen, als wollten sie eins mit dem Wald werden, irgendwohin schleichen für irgendeine Jungssache, in der ich

wahrscheinlich geschickter wäre. Meine Mutter saß auf dem Stein, auf den mein Vater sie geschickt hatte, die Tunika unvorteilhaft über ihre dicken weißen Knie gekrumpelt, und starrte in die Flammen, wie es Menschen so tun; es war langweilig, und mein Vater hielt uns dort fest, gelangweilt, Kraft seines Willens. Wo willst du denn hin, sagte er, als ich aufstand. Ich muss mal, sagte ich, und er grunzte und sah in Richtung der Jungs, als könnte schon die Erwähnung biologischer Vorgänge ihre jugendlichen Leidenschaften wecken. Achte aber drauf, dass du nicht zu sehen bist, sagte er.

Innerhalb weniger Tage würden unsere Füße einen Pfad durch die Bäume zum Fluss treten, aber an diesem ersten Abend war da Moos unter den Füßen, weich im Dämmerlicht, und Stellen mit wilden Erdbeeren, so reif und rot, dass sie noch im Halbdunkel zu sehen waren, als glühten sie. Ich ging in die Hocke, um ein paar zu pflücken, und zog weiter, eine nach der anderen mit den Lippen aus der hohlen Hand pickend, meine Hand küssend. Fledermäuse blitzten durch die Räume zwischen den Ästen, gaben dem flachen Himmel Tiefe: Da konnte ich sie immer noch hören. Es war seltsam, in den dünnen Lederschuhen zu gehen, nur eine Schicht geliehener – gestohlener – Haut zwischen meinen Füßen und den Stöcken und Steinen, den feuchten und weichen Stellen im Wald. Ich kam zum Fluss und kniete mich hin, tauchte meine Finger hinein, lauschte. Wasser auf Steinen und Torf, Blätter, die sich hinter mir und über meinem Kopf regen, auf dem Hügel ein rufendes Schaf. Frischer Tau drang durch meine Schuhe. Der Fluss zog an meinen Fingerspitzen und die Heide erforschte meine Beine, die unter der Tunika nackt waren. Nicht, dass ich nicht verstand, warum mein Vater diese Orte liebte, dieses Leben im Freien. Nicht, dass ich fand, Häuser wären besser.

Als ich wieder zum Feuer kam, kniete meine Mutter an seinem Rand, nicht um die Götter günstig zu stimmen, sondern mit einem Haufen grüner Torfstücke. Hilf uns mal, Sil, sagte sie, er sagt, wenn man es richtig macht, kann man es für die Nacht abdecken und den Torf morgens wieder wegnehmen, er sagt, so hat man es schon immer gemacht. Also, früher. Klar, sagte ich, und kniete mich neben sie, aber ich vermute mal, er hat nicht gesagt, dass es früher jemanden gab, der einem gezeigt hat, wie es geht, statt einfach Anweisungen zu geben und zu verschwinden. Sie setzte sich auf. Aber da wussten sie das doch, sagte sie, oder nicht, früher, da musste einem das keiner sagen, man lernte es an der Seite seiner Mutter, und red nicht so, er könnte dich hören.

Wir schliefen im Rundhaus, meine Eltern und ich. Die Studenten hatten es zu Beginn des Jahres gebaut, als Teil eines Kurses zu „Empirischer Archäologie“, aber der Ansicht meines Vaters, dass alle gemeinsam darin schlafen sollten, hatten sie sich entschieden widersetzt. Es gebe keinen

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Grund zu der Annahme, sagte mein Vater, dass die Haushalte der alten Briten organisiert gewesen wären wie moderne Familien; wenn die Studenten eine echte Erfahrung wünschten, sollten sie zu uns kommen, in die splitterige Schlafkoje, die sie gebaut und mit Hirschhäuten ausgelegt hatten, gespendet vom anachronistischen Gutsherrn. Oder zumindest in seinem Namen, von irgendeinem Bediensteten, denn der Gutsherr lebte in London und verbrachte seine Sommer sicher nicht in Northumberland. Professor Slade sagte, na ja, Authentizität ist sowieso unmöglich und eigentlich ja auch nicht das Ziel, es gehe ja darum, eine Ahnung vom Leben in der Eisenzeit zu bekommen und vielleicht Einblick in manche Vorgänge oder Techniken. Sollen die Studenten in ihren Zelten schlafen, wenn sie das vorziehen, sagte er, mit ziemlicher Sicherheit gab es auch in der Eisenzeit Zelte. Zelte aus Haut, sagte Dad, nicht aus diesem modischen Nylonzeug. Das Zelt, das wir in den Ferien

benutzten, war aus aprikosenfarbenem Drillich, der vermutlich aus dem Zweiten Weltkrieg stammte.

Ich hatte gesehen, dass die Studenten ihre nicht authentischen farbenfrohen und wasserfesten Nylonzelte auf der Lichtung unterhalb unserer Hütte aufgeschlagen hatten, durch Bäume und den Hang abgeschirmt sowohl von unserem Rundhaus, als auch vom größeren Zelt des Professors, das näher an dem Weg lag, auf dem sein Auto stand. Ich könnte doch auch in so einem schlafen, Dad, sagte ich, dann habt Ihr ein bisschen Privatsphäre, Mum und du, aber Dad wollte keine Privatsphäre, er wollte sehen können, was ich machte. Sei nicht albern, sagte er, natürlich kannst du nicht bei den Jungen schlafen, schäm dich. Privatsphäre ist sowieso so eine modische Vorstellung, genau das, wovon wir wegkommen wollen, jeder versucht sich abzuschotten und zu machen, was er will, du bleibst bei uns. Ich weiß nicht, was mein Vater mir unterstellte, aber er verwendete beträchtliche Aufmerksamkeit darauf, dass ich es nicht tun konnte.

Die Schlafkoje war genauso ungemütlich wie erwartet. Ich hatte mich geweigert, in der kratzigen Tunika zu schlafen, die die alten Briten, wie mein Vater ohne jeden Beleg behauptete, nicht nur nachts, sondern auch tagsüber getragen hatten, aber die mit Stroh gestopften Säcke stachen auch noch durch einen Schlafanzug aus gekämmter Baumwolle hindurch, rochen wie ein Bauernhof und raschelten bei jeder Bewegung, als würden irgendwelche Kleintiere darin herumspringen. Die Dunkelheit in der Hütte war absolut, beunruhigend; ich lag auf dem Rücken, bewegte die Hand vorm Gesicht und sah rein gar nichts. Mein Vater drehte sich um, seufzte und begann zu schnarchen, ein unregelmäßiges, kuhartiges Geräusch, das den Gedanken an Schlaf lächerlich wirken ließ. Mum, flüsterte ich, Mum, bist du wach? Schh, zischte sie, schlaf jetzt. Ich kann nicht, sagte ich, er ist zu laut, kannst du ihn anstupsen. Schh, sagte sie, schlaf jetzt, Silvie, mach die Augen zu. Ich drehte mich auf die Seite, mit dem Gesicht zur Wand, und dann wieder zurück, weil es mir keine gute Idee zu sein schien, einer derartigen Dunkelheit den Rücken zuzuwenden. Was, wenn im Stroh Insekten waren, Zecken und Flöhe, was, wenn sie in meinen Schlafanzug krochen, was, wenn da gerade einer war, an meinem Fuß, und vielleicht mein Bein hochkrabbelte, sprang und biss und auf meinen Rücken sprang, was, wenn sie aus dem Sack kamen, viele von ihnen, bis zu meinen Schultern und meinem Hals – Silvie, zischte Mum, hör auf, so rumzuzappeln und schlaf jetzt, du gehst mir wirklich auf die Nerven. Er geht mir auf die Nerven, sagte ich, wahrscheinlich kann man ihn noch in Morbury hören, ich weiß nicht, wie du das aushältst. Da war ein Grunzen, eine Bewegung. Das Schnarchen hörte auf und wir lagen beide still, erstarrt. Pause. Vielleicht atmet er nicht mehr, dachte ich, vielleicht war es das, Ende, aber dann ging es wieder los, ein Sägemesser durch Pappe.

