• Keine Ergebnisse gefunden

Gymnasium. Sturm aufs. dass der vermeintliche Königsweg nicht für jeden der

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Gymnasium. Sturm aufs. dass der vermeintliche Königsweg nicht für jeden der"

Copied!
23
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Dossier

Sturm aufs

Gymnasium

Eltern wünschen ihren Kindern Erfolg - viele betrachten die Matura als Garant dafür. Dabei geht vergessen, dass der vermeintliche Königsweg nicht für jeden der richtige ist. Wer gehört ans Gymnasium? Wer sollte lieber eine andere schulische Bahn einschlagen? Und welche

Folgen hat es, wenn die Matura für immer mehr Kinder zum Ziel wird? Eine Bestandsaufnahme.

Text: Virginia Nolan Bilder: Gabi Vogt / 13 Photo

(2)

Regelmässig berichten Medien über Eltern, die Lehrpersonen bestürmen, bis die Noten fürs Gymi reichen.

«Die Aufnahmeprüfung ist als Zulassungskriterium unfair, ein

regelrechtes Damoklesschwert», findet eine Mutter.

«Intelligenz ist keine fixe Grösse, sondern wird von Geburt

an beeinflusst», sagt

Bildungsforscher Urs Moser.

Kann Drill fehlende Intelligenz kompensieren oder, wie es ein Lehrer sagt, «aus jedem Deppen ein Genie machen»?

2016 machten in Obwalden 11 Prozent der Jugendlichen die gymnasiale Matura, in Basel-Stadt waren es 29,6 Prozent.

Die OECD sagt, die Schweiz laufe mit ihrer tiefen Maturitätsquote Gefahr, international

den Anschluss zu verlieren.

Für viele Schweizer Schü- lerinnen und Schüler galt es nach den Sommerferi-

en ernst. Für die einen fiel

der Startschuss zur Berufswahl, für die anderen stand der Wechsel in die Sekundarstufe an - oder aber der Übertritt ins Gym-

nasium. Die gymnasiale Matura ist der höchste Abschluss, den Jugend- liche auf der Sekundarstufe II erzie- len können.

Das Schweizer Gymnasium sei ein Sonderfall, sagt Franz Eberle, Professor für Gymnasialpädagogik an der Universität Zürich: «Mit 13

bis 14 obligatorischen Fächern im Grundlagenbereich plus einem Schwerpunkt- und einem Ergän- zungsfach sowie einer Maturaarbeit haben Schweizer Gymnasiasten im

internationalen Vergleich das umfassendste Pflichtprogramm.»

Dafür belohne die Matura sie mit dem Eintrittsticket zu allen Univer- sitäten im Land, ermögliche ihnen den prüfungsfreien Zugang zu sämt- lichen Studienfächern mit Aus- nahme von Medizin. «Das ist im internationalen Vergleich ebenfalls aussergewöhnlich.»

Was die Schweizer Matura zudem

besonders macht, ist die Tatsache, dass vergleichsweise wenige eine haben. «Die Schweizer Maturitäts- quote gehört mit 20 Prozent zu den tiefsten innerhalb der OECD-Staa- ten», sagt Eberle.

Bildung als hart umkämpftes Gut

Gut möglich, dass der Ruf des Gym- nasiums als Königsweg einer Schul- laufbahn von all diesen Besonder- heiten herrührt: Was rar ist, hat Strahlkraft. Offensichtlich scheint diejenige des Gymnasiums den einen oder anderen zu blenden. Mit

zuverlässiger Regelmässigkeit berichten Medien über Eltern, die Anwälte einschalten, um ihr Kind durch die Probezeit zu boxen, oder Lehrpersonen so lange bestürmen, bis der Notendurchschnitt fürs Gymi reicht. Eine arge Zuspitzung? Viel-

leicht.

«Sicher ist, dass viele Eltern Bil- dung nicht mehr als ein selbstver- ständliches, öffentliches, sondern als

hart umkämpftes privates Gut

betrachten», sagt Erziehungswissen-

schaftlerin Margrit Stamm. «Nur im

Gymnasium, so ihr Kalkül, liegt die

(3)

Zukunft ihrer Kinder.»

Worin liegt diese Haltung begründet? Was macht sie mit der Schule und dem Ideal von Chancen- gleichheit, was mit den Kindern?

Was hilft Kindern und Jugendlichen, ihren Platz zu finden, und für wen ist der Weg ans Gymnasium der richtige? Diesen Fragen geht dieses

Dossier nach - und will Eltern

ermuntern, ihren Blick nicht nur auf die Matura zu richten. Mitun-

ter geht vergessen, dass das Schweizer Bildungssystem einen weiteren «Sonderfall» zu bieten hat, der für viele Länder ein Vorbild ist:

die duale Berufsbildung.

Gemäss Bildungszielartikel im Schweizerischen Maturitätsregle- ment hat das Gymnasium zwei Hauptziele: Es soll Absolventen mit der «allgemeinen Studierfähigkeit»

ausstatten und sie «auf anspruchs- volle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereiten». Mit allgemeiner Stu- dierfähigkeit ist gemeint, dass Matu- randen in der Lage sein sollten, nicht nur ein bestimmtes, sondern jedwedes Studium erfolgreich auf- zunehmen.

Für Bildungsforscher Stefan Wol-

ter ergibt sich daraus, dass das Gym- nasium die zielgerichtete Vorberei-

tung auf die Universität darstellt. Als

Beispiel führt er das gymnasiale Schwerpunktfach Psychologie und Pädagogik an: «Es soll nicht so sein, dass man einfach angeregt über Freud diskutiert. Wenn die Schüler erst an der Universität begreifen,

dass zur Psychologie Statistik gehört,

hat das Gymnasium seine Aufgabe nicht erfüllt.»

