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Zinovij Sagalov. Die Gräfin und der König

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Academic year: 2022

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Zinovij Sagalov

Die Gräfin und der König

Solomon Michoels’ letzte Rolle Dialoge in zwei Teilen

(Übersetzung aus dem Russischen von Jana Jelissejewa-Schreiner)

Personen

Solomon Michailovitsch Michoels

Anastassia Pavlovna Pototzkaja-Michoels, seine Frau Im Stück: ER und SIE

ERSTER TEIL

Die Bühne ist lakonisch und informell eingerichtet: ein mit Papier und Büchern überhäufter Schreibtisch, zwei Sessel. An der Wand die Maske des Jüdischen Theaters (ein weinendes undein lachendes Maskengesicht), einige Fotos, Fetzen von Theaterplakaten.

Als Unheil verheißendes Symbol drängen sich in diese Theateridylle die Fahrspuren von Lastwagen – diese schwarzen Reifenabdrucke sind überall.

Klappern einer Schreibmaschine. Die Darsteller kommen herein, ER und SIE. Jeder hält einige Papierblätter in der Hand. Sie sprechen in den Saal.

ER „Michoels Solomon Michailovitsch. Der eigentliche Name ist Vovsi. Geboren 1890 in der Stadt Dvinsk, heute Daugavpils, Lettland. Abgebrochenes Hochschulstudium (acht Semester der Juristischen Fakultät der Petersburger Universität). Künstlerischer Leiter des Staatlichen Jüdischen Theaters, Volksschauspieler der UdSSR, Träger des Stalin- Preises, Professor. Kein Mitglied der Kommunistischen und sonst einer Partei.”

SIE „In der zweiten Ehe verheiratet mit Anastassia Pavlovna Michoels-Pototzkaja. Nach nicht bestätigten Angaben ist sie die Nachfolgerin der polnischen Grafen Pototzki.

Kontakte mit Verwandten in Polen werden nicht gepflegt. Von Beruf Biologin.”

ER „Hat zwei Töchter aus erster Ehe, Natalia und Nina.”

SIE „Wohnbedingungen: ein dreißig Quadratmeter großes Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung.”

ER „Nach Angaben der Außenobservierung unterhielt er Freundschaftskontakte mit Volksfeinden Babel, Meierhold, Mandelstamm, Kurbas. Während des Aufenthalts in den Vereinigten Staaten als Vorsitzender des Jüdischen antifaschistischen Komitees der UdSSR bekam er von der Spionage- und Terrororganisation „Joint” eine Direktive zur Beseitigung der Leitungskader der UdSSR.”

SIE „Akte Michoels. Streng geheim. Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR.”

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Klappern einer Schreibmaschine wird plötzlich unterbrochen. Die Darsteller ab.

Sofort erklingt, schmerzlich und wehmütig, eine Geigenmelodie. Eine Gestalt im schwarzen Trikot, mit weiß gepuderten Wangen, leicht wie Luft und die Melodie selbst – ein Geiger? ein Mime? – erscheint auf der Bühne, wie noch mehrmals im Laufe der Handlung.

Mit den ersten Takten der Melodie erscheint im Hintergrund der Bühne, beleuchtet von Scheinwerfern, das Portrait vom Michoels. Sofort erscheint SIE, gekleidet in eine warme gemütliche Strickjacke oder mit einem Wollschal über den Schultern: die Schauspielerin ist somit schon in ihre Rolle geschlüpft.

SIE Für alle kam sein Tod unerwartet, und wie alles Unerwartete, ließ sein Tod bei all den Menschen, die ihn gut kannten und liebten den Atem stocken. Ihr Herzrhythmus hat sich geändert... Alle haben ihn gebraucht: sein Theater, sein Volk und, natürlich, wir, seine verwaiste Familie... Ich habe immer noch sein Lächeln, seine Augen vor mir. Mal traurig, mal schelmisch. Mal wahnsinnig, wie beim König Lear, mal weise und

verschmitzt wie bei Tevje...

Setzt sich an den Tisch, blättert in den darauf liegenden Papierblättern.

Michoels meinte, es wäre vorbestimmt, als was ein Mensch geboren wird. Entweder reich, meinte er, oder bettelarm. „Verstehst du, Asen’ka,- sagte er, - wenn ein Mensch als Bettler geboren ist, so können ihm keine Millionen auf dem Sparbuch, keine Autos, keine Wertpapiere helfen. Er fühlt sich trotzdem als Bettler, lebt als Bettler und stirbt als Bettler. Der andere aber wird reich geboren, obwohl er nichts hat. Er lebt auf großem Fuße, leistet großzügige Hilfe, genießt sein Leben in vollen Zügen. Und reich ist er deshalb, weil Gott in seinem Herzen lebt. Er ist reich an Gott...

Sie verstummt, denkt nach. Auf das Portrait von M. zieht langsam ein dunkler Schatten auf.

Aus dem Bühnenhintergrund tritt Er hervor. So ist er, wahrscheinlich, bei ihr in Erinnerung geblieben: im groben Pullover, zerknitterter, verbeulter Hose, mit einem schlappen Käppi auf dem Kopf, und im Gesicht – ein freundliches, verträumtes Lächeln.

ER Als Kind - ich besuchte damals noch die Hederschule - faszinierte mich der Blitz im Himmel.

SIE Der Blitz?

Er Ich bildete mir ein, es wäre ein Spalt, durch den ich , vielleicht, IHN sehen kann, den Gott.

SIE Hast du ihn oft gesehen, deinen Gott?

ER (etwas gereizt) O, Golda-Herz, wie der Reb Tevje sagen würde, spreche ich denn von meinem Gott, von deinem Gott? Ich spreche von unserem gemeinsamen Gott. (Kommt näher.) Du, Asen’ka, bist eine Biologin und folglich eine gottlose Person, also kannst du es gar nicht verstehen. Mein Vater und mein Großvater waren Hassiden. Sie saßen

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stundenlang über dem Talmud und über der Thora. Wie alle gläubigen Juden in

unserem Städtele Dvinsk... Stell dir vor: schiefe Häuserhütten, überall Dreck und Armut und Krankheiten. Aber die Leut sind fröhlich! Die Leut leben weiter und lassen ihren Kopf nicht hängen. Warum? Woher kommt diese erstaunliche Kombination des himmelschreienden Elends und der Freude? Die Lösung kam mir, als ich mich selbst über die Heiligen Bücher gesetzt habe. Erst dann habe ich es verstanden: das Ziel der Jüdischen Religion ist den Optimismus zu festigen. Gott hat uns geboten, dass der Mensch, allen Widerlichkeiten des Lebens zum Trotz, sich freuen und seine Freude überall besingen soll.

SIE Deshalb wurdest du auch ein Komödiant, nicht wahr?

ER Ich habe zwei Gesichter. Das eine lacht, das andere weint. Gelernt bei unserem unsterblichen Klassiker. Erinnerst du dich an das Epigraph, das Scholom-Alejhem seinen Werken vorgesetzt hat: „Lachen ist gesund. Die Ärzte empfehlen uns zu lachen.”

SIE Und sogleich fügte er hinzu: „Aber weh dem, dem der Arzt das Lachen als Medizin verschreiben muss.”

Beide lachen. ER setzt keck sein Käppi auf, hebt in der Hand ein imaginäres Weinglas hoch.

Leicht schwankend macht einige Schritte. In seinen Augen leuchten lustige, freche Funken.

ER Lehaim! Nur einen Tropfen! Ein Jude trinkt nicht viel! Lehaim! Lieber Gott, lass die Juden Juden sein. Weil ein Jude zu sein gar nicht so leicht ist!..

SIE (aufspringend vom Sessel, freudig erregt) Rebe Alter! Rebe Alter!

ER Scha! (Ehrfürchtig den Kopf senkend.) Lieber Rebe Scholom-Alejhem, hören Sie, wie Ihr Bücherkolporteur Rebe Alter beliebt ist?

Ihr, unser... Unser, ihr... Ruhig, scha! Denken Sie, ich wäre betrunken? Ein Jude, wie viel er auch trinken möge, bleibt immer nüchtern. So war es, lieber Rebe Scholom, dass Ihr Rebe Alter unser ruhmreiches Jüdisches Theater gegründet hat. Und der

Schauspieler Schlioma Vovsi, ein hübscher, richtig schöner Bursche, wurde nach dieser Rolle zum Solomon Michoels erhoben. So ist es! (Mimt das Nachgießen in das

Weinglas.) Blubb, blubb, blubb... Lehaim! Rebe Alter wünscht euch Gesundheit und langes Leben, soweit ihr noch lebt... Und wenn der Herr euch schon zu sich abberufen hat, dann entschuldigt und verzeiht mich, bitte, und ich wünsche euch die ewige Ruhe.

(Trinkt.) Ein Jude trinkt kein Wodka! Pfui! Ein Jude trinkt Wein... Und wie viel er auch getrunken hätte, bleibt er immer nüchtern! Ganz ruhig...