Als ich aufwachte, drang Licht durch die Schaffelle an der Tür. Vermutlich hatten sie damals gar keine Schafe, hatte der Professor gesagt, aber da wir Tiere nicht mit Eisenzeit-Techniken töten dürfen, sollten wir nehmen, was wir kriegen können, und Schaffelle sind auf dem freien Markt sehr

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viel leichter zu bekommen als Hirschhäute. Ich war zwar froh, dass wir nicht im Wald mit

Feuersteinklingen die Eingeweide von Hirschen zerschnippeln würden, fand aber, dass der Professor die Idee, in diesem Sommer die Lebensweise vormoderner Jäger und Sammler wiederzuentdecken, gründlich zunichte machte, wenn er jedem Blutvergießen aus dem Weg ging. Wie der Name schon sagt, murmelte ich, Jäger und Sammler. Wie bitte, Silvie, sagte Dad, würdest du für Professor Slade nochmal wiederholen, was du gerade gesagt hast? Ach, bitte, nennt mich doch Jim, sagte Professor Slade, und keine Sorge, ich habe selbst Teenager, ich weiß, wie das ist. Klar, dachte ich, deine Teenager sind bloß nicht hier, weil sie garantiert irgendwo schön Urlaub mit ihrer Mum machen, wahrscheinlich in Frankreich oder Italien. Ich drehte mich auf meinen steifen Rücken und stieß mir den Ellenbogen an dem Holzbrett, das den Strohsack einfasste. Ich schlängelte mich vorsichtig über die Splitter und stand barfuß auf der nackten Erde, die trocken und staubig war. Es war kaum hell genug, um zu sehen, dass Mums und Dads Lager leer waren, die Andeutung der Mittelstange verschwand in der Dunkelheit unter dem Dach. Manche Eisenzeitmenschen haben die

halbgeräucherten Kadaver ihrer Vorfahren in den Dachsparren aufbewahrt, in kauernder Haltung, sodass sie mit leeren Augen nach unten starrten. In manchen Häusern waren Teile toter Kinder unter dem Eingang begraben, weil es Glück brachte oder vor Schlimmerem schützte.

Mum hockte neben dem Feuer und blies in die Glut, neben sich einen Stapel Torfstücke. Es funktioniert also, sagte ich, wie hast du die Torfstücke bewegt, ohne dich zu verbrennen? Sie holte erneut Luft, beugte sich vor und pustete mit geschürzten Lippen in den glühenden Unterbau des Feuers. Die Glut leuchtete im Sonnenlicht auf. Die Schatten der Blätter flackerten. War sehr schwer, sagte sie, hier, probier mal, es zerreißt mir die Knie wie nur was. Ich bin auf Knie und Ellenbogen gegangen, in der Hoffnung, dass keiner der Studenten hochkommt und mich sieht, mit dem Hintern in der Luft, hab gepustet, und wieder von vorne. Pass auf deine Haare auf, sagte Mum. Ich holte Luft, roch Erde und grünes Holz. Da, sagte ich. Flammen. Was gibt es zum Frühstück? Sie schüttelte den Kopf. Haferflocken, sagte sie, na ja, wohl eher Haferschleim, wir haben keine Milch und es ist auch kein Hafer, eher Roggen, glaube ich, hoffen wir mal keine Gerste, sonst kriegen wir es vor

Weihnachten nicht mehr weich. Haben wir Honig, fragte ich; generell aß ich Haferbrei nur, wenn es dazu genauso viel Zuckersirup gab, während Dad ihn pur und stark gesalzen mochte, oder vielmehr daran glaubte, wie andere Menschen an Homöopathie oder Weihwasser. Dieser ganze Krebs, sagte er über die frische Diagnose von Mums Freundin, Menschen brauchen Ballaststoffe, für diesen ganzen verarbeiteten Mist sind wir nicht gemacht, Zerealien und solchen Kram, da kann man auch gleich die Verpackung essen. Und zum Mittagessen, Mum, sagte ich, und heut Abend? Da gibt es, was du heute Vormittag sammelst, sagte sie, vielleicht Fisch, und Beeren wird es zu dieser Jahreszeit ja geben. Fisch sammelt man nicht, dachte ich, dafür muss man morden, und das wirst du sicher nicht tun, Mum, aber statt es auszusprechen, warf ich noch ein paar kleine Hölzer ins Feuer und einen der schönen Scheite, die die Studenten als Teil ihrer archäologischen Erfahrung gehackt hatten.

Mum fing an, die großen Steine am Rand der Feuerstelle zu verschieben, und ich kam ihr zu Hilfe. Sie müssen so weit rein, dass der Kessel drauf stehen kann, sagte sie, er sagt, ein Gerüst, an das wir ihn hängen können, machen wir dann später. Dreifuß oder wie das heißt. Woraus denn, sagte ich, er hat wohl kaum vor zu schmieden, oder? Schmieden faszinierte ihn. Er erinnerte sich, wie er sagte, an den letzten Schmied im Dorf, der ein paar Jahre nach dem Krieg aufgegeben hat, er weiß noch, wie er in der Tür stehen und zusehen durfte, wie das feste Metall erst zu einer glühenden Flüssigkeit wurde und dann wieder fest, das Zischen und das plötzliche Aufwallen von Dampf, die vernarbten Hände des Mannes. Heilige Arbeit sei das in der alten Zeit gewesen, sagte er, Feuer und Flüssigkeit

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und gehärtete Klingen. Mum zuckte mit den Schultern. Er hat gesagt, fürs Erste nehmen wir Steine.