Wolter ist Titularprofessor für Bildungsökonomie an der Universi- tät Bern und Leiter der Schweizeri- schen Koordinationsstelle für Bil-

dungsforschung. Aus seiner Feder stammt der 2018 veröffentlichte dritte Schweizer Bildungsbericht, eine umfangreiche Datenanalyse aus Statistik, Forschung und Verwaltung zum Schweizer Bildungswesen.

Dem Bildungsbericht zufolge treten 95 Prozent der Schweizer Maturan-

den im ersten Jahr nach dem

Abschluss ein Studium an, 80 Pro- zent an einer Universität, 15 Prozent verteilen sich auf Fachhochschulen

und Pädagogische Hochschulen. Ein Viertel derjenigen, die sich für ein Uni-Studium entscheiden, schliesst dieses nicht ab - der meistgewählte Weg bleibt es trotzdem. «In der Schweiz macht man die Matura, um zu studieren», resümiert Wolter.

Vornoten oder Test - was ist fairer?

Ob es «die Richtigen» ins Gymnasi- um schaffen, ist eine heiss diskutier- te Frage. Sie betrifft auch das Auf- nahmeverfahren. Zehn Schweizer Kantone, darunter Zürich, Glarus

oder St. Gallen, regeln die Zulassung

mit einer Aufnahmeprüfung (siehe

Box Seite 25). Meist haben in diesem

Fall auch die Vornoten Einfluss dar- auf, ob das Kind einen Platz be- kommt. 16 Kantone, darunter Bern, beide Basel, die lateinische und die Zentralschweiz, verzichten auf eine Aufnahmeprüfung. Hier ist ein bestimmter Notenschnitt ausschlag- gebend, oft kombiniert mit der Emp-

fehlung durch die Lehrperson.

Notenschnitt oder Prüfung: Was ist fairer? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Die Aufnahmeprü- fung sei lediglich eine Momentauf- nahme, abhängig von der Tagesform des Kindes und daher wenig reprä- sentativ für dessen tatsächliches Potenzial - häufig kommt dieses Argument von Eltern wie einer Zür-

cher Mutter, die nicht mit Namen genannt werden will. «Die Aufnah- meprüfung ist als Zulassungskrite- rium schlicht unfair, ein regelrechtes

Damoklesschwert», findet sie. «Kein

Wunder, dass die Vorbereitung auf das Gymnasium damit auch zur Elternsache wird.»

Was es mit dieser Kritik auf sich hat, zeigt eine bereits länger zurück- liegende Studie von Urs Moser, dem Leiter des Instituts für Bildungseva- luation an der Universität Zürich.

Moser und sein Team untersuchten im Jahr 2009, ob der sogenannte AKF-Test, den Anwärter für Lang- zeitgymnasien in Zürich während einiger Jahre zusätzlich zur Aufnah- meprüfung absolvierten, die Chan- cengerechtigkeit beim Übertritt ins Gymnasium verbessern könnte.

AKF steht für allgemeine kognitive Fähigkeiten, die mit dem Test ermit- telt wurden.

Für das Prüfungsresultat selbst war sein Befund irrelevant. Die Untersuchung sollte klären, ob Kinder aus Migrantenfamilien, die eigentlich das Potenzial fürs Gym- nasium hätten, an der Auf-

nahmeprüfung scheitern, bloss weil sie wenig Unterstützung haben. Entsprechend erwarteten die Forscher bei diesen Prüflingen eine Kluft zwischen hoher Punktzahl im AKF-Test und geringem Erfolg bei der Aufnahmeprüfung. «Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt»,

sagt Moser. «Schüler mit Deutsch als

Zweitsprache schnitten sowohl im AKF-Test als auch in allen Prü- fungsteilen deutlich schlechter ab als jene mit Deutsch als Erstsprache.»

Für den Forscher ist die Folgerung

naheliegend. «Intelligenz ist keine

unveränderliche Grösse, sondern

(4)

wird von Geburt an beeinflusst», sagt

Moser. «Ob ein Kind sein angebore- nes Potenzial ausschöpfen kann, hängt von der Umwelt ab.» So pro- fitierten Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern von einer anregungs- reicheren Umgebung: «Sie haben einen Vorsprung, der sich nicht nur auf den Prüfungserfolg, sondern auch auf ihre kognitiven Fähigkeiten auswirkt.»

Eltern beeinflussen Lehrpersonen

Die Untersuchung zeigt auch: Ganz

generell deckt sich die Punktzahl aus

den kognitiven Fähigkeiten in der Regel nicht nur mit dem Prüfungs- resultat eines Kindes, sondern auch

mit seinen Vornoten. «Das legt nahe,

dass die Prüfung ihre Aufgabe rela- tiv gut erfüllt und die passende Aus-

wahl trifft», sagt Moser. Auch da, wo

ausschliesslich Vornoten zählten,

stelle sich die Frage nach deren Aus-

sagekraft, gibt der Forscher zu bedenken: Welche Noten ein Kind erziele, hänge von der Klassenzu- sammensetzung ab - und davon, wie stark der Einfluss der Eltern auf das Urteil der Lehrperson sei.

«Während die Zentralschweiz mit Lehrerempfehlungen gute Erfahrungen macht», sagt Moser,

«muss man kein Hellseher sein, um die Probleme zu sehen, die mit der Abschaffung der Gymi-Prüfung auf Zürcher Lehrpersonen zukämen.

Hier ist der Test ein wichtiger aus- gleichender Faktor zum elterlichen Powerplay.» So argumentiert auch Bildungsforscher Wolter: «Fehlt die Aufnahmeprüfung als Hürde, profi- tieren vor allem Akademikerkinder.

Sie schaffen den Sprung ans Gym- nasium deutlich häufiger als dort, wo es Prüfungen zu bestehen gibt.»