Macht eine unmögliche Pirouette und fällt um. SIE lacht, will ihm auf die Beine helfen, aber ER weigert sich.

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Ein Jude wird niemals betrunken (Schluckauf.) Er kann immer klar und deutlich

sprechen... (Versucht aufzustehen.) Ein Jude bleibt immer fest auf den Beinen. (Mit viel Kraftaufwand kommt wieder auf die Beine.) Geht aufrecht, wie ein Marschsoldat... Und eins, und zwei... Er schwankt nicht. Ist immer klar bei Verstand. Weil er ein Jude ist...

(Singt.)

Hej, Schmerl, wo ist dein’ Geige?

Hej, Berl, wo ist dein Bass?

Spielt jetzt ein Lied für uns, Spielt irgendwas!

Schwankend verschwindet im Dunkel des Bühne.

SIE (setzt sich in den Sessel, nimmt ein Diktiergerät in die Hand) Ich hoffe, ich werde nicht missverstanden, wenn ich es sage, als Schauspieler und auch als Regisseur war

Michoels ein genialer Autodidakt. Er hatte keine Lehrer, brachte sich alles selbst bei. In Gesprächen mit jungen Schauspielern wiederholte er immer wieder: „Man kann

niemanden etwas lehren, aber lernen kann man.” Das waren seine Worte... Er kam ins Theaterstudio mit dreißig Jahren. Er studierte an der Universität Jura. Und plötzlich, anstelle einer erfolgreicher Rechtsanwaltskarriere, wurde er zuerst ein Studiolehrling, dann ein Schauspieler im neu eröffneten Jüdischen Theater. Die ersten zwei Jahre bekam er sein Lohn... in Möbelstücken. Diese schrecklichen „Rohkacken” , wie er diese Möbelungeheuer nannte, habe ich noch erlebt, als ich zu ihm zog... Also, wer hat ihm das Schauspielen beigebracht? Wer hat ihm die Geste der Berührung einer nicht vorhandenen Krone in „König Lear” beigebracht? Wer brachte ihm das Bartstreicheln eines Tevje bei, als wäre der Bart die Fortsetzung eines Gedanken, der bei

irgendjemandem im Kopf entstanden war, vielleicht bei Gott selbst? Die Geste war für ihn eine Form der Selbstöffnung, seiner Deutung einer Rolle. Da kann man nur lachen, wenn einer sagt, diese Geste hätte er irgendwo auf der Straße aufgeschnappt.

Kurzes Lächeln. SIE schaltet das Diktiergerät aus.

Oder täusche ich mich, Micha?

ER tritt vor.

ER Und mein Schimele Soroker? Hast du ihn vergessen?

SIE Den Schneiderlehrling, der zweitausend gewonnen hat?

ER Ja, eben. Den habe ich wirklich auf der Straße „aufgeschnappt” . Erinnerst du dich, wie er genäht hat?

Setzt das Scheitelkäppichen auf den Kopf, hängt das Metermaß um den Hals, setzt sich im Schneidersitz auf einen kleinen Teppich und fängt an zu „nähen” . Während des Nähens

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spricht er weiter. Seine Finger sind graziös gespreizt, die Augen zwinkern. ER breitet ein imaginäres Stoffstück aus, schneidet es, dann sticht es mir einer Nadel ein und macht einige Steppstiche. Hält seine Arbeit etwas im Licht, betrachtet kritisch und zieht die Lippen zusammen.

Also... Ich bin einmal Arbat-Straße auf und ab spaziert. Und da sehe ich ein Schild

„Herrenschneider Moissej Natanovitsch Schneidermann. In Moskau arbeite ich 4 Monate im Jahr, den Rest des Jahres in Paris.” Ich ging hinein. Der Schneider schaute mich über den Brillenrand an und sagte: „Sie können Ihre Kleider nicht tragen, also werde ich für Sie nichts schneidern.” „Aber ich bezahle Sie doch, Moissej

Natanovitsch.” „Darum geht es nicht, junger Mann. Ich arbeite so, dass man meine Arbeit auf der Straße sofort erkennt. Und Sie zerknittern ihre Hose, bügeln sie nicht, und was habe ich davon? Meine ganze Arbeit wird somit futsch.” Ich bettelte beschämt:

„Nehmen Sie mich wenigstens als Lehrling zu sich!” „Wollen Sie wirklich schneidern lernen? Gute Idee. Bilden Sie sich aber nicht an, dass es leicht ist. Geigespielen zu lernen und spielen wie Busja Goldstein ist leichter, als einen guten Anzug zu

schneidern. Aber ich sehe, Sie sind ein armer Jude, Sie sind schon über dreißig... Frau, Kinderlach, brauchen Geld. Probieren wir mal! Wie es im Alten Testament steht: Jede Tat ist eine Wohltat.”

Während des Erzählens setzt ER seine „Näharbeit” fort. SIE lacht vom ganzen Herzen.

SIE Und? Hat er es dir beigebracht?

ER (stolz) Nach der Premiere sagte mir der Regisseur: „Schlioma, gib zu, dass du als Kind beim Schneider in der Lehre warst.” (Steht auf, geht auf und ab.) Aber die

Inspirationsquelle meiner Arbeit sind eher Überlegungen als Beobachtungen. Wenn ich gefragt werde, aus welchem Stoff denn Ihre Arbeiten seien, antworte ich: ich mache sie aus Michoels. Ja, ich knete meine Gestalten aus mir selbst. Aus meinen Schmerzen, Leidenschaften und Freuden. Ich selbst bin der Kessel, in dem ich meine Arbeiten zusammenbraue, und würze sie mit meinen eigenen Erfahrungen, meinem Wissen. Aber ich mache es nicht aus mir allein. Wie Gott Eva geschaffen hat, aus Adams Rippe: ich nehme nur ein Teil von mir. Ich nehme eine meiner Rippen und mache aus dieser Rippe eine Eva. Man soll über die zu spielenden Gestalten stehen und größer sein, als sie, und sich nicht mit denen voll zusammenschmelzen. Im Künstlertheater ist der reelle Mensch das Wichtigste. Ein konkreter Ivan Ivanovitsch Ivanov, der in irgendeiner bestimmten Straße wohnt, so und so viele Kinder hat, eine bestimmte Frau und eine Warze auf der Nase. Es ist aber nur das Äußerliche. Das interessiert mich aber nicht, macht nicht neugierig. Ich will in das Innere des Menschen hineinschlüpfen, den Kern finden, um

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den herum sich alle seine anderen Eigenschaften bilden. Ich erinnere mich, wie der Regisseur mir die Rolle Gozmachs gegeben hat, und sagte nur: „Weiß du, er hat so einen weichen Gang.” Und das war alles. Granovskij erklärte nicht lange... Weicher Gang... (Macht einige leichte, beinahe schwebende Schritte.) Ich habe sofort gespürt, dass Gozmach allgegenwärtig ist. „Gozmach!” – „Ich bin da!” Gozmach! Gozmach!

SIE Ein jüdischer Figaro?

ER Vielleicht. Ein Narr, ein Gaukler, ein Unterhalter, ein Spötter! Er ist wie ein Luftzug.

Was ist es, Luftzug?

Sie zuckt die Axeln.

Luftzug ist der Wind, der es immer eilig hat!

Rennt über die Bühne, singt.

Ich hab euch drei Haare gegeben für einen Zaubertrunk,

aber ihr habt mir meine Peje herausgerissen, gibt sie mir wieder zurück.

Meine zweite Peje ist verwaist, meine zweite Peje ist verwitwet.

Aj, aj, aj,aj!

Aj, aj, aj,aj!

Gibt mir meine Peje zurück!

Sprünge. Purzelbäume. Läuft weg.