Bring uns den Kessel, Silvie, er steht gleich bei der Tür. Der Kessel war aus Eisen, sehr schwer. Ich ging in die Knie, umarmte ihn herzlich, nahm meine Knie zur Hilfe, aber natürlich war es immer noch lächerlich. Verdammt, Mum, sagte ich, wie wär’s stattdessen mit einem Toast, ein paar Würstchen am Stock, aber ich konnte an ihrem Gesicht sehen, dass ich den Mund hätte halten sollen. Hinter mir war Dad. Du weißt sehr gut, dass sie früher keinen Toast hatten, sagte er, und und wenn ich dich dabei erwische, dass du dich davonschleichst, um irgendwelchen Mist zu essen, gibt es Ärger, ist das klar? Ja, Dad, sagte ich, tut mir leid, hab nur einen Witz gemacht. Lass es, sagte er, das ist nicht witzig. Und zieh dir was an, zieh die Tunika an, ich will diesen Schlafanzug nicht sehen und ich will bestimmt nicht, dass der Professor ihn sieht. Der Professor, hätte ich sagen können, trug

Tennissocken, weil er glaubte, dass er sonst in den Mokassins Blasen bekäme, aber ich ging in die Hütte, wühlte in dem Koffer, den Mum von Gran geerbt hatte, zog ein Höschen und einen BH an und dann die kratzige Tunika. Vor Wochen hatte es zu Hause in der Küche eine Diskussion darüber gegeben. Aber du wirst doch wollen, dass wir Unterwäsche tragen, hatte Mum zu Dad gesagt, sonst sehen doch alle alles, diese Jungs und unsere Silvie. Sie hatte auch erstritten, dass wir Zahnbürsten mitnehmen durften: Dass sie sich darum früher keine Gedanken gemacht hatten, lag nahe,

schließlich lebten sie gar nicht lange genug, um vorher ihre Zähne zu verlieren. Und endlich auch Tampons, nachdem Dad wieder einmal darauf hingewiesen hatte, dass Frauen früher auch nicht rumgelaufen waren und alles vollgeblutet hatten, all das begann erst später, als es weniger zu essen gab , und dann waren die Frauen in anderen Umständen und stillten die Babys, solange es ging, so wie die Natur es vorsah, was er auch jedesmal sagte, wenn er mich oder Mum dabei erwischte, wie wir Hygieneartikel kauften. Früher kamen die Frauen ganz gut klar, sagte er, ohne Geld für all das auszugeben . Oder sie starben, sagte ich, unter der Geburt, mit all der Rachitis und ohne

Kaiserschnitte. Aber dass ich um der Authentizität willen schwanger werde, wirst du doch nicht wollen, Dad? Er legte die Liste, an der er gerade schrieb, auf die Arbeitsplatte, den Stift parallel daneben und erhob sich förmlich. Schh, sagte Mum, nicht so frech, aber sie war zu spät, die Ohrfeige war schon in der Luft. Du forderst es heraus, sagte sie, du gehst immer den einen Schritt zu weit, was erwartest du?

Ob der Brei nun aus Roggen oder aus Gerste bestand, er widerstand der Wirkung von Hitze und Wasser immer noch, als die Studenten auftauchten. Die Körner trieben dahin wie tote Maden.

Haben wir zu viel Wasser genommen, fragte ich Mum, sollte es nicht eigentlich eher klebrig sein?

Morgen müsst Ihr zwei früher auf den Beinen sein, sagte Dad, der Mensch muss essen, so geht das nicht. Ich sah, er wollte, dass wir etwas taten, dafür sorgten, dass das Wasser schneller heiß wurde und die Körner sich ausdehnten. Die Bewegung der Moleküle, dachte ich in Erinnerung an die Mittelschulprüfung in Chemie. Ich nahm die geschnitzte Kelle und rührte um, ließ die Maden alle in dieselbe Richtung schwimmen. Es war nicht fair von Dad, uns dafür zu tadeln, dass wir verschlafen hatten, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass wir unsere Uhren zu Hause ließen, und ständig darüber redete, wie toll ein Leben ohne Uhren sei. Die Menschen hörten damals auf ihren Bauch und auf die Sonne, statt ständig die Minuten zu zählen, früher wussten die Menschen noch, was Geduld ist.

Wir hörten Stimmen, Lachen – ich sah zu Dad, dem es nicht immer gefiel, wenn Leute lachten – und die Studenten kamen den Weg herauf. Pete, fiel mir wieder ein, Dan, und das Mädchen hieß Molly. Gestern abend, am ersten Abend, hatten sie Jeans angehabt, aber heute trugen sie ihre Tuniken und sahen genauso albern aus wie ich. Tolle Beine, sagte Dan zu Pete, als sie zwischen den Bäumen hervor kamen. Tja, sagte Pete, und du hast ziemliche Titten, ich glaub, da stimmt was nicht.

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Titten. Wieder sah ich zu Dad, aber er guckte nicht, hörte nicht zu. Hinter ihnen kam Molly, an der Tunika ein Abzeichen gegen Atomkraft und das blonde Haar zu zwei Zöpfen geflochten, die von Gummibändern mit roten Plastikkirschen zusammengehalten wurden. In ihrem Haar waren Farben wie in der Maserung von poliertem Kiefernholz, man konnte sie bis in die Spitzen der Zöpfe

nachverfolgen. Tut mir leid, sagte Mum, ich bin spät dran mit dem Frühstück, es wird noch eine Weile dauern. Nein, sagte Dan, schon gut, wir haben ja keine festen Essenszeiten, wie Jim immer sagt. Wir essen einfach, wenn es fertig ist. Jim, dachte ich, Professor Slade. Kann ich helfen, Alison, sagte Molly, das müssen ja wirklich nicht alles Sie machen. Mum begegnete meinem Blick. Alison.

Meine Freundinnen nannten sie Mrs. Hampton. Nein, sagte sie, schon gut, umrühren kann ich gerade noch, macht Ihr nur. Die Studenten saßen in der Sonne, plauderten, zogen sich gegenseitig auf, benutzten Worte, die ich bisher nur gelesen hatte, lachten, wenn ihnen danach war. Ich schlenderte herum, sammelte halbherzig Anmachholz, weit genug entfernt, um nicht zu wirken, als wollte ich dazustoßen, aber meistens nah genug dran, um zu hören, worüber sie sprachen. Pläne für den Spätsommer, „auf Reisen gehen“, als gelte einfach umherziehen als vernünftiger Umgang mit Zeit und Geld. Interrail, Rom und Paris. Man kann jetzt auch nach Prag und Budapest, sagte Dan, das hat meine Schwester letztes Jahr gemacht, bevor alle hin wollten. Pete war schon in Berlin gewesen, nach seinen Prüfungen, hatte gesehen, wie ein Teil der Mauer eingerissen wurde. Ich hab ein Stück, sagte er, zu Hause, es ist rosa, weil ein Graffiti drauf war, das war so geil, wir haben oben drauf gesessen und da waren Leute mit Gitarren und haben gesungen, wir haben die ganze Nacht Bier getrunken, es gibt dort keine Sperrstunde. Aber es ist schon auch ein bisschen traurig, weil jetzt alle was von der Mauer mitgehen lassen, und wenn das so weitergeht, ist am Ende des Jahrhunderts noch weniger davon übrig als vom Hadrianswall, man konnte richtig sehen, wie die Straßen wieder zusammenwachsen. Da will ich auch hin, sagte Molly, das will ich selbst sehen. Nach Berlin fahren, dachte ich. Wie kommt man nach Berlin, kann man an der Bushaltestelle anfangen, nimmt man das Flugzeug oder den Zug, oder mehrere Züge? Ich kannte viele der britischen Inseln, Holy Island und Anglesey, die Orkneys und viele von den Hebriden, aber ich war noch nie im Ausland gewesen. Wir hatten keine Pässe. Woher kam das Geld dafür, was hielten die Eltern von Dan und Pete und Molly von solchen Plänen? Dad verschwand hochnäsig im Wald und Mums Gesicht verdüsterte sich, sie rührte im Topf, mit angespannt hochgezogenen Schultern, als brauten sich Wolken zusammen, die nur sie sehen konnte.