Der Bildungsbericht zeige auch, dass Akademikerkinder unter den

Gymnasiasten mit schlechten Schul- leistungen überdurchschnittlich häufig vertreten seien. «Sie müssen

typischerweise der elterlichen Erwartungshaltung entsprechen, obwohl sie nicht an diese Schule gehören», sagt Wolter. «Das ist schlecht für die Jugendlichen - und sozial ungerecht.»

Jugendliche, die das Gymnasium besuchen, obwohl sie nicht über das kognitive Rüstzeug dafür verfügen, sind keine Seltenheit. Das legt die Arbeit der Intelligenzforscherin Els- beth Stern nahe. Stern ist ordentli- che Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung und Vor- steherin des Instituts für Verhaltens-

forschung an der ETH Zürich.

Zusammen mit ihrem Team erhob sie den Intelligenzquotienten (IQ) von Schweizer Gymnasiasten. «Fast die Hälfte der Schüler, die wir teste- ten, verfügten nicht über die dafür nötige Intelligenz», sagt Stern.

Was ist darunter zu verstehen? «Die

Schweizer Maturitätsquote sieht vor,

dass nicht mehr als 20 Prozent aller Jugendlichen das Gymnasium besu- chen. Sinnvollerweise wären das die intelligentesten 20 Prozent ihrer Altersgruppe. Orientieren wir uns an ihnen, müsste der Mindest-IQ fürs Gymnasium bei 112 Punkten liegen», sagt Elsbeth Stern. 46 Pro- zent aller getesteten Gymnasiasten

erreichten diesen Wert nicht.

«IQ-Tests sind nicht perfekt», so die Forscherin, «zum Beispiel kann jemand einen schlechten Tag haben.» Unter Berücksichtigung solcher Messfehler hat Stern die Quote nach unten korrigiert - auf 30 Prozent. «Das ist eine konserva- tive Schätzung», betont sie, «und betrifft auch so jeden dritten Gym- nasiasten.»

Überfordert auch später im Beruf Warum ist das problematisch? «Weil

zu viele ungeeignete Leute die Uni- versität besuchen, dort das Niveau drücken oder scheitern», sagt Stern.

«Oder sie kommen mit Ach und

Krach durch und später in berufliche

Positionen, denen sie intellektuell nicht gewachsen sind.» Für viele

Akademiker sei die Vorstellung, dass

es das eigene Kind nicht aufs Gym- nasium schafft, schwer erträglich.

Um ihrem Kind einen Platz zu sichern, investierten gut situierte Eltern Unsummen in Nachhilfe.

So auch Maximilians Eltern, ein Akademikerpaar aus einer Zürcher

Seegemeinde. Der 12-jährige

Sechstklässler tritt im kommenden

März zur Gymi- Prüfung an - wöchentlichen Stützunterricht bei einem privaten Nachhilfeinstitut nimmt er seit zwei Jahren. «Nicht, weil wir überehrgeizig sind», sagt seine Mutter, «sondern weil unser Sohn genügend Zeit haben soll, sich mit neuen Aufgabenstellungen, die im Hinblick auf die Prüfung wichtig sind, vertraut machen zu können.

In der öffentlichen Schule bleibt dafür gar keine Zeit.» Es sei

30 Prozent der Jugendlichen, die das Gymi besuchen, verfügen nicht über das kognitive Rüstzeug dafür.

ein offenes Geheimnis, findet

der Vater, dass der Test ohne Zusatz-

unterstützung nicht machbar sei.

«Alle setzen auf Nachhilfe», glaubt er, «aber keiner gibt es zu.»

Ein Stadtzürcher Paar, diesmal

keine Akademiker, begründet seine

Entscheidung für private Gymi-

Vorbereitung anders: «Wir sind

(5)

sicher, dass sich unsere Tochter da mehr engagiert als im Kurs, den die Klassenlehrerin anbietet. Da sind ihr Umgebung und Gruppenzusam- mensetzung zu vertraut, um sie zu Höchstleistungen anzuspornen.»

Zweifel äussert das Paar auch an der Qualität der kostenlosen Vorberei- tung, wie sie die öffentliche Schule anbietet: «Die Lehrer sind ja ver- pflichtet, diese Kurse zu geben - zusätzlich zum normalen Unter- richt. Der Verdacht, dass sie diesem Extraaufwand nicht wahnsinnig viel Engagement entgegenbringen, liegt doch nah.»

Kann Drill fehlende Intelligenz kompensieren oder, wie es ein nicht näher genannter Lehrer eines Nach-

hilfeinstituts gegenüber einer

Schweizer Tageszeitung formulierte,

«aus jedem Deppen ein Genie machen»? «So würde ich es nicht formulieren», sagt Stern. «Aber bei durchschnittlicher Intelligenz gibt es durchaus Spielraum für Leistungs- steigerung - wenn entsprechend trainiert wird und man weiss, was einen erwartet.»

Die Gymi-Prüfung sei in dieser Hinsicht ein dankbares Lernziel:

«Sämtliche Aufgaben vergangener Jahre finden sich im Internet,

und das Prüfungsschema ist jeweils mehr oder weniger dassel- be.» Mehr zu leisten, als die eigene Intelligenz hergibt, funktioniere

aber nicht auf lange Sicht, sagt Stern:

«Vielleicht kommt man dank Nach- hilfe durchs Gymnasium, mögli- cherweise auch durch die ersten Jahre an der Universität. Irgend- wann wird der Druck zu gross.» Das Nachsehen hätten nicht nur die jun- gen Erwachsenen, die unter ihm zerbrächen, «sondern auch die, denen sie am Gymnasium den Platz

wegnehmen», sagt Stern. «In sozial

schwächeren Familien gibt es durch-

aus intelligente Kinder, bloss stehen die oft allein da.»