SIE (sucht in den auf dem Tisch ausgebreiteten Blättern) Er tanzt selbstvergessen. Die berühmte Anna Pavlova, die ihn am Holm unterrichtete, meinte, er wäre ihr bester Schüler. (Endlich das gesuchte Blatt gefunden.) Er sagte... da ist meine Aufzeichnung:

„Es gibt solche kluge Köpfchen, die wandern durch das Leben mit entsetzlich dummen Körpern. Aber auch der Körper eines Menschen soll klug sein: eine kluge Hand, ein kluges Auge, eine kluge Nase... Man sagt doch: „Jemand hat eine gute Nase.” Alles ist klug. Begreifen soll man mit seinem ganzen Wesen. (Legt das Blatt zurück.) Während des Gastspiels in Berlin kam er beim Tanzen in so eine Ekstase, dass er sich einen Bänderriss zugezogen hat. Man wollte den Vorhang herunterlassen, die Aufführung absagen. Aber er hat es nicht erlaubt. Die einzige Bitte an seine Kameraden war, dass

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sie ihn zu dem jeweiligen Auftritt hinführen sollten. Und es gab viele Auftritte! Sie führten ihn hin, er trat auf, sprang, tanzte, sang... War es nicht ein Wunder? Sicher. Die Magie der Rampe, ihre Hypnose, ihre Zauberkraft... „Ich betrete die Bühne, - sagte er, - und alles, was für mich im Leben wichtig ist, tritt zurück, existiert nicht mehr. Ich bin auf der Bühne – und basta! Auf der Bühne existieren für mich weder meine Kinder, noch das Theater, nichts ist da. Ich bin auf der Bühne und kann nicht weg, ohne die Milanszene zu Ende zu spielen.... Das Theater verschlang ihn gänzlich. Sogar zu Hause war er mit seinen Gedanken DORT. Auf die Frage, „wann er arbeitet?” kann ich nur eine Antwort geben: er arbeitete ununterbrochen, mit Ausnahme von einigen Stunden des Schlafs. Nur ein Spießer meint, dass die Schauspieler spät aufstehen... (Lacht.) Jetzt fielen mir die Aufnahmeprüfungen am Studiotheater ein. Am Tisch vorne sitzt die Prüfungskommission mit Michoels als Vorsitzender. Nacheinander kommen Jungen und Mädchen herein, tragen etwas vor (fast alle Majakovskij), tanzen (fast alle ein feuriges Volkstanz), beantworten die Fragen. „Wie heißt du?” , - fragt Michoels einen lockigen Jüngling. „Lewa” . „Sag mal, Lewa, warum willst du eigentlich Schauspieler werden?” „Ich will spät aufstehen.” Kommissionsmitglieder lachen, Michoels kocht, zähmt aber seine Wut und sagt: „Werde, Lewa, lieber ein Nachtwächter. Dort kannst du dich sattschlaffen!” ... Bei uns aber fing der Tag unter dem Telefongeläut an.

ER tritt ein, in der Hand ein Telefonapparat. Verzweifeltes Klingeln.

ER (hebt den Hörer ab) Ja, ich bin es... Meine Liebe, gestern konnte ich Sie nicht erreichen.

Richten Sie bitte Ihrem Vater aus, dass es noch gute Menschen auf der Welt gibt. Ja, zwölf Penicillinampullen... Fahren Sie ins Institut für Physiologie, zum Direktor.

Schreiben Sie auf: Lina Samuilovna Stern, Akademiemitglied. Sagen Sie, Sie kommen von Michoels, alles ist besprochen... Hören Sie auf, sich zu bedanken. Fahren Sie sofort los: (Legt den Hörer auf und wählt mehrmals eine Nummer.)

SIE Ich glaube nicht, dass es ein zweites solches Haus gab, in dem es gleichzeitig wie in einem Taubenschlag zuging. Weder Telefon noch die Eingangstür noch die Tages- und Nachtzeit waren eine Barriere für die, die Salomon Michoels benötigten.

ER (am Telefon) Guten Tag! Hier spricht Michoels, kennen Sie die fabelhaften

Dichterstrophen: „Viele Bitten hat die Liebe, bei Geliebten gibt es keine...” Mein Täubchen, Sie haben immer behauptet, dass Sie mich lieben. Jetzt haben sie eine einzigartige Gelegenheit, mir Ihre Liese zu beweisen. Erraten? Ja, er liegt im Botkin- Krankenhaus. Offensichtlich Krebs im fortgeschrittenen Stadium, viele Metastasen... Ja, ich verstehe, ich bin nicht ganz blöd, aber ich bitte Sie trotzdem: Sie sind meine letzte

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Hoffnung. Werden Sie anrufen? Wann? Gut, und wir geben in eurem Klub ein Konzert.

Abgemacht, mein Täubchen, und bis bald!

Legt den Hörer auf, ruft wieder an. Spricht ganz aufgeregt, aber wir hören es nicht.

SIE (ins Diktiergerät) Die Leute bedrängten ihn mit ihren Bitten zu Hause und unterwegs zum Theater und im Theater auch. Der Abgeordnete, der Preisträger, ein berühmter Mensch... Alle meinten, ihm stehen alle Türe offen. „Ich bin behängt mit Schicksälen” , - sagte er lächelnd. Einmal konnte ich mich nicht zurückhalten und fragte: „Wie hältst du das alles aus? Wenn ein normaler Mensch am Tage zwanzig glückliche Leute anhört, kann er schon von so viel Information verrückt werden. Wenn aber diese zwanzig – die unglücklichsten sind? Wie kann man das aushalten?”

ER legt den Hörer auf, kommt zu ihr.

ER (spricht leise, überzeugt, eindringlich) Wer wird sie dann anhören, wenn nicht ich? Jeder Mensch wird doch als „älterer” oder „jüngerer” geboren. Ich und du, wir beide sind als

„ältere” geboren. Ehre bringt es kaum, aber Kraft braucht man dafür unvorstellbar viel.

Weiß du, manchmal scheint es mir, dass ich allein für die ganze Welt Verantwortung trage, geschweige denn für das Theater.

Dreht die Telefonscheibe, spricht in einem besonderen, vertrauensvollen und gedämpften Ton.

Das bin ich, Michoels... Ich melde mich einfach.

Legt den Hörer auf, stellt das Telefonapparat auf den Boden.

SIE Solche Anrufe bedeuteten, dass jemand in Not ist. Verhaftet, eingesperrt, erschossen...

Diese schrecklichen Wörter lagen damals in der Luft. Mein Gott, wie schafften wir es, in dieser Luft überhaupt zu atmen. Es verschwanden Babel, Mandelstam, Michail Kolzov. Wer ist der Nächste? Jede Nacht rechnete er damit, abgeholt zu werden. Und trotzdem konnte er es nicht lassen, anderen Menschen zu helfen. „Wähle mal die Nummer von dem oder dem” , - sagte er mir. – Ich glaube, ich muss mich melden.”

Weder ich noch er wussten damals, dass unser Telefon schon längst abgehört wurde, und dass in Lubjanka die Akte „Michoels” immer dicker wird. Aber darüber später...

ER (geht zum Schreibtisch, sucht in den Papieren) Schreibst du Memoiren?

SIE Nur Erinnerungsfetzen. Ich will die Lebensatmosphäre des Planeten „Michoels”

wiederherstellen.

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ER (verzieht das Gesicht) Zu weit gegriffen... ein Planet... Besser gesagt ein „Asteroid” . SIE Warum?

Zu preziös. Und die Endung klingt besser. Hör zu: AsteroID” Oh, id! Klar? Schreibe so: Geboren in Dvinsk, gestorben in Minsk. Uns fertig ist die Biographie. Und es reimt sich. Weißt du, es hat mir immer Sorgen gemacht, was ich dir und meinen Kindern vererbe? Ein Zimmer in der Gemeinschaftswohnung? Lenin-Orden auf dem Samtkissen? Bücher?

SIE (lächelt) Und die Trillerpfeifen?

ER (schlägt sich auf die Stirn) Hab’ vergessen!

SIE holt aus dem Bücherregal ein Holzkästchen mit Trillerpfeifen.

SIE (in den Saal) Er hatte eine Gewohnheit: wenn ihm etwas nicht gefiel, steckte er vier Finger in den Mund und pfiff. Ohren betäubend. Die Freunde kannten diese seine Schwäche und schenkten ihm dauernd Trillerpfeifen: Polizeitriller, Sporttriller.

Allerlei...

ER (holt eine Trillerpfeife aus dem Holzkästchen) Diese ist von Leonid Utjossov. (Trillert leise. Ihr Gesicht strahlt. Er nimmt eine andere heraus.) Und diese ist von Kozlovski.

(Trillert.) Tenor, wie er gesungen, nicht wahr? Und diese, glaube ich, ist von Alexej Tolstoj...

SIE Erinnerst du noch, was du einmal im Kreml angestellt hast? Bei einem feierlichen Empfang? Dass du damals nicht verhaftet wurdest, grenzt an ein Wunder.

ER holt eine weitere Trillerpfeife aus dem Holzkästchen und bläst hinein.

ER Irgendwelcher Dummkopf hielt eine Ansprache... (Pfeift einen schnell rollenden, virtuosen Laut, eine lange Roulade.) Auf den Tischen waren schon Getränke und Speisen serviert. Allen lief schon das Wasser im Mund zusammen. Und der Mann redet und redet: die Partei lehrt, die Partei entscheidet... Da habe ich... (Pfeift leise.) Kaum hörbar...

SIE Die Freunde haben ihn, Gott sei dank, sofort weggebracht. Ich verstehe nicht, woher du, der Sohn eines Hassiden, diese vulgäre Gewohnheit hast? Das Pfeifen!

ER Meine Seele pfeift. Sie will ab und zu sich freipfeifen. (Kurzes Pfeifen.) Verstehst du?

SIE (lächelt) Ich verstehe.

Antwortet ihm auch mit einem Pfiff.