Der Professor tauchte nach dem Frühstück auf und begann auf eine Weise, die Leute

einzuteilen, dass ich mich fragte, ob er glaubte, es hätte in der Eisenzeit Professoren gegben, oder ob er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass vornehm zu sein und viel gelesen zu haben einen nicht unter allen Umständen zum Chef über alle anderen machte. Mein Dad, dachte ich, wusste genauso viel wie jeder andere darüber, wie man in der Wildnis lebte, Nahrung suchte, fischte und sich zurechtfand. Du und du, Ihr sucht die Gegend nach essbaren Pflanzen ab, sagte der Prof. Aber seid um halb drei wieder zurück, dann kommt die Korbflechterin für einen Workshop. Bill kommt mit mir fischen. Alison – er wirkte kurz ratlos, vielleicht plötzlich unsicher, ob er Dads Ehefrau sagen durfte, was sie tun sollte –, könnten Sie vielleicht, also, ein bisschen Ordnung ins Camp bringen, falls es Ihnen nichts ausmacht? Was ist mit mir, fragte ich, was soll ich tun? Geh mit Nahrung suchen, sagte Dad, vielleicht lernst du was, aber du stiehlst dich nicht davon und fällst den andern nicht lästig, für dich mag das alles ein Spiel und ein großer Spaß sein, aber für diese Leute ist es Arbeit, ihr Studium, und da wirst du nicht bei stören. Für mich ist es auch kein Spiel, sagte ich, wir müssen was essen, natürlich gehe ich Nahrung suchen.

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Sie hatten eine offizielle Landkarte und ein Handbuch für Jäger und Sammler. Also, sagte der Prof, das ersetzt nur, was die alten Briten, die hier aufgewachsen sind, ohnehin wussten, eure Bildung wird euch nicht viel helfen, verglichen mit dem, was sie von Kindheit an konnten. Wir nahmen jeder eine Felltasche und machten uns auf den Weg in Richtung Moor. Es gab natürlich Trockenmauerwerk und Weiden mit Vieh, vor dem Himmel ragte eine Reihe Hochspannungsmasten auf, und es gab sogar eine asphaltierte Straße, auf der ein rotes Auto auf den Horizont zukroch.

Wenn die Insassen uns sähen, dachte ich, würden sie zuerst glauben, wir wären Geister, und sich dann fragen, ob sie in der Zeit zurück gereist wären. Ich hoffte so angestrengt, dass sie uns nicht sähen, dass ich die Zähne zusammenbiss und die Fäuste ballte. Es war jetzt schon ein heißer Tag, Schweiß kitzelte mich am Rücken, und die Heide auf der nächsten Anhöhe flimmerte und schien zu schweben. Der Boden unter den Füßen war weich vor Staub, weiße Wurzeln ragten wie

Vogelknochen aus der trockenen Erde.

Und, sagte Dan, wofür ist Silvie die Abkürzung, für Sylvia? Sulevia, sagte ich, und wollte hinzufügen, wie ich es seit dem Schulanfang tat, sie war eine alte britische Göttin, mein Vater hat den Namen ausgesucht, aber sie warfen sich jetzt schon Blicke zu. Sulevia ist eine Göttin hier aus

Northumberland, sagte Dan, Jim sprach neulich über sie. Die Göttin der Quellen und Seen, die Römer haben sie für sich reklamiert, sagte Molly. Kommst du denn aus der Gegend? Nein, sagte ich, weiter aus dem Westen, Richtung Burnley? Sie schüttelte den Kopf. Aber von Rochdale wirst du gehört haben, sagte ich, hatte sie jedoch nicht. Dann aus der Nähe von Manchester, sagte ich, nördlich davon. Ah, sgte sie, ok, aber dein Vater ist doch kein Historiker, woher wusste er dann von ihr, wenn er nicht mal von hier ist? Ich spürte, wie ich rot wurde. Er ist Busfahrer, sagte ich, Geschichte ist nur sein Hobby; er wollte, dass ich einen richtig ursprünglich britischen Namen habe. Ich bemerkte wieder Blicke. Was denn, sagte ich, Menschen haben alle möglichen komischen Namen, wenigstens ist es nicht einfach irgendein Wort, River oder Rainbow oder so. Ja, ja, sagte Dan, es ist nur

interessant, ich hab noch nie jemanden mit so einem Namen kennengelernt.

Tja, jetzt kennst du jemanden, sagte ich. Guckt mal, da ist ein Habicht, ich glaube, es ist ein Sperber, seht mal die Flügel an. Ich blinzelte gegen die Sonne und verfolgte seinen Aufstieg in den nach oben immer dunkler werdenden Himmel.

Gute Augen, sagte Pete. Ein ursprünglich britischer Name, also. Und was meint er damit?

Nichts, sagte ich, er mag einfach die britische Frühgeschichte, er findet es schade, dass die alten Namen verschwunden sind. Klar, sagte Pete, du meinst, ihm gefällt die Vorstellung, dass es irgendwo etwas ursprünglich Britisches gibt, dass er, wenn er nur weit genug zurückgeht, jemanden findet, der kein Ausländer war. Du weißt, dass der Name nicht wirklich britisch ist, oder? Ich meine, Sulevia, das ist ganz offensichtlich einfach eine Variante von Sylvia, was auf Latein – aus dem Wald heißt,

unterbrach ich, ich weiß, es ist die römische Verfälschung eines verlorenen britischen Wortes. Es gibt tatsächlich Menschen, die Latein können, da, wo ich herkomme, wir haben auch Bücher. Ich merkte, wie sich mein Tonfall veränderte, während ich mit ihnen redete, erst gestelzt, dann verärgert, dann wieder normal. Mein Gesicht war rot geworden. Peter, dache ich, du weißt, dass das eigentlich ein biblischer Name ist, was ist das für ein Gefühl, Stein genannt zu werden, sind deine Eltern also überzeugte Christen?

Ein Rabe rief und ich blinzelte in die Sonne. Direkt über uns, da, die Sonne weiß glitzernd auf seinen schwarzen Flügeln. Wieder rief er, Warnung oder Rat: Ich würd jetzt verschwinden, wenn ich du wär, meine Liebe. Also ist es eigentlich ein römischer Name, sagte Dan, und weiß er das? Ich

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schüttelte die Schultern, als wollte ich die Frage abwerfen. Ja, sagte ich, wahrscheinlich, er weiß zufällig eine ganze Menge über das römische Großbritannien. Und warum, wenn er Busfahrer ist, fragte Molly. Die Kiefern auf der Anhöhe verneigten sich, und man konnte einen Windhauch über die Heide streichen sehen, der erstarb, ehe er uns erreichte. Weil es ihn interessiert, natürlich, sagte ich, deshalb sind wir ja hier. Na gut, sagte Pete, dagegen ist nichts zu sagen, und ein paar Minuten lang gingen wir schweigend weiter. Die Sonne schien. Der Rabe zog dicht über uns seine Kreise. Ich fuhr mir mit der Hands durchs Haar, um die Hitze zu spüren, die sich gesammelt hatte. Man konnte unsere Schritte auf dem Pfad nicht wirklich hören, nur die Bewegungen von Fell und Stoff, das Geräusch, das die eigenen Haare an den Ohren machten, ein Birkhuhn, aufgeschreckt durch unser Näherkommen. Der Rabe gab irgendwas Spöttisches von sich und überließ uns uns selbst.