Störende kantonale Unterschiede

Die Gerechtigkeitsfrage stellt sich auch im Hinblick auf die Maturitäts-

quote. Obwohl sie im Gesamtschwei-

zer Schnitt 20,2 Prozent beträgt und damit der vom Bund angepeilten Marke entspricht, variiert sie je nach Kanton stark. Während 2016 gerade einmal 11 Prozent der Obwaldner und 14 Prozent der Thurgauer

Jugendlichen die gymnasiale Matu- ra machten, waren es in Genf (29,4 Prozent) und Basel-Stadt (29,6 Pro- zent) ungleich viel mehr.

«Mögliche Gründe für diese Unterschiede sind politische Ent- scheidungen als Reaktion auf den technologischen Fortschritt und die steigende Nachfrage nach Fachkräf- ten», sagt Bildungsforscher Moser.

«Sicher spielen aber auch die gestie- genen Bildungsambitionen eine

Rolle.» Abseits der Städte fielen die- se deutlich weniger ins Gewicht. Die

Vielzahl an Maturanden in der Westschweiz und im Tessin begrün- det Moser mit kulturellen Unter- schieden der Bildungssysteme, die vom französischen respektive itali- enischen Pendant geprägt seien.

«Die grossen kantonalen Unter- schiede sind störend, weil die gym- nasiale Matura den Zugang zur Uni- versität regelt», findet Moser. «Es wäre wünschenswert, dass die

Anforderungen für bestimmte Aus- bildungen in jedem Kanton gleich

sind.»

Langfristig haben Gymnasiasten in Kantonen mit hoher Maturitäts- quote aber nicht unbedingt die bes- seren Karten: So fliegt in Genf und im Tessin - beide Kantone kennen

nur das auf die Sekundarschule fol- gende Kurzzeitgymnasium - ein Drittel der Gymnasiasten im ersten Jahr wieder raus. «In der Regel ver- suchen sie es daraufhin noch zwei- oder dreimal», sagt Wolter. «Gelingt das nicht, führt der Weg meist in eine Fachmittelschule.»

Einige Jugendliche verfügten dafür nicht über die nötigen Voraus- setzungen und scheiterten. «Und erst, wenn alle Stricke reissen,

bewerben sie sich um eine Lehrstel- le», sagt Wolter. Gemäss dem For- scher sind Genfer Jugendliche, die eine Berufsausbildung mit höherem Anforderungsprofil antreten, im Durchschnitt bereits 20 Jahre alt.

«Dieses System ist ineffizient, teuer und tragisch für die Betroffenen», sagt Wolter. «Es wäre sinnvoller gewesen, den gescheiterten Gymna- siasten früher reinen Wein einzu- schenken und ihnen direkt die Vor-

züge einer Berufslehre aufzuzeigen.»

Viele Gymnasiasten, viele Abbrüche

Schlimmer als die gescheiterten Gymnasiasten, findet Wolter, trifft es jene, die die Matura schafften,

«aber so schlecht sind, dass sie an keiner Universität bestehen». So

zeige ein Blick in die Statistik, dass eine überdurchschnittlich hohe Maturitätsquote mit höheren

Abbruchquoten an den Universitä- ten einhergehe. Ebenso belegten Langzeitdaten, dass Gymnasiasten in Kantonen mit höherer

ersten Sekundarschule die Frage auf, ob ich ins Gymi wolle. Einige Lehrer meinten, in der Berufsschule sei ich womöglich unterfordert, und legten mir die Aufnah- meprüfung ans Herz. Einerseits gefiel mir die Idee, mich der Herausforderung zu stellen, andererseits wusste ich, dass ich

nicht der Typ bin, der bis 18 die Schul-

(6)

bank drücken möchte.

Meine Eltern sagten: Mach, was du für gut befindest, aber mach es richtig. Ich

musste nicht lange überlegen: Ich wollte einen Beruf erlernen, hatte aber keine Ahnung, welchen. Ins Büro wollte ich

nicht, so viel war klar, das ist mir zu abs- trakt. Ende der ersten Sek trat ich die

erste von insgesamt neun Schnupper- lehren an. Ich schnupperte als Koch, als Zimmermann, als tiermedizinischer Praxisassistent, dann als Gärtner mit Fachrichtung Gartenbau. Da arbeiteten wir oft auf Baustellen, das sagte mir weniger zu. Die zweite Gärtnerschnup-

perlehre, diesmal in der Fachrichtung Zierpflanzen, überzeugte mich dagegen sehr - meine Wahl war getroffen.

Mein Beruf gefällt mir bis heute. Ich mag es, draussen zu arbeiten, etwas zu gestalten. Es ist toll, mit eigenen Augen betrachten zu können, was man geleistet hat. Nächstes Jahr schliesse ich die Lehre ab. Danach werde ich die Berufs- maturitätsschule absolvieren, während einem Jahr in Vollzeit. Da ist das Ende absehbarer als in vier Jahren Gymi. Ich kann mir vorstellen, später Landschafts- architektur zu studieren, aber jetzt will ich erst mal sehen, wie ich mich an der BMS schlage - ich habe nie gelernt, wie man richtig lernt. Aber ich bin optimis- tisch. Die Entscheidung gegen das Gymi

habe ich jedenfalls nie bereut.»

Maturitätsquote eine tiefere durchschnittliche Leistung an den Tag legten. Trotz teilweise hoher Ausfallquoten während der Probe-

zeit gelinge es in Kantonen wie Basel-

Stadt, Genf oder Tessin nicht,

Jugendliche, die nicht über das nöti-

ge Rüstzeug für die Schule verfügten,

rechtzeitig auszusortieren: «Dann stehen sie Mitte 20 ohne Ausbildung da, weil sie durch die Uni fallen.»

Die OECD kritisierte die Schweiz mehrfach für ihre tiefe Maturitäts-

quote: Sie laufe damit Gefahr, den Anschluss an die internationale Ent- wicklung zu verlieren. «Diese Dis- kussion wird von Zahlen bestimmt, die mit Quoten und kaum mit Qua- litäten zu tun hat», findet Jürgen Oelkers, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Uni- versität Zürich.