ER Trotzdem weiß ich nicht, was ich dir vererben soll. Mein Humor und meinen Scharm?

Ich bin doch so hübsch, dass man mich ohne Tränen gar nicht anschauen kann!

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Steckt vier Finger in den Mund und pfeift wie ein Rowdy. Dann tritt er, zeremoniell und Grimassen schneidend, zurück.

SIE (verfolgt ihn mit dem Blick) Humor und Scharm... (Schaltet das Diktiergerät ein.) In den ersten Tagen unserer Bekanntschaft – es war in Leningrad – lud mich Michoels zu einem „Abschiedsessen” ein. Meine Dienstreise ging zu Ende – ich kam nach Leningrad zu einer wissenschaftlichen Konferenz der Onkologen, und Solomon Michilovitsch sollte mit seinem Theater zu den weiteren Gastspielzielen weiter fahren.

Als ich zu der vereinbarten Stunde ins Café kam, war Michoels noch nicht da. Nach einer Weile wollte ich schon weggehen, da erschien er, schwer atmend, glatt rasiert, nach Rasierwasser riechend. „Entschuldigen Sie, bitte, meine Liebe, aber für die Pflege meiner Schönheit brauche ich zusätzlich eine halbe Stunde.” Er war sich seiner

Unschönheit bewusst und versuchte sie wie ein großes Unglück zu überwinden. Obwohl die Leute, die ihn gut kannten und liebten, erinnern sich an sein Gesicht als an etwas Besonderes, Einmaliges. Einer seiner späteren Freunden, als er Michoels zum ersten Mal sah, schrieb (Sucht und findet das Blatt, liest vor.) „Kleinwüchsig, schlank, selten unschön, mit einer hervortretenden Unterlippe, mit einer wie flachgedrückten Hacknase, mit leicht schütterem Haar über der hohen Stirn und Haarbüscheln über den Schläfen...

Was für einen Scharm hat dieses Scheusal, - dachte ich plötzlich.” Wie schmerzte es mich zu beobachten, wie in der Straßenbahn oder im Bus zufällige Fahrgäste sich untereinander über ihn lustig machten; denn Michoels sah und spürte es mit jedem kleinsten Partikelchen seines Naturells! Wie häufig stieg bei ihm die Wut hoch und er hätte in Gedanken wahrscheinlich sie alle umbringen wollen, für all diesen idiotischen Hohn und Spott. Niemals konnte er die Kränkungen seiner Kinderzeit vergessen, die ihm seine Träume vergällt hatten; denn die Schönheit und hoher Wuchs und die

Attraktivität bedeuteten für ihn einen problemlosen Einlass ins Theater. Könnt ihr euch vorstellen, wie betroffen er war, als der am ehesten ihm zugeneigte Lehrer Velischev sagte: „Alles haben Sie, was ein Schauspieler braucht, aber wen sollen Sie mir DEM Wuchs und mit DEM Aussehen auf der Bühne darstellen?” „Wen?” – fragte er unbeirrt nach. „Na, warum nicht Pippin den Kurzen?” Was für einen Willen, was für eine Zielstrebigkeit und welchen Glauben brauchte er, um alle Widrigkeiten zu überwinden, und zwar mit Humor, mit Witz, mit einem freudigen und sorglosen Lächeln. Ich

erinnere mich, wie einmal eine seiner Lieblingsschauspielerinnen, Faina Ranevskaja, ihm sagte: „Solomon Michailovitsch! Sie tragen in sich einen Gott!” Michoels lächelte und antwortete, ohne nachzudenken: „Faina, meine Liebe, wenn ich in mir einen Gott trage, dann ist er dort in Verbannung.”

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SIE steht auf, Diktiergerät in der Hand, geht auf die Vorderbühne. Leichte lyrische Musik.

Damals kam alles zusammen: Leningrad, Anfang Juni, zauberhafte Weiße Nächte und der neue Bekannte, der plötzlich in mein Leben eingebrochen war. Er war so anders als diese Lackaffen, die um mich schwirrten! Der Zufall hat uns zusammengeführt. Ich saß im Restaurant des Hotels „Astoria” , und er kam nach der Aufführung zum Abendessen.

Und setzte sich zufällig an meinen Tisch.

ER erscheint.

ER (lächelt) Zufällig? Oh, heilige Unschuld!... Ihre grünen durchsichtigen Augen zogen mich sofort an, als ich den Raum betrat... Wie ein Zaubermagnet.

SIE Michoels? Natürlich habe ich diesen Namen schon gehört, obwohl ich kein besonderer Theaterfan war. Zuerst war ich erstaunt: wie kann ein Schauspieler so unschön sein?

Aber der neuer Bekannte überschüttete mich mit Witzen und Anekdoten. In einigen Minuten lachte ich schon ganz ungeniert. Und sah seine platte Nase, seine zerzausten Haare nicht mehr, nur die hohe Sokrates-Stirn und die lachenden, freundlichen, zärtlichen Augen. „Pototzkaja?” - fragte er nach, als ich meinen Namen nannte.

ER Sind sie vielleicht ein Nachkommen von Gräfen „Pototzki” ? SIE Wenn Sie mich bei KGB nicht denunzieren, dann „ja” . ER Ich bleibe stumm, wie ein Fisch... Eure Gnaden.

Verbeugt sich zeremoniell. Sie lächelt und antwortet ihm auch mit einer leichten Verbeugung.

SIE Königswort?

ER (in Kriminellenart) Stein und Bein!

Leise Restaurantmusik, vielleicht ein Tango. Sie tanzen, jeder für sich aber rhythmisch, wie ein Paar.

SIE (in den Saal) Am nächsten Morgen kam ich zu ihm zur Probe. Während des Gastspiels arbeitete er weiter an „König Lear” weiter. Ich stahl mich von den Konferenzsitzungen weg, lief ins Theater, fand im Dunklen einen leeren Stuhl, setzte mich. Michoels war nicht auf der Bühne.

ER Wie viele große Lears waren vor mir schon auf der Bühne: Zacconi, Salvini, Rossi! Der berühmte Schauspieler Barney schrieb ein Buch über Lear. Mit Hinweisen, wie man sich auf der Bühne bewegt. Da und da soll man die und die Geste machen, den Kopf hochhalten, stolz vortreten, da und da überheblich wirken, den Partner von oben her ansehen, da mit den Rücken zu ihm stehen... Jede Bewegung, jedes Wort sollen von Würde und Größe sprechen und auf die Umstehenden herablassend sehen... Konnte ich

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mich dieser Aufgabe stellen? Ich war klein vom Wuchs, nicht besonders hübsch, und die äußerliche Größe war für mir schwer darstellbar. Ich beschloss, mit meinen vorhandenen Qualitäten zu operieren... Ich beschloss, dass Lear kein Barthaar tragen wird. Es verdeckt das halbe Gesicht und gibt nichts dazu, stört nur beim Spiel... Für mich ist das Zusammenspiel von Gesicht und Händen das Wichtigste; denn nur das Gesicht und die Hände bleiben beim Spiel vom Kostüm nicht gedeckt, nackt. Alles andere ist verdeckt. Dieses Zusammenspiel zwischen dem Gesicht und den Händen wurden für mich zum entscheidenden künstlerischen Griff. Wenn ich dieses

Zusammenspiel gefunden habe, fühle ich mich wie zu Hause, und mir scheint, als würde der Kern der zu spielenden Gestalt gefunden.

Wirft über die Schulter einen Königsmantel, macht den Rücken alterskrumm und macht schlurfend einige Schritte.

ER (als Lear)

Spottet meiner nicht! –

Ich bin ein schwacher, kindscher alter Mann, Achtzig und drüber: keine Stunde mehr Noch weniger, und grad heraus,

Ich fürchte fast, ich bin nicht recht bei Sinnen.

Mich dünkt, ich kenn Euch, kenn auch diesen Mann, Doch zweifl ich noch, denn ich begreif es nicht, An welchem Ort ich bin; all mein Verstand Entsinnt sich dieser Kleider nicht, noch weiß ich, Wo ich die Nacht schlief. Lacht nicht über mich, Denn so gewiss ich lebe,

Die Dame halt ich für mein Kind Cordelia.

SIE (mitspielend) Das bin ich auch! Ich bin's! - ER Sind deine Träne nass? Ja, wirklich! Bitte,

O weine nicht!

Wenn du Gift für mich hast, so will ich’s trinken, Ich weiß, du liebst mich nicht...

SIE Kein Grund! Kein Grund!

ER O habt Geduld mit mir! Bitte, vergesst, Vergebt, denn ich bin alt und kindisch.

Mit linker Hand streift ER über seinen Kopf und merkt, dass keine Krone drauf ist.

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SIE Probe lief auf Jiddisch, ich verstand kein Wort, aber diese Hand, die die verlorene Krone suchte... Ich denke, jeder Mensch auf Erde, sei er Papua oder Eskimo, würde diese sprechende Geste verstehen...