Und du, willst du dann Archäologie studieren, fragte Dan. Ich zuckte mit den Schultern. Weiß nicht, sagte ich, ich hab nicht unbedingt vor zu studieren, ich will lieber arbeiten, gleich loslegen. Es gab damals noch Stipendien, das wäre ein Weg gewesen, Dads Kontrolle zu entkommen, aber auch ein Weg, die Jugend, deren Ende ich kaum erwarten konnte, in die Länge zu ziehen und das

aufzuschieben, was ich mir unter meinem richtigen Leben vorstellte. Meine Noten reichen

wahrscheinlich sowieso nicht, sagte ich. Hör auf, mich auszufragen, dachte ich, wusste aber nicht so richtig, wie ich selbst etwas fragen sollte. Wie geht man von zu Hause weg, wie zieht man aus, wie geht man nicht zurück? Wie kommt man von hier am besten nach Berlin? Wo gehen wir eigentlich hin, fragte ich, wonach genau suchen wir eigentlich? Eigentlich, dachte ich, hör auf, eigentlich zu sagen, das ist dumm. Du hast den Mann gehört, sagte Dan, essbare Pflanzen. Er ging weiter, als wüsste er, was er täte, und wir anderen folgten ihm weiterhin.

Die Sonne wurde im Laufe des Vormittags kräftiger, badete Moor und Bäume und Felder in Sommergelb. Es gab keinen Schatten, ich erinnere alles etwas verflacht, wie auf diesen

überbelichteten Fotos, die man damals aufnehmen konnte. Im Moor gibt’s doch sowieso keine Beeren oder so, da gibt’s nur Heide und Torf, hat doch gar keinen Sinn, da hochzulaufen, oder, sagte Pete, und ich wartete und sah mich nach den anderen um, ehe ich sagte, na ja, du wirst drüber nachgedacht haben und ich kann mich täuschen, aber könnte es sich nicht lohnen, nach Bickbeeren zu suchen, ich meine, wahrscheinlich ist es die falsche Jahreszeit, etwas früh, vor allem hier oben.

Mitte Juli. Das Moor oberhalb unserer Stadt war spätestens Anfang August voll davon. Dad machte bei seinen Wanderungen nicht gerne Halt, kam nicht da rauf, um herumzutrödeln wie eine alte Frau auf dem Markt, aber er ging langsamer, während ich eine Handvoll pflückte und ihn dann einholte, und wenn wir in Schottland zelteten, ließ er Mum und mich den halben Vormittag

sammeln, was wir konnten, während er sich auf die Suche nach Nahrung machte, die aufregender zu fangen war.

Ach, du meinst Blaubeeren, sagte Dan, ja, klar, ist einen Versuch wert, wo wachsen die? Ich sah mich noch einmal um. Ich meinte keine Blaubeeren. Ich hatte noch nie Blaubeeren gegessen, die, soweit ich wusste, eine Art überdimensionierte amerikanische Bickbeeren waren, robust genug für die Kuchen, die die Leute in Filmen aßen. Alle gingen weiter. Molly hielt mit halb geschlossenen Augen ihr Gesicht in die Sonne. Nein, Bickbeeren, sagte ich, die wachsen meistens am Südhang, Schafe mögen sie auch, deshalb soll man sie waschen, bevor man sie isst; in Schafpisse ist ein Parasit.

Wow, sagte Pete, du kennst dich ja aus, woher hast du das alles? Mein Dad, sagte ich, der hat es mir beigebracht.

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Wir folgten dem grünen Schild, das den öffentlichen Fußweg auswies, an einer Steinmauer entlang und über einen Zaunübertritt bergan Richtung Moor. Von weiter oben konnten wir die Dere Street sehen, die Römerstraße, die über die nächste Anhöhe zum Hadrianswall führte, als wäre sie aus etwas anderem gemacht als die restliche Landschaft, als hätte jemand sie mit einem Lineal in ein Foto eingezeichnet. Dad und ich waren den Wall zu Ostern des vergangenen Jahres der ganzen Länge nach entlang gewandert, von Newcastle bis Carlisle. Ich erinnerte mich, wie wir uns dieser Straße auf der Höhe des besten Abschnitts näherten, dort, wo das abschüssige Gelände und unvermutete Senken die Bauern aus dem Norden ein Jahrtausend lang nicht daran gehindert hatten, unbesorgt Meilenkastelle und meilenweise Quadersteine einzureißen, um aus ihnen Schaf- und Kuhställe zu bauen. Wir hatten dort Halt gemacht, um unsere Brote zu essen, und ich hatte die Augen

zusammengekniffen und mir vorgestellt, im Wind die arabischen Unterhaltungen der syrischen Soldaten zu hören, die zweitausend Jahre zuvor die Gräben ausgehoben und die Steine

heraufgezogen haben. Ich versuchte, den Anblick im Gedächtnis zu behalten und Strommasten und Kirchtürme von der Landschaft abzuziehen, um sie mit den Augen eines frisch aus dem Schwarzwald gekommenen, patrouillierenden Legionärs zu sehen. Es waren nicht mal richtige Römer, hatte Dad gesagt, sie kamen von überall, aus Nordafrika und Osteuropa und Deutschland, wahrscheinlich sprachen viele nicht mal richtig Latein. Es waren sogar Neger dabei, stell dir mal vor, wie die Briten darauf reagiert haben, sowas hatten sie ja noch nie gesehen. Wir waren nur zwei Tage von Newcastle weg, einer Stadt, die Dad verärgert hatte, und ich war nicht so dumm, ihn zu provozieren; sogar das Wort „Neger“ war schon ein Zugeständnis an meine Vorstellungen, normalerweise verwendete er einen noch beleidigenderen Begriff und wartete mit erhobenem Kinn auf meine Reaktion. Am Tag unserer Ankunft hatte er mich nicht zu den römischen Schreinen im Stadtmuseum oder den traurigen Resten des römischen Kastells unter der viktorianischen Eisenbahnbrücke geführt, wo wir vom Wetter verschont geblieben wären, sondern zu den Docks, die verlassen waren und von Müll übersät. Los, Mädchen, geh weiter, guck dir das genau an. Das ist nur Wasser, du bist doch nicht aus Zucker. So war es damals, und das ist davon übrig. Der Wind aus der sibirischen Steppe fegte über die Nordsee und peitschte uns mit Regen. Ich hatte eine von Gran gestrickte Mütze auf, von der Art, wie ich sie niemals tragen würde, könnte ich zufällig jemanden treffen, und trotzdem bekam ich

Ohrenschmerzen, während ich ihm durch die Betonwüste folgte. Kräne ragten über uns auf wie die Säulen einer versunkenen Zivilisation, halb verfallen und von Rost verziert. Die Anemonen und Prunkwinden, die Englands verlassene Gebäude und Straßen und Eisenbahnen entweder

zusammenhalten oder zum Einsturz bringen, waren vom Wetter plattgedrückt worden. Schau mal hier, sagte er, sieh es dir an. Von hier aus sind die Schiffe in alle Welt aufgebrochen. Jetzt sieh es dir schon an.