Erstens greife die Kritik zu kurz:

Sie berücksichtige allein die gymna- siale Maturitätsquote, obwohl man mit Fach- und Berufsmittelschulen mittlerweile über zwei weitere Maturatypen verfüge. Zählt man alle drei Typen zusammen, kommt die Schweiz in der Tat auf eine Maturitätsquote von 37 Prozent.

Zweitens seien für die Wettbewerbs-

fähigkeit eines Landes nicht nur Bildungsabschlüsse, sondern auch die Situation im Hinblick auf Pro- duktion und Arbeitsmarkt entschei- dend. Hier punkte die Schweiz auf ganzer Linie - nicht zuletzt dank ihres einzigartigen Berufsbildungs- systems, das die OECD nicht ange- messen berücksichtige. «Ebenso wird unterschlagen, dass in der Schweiz, anders als in anderen Län- dern, die Hochschulausbildung den Arbeitsmarkt bisher nicht domi- niert», hält Oelkers fest. «Qualität wird auch auf anderem Weg erzeugt, und man braucht in der Schweiz in vielen Sparten keine gymnasiale Maturität, um erfolgreich zu sein.»

Das sieht auch Bildungsforscher Woher so. Das Schweizer Bildungs-

system gehöre zu den durchlässigsten weltweit. Auch demjenigen, der keine

gymnasiale Matura mache, stünden

alle Türen offen: «Es gibt nicht diesen einen Zeitpunkt, zu dem Jugendliche

sich für einen Weg in Richtung Stu- dium entscheiden müssen. Sie kön- nen während oder nach der Lehre

die Berufsmatura machen, danach stehen ihnen alle Fachhochschulen offen. Wer will, kann via Passerelle

(siehe Box Seite 18) sogar an die Uni.

Und selbst beim Lohn hat ein Lehr- ling heute langfristig nicht unbe- dingt schlechtere Aussichten als ein Gymnasiast.» «<

Virginia Nolan

denkt gerne ans Gymnasium zurück. Sie hatte dort nämlich auch Spass - und hofft, dass dieser heutigen Schülern vor lauter Druck nicht abhandenkommt.

(7)

er _

(8)

J.«.1

(9)

Ich erzähle

«Ein Kind muss den Weg freiwillig gehen»

Peter Haussmann hat derzeit zehn Gymi-Anwärter im Kurs, den öffentliche Schulen im Hinblick auf die Gymi-Prüfung als kostenlose Vorbereitung anbieten müssen. Der Primarlehrer aus Zürich Altstetten setzt sich dafür ein, dass nicht die Herkunft, sondern das Potenzial über den Prüfungserfolg entscheidet.

«Früher schafften an der Primarschule Kappeli ein bis zwei Kinder pro Jahrgang den Übertritt ans Gymnasium. Die Frage, wie man die Vorbe- reitung auf die Prüfung gestaltet, hatte auf der Traktandenliste unserer Schule nicht oberste Priorität. Das ist nachvollziehbar, denn Integrations- themen waren dringlicher. Mittlerweile hat sich im Quartier vieles getan:

Neuer Wohnraum hat die Bevölkerungsstruktur verändert, die soziale Durchmischung gefördert. Der Schule hat das gutgetan, man hat Luft, sich auch Themen abseits der integrativen Förderung zu widmen. Ich stiess vor sieben Jahren als Quereinsteiger zum Team, vorher arbeitete ich als Jurist.

Unsere Gymi-Vorbereitung hat den Anspruch, Kindern auf dem Weg zur Aufnahmeprüfung das bestmögliche Rüstzeug mitzugeben, unabhängig davon, aus welchem Elternhaus sie kommen. In meiner Klasse sprechen neun von zehn Kindern zu Hause kein Deutsch. Daher haben Leseübungen bei mir oberste Priorität - für alle Kinder, und nicht nur im Fach Deutsch.

Ich besuche mit der Klasse regelmässig ein Brockenhaus, wo die Kinder Bücher mitnehmen dürfen, wir führen auch eine Klassenbibliothek.

Wer fürs Gymi infrage kommen könnte, zeigt sich oft Ende der vierten Klasse. Die Kinder fallen auf durch ihre gute Auffassungsgabe, häufig äussert sie sich in starken Matheleistungen. Hält sich dieser Eindruck, kontaktiere ich in der fünften Klasse die Eltern, um das Thema Gymi anzu- stossen. Es ist wichtig, klar zu kommunizieren, auch im Hinblick auf die Vornoten: Unter einem Schnitt von 5,25 wird es schwierig. Eltern müssen aber auch wissen, dass die Matura nur eine von vielen Optionen ist. Unser Bildungssystem bietet selbst nach der obligatorischen Schulzeit zig Brücken, die auf diesen Weg führen, wenn Jugendliche das wollen.

Am aktuellen Gymi-Vorbereitungskurs, zwei Zusatzlektionen in Mathe und Deutsch pro Woche, nehmen zehn Sechstklässler aus zwei Klassen teil. Das sind gleich viele wie beim letzten Mal - sechs von ihnen schafften

damals die Prüfung. Aber auch wer durchfällt, hat nicht vergebens gelernt:

Die Kinder machen im Kurs beachtliche Fortschritte, die ihnen in der Sekundarschule zugutekommen. Am Kurs teilnehmen darf, wer keine Pri- vatnachhilfe besucht. So lautet meine Vereinbarung mit den Eltern. Ein Kind muss diesen Weg freiwillig gehen, es hat keinen Sinn, es unter Druck

(10)

zu setzen. Mit Eltern, die das anders sehen, hatte ich es bisher kaum zu tun. Ich weiss aber, dass es Berufskollegen anderswo anders ergeht.»