Pause. ER wirft seinen Mantel ab und kommt zu IHR.

Nach der Probe gingen wir zusammen aus dem Theater. Wir gingen dem Nevskij, den Nevaufern entlang...

ER Ich bin heute so glücklich: Sie, Shakespeare und Leningrad – alles zusammen an einem Tag!

SIE Es waren die glücklichsten Stunden meines Lebens. Michoels war voll von Shakespeare, erzählte, wie er an „Lear” herankam.

ER Im Theater spielte ich überwiegend in Komödien. Ich hatte es gerne, das Publikum zum Lachen zu bringen, Faxen zu machen. Kaum trat ich auf die Bühne, begann der Saal zu lachen. Aber in jeder komischen Rolle suchte ich das Tragische zu finden und zu

zeigen. Vor einer Tragödie pour hatte ich Angst. Noch in meiner Studentenzeit missling mir niederschmetternd die Rolle von Uriel Akosta. Wie ich mich auch aufpustete wie ich auch versuchte, das Grandiose hervorzuheben – ich sprach mit weißer Stimme, hob die Hände mit Königsgesten hoch – nichts klappte! Die hohe Tragödie verfiel zu einer Farce. Einer der Kritiker schrieb: „Der Schauspieler Michoels ist wunderbar, aber er darf Uriel nicht spielen. Dafür hat er weder Stimme noch das Aussehen noch die Figur.”

SIE Und er wagte trotzdem, Lear zu spielen.

ER Ich kam zu diesem Entschluss über meine eigene große Tragödie. Zwei Jahre zuvor verlor ich zwei meiner endlos geliebten Frauen...

SIE Der Trauerschatten der schweren Verluste verdüsterte sein Gesicht. Als wäre der Mensch, der mich damals zum Lachen gebracht hatte, eben in diesem Restaurant geblieben. Und hier, draußen, meinen Ellenbogen fest an sich drückend, wurde er anders, als wolle er sich jemandem ganz offenbaren, alles erzählen, was sein Herz bedrückte... Nun wem denn? Mir? Einer Zufallsbekanten? Oder spürte er instinktiv, dass ich ein Mensch bin, dem man sich öffnen kann, eine verwandte Seele?

ER Sarra, Mutter meiner Töchter, starb an Nierenversagen. Als Kind ist sie mal

Schlittschuh gelaufen, fiel mit dem Rücken auf das harte Eis hin. Das Trauma hat ihr Schicksal besiegelt. Sie war erst zweiunddreißig...

SIE Nach dem ersten Schicksalsschlag kam der zweite. Im Theater gab es eine Frau, eine Schauspielerin, die er sehr liebte. Sie war seine Muse, seine Inspirationsquelle. Im

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gleichen Jahr, einige Monate nach dem Tod seiner Frau, starb auch diese Frau.

Plötzlich, nach einer Aufführung, starb sie auf den Armen des weinenden Michoels.

ER Es war Gottes Strafe. Für Sarra, für Verrat, für Untreue. Wie der biblische Iov sah ich vor mir die strengen Augen des Allmächtigen. „ Oh Herr, meine Seele wünscht meinem sündigen Leib lieber den Tod als die Gnade. Wenn ich gesündigt habe, was sage ich Dir da, dem Hüter aller Menschen? Wozu hast Du mich zu Deinem Gegner gemacht, so dass ich mir selbst zur Last wurde?” Wie soll ich weiter leben? Soll ich jetzt auf die Bühne treten und meine alten Rollen spielen? Unmöglich! (Singt, macht Faxen.)

„Meine zweite Peje ist verwaist!..” Die Lachsalven im Saal zerrissen mein Herz.

„Leute, warum lacht ihr so sorglos?” , - dachte ich, während ich Purzelbäume schlug und das Publikum amüsierte. „Ein Hund, ein Pferd, ‚ne Maus soll Leben haben, Und du nicht einen Hauch? – O, du kehrst nimmer wieder, niemals, niemals, niemals, niemals, niemals ...” Warte mal, wer hat es gesagt? Ach, ja, der König Lear, als er seine tote Cordelia beweinte. Der mit Schmerz erfüllte Antlitz des großen Alten kam zurück.

Mit ganzem Herzen spürte ich die Bitterkeit des Verlustes. „Nein, zum Teufel, nein! Ich will kein Clown mehr sein!” - versuchte ich mich selbst zu überzeugen. „Aus mit dem Theater! Lieber ein Lumpensammler zu sein, ein Versicherungsagent!“ Meine Freunde sagten, dass nur die Arbeit mich retten kann. Versuch’s mit „Lear” . Wieder dieser Lear! Wie ein Phantom, wie das Schicksal. Es gab auch andere Stimmen. „Schau dich im Spiegel an! Du und König? Eine Gotteslästerung. Spielen Sie lieber eure kleinen Juden und beleidigen Sie nicht Shakespeare.“

SIE Und wie hast du dich entschieden?

ER Weißt du, ich bin ja hartnäckig! Ich will König werden – und ich werde es! Sie haben ja heute eine Szene gesehen. Wie war sie?

Sie zuckt mit den Schultern.

(Beunruhigt.) Um Gottes Willen! Hoffentlich falle ich nicht durch! Es wird dann mein Tod . Wetten wir?

SIE Wie?

ER Es gibt eine sichere Sache. Da, an der Ecke steht ein Auto. Sehen Sie? Gehen wir hin.

Wenn die Summe der Zahlen seiner Nummer ungerade ist, dann wird es ein grandioses Fiasko, finita la commedia!

SIE (klatscht in die Hände) Hurra! Vierundneunzig! (In den Saal.) Die Nummer hatte recht.

Die Aufführung wurde ein Welterfolg. Der bekannte englische Regisseur Gordon Crag

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sagte damals: „Jetzt ist mir klar, warum es in England keinen richtigen Shakespeare im Theater gibt. Weil es dort keinen Schauspieler wie Michoels gibt.“ (Ironisch, verspielt.) Sie sind aber abergläubig, Solomon Michailovitsch.

ER Da haben Sie recht, Eure Durchlaucht. Wie alle Schauspieler übrigens. Ich glaube an Talismane, Zahlen, Träume. Besonders fürchte ich die Zahl 13.

SIE Genieren Sie sich, Eure Majestät. Gegen Aberglauben muss man ankämpfen.

ER Ich kämpfe. Dem Schicksal zum Trotz habe ich für mich im Theater für immer den Platz 13 reserviert.

SIE (in den Saal) Und das Schicksal hat sich gerächt. Er ist am 13. umgebracht worden.

ER An Zahlen werde ich glauben. Doch. Da ist noch ein Auto. Wenn es eine gerade Zahl als Nummer hat, werden Sie meine Frau.

Sie lacht.

SIE Und wenn ungerade?

ER Dann werden Sie es trotzdem.

SIE Die Summe war einhundertzweiundzwanzig.

ER Ich bin natürlich ein Greis...

SIE Er war siebzehn Jahre älter als ich...

ER Und keine besondere Schönheit, aber...

SIE (abwartend) „Aber“ was?

ER Wissen Sie, es gab einen bekannten jüdischen Philosophen namens Mendelson. Er war so entsetzlich hässlich und buckelig, dass ich neben ihm ein richtiger Apollo wäre. Und dieser Quasimodo kommt zum schönsten und zauberhaftesten Mädchen Berlins und bat es, seine Frau zu werden. Das Mädchen war natürlich entsetzt. Aber der kluge

Mendelson sagte: Wie Sie wissen, treten die Seelen, bevor sie auf die Erde kommen, vor dem Herrn. Auch meine Seele trat vor dem Allermächtigsten. Und der Gott sagte mir: du wirst so schön sein, wie keiner sonst auf der Welt. Dafür wird aber deine Frau hässlich und buckelig, doch überwältigend klug. Da flehte ich auf: Lieber Gott, ich nehme alles Hässliche auf mich, lass mir doch meine Klugheit. Dafür soll aber meine Frau wunderschön sein...“ Haben Sie verstanden, Gräfin, wem Sie ihre ungewöhnliche Schönheit zu verdanken haben?

SIE Die letzte Nacht in Leningrad war kurz wie ein Augenblick. Es gab Champagner, Gedichte, wunderbare, Schwindel erregende Worte. Abends fuhr ich nach Moskau.

Nach einigen Tagen bekam ich von ihm einen Brief. (Nimmt vom Schreibtisch einen

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Briefumschlag in die Hand, holt ein paar gefaltete Blätter heraus.) Es war kein Brief, es war ein Poem in Prosa...

ER Astka, Astka, Astenka, Asik, Astotschka... Alles fängt mit „a“ an und bedeutet für mich den Anfang meines Lebens. Wenn ich ihren Namen ausspreche, wird es mir ganz warm ums Herz, und meine Brust platz beinahe vom Gedränge der Gefühle...q

SIE Astka! Dieser Morgen, dieses erste Erwachen! Der Tag, an dem kein Gedanke aufkam.