Es gab in der Stadt keinen Zeltplatz, weshalb wir die erste Nacht in einem Bed and Breakfast verbrachten, mit Brandlöchern in den Vorhängen und Flecken auf der Nylonbettwäsche. Der Laden an der Ecke roch nach Jasmin und Gewürzen und führte Obst und Gemüse, das ich nie zuvor gesehen hatte, aber Dad wollte nicht reingehen, ließ mich die milchigen und rosa und grünen, in Sirup

schwimmenden Süßigkeiten im Schaufenster des indischen Imbiss nicht probieren, die verdrehten orangenen Knoten und das Silberne, das man offenbar essen konnte. Paki-Fraß, sagte er, du willst gar nicht wissen, was sie da alles reintun. Aber weil es der erste Abend ist, lade ich dich auf Fish and Chips ein, wie wär das? Mit dieser Tatarensoße, die du so gern magst. Dann bist du gewappnet.

Es regnete immer noch, als Dad mich am nächsten Morgen aufforderte, den Toast mit Schinken, den ich nicht essen konnte, in meiner glänzenden Papierserviette zu verstecken, fürs

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Mittagessen. Wir machten uns auf den Weg, durch Straßen, die mir auf gewisse Weise zutiefst vertraut waren, wo Eingangstüren auf den Bürgersteig führten und Hintertüren aufs Gässchen, und wo die Häuser oben und unten je ein klappriges Schiebefenster hatten, die Architektur

viktorianischer Armut, aber die Stimmen waren andere hier, die Worte sangen eine Melodie, die übers Meer klang. Je näher wir dem Stadtrand und den Feldern kamen, desto besser wurde Dads Laune, wenn die Felder auch von auf Pfeilern ruhenden Bundesstraßen durchkreuzt wurden, ohne dass Fußgänger, das Fußvolk, eine Möglichkeit gehabt hätte, sie zu überqueren. Der Wall war an diesem ersten Tag nur ein Graben, aber immerhin ein römischer Graben, die physische Manifestation des Widerstands der alten Briten, der dem Land immer noch eingezeichnet war, woraus Dad sichtlich Kraft zog.

Wir waren am höchsten Punkt des Moors angekommen, wo sich unter weitem Himmel das Hochland ausrollte. Dort oben langzugehen ist ein Gefühl, als würde man dem Wetter auf der offenen

Handfläche dargeboten; blickt man nach unten, sieht man jedoch reichlich weiche kleine

Schlupfwinkel, zwischen den Studentenröschen in den sumpfigen Senken und an den Hängen in der Heide, die vor Bienen vibrierte. Molly zog eine Packung Fruchtpastillen aus ihrer Felltasche und bot sie reihum an. An der Straße ins Dorf liegt eine Tankstelle, sagte sie, wir können immer Nachschub holen, ist ja nicht, als wären die Jäger und Sammler der Eisenzeit nicht zu Spar gegangen, wenn sie gekonnt hätten. Gibt’s da auch Eis, fragte Pete. Das ist doch Blödsinn, Moll, sagte Dan, sie hätten auch Duschen und Wanderschuhe und Mikrowellen gehabt, wenn sie gekonnt hätten. Das bezweifle ich, sagte Molly kauend, die Wanderschuhe jedenfalls, die hätten sich bestimmt schrecklich angefühlt für sie.

Sie hatte recht. Man geht in Mokassins anders, erlebt das Verhältnis von Füßen und Boden anders. Man weicht den Steinen aus, statt auf sie draufzutreten, Muskeln und Haut spüren die Beschaffenheit und Wärme unterschiedlicher Grasarten. Die Kanten der Holzstufen, die über den Zaun führen, berühren die Knochen, ein nicht bemerkter Kiesel lässt den Atem stocken. Man kann sich vorstellen, wie ein Mensch die Landschaft mit den Füßen kennenlernen kann. Aber ein Moor hatten wir bisher nicht durchquert, und ich war ziemlich sicher, dass es sich im Winter anders anfühlte. Früher haben sie die Mokassins mit Heu ausgestopft, zur Dämmung. Du auch, Silvie, fragte Molly und hielt mir die Packung hin, in der ganz oben eine rote lag, nimm, wenn du magst. Natürlich mochte ich.

Wir fanden Bickbeeren, die an einem Südhang inmitten der Heide wuchsen, oberhalb eines Bachs und unterhalb einiger Felsbrocken, die auf der Karte RÖMISCHES LAGER (Überreste) hießen.

Da, sagte ich, diese runden, glänzenden Blätter, die sich rot färben, darunter sind die Beeren, man sieht sie nicht gleich. Kommandier die anderen nicht rum, ermahnte ich mich, kleine Besserwisserin, aber es schien niemanden zu stören. Nachdem wir den Pfad verlassen hatten, boten die Ledersohlen nicht mehr viel Schutz, und die Heide kitzelte an den Knöcheln. Ich band die Schuhe auf, hängte sie mir um den Hals und stieg in den Bach, stakste vorsichtig über Kiesel und Gräser. Gute Idee, sagte Dan. Das Wasser war erstaunlich kalt, obwohl der Bach nicht tief und die Sonne kräftig war. Ich fragte mich, ob die alten Völker das auch gemacht hatten, ob die alten Briten abseits der Wege gegangen, auch mal ins Wasser gestiegen waren, denn Dad sagte gern, deine Haut ist eine wasserdichte Membran, sie ist dafür gedacht, nass zu werden.

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Ungeachtet dessen, was ich über die Schafe gesagt hatte, aß ich die Beeren, genau wie alle anderen. Sie waren warm von der Sonne und hatten etwas Rosiges, wie Haut. Blutunterlaufene Haut.

Ich mochte das Kribbeln auf der Zunge, wie sie im Mund zerplatzten, und dass man erst dann wusste, ob es eine milde oder eine saure war. Aus denen kann man bestimmt guten Gin machen, sagte Pete, Ihr wisst schon, so wie aus Pflaumen. Haben sie früher Alkohol hergestellt, fragte ich. Keine Ahnung, sagte Molly, wahrscheinlich schon, oder? Passiert ja leicht genug aus Versehen, wenn man Obst und Gemüse lagert. Roggenwhisky gab es. Ich weiß nicht, ab wann Mutterkornvergiftung auftrat, aber ich bin sicher, irgendwelche psychotropen Substanzen werden sie gehabt haben. Ja, sagte ich, mein Dad hat auch gesagt, es gab was, das sie den Moorleichen gaben, ehe sie geopfert wurden, um sie

ruhigzustellen, vielleicht auch, um den Schmerz zu lindern. Pete hielt eine Bickbeere in die Sonne und betrachtete sie blinzelnd. Vielleicht schreibe ich darüber meine Abschlussarbeit, sagte er, das wär doch lustig, meint Ihr, man darf in empirischer Archäologie über Drogen arbeiten, solange man sie selbst sammelt? Frag Jim, sagte Molly, ihm wird die Idee gefallen, ob es nun erlaubt ist oder nicht;

glaubt Ihr nicht, dass er zu Hause mit seinen Frauen was raucht, so nach dem Essen, und sich für echt cool hält? Das wär ganz schön gut, sagte Pete, stellt euch das mal in eurem Lebenslauf vor.