Von der Berufslehre ins Studium

In der Schweiz haben auch Berufslernende die Möglichkeit, einen Abschluss auf Maturitäts- stufe zu erwerben. Die Berufsmaturitäts- schule (BMS) besuchen sie entweder parallel zur Berufslehre oder nach deren Abschluss - dann haben sie die Wahl zwischen einjährigem Vollzeitunterricht oder zwei Jahren neben-

beruflichem Teilzeitunterricht. Der Abschluss der BMS ermöglicht jungen Erwachsenen prü- fungsfreien Eintritt an alle Fachhochschulen, er

berechtigt sie aber nicht zum Studium an einer Universität oder an der ETH. Für BMS-Absol- venten, die dieses Ziel anstreben, gibt es die sogenannte Passerelle Dubs. Dieser Jahreskurs bereitet sie auf die sogenannte

Ergänzungsprüfung vor, einer Art Aufnahme- prüfung, die Anwärter ohne gymnasiale Matura für die Zulassung an Schweizer Universitäten ablegen müssen. Voraussetzung für die Auf-

nahme in die Passerelle sind gute Abschluss- noten und eine hohe Leistungsbereitschaft.

(11)

1111

(12)

1

5

(13)

Mein Mittelstufenlehrer ist mein Vorbild. Er setzte sich

Wir erzählen

für uns ein, ermutigte uns. An meinem ersten freien

«Mein Mittelstufenlehrer ist mein Vorbild»

«Ihre Tochter ist ein Fall fürs Gymi», sagte der Primarlehrer den Eltern Slaven, 40, und Sanela Matan, 38. Heute ist die 14-jährige Ivana im 3. Jahr des Langzeitgymnasiums.

Ivana: «Ich ging immer gern zur Schule, fehlte nicht gern. Vom Gymnasium hörte ich erstmals von einer Freundin, deren Cousine hinging. Für mich wurde es in der fünften Klasse aktuell. Mein Lehrer meinte, ich sei eine Gymi-Kandidatin.»

Slaven: «Er bat uns zum Gespräch - Ivanas Noten sprächen für sich, sie müsse unbedingt zur Prüfung antreten. Das hat uns gefreut.»

Sanela: «In Kroatien ist es für gute Schüler selbstver- ständlich, ans Gymi zu gehen.»

Slaven: «Ich kam mit neun in die Schweiz, ging gern zur Schule und versuchte sogar die Gymi-Prüfung. Aber das Deutsch reichte damals nicht. Ich machte eine Lehre als Maschinenzeichner.»

Sanela: «Ich hatte in Kroatien zwei Jahre studiert, dann kam ich vor 16 Jahren in die Schweiz. Ich übte Deutsch, wollte mich gut verständigen können, wenn Ivana in den Kindergarten kommt. Dort stellte ich fest, dass fast kein Kind Deutsch sprach. Das war ein Schock. Ich machte mir Sorgen: Wie sollte mein Kind da etwas lernen?»

Slaven: «Ich sah es nicht so dramatisch. Ivana hatte eine gute Zeit in der Quartierschule, in der Mittelstufe hatte sie eine gute Klasse und einen engagierten Lehrer.»

Ivana: «Herr Haussmann, mein Klassenlehrer, bot einen Vorbereitungskurs an. Aus unserer Primarschule ging früher praktisch niemand ans Gymi. Aus unserer Klasse schafften es dann gleich acht - eine Sensation. Ich bekam aber erst mal einen Negativbescheid.»

Slaven: «Weil die Experten bei der Matheprüfung einen Fehler in der Punktevergabe gemacht hatten.»

Ivana: «Ich weinte vor Erleichterung. Heute bin ich im dritten Gymi. Ich habe mich für den Schwerpunkt Latein entschieden. Ich kann mir vorstellen, es später zu unter- richten. Ich weiss seit je, dass ich Lehrerin werden will.

irh ihn

Ich erzähle

«Ich bin schon ein Exot»

E ia Zurfluh, 17, aus VVoliusen LU ist Bauernsohn. Diesem Leben verdanke er seine Ge assenheit, die ihm nun am Gymnasium zugutekomme.

«Ich verbringe aktuell viel Zeit in der Werkstatt, da arbeite ich an meiner Maturaarbeit. Ich baue ein Holzboot, 1,3 auf 2,5 Meter. Meine Eltern haben einen Bauernhof, im Sommer sind wir auf der Alp, hüten Rinder und Kühe, melken und käsen. Mein Schulweg da runter dauert zwei Stunden, darum darf ich eine Viertelstunde später zum Unterricht antreten.

Als Bauernsohn bin ich an der Kanti ein Exot. Nicht, dass mir daraus je ein Nachteil erwachsen wäre, mir gehts prima. Aber es ist schon so, dass die Zweiklassen- gesellschaft. von der man öfter mal liest, im Gymnasium zur Geltung kommt: Da sind nicht nur Akademikerkinder, aber doch recht wenige aus einfacheren Familien. Ich selber bin froh um mein Leben als Bauernsohn, um die Arbeit mit den Händen, die Tatsache, dass wir zu Hause auch andere Themen haben als Schule. Ich bin dadurch ausgeglichener als viele Mitschüler.

Ich beobachte, wie sich vor allem Mädchen stark unter Druck setzen, weil sie und ihre Eltern glauben, man habe ohne Matura schlechte Karten im Leben. Entspre- chend gehen viele an die Kanti, bloss weil sie denken, es gehöre sich so. Das finde ich schade.

Mir gefällt die Schule, aber mich stört, dass vieles abstrakt ist. das Praktische zu kurz kommt. Damit meine ich nicht nur Handwerkliches, sondern auch andere Dinge. die im Alltag wichtig wären. Ich fragte mal einen Lehrer, warum man uns nicht beibringe, eine Steuer- erklärung auszufüllen. Er meinte. wir lernten ja das Recherchieren und könnten uns in solchen Fragen an Google wenden. Das überzeugt mich nicht. Viele von uns wollen später an die Uni, ich kann mir Verschiedenes vor- stellen: Ein Ingenieurstudium zum Beispiel, aber auch die Lehre zum Bootsbauer. Auf jeden Fall will ich nicht nur mit dem Kopf arbeiten.»