Und der lange Abend, von seiner ersten Dämmerung bis zur dunklen Finsternis des erstarrenden Himmels... Diese Nacht, meine erste Nacht mit kurzen, unruhigen Schlafphasen. Und wieder Tag... und wieder ein Traum.

ER Deine Augen sind tief, bodenlos... Und deine Haare sind ein einziger Wirbelwind.

Deine Lippen sind zärtlich, weich und hart im Kuss und Wort. Dein Körper ist weise, wie dein frischer, hoher und frischer Verstand. Du bist das, woraus mein Leben besteht, und ich gebe dich niemals und niemandem her. (Geht weg.)

SIE Diese hundert Seiten sind für dich. Obwohl es wesentlich mehr sind. Sie füllen mein Gehirn aus, meine Augen, meine Ohren. Alles gebe und widme ich Dir. Es gibt nichts Zärtlicheres und Grausameres in meinem Leben als meine Liebe zu Dir. (Legt die Briefblätter beiseite. In den Saal.) Einige Monate später, als das Theater vom Gastspiel zurückkam, wurde Gräfin Anastassia Pototzkaja zur Frau des Königs der Jüdischen Bühne Salomon Michoels.

Walzer. SIE bewegt sich tanzend und glücklich über die Bühne.

Dunkel.

Ende des ersten Teils

ZWEITER TEIL

Dieselbe Einrichtung. SIE tritt auf die Bühne.

SIE Ich weiß nicht mehr genau, einen Monat oder mehr nach seinem Mord klingelte es an unserer Tür. Für alle unsere Freunde gab es eine bestimmte Klingelweise: ein langes und zwei kurze Klingelzeichen. Dieses war ein einfaches, unpersönliches. Eiligsten Schrittes komme ich an die Tür und habe nur einen Gedanke im Kopf – wenn ich jetzt auf das Schafott gehe, was soll dann mit den Kindern? Vor der Tür stand ein älterer Mann in der Milizuniform. Ohne über die Schwelle zu treten, stellte er einen Koffer auf den Boden und ließ mich in irgendeinem Buch unterschreiben, salutierte und

verschwand. Ich rief Tala und Nina, die Töchter von Solomon Michailovitsch. Wir

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schleppten den Koffer ins Zimmer, hoben ihn auf den Sessel, machten ihn auf... Oben lag ein Blatt Papier: „Liste der bei dem getöteten Michoels aufgefundenen Sachen“. Auf dem Kragen des Pelzmantels waren noch vertrocknete Tropfen seines Blutes zu sehen.

Sein Schal, auch mit Blutspuren. Teile des abgebrochener Gehstocks, eine Uhr... Sie ist um 8 Uhr 40 stehen geblieben. Alles schwand vor meinen Augen...

ER erscheint, festlich gekleidet in einem schwarzen Anzug, im weißen Hemd mit Krawatte. ER lächelt.

Ganz unten im Koffer lag sein Festanzug. Er war nach Minsk als Vertreter des Stalin- Preis-Komitees gefahren. (Zu IHM.) Du wolltest eigentlich gar nicht hinfahren, ich habe es gespürt...

ER Ob ich wollte oder nicht, ich musste... Zwei Theaterstücke wurden für den Preis nominiert und ich musste sie sehen.

SIE Ich habe den Anzug gebügelt und bat dich ihn unterwegs nicht zu zerknitten. Soll ich den Orden befestigen?

ER (überlegt) Nein, lass ihn. Zu Hause ist er besser aufgehoben. Die Taschen laß aber wie sie sind, nehme nichts heraus.

SIE (in den Saal) In den Anzugstaschen fand ich allerlei Kleinkram vor: Feuerzeug,

Papierfetzen, verschiedene „Talismane“. Er war abergläubig wie ein Kind und glaubte an die Allmacht dieser Dinge. Leider haben sie in Minsk keine Wirkung gezeigt. Er fuhr mit Widerwillen fort... Hatte er eine Vorahnung?

ER (mit reuigem Lächeln) Du wirst lachen, aber ich habe zwei Nächte hintereinander einen so blöden Traum gehabt, als würde ich von Hunden angefallen und in Teile zerrissen.

SIE (erstaunt) Hunde? Du hast doch Hunde gerne.

ER Ja. Noch als Kind, in Dvinsk, hatte ich eine kleine, unansehnliche und hinkende Hundin namens Mirta. Ein intelligentestes Wesen, sag' ich dir! Ich habe ihr ein paar Kunsstücke beigebracht, wie im Zirkus. Und nachts kroch sie zu mir unter die Decke... Aber warum ausgerechnet dieser Traum? Du kannst doch Träume deuten. War es ein guter oder ein schlechter Traum?

SIE Vergiss ihn! Sprich eine Beschwörung aus: Traum, gehe, wohin die Nacht gegangen ist!

(In den Saal.) Am Tag vor der Abreise besuchte er einige Freunde, um sich zu verabschieden. Wie oft verreiste er schon zu Gastspielen! Nie habe er sich vorher verabschiedet, diesmal aber... Er besuchte jeden Maskenraum, drückte jedem

Schauspieler die Hand. „Sie verreisen doch nicht auf ewig, Solomon Michailowitsch“, - staunten sie. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, sagte er und lächelte geheimnisvoll.

Ungewohnt für ihn ging er noch kurz vor der Abreise zu Hause vorbei. „Ich habe dir

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doch die Bahnkarte und das Geld ins Theater bringen lassen. Warum kommst du nochmals?“ – fragte ich.

ER Mir fiel plötzlich ein, meine liebe Gräfin, dass wir uns noch nicht verabschiedet haben.

SIE (leicht, lächelnd) Na und? Wir sehen uns doch bald wieder.

ER Meinst du? Ja, natürlich, natürlich... (Schweigt.) Ich will nur, dass du meine kleine Geschichte mit der Geige aufschreibst.

SIE Jetzt?

ER Ja... Erinnerst du dich? Ich wollte sie doch in das Stück „Freulechs“ einbauen. Schreib auf! Es wäre schade, wenn sie verloren ginge...

SIE nimmt ein Blatt Papier, will mit dem Aufschreiben beginnen.

Also... Manchmal sammelt sich in einem so viel an, dass man es nicht auf einmal erzählen kann. Dann kommt das Lied. Und wenn dann die Stimme einer Sängerin nicht vermag, alles auszudrücken, dann greift man zu ihr... (Legt eine unsichtbare Geige auf die Schulter, prüft die Saiten, hebt den Bogen und fängt an zu spielen. Die Geige singt das Lied.) König David dichtete seine Psalmen Geige spielend. Er lüftete uns so das Geheimnis seiner Kunst. „Alle meine Gebeine sprechen, alle meine Gebeine singen“...

Heute braucht man dafür keine Gebeine mehr. Die Öfen von Majdanek und Treblinka haben genügend Gebeine geliefert. Wenn alle diese Gebeine zu sprechen, ja zu singen anfangen, reichen alle Geigen der Welt nicht aus... Aber ich will‚was Anderes sagen...

Ich sehe einen Menschen... Er schweigt immer. Wenn er sprechen will, dann singt er mit Geige... Er wurde zu einer Hochzeit zum Spielen gerufen. Alles war fertig: die Geige gestimmt, das Lied fertig gedacht. Aber als er zu der Hochzeit kam, sah er, dass die Braut die Frau war, die er liebte. Und die Geige war gebrochen... Hast du es aufgeschrieben?

SIE Wie ging es weiter?

ER Es ist alles.

SIE (irritiert) Entschuldige, aber ich habe nicht ganz verstanden. Wo ist der Sinn?

ER (kommt langsam auf die Vorderbühne) Das Volk will nicht mehr auf fremden Hochzeiten spielen. Es möchte auf seiner eigenen... Erinnerst du dich am mein Stück „Freulechs“?

Zuerst die Beerdigung, dann die Trauer und dann die Hochzeit. Im Frühjahr haben alle Juden der Welt ein großes Fest. Nach unseren Tränen und der Trauer wird die Geige in ihrem Haus spielen. Du wirst es sehen. In ihrem! (Ab.)

SIE Er lächelte mich an, umarmte mich und ging. Für immer...

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Die Geige singt. SIE macht, in Gedanken versunken, einige Schritte auf der Bühne, dann setzt SIE sich an den Tisch, schaltet das Diktiergerät ein.