Lebenslauf, dachte ich und ein ängstlicher Schauder überlief mich, der Rückstrom meiner

Verzweiflung, dass es sowas gab, dass man die Kindheit und die Abhängigkeit hinter sich lassen und in die Welt hinausgehen konnte. Hier wächst Thymian, sagte ich, der könnte gut zu Pfannkuchen passen, oder falls sie Fische fangen.

Natürlich hatten sie Fische gefangen. Es ist nur fair festzuhalten, dass sowohl Dad, als auch der Prof tatsächlich über die Überlebenstechniken abseits der Zivilisation verfügten, über die sie so gern sprachen. Als wir sonnenverbrannt und mit blauen Fingern zurückkamen, weit nach der Zeit, die man konventionellerweise unter „Mittag“ verstand, die Taschen noch fast genauso flach wie am Morgen, lag ein kleiner Schwarm silberner Fische erstickt, ausgenommen und aufgeklappt wie Buchseiten auf einem Holzrahmen zum Trocknen aufgereiht in der Sonne. Es roch. Da seid Ihr ja endlich, sagte Dad, Ihr wisst schon, dass man früher nicht einfach faulenzen konnte, im Sommer musste man fleißig sein, alle wussten, was ihnen im Winter blühte, wenn sie sich nicht die Mühe machten, Vorräte anzulegen.

Ist das wirklich alles, was Ihr finden konntet? Ich vermute, essen wollt Ihr trotzdem alle? Früher hätte man nicht zwei alte Männer für die ganze Gemeinschaft sorgen lassen, wisst Ihr, die jungen Leute hätten ihren Teil getan. Mussten sie ja, dachte ich, da niemand wirklich alt wurde, da du und Prof Jim schon seit Jahren tot und begraben wärt, Infektion oder Blinddarmentzündung, Parasiten, das gebrochene Bein damals, als du am Berg gestürzt bist. Sorry, sagte Dan, wir haben gesucht, es schien nur kaum was zu geben, vielleicht gehen wir nächstes Mal woanders hin, ist das Moor nicht sowieso eine menschengemachte Landschaft, Folge der Schafhaltung? Der Prof war entspannter. Macht doch nichts, sagte er, es ist ja nur ein Experiment, um eine Gefühl für die Schwierigkeiten zu bekommen.

Hier, Alison hat Fladenbrot gebacken und wir haben viel Fisch. Eure Bickbeeren werden an einem Tag wie heute schnell trocken.

Die Korbflechterin kam. Was für ein Beruf ist das denn, sagte Mum, was für eine ausgefallene Art, heutzutage seinen Lebensunterhalt zu verdienen; aber wie sich herausstellte war es, natürlich, komplizierter. Die Körbe standen nicht zum Verkauf. Louise war eine Freundin des Profs, eine

Dozentin für Textilkunst, die sich aus dem Berufsleben weitgehend zurückgezogen hatte und ihre Zeit

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nun damit verbrachte, Dinge von Hand zu machen, auf die harte Tour, als Zerstreuung für Menschen, die von sicherem Trinkwasser, moderner Medizin und trockenen Füßen gelangweilt waren. Dozentin für Textilkunst; als mein Vater sich zurückzog, begegneten sich unsere Blicke. Sie trug eine Art Kaftan, der unseren Tuniken nicht unähnlich, wahrscheinlich aber bequemer und mit Sicherheit, sogar für mich erkennbar, teurer gewesen war, mit rundlichen flachen Schuhen, die aus ausgeschnittenen roten Lederblumen und grünen Blättern zusammengenäht worden waren. Sie war mit ihrem Jeep über den Pfad in den Wald gefahren, und dann schob der Prof ihren Rollstuhl über das Feld, ein Vorgang, der wirkte, als müsste er beiden unangenehm und für sie riskant sein, der jedoch bei beiden große Heiterkeit erregte. Dan und Pete eilten zu Hilfe, wurden jedoch weg gewunken, danke, sagte sie, aber Jim hat mich schon mal in den Loch Lomond geschubst, ich werde ja sehen, ob ich ihm jetzt trauen kann. Das ist fünfundzwanzig Jahre er, sagte er. Es war denkwürdig, sagte sie. Egal, Ihr müsst Jims Studenten sein.

Der Prof parkte Louises Rollstuhl im Schatten der großen Eiche und ging dann mit Pete zurück, um die Kisten mit Material aus dem Auto zu holen. Mum brachte ihr eine Tasse aus Birkenrinde voll Wasser und bot Tee an, den sie mangels praktischer Möglichkeiten gar nicht zubereiten könne. Macht nichts, sagte Louise, Wasser ist perfekt, und wenn ich später Tee möchte, habe ich zu Hause einen Wasserhahn und einen wunderbaren Wasserkocher. Oh, Sie gehen? Bleiben Sie ruhig bei uns, wenn Sie mögen, flechten Sie einen Korb. Mum hielt inne. Versuchen Sie’s mal, sagte Louise, wenn es keinen Spaß macht, lassen Sie es wieder. Das war das falsche Wort, Mum glaubte nicht an Spaß. Ich hab noch eine ganze Menge zu tun, sagte sie, damit mache ich jetzt mal weiter. Noch Wasser, bevor ich gehe?

Die Eiche raschelte, und die Schatten flimmerten über Louises Haar und ihre Kleidung. Ich stand da, hatte nichts zu sagen. Molly kam durch das Sonnenlicht, stellte sich vor und kniete sich neben Louise, setzte sich in einer eleganten japanischen Haltung, die ich niemals hinbekommen hätte, auf ihre gestreckten Fußgelenke. Es ist nicht leicht, in einer knielangen Tunika auf dem Boden zu sitzen. Entweder haben sich die alten Britinnen sehr viel weniger darum gesorgt, dass ihr Höschen zu sehen sein könnte als wir heute, oder sie waren durch das jagen und sammeln sehr biegsam.