(14)

,-

'

(15)

Maturitätsquote

Die Schweizer Maturitätsquote beträgt rund 20 Prozent. Gemäss Bund ergibt sich die Quote aus der Anzahl gymnasialer Maturitätsab- schlüsse gemessen an der 19-jährigen ständigen Wohnbevölkerung.

Langzeit- und Kurzzeitgymnasium

In der Schweiz gibt es zwei unterschiedliche Typen von Gymnasien. Das Langzeitgymnasium dauert sechs Jahre, der Eintritt erfolgt im Anschluss an die Primarschule. Das Kurzzeit- gymnasium treten Jugendliche hingegen erst

nach dem 8. oder 9. Schuljahr auf der Sekundar- stufe I an. Es dauert vier Jahre. In Zürich und in

Kantonen der Zentral- und Ostschweiz (Al, GL, GR, LU, NW, OW, SG, UR, ZG) ist das Langzeit- gymnasium verbreitet; drei Kantone (NW, OW, UR) bieten gar ausschliesslich diesen Typ an. In der lateinischen Schweiz ist das Gymnasium hin- gegen als Kurzzeitgymnasium organisiert.

Zutrittskriterien

Die Bedingungen für die Zulassung zum Gym- nasium unterscheiden sich von Kanton zu

Kanton erheblich. Vereinfacht dargestellt gibt es zwei Typen von Aufnahmeverfahren. Bei Typ 1

(16)

(AG, Al, AR, GL, GR, SG, SH, SZ, TG, ZH) ent- scheidet im Regelfall eine Abschluss- oder Auf-

nahmeprüfung über den Zbtritt ins Gymnasium.

Bei Typ 2 (BE, BL, BS, FR, GE, JU, LU, NE, NW, OW, SO, TI, UR, VD, VS, ZG) findet üblicherweise keine Aufnahmeprüfung statt. Stattdessen spielen Erfahrungsnoten, oft kombiniert mit einer Emp- fehlung durch die Lehrperson, die Hauptrolle.

Ich erzähle

«Freizeit habe ich schon lange keine mehr»

Lena*, 16, aus St. Gallen trieb die

Gymi-Vorbereitung ins Burnout. Trotzdem versucht sie die Prüfung erneut.,

«Ich hoffe, diesmal wächst mir nicht wieder alles über den Kopf. Leider kenne ich das Gefühl zu gut. Ich weiss, wie es ist, wenn man nicht mehr durchblickt, wenn einen die Gedanken vom Schlaf abhalten. Beim letzten Mal musste mir ein Psychologe helfen, aus diesem Loch herauszufinden. Die Gespräche taten mir gut, mein Schlaf wurde besser, die Motivation kam zurück.

Leider reichte das alles nicht aus: Auch im zweiten Anlauf zur Gymi-Prüfung scheiterte ich. Dabei hatte ich alles gegeben. Freizeit habe ich schon lange keine mehr, ich verbringe sie hinter den Büchern. Die Tat- sache, dass sich dieser Einsatz kaum auszahlt, lässt mich verzweifeln. Zumal ich jetzt in einer dummen Situation bin: Ich glaube, meinen Lehrer freuts, dass ich durch die Prüfung gerasselt bin. Er sagt, ich sei keine Kandidatin fürs Gymi, er wollte sogar verhindern, dass ich am Vorbereitungskurs teilnehme, den die Schule anbietet.

Meine Eltern mussten mir den Platz erkämpfen. Der Kurs war enttäuschend: Auf individuelle Bedürfnisse ging man nicht ein. Später stieg ich auf private Nach- hilfe um. Ich hätte gleich auf diese Karte setzen sollen, so kam die Hilfe zu spät.

Ich bin froh, dass mir meine Eltern die Misserfolge nicht übel nehmen. Sie spornen mich an, jetzt erst recht nicht aufzugeben. Jetzt, in der dritten Sek, besuche ich jeden Samstag einen Gymi-Vorberei-

tungskurs. Meine Eltern haben mich fürs nächste Jahr auf einer weiterführenden Privatschule angemeldet - falls es mit der Gymi-Prüfung nicht klappt. Auf dieser Schule könnte ich die internationale Matura machen und später im Ausland studieren.

Ich bin froh, existiert dieser Plan B. So muss ich mir wenigstens mit der Berufswahl keinen Druck machen.

Ich wüsste auch gar nicht, was für einen Beruf ich ergreifen sollte. Bei uns in der Familie haben alle studiert. Für mich kommt eigentlich auch nichts

anderes infrage.»

*Nachname der Redaktion bekannt

(17)

:

(18)
(19)

Dossier Wir erzählen

«Für mich kommt nichts anderes infrage»

Linus Lambert,11, aus Zürich lernt für die Aufnahmeprüfung ins Langzeitgymnasium. Bisher laufe es stressfrei, finden seine Eltern

Katja, 44, und Georg, 48. Sie ist Biologin, er arbeitet als Chemiker.

Linus: «Ich wollte schon immer ans Gymi.

Ich mache mir keine Gedanken über andere Möglichkeiten, für mich kommt eigentlich nichts anderes infrage.»

Georg: «In unserer Familie kennt sich ja auch niemand mit Alternativen aus. Es haben alle studiert.»

Linus: «Einen bestimmten Berufswunsch habe ich aber nicht. Jetzt geht es im März erst mal zur Gymi-Prüfung. Mit Üben habe ich letztes Jahr angefangen.»

Georg: «Die Matheaufgaben sind knifflig, da ist es ganz gut, sich früh damit vertraut zu machen.»