In ihrem Haus. Wesentlich später habe ich es verstanden, was er gemeint hat. Der britische Mandat für Palästina war abgelaufen. Die Generalversammlung hat den Beschluss über die Schaffung des jüdischen Staates gefasst. Es stand noch nicht in den Zeitungen, aber in Moskauer Küchen war nur davon die Rede. Flüsternd natürlich, denn auch die Wände hatten Ohren. Und dieser Michoels... Es war ein öffentlicher Abend des Jüdischen Theaters im Polytechnischen Museum. Michoels trat, zusammen mit seinem ständigen Partner Süsskin, als letzter auf. Ich sehe es immer noch vor meinen Augen:

zwei komische schäbige Männlein aus dem Theaterstück „Die Reisen des Benjamin des Dritten“, die Einwohner eines Provinznestes Tunjejadovka, die sich vorgenommen haben, den Weg in das Gelobte Land zu finden.

ER tritt auf die Bühne. Über den ist ein alter Umhang übergeworfen, auf dem Kopf ein Scheitelkäppchen. Nicht wieder zu erkennen: jämmerlich, gebückt, die Ellbogen an den Körper gedrückt. In der Hand hält er ein Reisebündel. SIE schaltet das Diktiergerät aus, sieht ihn an.

ER (in den Saal, leicht stotternd, mit gebrochener Stimme) Mein ganzes Leben lang, bis zu dem Moment, als ich es beschlossen habe, mich auf die Große Reise zu machen, verbrachte ich in Tunjejadovka. Hier bin ich geboren worden, hier groß geworden, hier habe ich zur rechten Zeit meine fromme Frau Selda geehelicht: möge Gott ihr ein langes Leben schenken! In meinem Reisebündel habe ich alles Nötige für unterwegs zusammengetragen: Tales, Philakterien, Gebetsbuch. Und in der Hosentasche habe ich ganze fünfzehn Groschen, die ich gestohlen, nein, geliehen habe bei meiner Frau Selda unter ihrem Kissen... Nun, mein Freund Senderl, Gott segne unseren Weg! Wir gehen!

ER schreitet schnell, ohne vom Fleck wegzukommen. Musik. Von Zeit zu Zeit wischt er sich Schweiß von der Stirn, atmet tief durch, wechselt die Hand, in der er das Bündel trägt und schreitet weiter. Er legt die Hand an die Stirn, um Ausschau zu halten.

Sag mal, Senderl, mein Freund, weißt du, was auf der anderer Seite unseres Dorfes Tunjejadovka liegt?

SIE (spielt mit) Ich weiß es, Benjamin. Dort liegt die Wirtschaft, wo man ein Gläschen mehr Wodka kriegen kann.

ER (nachsichtig) Dummkopf! Und weiter? Wesentlich weiter?

SIE Weiter als die Wirtschaft? Nein, weiter weiß ich nicht. Und du Benjamin, weiß du es?

ER Was für eine Frage!? Natürlich! Erst da fängt die Welt an.

SIE Was ist da?

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ER Dort liegen Heilige Orte, Senderl. Dort ist das Land Israels. Möchtest du hin?

SIE Und du?

ER Was für eine Frage! Komm mit, Senderl, und bald sind wir da, im Gelobten Land!

Schreitet weiter, stark mit Händen schwingend.

SIE (in den Saal) Und plötzlich!..

Eine schrillende Musikakkorde. Er wirft sein Bündel weg, streift den Überwurf und das Scheitelkäppchen ab, richtet seinen Körper auf, geht auf die Vorderbühne.

ER Meine Freunde, als mein Held, Träumer und Phantast Benjamin der Dritte sich auf den Weg nach der Suche des Gelobten Landes machte, fragte er die Leute, die ihm

entgegenkamen: „Wo ist es, unser Heiliges Land? Wo ist der Weg nach Erz-Israel?“

Heute weiß es jeder: Palästina, das ist unser Heiliges Land.

Die Geige jubiliert.

SIE Mein Gott, da war auf einmal was los! Ein Beifallsturm! Die Leute sprangen auf,

schrieen, umarmten und küssten sich. Jemand fing an zu singen. (Zu IHM.) Du bist weiß wie Kreide dagestanden.

ER Mit so einer Reaktion habe ich nicht gerechnet.

SIE Wie hast du es nur wagen können? Du bist doch Salomon der Weise. Der Weise...

ER Vielleicht gerade deswegen. (Sehr vertrauensvoll.) Mein Mädchen, Astka... Nur dir kann ich es sagen: die jüdische Kultur hat hier, in der UdSSR, keine Zukunft. Jetzt ist es schon nicht leicht, aber später wird es noch schlimmer. Ich weiß vieles und ich ahne vieles.

SIE Warte, Micha! Es gibt dein Theater, es erscheinen Bücher auf Jiddisch und Hebräisch, Gedichte, Romane.

ER Für wen denn? Die Juden haben ihre Sprache vergessen. Sie wurden gezwungen, sie zu vergessen. Jüdische Zeitungen und Schulen sind geschlossen. In mein Theater kommen nur alte Leute, und sie werden jedes Jahr weniger... Die junge genieren sich Juden zu sein.

SIE Wenn man dich als Beispiel nimmt, werden die Juden nicht unterdrückt.

Volksschauspieler, Abgeordneter, Orden- und Stalin-Preisträger, Vorsitzender des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Vorstandsmitglied...

ER Hör auf! Du sprichst, wie er!

SIE Wer „er“?

Sofort verwandelt er sich in den „Führer aller Zeiten und Völker“, nuckelt solide an seiner Pfeife, geht die Bühne auf und ab. Sie lacht.

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ER (mit kaukasischem Akzent) Es gibt kein Antisemitismus in unserem Sowjetland, es kann ihn nicht geben. Antisemitismus in der UdSSR wird als schweres Verbrechen geahndet.

Unsere sowjetischen Juden... ich wollte sagen «Hebräer» bekamen dank meiner weisen Marxistisch-Leninistischen und ein bisschen Stalinschen Politik eine reiche Palette an Möglichkeiten zu einer langsamen Selbstvernichtung. Nehmen wir als Beispiel unseren hoch geehrten Genossen und lieben Rebe Solomon Michailovitsch Michoels. (Scharf, mit seiner normalen Stimme.) Zum Teufel! Sie haben aus mir eine sichere Kulisse aufgebaut, hinter der die Verbrechen gegen mein Volk begangen werden! Wirklich, welcher Antisemitismus denn? Es ist nur ein Hirngespinst der Zionisten. Werden Sarras und Abrahams nicht zum Hochschulstudium zugelassen? Verlieren die Juden ihre Arbeitsplätze? Geht doch in Malaja Bronnaja, kauft dort im Jüdischen Theater die Eintrittskarten ins Jüdische Theater, und Genosse Michoels überzeugt jeden in reinster Jüdischer Sprache, dass es in der Sowjetunion keine Jüdische Frage gibt, und kann auch nicht sein. Dafür hat er mich mit seiner Gunst, mit Ehrungen und Auszeichnungen überschüttet. Nein und nochmals nein! „Kein Honig will ich von dir, keinen Biss!“ Die Kulissen sind dort, im Polytechnischen Museum abgestürzt. Ich kann diese

niederträchtigste und tragischste Rolle aller meiner Rollen nicht mehr spielen.

SIE Das wird dir teuer zu stehen kommen, Micha.

ER Ich weiß es. Ich will trotzdem kein Schoßhündchen sein.

SIE Warte mal! Wie lange ist dieser Abend im Polytechnikum her? Etwa zehn Tage? Hat man dich zu diesem Zweck nach Minsk geschickt?

ER Gut möglich. Man hat schon lange die Gelegenheit gesucht. Man beobachtete mich auf Schritt und Tritt. Auch im Theater wimmelt es an Denunzianten. Wie viele Zetteln mit Morddrohungen hat man mir zukommen lassen! Ich habe sie dir nicht gezeigt. Und der

„Benjamin“ im Polytechnikum war der letzte Tropfen.

SIE Was in Minsk geschah, ist vom Nebel verhüllt. Obwohl einiges nachher klarer geworden ist.

Er Es konnte auch nicht anders sein. In der Schrift steht geschrieben: „Es gibt nichts Verborgenes, was nicht Offenes wird“.

SIE Hast du ihn noch in Erinnerung, deinen letzten Tag?

Er setzt sich in den Sessel, schweigt lange.

ER Wir sahen das Stück «Konstantin Zaslonov», dass für den Preis nominiert wurde, an.

Nachher ging man ins Restaurant zum Mittagessen. Dann ruhte ich mich ein Stündchen

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aus. Abends hatte ich ein Treffen mit den Schauspielern der Minsker Theater. Plötzlich klingelt es. Eine unbekannte Stimme spricht auf Russisch mit jüdischem Akzent. „Wir feiern die Hochzeit meiner Tochter, Solomon Michailovitsch. Ich flehe Sie an,

beglücken Sie unsere Familie mit Ihrem Besuch. Es wäre für uns eine Ehre. Ich komme Sie abzuholen, wann es Ihnen recht ist.“

SIE Es war eine gemeine Provokation... Und weiter?

ER schweigt.

Warst du noch beim Treffen mit den Schauspielern? In deinen Anzugstaschen habe ich viele Fragezettel gefunden.