Wobei sie vermutlich gar keine Höschen hatten. Und das ist Silvie, sagte Molly, hat Jim

wahrscheinlich erwähnt, Bills Tochter? Kurz für Sulevia. Hi, sagte ich und merkte, dass ich ohne jeden Grund rot wurde. Molly lächelte mir zu, warf einen Zopf über ihre Schulter und begann Fragen zu stellen: Muss man ein Artefakt nicht zerstören, um herauszufinden, wie es hergestellt wurde? Sind die Werkzeuge, mit denen Sie Reproduktionen von Objekten machen, selbst Reproduktionen, und wenn ja, benutzen Sie, um diese Werkzeuge zu reproduzieren wiederum Reproduktionen, wie weit geht das zurück? Da die Textilien selbst nicht überlebt haben, inwieweit sind die Vorstellungen davon, was Menschen in der Frühzeit trugen, Spekulation, diese Tuniken, zum Beispiel? Ich stand am Rand des Dachs aus Blättern, die sich in meinen Haaren bewegten, und fragte mich, ob sie sich die Fragen vorher überlegt hatte, etwas in Sorge, dieses Schnellfeuer sei unhöflich. So redet man nicht mit Leuten, dachte ich, einfach kommen und lauter Fragen stellen, aber Molly tat es, und Louise schien es nichts auszumachen. Na ja, sagte sie, ein Großteil der Archäologie besteht ja daraus, Dinge auseinanderzunehmen, um zu sehen, wie sie funktionieren, und oft werden sie anschließend nicht wieder zusammengesetzt, aber einer der Gründe, Reproduktionen herzustellen ist, dass man

zerstörend prüfen kann, wenn nötig. Manchmal nutze ich auch Reproduktionen von Werkzeugen, ich habe zu Hause eine ziemlich große Sammlung Knochennadeln, aber manchmal kann man tatsächlich auch die echten benutzen, mittelalterliche Webgewichte und Spindeln gibt es zum Beispiel genug.

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Echt, sagte Molly, man kann zum Spinnen genau das nehmen, was irgendeine Frau vor dem

Bürgerkrieg benutzt hat? Ist das nicht ein komisches Gefühl, hörte ich mich fragen, wenn man seine Finger ganz genauso darum legt wie sie, nur dass sie schon seit ein paar hundert Jahren tot ist?

Louise lächelte, als wäre es in Ordnung, dass ich mich beteiligte. Für mich nicht, sagte sie, nicht mehr, jedenfalls, ich versuche immer das zu tun, was Tote mir sagen. Ganz besonders, wenn ich eine Reproduktion mache und einen prähisorischen Gegenstand tagelang ansehe und befühle und ihm zuhöre, dann versuche ich gewissermaßen auch, ihre Gedanken zu denken. Ich meine, wenn ich mich wirklich auf die Zwischenräume zwischen dekorativen Punkten konzentriere oder darauf, wie fest etwas gedreht ist, tut mein Geist, was ihr Geist getan hat, während meine Hände tun, was ihre Hände taten – das ergibt doch Sinn, oder? Manchmal glaube ich, sagen zu können, ob zwei Gegenstände vom selben Fundort vom selben frühzeitlichen Menschen gemacht wurden, weil meine Hände sich beide Male auf dieselbe Weise bewegen. Ich erschauderte. Natürlich, das war der Sinn dieser ganzen Nachstellung, dass wir selbst zu Geistern wurden, lernten, über Land zu gehen, wie sie es vor

zweitausend Jahren getan hatten, ein Feuer zu machen wie sie, in der Hoffnung, dass ein Teil ihrer Gedanken, ihres Weltverständnisses, dem Tanz von Muskeln und Knochen folgte. Um es richtig zu machen, dachte ich, müssten wir fast aus uns heraustreten und alles, was wir taten, nachstellten, denen überlassen, die nicht mehr da waren. Wer sind dann die Geister, wir oder unsere Toten?

Vielleicht haben sie sich uns zuerst vorgestellt, vielleicht wurden wir von anderen aus der tiefsten Vergangenheit heraufbeschworen.

Zu schade, dass ich keinen Webstuhl mitbringen konnte, sagte Lousie, das wäre für euch interessant gewesen, vielleicht sollte ich Jim fragen, ob er fürs nächste Semester eine Sitzung in meiner Werkstatt organisiert.

Wie sich herausstellte, war ich im Körbeflechten ein Naturtalent. Silvie macht es gut, sagte Louise, seht euch das an, hast du das schon mal gemacht, fertigst du viel? Was soll ich denn fertigen, dachte ich, aber egal, was sie sich vorstellte, die Antwort war nein. Großartig, sagte ich zu Moll, meine Zukunft ist geklärt, ich flechte Körbe. Vielleicht nicht Vollzeit, sagte Molly, es muss doch was geben, was du magst, einen Ansatzpunkt. Ich lese gern, sagte ich, aber nicht, was wir im

Englischunterricht lesen. Hm, ich geh gern spazieren? Nichts, wofür mich irgendjemand bezahlen würde. Sie drückte das geflochtene Rohr fester in seinen Weidenrahmen. Bergführerin, sagte sie. In einer Jugendherberge arbeiten. Forstwesen und Umwelterhaltung. Was ist mit all dem Naturkram, Sammeln, darüber weißt du mehr als wir. Nur das mit den Bickbeeren, sagte ich, und nur wegen Dad, ich hatte ja gar keine Möglichkeit, diese Sachen nicht zu erfahren, und außerdem ist das ja kein Beruf.

Fliegen, steuern, kommunizieren, sagte Dad immer, und erwarte nicht, dass jemand kommt und dich holt, wenn alles schief läuft. Ich war ziemlich sicher, dass er noch nie geflogen war, nicht mal in einem Kleinflugzeug gesessen hatte; das mit dem Fliegen war metaphorisch und mit

„kommunizieren“ meinte er „nicht um Hilfe bitten“. Ich steckte die hervorstehenden Enden ins Flechtwerk meines Korbes. Er wirkte tatsächlich ganz gut, gleichmäßig und stabil.

Und du, fragte ich, willst du Archäologin werden? Mollys Zöpfe waren wieder vorn, diesmal zusammengehalten von grünen Äpfeln. Vielleicht, sagte sie, ich glaub aber nicht, dass ich mein Leben lang Ausgrabungen machen will, ich hab ganz gern Mauern um mich und ein Dach und ein

Badezimmer. Vielleicht geh ich in Richtung Museen und Galerien, vielleicht lass ich mich vorher zur Lehrerin ausbilden, dann kann ich mit Kindern und Familien arbeiten, Museen hab ich immer geliebt.

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Museen. Für meinen Vater waren sie wie Tempel, die Beinhäuser unserer Ahnen. In unserer Nähe gab es nicht viel, nur Kleinstadtsammlungen, die von den weniger aufregenden

Feuersteinwerkzeugen bis zu den geflickten Reifröcken vom Dachboden irgendeiner Oma reichten, aber mein Vater gehörte zu den wenigen Menschen, die sich das gern ansahen, und nahm mich deshalb mit. Einmal, vor Jahren, hatte er mich ins Manchester Museum mitgenommen und mir gesagt, ich müsse an diesem Tag nicht zur Schule, wir hätten etwas Besseres vor, er und ich. Er sagte Mum, sie solle uns Brote machen, schickte mich wieder hoch, damit ich meine Uniform aus und „was Anständiges“ anzog, und schickte mich dann nochmal zum Umziehen hoch, als ich, passend zu seinem einzigen Anzug mit den weiten Hosenbeinen, in meinem Festkleid wieder runterkam. Jetzt komm, sagte er, sonst verpassen wir noch den Zug.

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