Linus: «Pro Tag löse ich eine kurze Aufgabe oder arbeite zehn Minuten an einer län- geren.»

Georg: «Das ist der Deal - aber auch: Linus soll es freiwillig machen, nicht für uns.

Er kann es jederzeit sein lassen.»

Katja: «Bis jetzt läuft es stressfrei. Es reicht, wenn wir ihn ab und zu anstupsen.»

Linus: «Meine Hobbys kommen deswegen nicht zu kurz: Ich fahre Mountainbike, spiele Gitarre und gehe in die Pfad'. Früher habe ich kaum gelernt, für die Gymi-Prüfung mache ich schon mehr.»

Georg: «Im Hinblick auf Vorbereitungskurse hatten wir uns bei einem privaten Anbieter erkundigt - da hatte es schon keine Plätze mehr. Jetzt besucht Linus das kostenlose Angebot der Schule. Den Kurs leitet sein Klassenlehrer, von dem wir sehr überzeugt sind.»

Linus: «Zweimal pro Woche gibts eine zusätzliche Lektion in Mathe und Deutsch.

Aus meiner Klasse treten acht Kinder an, ich als einziger Bub.»

Katja: «Ich finde es gar nicht schlecht, wenn sich die Kinder für diesen Test etwas reinknien müssen. So kommen sie mit der Fülle an Stoff, die sie am Gymnasium erwartet, später besser zurecht.»

Georg: «Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass zu viel Druck aufkommt. Ich will deshalb auch nicht ständig nachfragen, wie es so läuft.»

Katja: «Wenn es mit der Aufnahmeprüfung nicht klappt, ist das nicht schlimm. Dann probiert er es eben später. In der Schweiz ist ja ohnehin nicht das Gymnasium, sondern eine Berufslehre die Standard- variante.»

Bessere Leistungen dank Aufnahmeprüfung?

Der Bildungsbericht 2018 enthält eine der umfangreichsten Analysen zum Schweizer Bildungssystem. Er stützt die Vermutung, dass Kantone, die den Zutritt ins Gymnasium über eine Prüfung regeln, die stärkeren Schüler haben. So zeigen Untersu- chungen, dass der Anteil an Gymna- siasten, die über ungenügende Basiskenntnisse in Deutsch und

Mathematik verfügen, sich in den prüfungsfreien Kantonen auf 25 Prozent beläuft - in Kantonen mit Aufnahmeprüfung beträgt er nicht einmal 5 Prozent. Von dieser Analyse ausgenommen ist die (prüfungs- freie) Zentralschweiz, weil von dort keine repräsentativen Stichproben vorlagen.

(20)

0

(21)

Ich erzähle

«Habe die Entscheidung nie bereut»

Severin Schnyder, 17, aus Berg TG hat sich trotz guter Schulnoten gegen das Gymi und fur eine Lehre entschieden.

«Meine Schulzeit lief glatt. Der Stoff war leicht, die Noten waren gut und

Momente, die ich hinter den Büchern verbrachte, selten. So kam Ende der

4

-1.

(22)
(23)

Nachhilfebedarf hängt vom Wohnort ab

Wie hoch die Hürde ins Gymnasium ist, hängt nicht nur von den Leistungen eines Kindes, sondern auch von seinem Wohnort ab. «In Kan- tonen mit hoher Maturitätsquote schaffen starke Schüler den Übertritt relativ problemlos», sagt Stefan Wolter, Leiter der Schweizerischen Koordi- nationsstelle für Bildungsforschung. «Da hin- gegen, wo die Quoten tief sind, ist die Konkurrenz um einen Platz am Gymnasium hoch.» Diese unterschiedliche Ausgangslage zeige sich bei- spielsweise darin, dass ein nachweisbarer Zusam- menhang zwischen Nachhilfestunden und Wohn- kanton bestehe. Der Schweizer Bildungsbericht zeigt: Während in Kantonen mit hoher Maturitäts- quote starke Schüler im Vergleich zu schwachen praktisch keine ausserschulische Unterstützung in Anspruch nehmen, besuchen in Kantonen mit tiefer Maturitätsquote Kinder mit sehr guten Schulnoten praktisch gleich häufig die Nachhilfe wie solche mit sehr schlechten. «Am stärksten», sagt Wolter, «zeigt sich dies im Kanton Zürich.»

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Stand: 13.10.2015 | Alle Beiträge sind nach bestem Wissen zusammengestellt | Eine Haftung für deren Inhalt kann jedoch nicht übernommen werden | © KÜFFNER MAUNZ LANGER

Lapbook zur Ansicht vorbe- reiten oder Bilder aus M 10 als Folie kopieren und pro- jizieren (evtl. in Farbe von CD 50 ausdrucken); OHP M 5–M 10 im Klassensatz kopieren

Bis Ende 2011 sollen die Mitgliedstaaten dar- über hinaus ihre nationalen Regelun- gen für einen größeren Einsatz der Telemedizin beschließen und dabei vor allem Fragen der

Werte im Käse 3 Monate &gt; 5.70 lassen auf eine starke Proteolyse schliessen Freie Aminosäuren (OPA-Wert) problemorientiert erheben,

Dieses ungenutzte Potenzial steht in der Schweiz wichtigen gesellschaftlichen Ent- wicklungen und Herausforderungen gegen- über: die demografische Entwicklung, die dazu führt,

 Kleine Effekte bei der kindlichen Entwicklung können langfristig große fiskalische Effekte verursachen.  Erste Ergebnisse sprechen für eine Reduzierung

– Bisherige Vernetzung von Pro Kind Bremen mit Schwangerschaftsberatungsstellen..

Die Familienbegleiterinnen können schon während der Schwangerschaft durch Respekt und Empathie eine Basis für neue.. Bindungserfahrungen legen, die den Eltern als Modell für