Applaus. ER verwandelt sich in den Gefeierten: schnell, jugendhaft steht ER vom Sessel auf, verbeugt sich, drückt die Hand ans Herz. ER lächelt, holt einen Zettel aus der Tasche.

ER Da ist noch ein Zettel. (Liest laut vor.) „Sie haben uns als Beispiele Ihre Rollen als König Lear und Milchmann Tevje gezeigt. Und was soll man machen, wenn man nur kleine Rollen spielt, und auch diese ohne Worte?“ (Steckt den Zettel zurück in die Tasche.) Denkt mal nach, meine Freunde: was sind schon Worte in einer Rolle? Im Fluss gibt es viele Fische. Ihr wirft die Angel aus und fischt einen Fisch aus dem riesigen Schwarm aus. Und so gleicht ein Wort einem Fisch, das aus der riesigen Zahl von Wörtern, die im Text schwimmen, ausgefischt wurde. Dieses einzige Wort soll, wie der Fisch, der aus seinem Element herausgerissen ist, flattern. Dieses einzige Wort kann eine ganze Palette an Gefühlen wiedergeben. Geht zum Beispiel ein Bühnenarbeiter durchs Theater, begrüßt die Schauspieler. Er sagt dabei nur ein Wort, „Hallo!“ Und ihr könnt leicht erraten, dass er gerade einen Schauspieler begrüßt, vor dem er Respekt hat.

(Zeigt.) „Hallo!“ Und da die Schauspielerin, die ihm auf die Nerven geht: „Hallo!“ Und da, umgekehrt, eine Schauspielerin, die er gerne hat und derer Erfolg ihn freut: “Hallo!“

Und das alles in einem Wort. Ich begann meine Schauspielkarriere als Statist in der Oper Samosuds. Mein zweiter Auftritt war auf einer kleinen Bühne, schon im Jüdischen Theater als ein alter Mann auf dem Friedhof. Dort habe ich nur zwei Wörter gesagt. Wie sie sehen, fing meine Schauspielkarriere auf dem Friedhof.

ER lacht und liest den zweiten Zettel laut vor.

„Wie sind Ihre Verhältnisse mit dem Spielpartner auf der Bühne?“ (Faltet den Zettel zusammen und steckt ihn zurück in die Tasche.) Der Spielpartner auf der Bühne ist für mich alles. Ich spüre ihn nicht nur als Schauspielkollege, sondern als die Person, die ich selbst spiele... Die vorherige Absprache mit dem Schauspieler ist schädlich. Ich gehe nicht zu ihm und sage nicht: dies und jenes stört mich, machen Sie es anders. Ich suche

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einen anderen Weg der Einigung... Da gab es eine komische Geschichte. Wir hatten eine Schauspielerin, eine Travestie, die einen Jungen im Stück „Die Hexe“ gespielt hat.

Im Verlauf der Handlung sollte ich sie auf den Hinteren klopfen, damit sie mir das Geld schneller herbringt. Ich bin der Anweisung des Regisseurs offensichtlich zu energisch gefolgt. Die Schauspielerin beschwerte sich beim Regieassistenten, dass ich ihr weh getan habe. Der Regieassistent hat ihr empfohlen, den Popo mit einem Brettchen zu schützen. Ich wusste von nichts, klopfte nochmals und... Na ja, es hat weh getan.

(Schüttelt die Finger.) Beim nächsten Mal klopfte ich ganz zart. So sind wir zu einer Einigung mit dem Partner gekommen.

ER lacht und liest den zweiten Zettel. Liest laut vor.

„Wie bauen Sie eine mis en scène, eine Szenendisposition auf?“ (Faltet den Zettel zusammen und steckt ihn zurück in die Tasche.) Eine mis en scène ist, wie sie wissen, eines der Mittel unserer Bühnensprache. Ich erinnere mich an meine erste mis en scène, die ich richtig begriffen habe. Mein Vater ging mit Gehstock, und wenn er nach Hause kam, stellte er seinen Gehstock immer in die gleiche Ecke ab. Nun war mein Vater gestorben und meine Mutter trostlos. Nach zwei, drei Monaten merkte ich, dass sie keine Ruhe findet und so tut, als würde sie etwas suchen. Sie ging zu dieser Ecke, suchte nach dem Gehstock und ging dann zurück. Das war die mis en scène. Sprachlose Sprache des Theaters... Jetzt stelle man sich vor: ein Regisseur muss eine mis en scène gestalten, in der eine jüdische Mutter stirbt, deren beide Töchter das elterliche Haus verlassen haben. Die Szene ist aus dem „Milchmann Tevje“. Sie ist also krank und liegt im Bett. Aber das sind nur die Alltagssorgen, ohne künstlerischen Inhalt dahinter. Ich habe da eine symbolische Veränderung reingebracht. Die kranke Mutter sucht bis zum Schluß alle Ecken ab und stirbt an der Türschwelle, durch die ihre Tochter weg, in die weite Welt hinein, gegangen ist. Und diese Türschwelle bekommt einen

Symbolcharakter, als würde der Mutter hinter der Tochter wegziehen; doch hat sie es nicht geschafft und ist hier, an der Schwelle, gestorben. Das sind die Mittel und Griffe, auf die man zurückgreifen muss, damit der Schauspieler nicht einfach realistisch wirkt, sondern realistisch wie ein Dichter. (Holt aus der Tasche noch einen Zettel.) „Woran arbeiten Sie zur Zeit?“ Eine gute Frage, ich habe damit gerechnet. Ich versuche kurz zu antworten. Unser jüdischer Schriftsteller David Bergelson hat ein Theaterstück

geschrieben „Reunbejni – Prinz der Judäer“. Ich sehe auf ihren Gesichtern ein Staunen:

bestimmt hören sie diesen Namen zum ersten Mal. Ich war auch erstaunt, als wir diese Arbeit aufgenommen haben. Wenn man die Jüdische Enzyklopädie aufschlägt, findet

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man dort unter dem Lemma David Reubejni Folgendes zu lesen: „David Reubejni war ein bekannter Abenteurer, der im 16. Jahrhundert lebte.“ Wozu braucht unser Theater eine Aufführung über einen Abenteurer? Doch deshalb, weil dieser Mensch beschlossen hat, sein Volk von der Assimilierung und dem Aussterben zu retten. Stellt euch vor:

Mittelalter, Inquisition, Tausende von Juden sind von der Vernichtung bedroht oder müssen sich den Glauben ihrer Väter versagen. So sehe ich zum Beispiel den Anfang der Inszenierung: die Leute werden auf einem Schiff transportiert, um als Sklaven verkauft zu werden. Alte und Kranke werden über Bord geworfen. „Warum? Warum?“

hört man ihre verzweifelten Schreie. „Weil ihr Juden seid!“ , antwortet der Kapitän.

Und da fand sich ein Mensch, der sich den Inquisitoren und Henkern widersetzte. Es war David Reubejni. Er ist natürlich überhaupt kein Prinz, und stammt aus dem Prager Getto. Er gibt sich als Prinz aus, um das Vertrauen deren zu gewinnen, von denen das Schicksal seiner dem Tode ausgelieferten Landsleute abhängt.

Jemand aus dem Saal kommt an den Bühnenrand heran und übergibt IHM einen Zettel. ER hält ihn in der Hand, ohne zu lesen, und spricht weiter.

Reubejni ist es gelungen, den Papst und den König von Portugal für sich zu gewinnen.

Die Strafmaßnahmen gegen die Juden wurden gemildert. Doch unterläuft ihm da ein Fehler. Er gesteht seiner Geliebten, dass er kein Prinz sei, und er habe diese Maske aufgesetzt, nur um sein Volk zu retten. Seine Gönner wurden informiert. Reubejni flieht in die Berge und ruft die Juden zum Aufstand auf. Aber der Leibgarde des spanischen Königs war es gelungen, den falschen Prinzen zu verhaften. Die Inquisitoren jubilieren und verbrennen ihn auf dem Scheiterhaufen. (In den Saal.) Was haben Sie gesagt? Ja, die Rolle dieses großen Mannes, eines Helden, eines Abenteurers möchte ich spielen.

Das haben Sie richtig verstanden. Die Geschichte hat nie mein Volk geschont, und es wäre schon längst in der Menge anderer Völker untergegangen, wenn es nicht solche Leute wie David Reubejni gebe.

Macht den Zettel auf, den ER als letzten entgegen genommen hat. Liest leise. Spannungsvolle Musik.

SIE War es dieser Zettel? Ja? Sind sie deshalb gekommen, um dich abzuholen?

Er verbeugt sich in den Saal, lächelt. Es erklingen schwere, bedrückende Worte des Nekrologs.

MÄNNERSTIMME Das Komitee für Kunstangelegenheiten des Ministerrates der UdSSR teilt in tiefer Trauer den unerwarteten Tod des künstlerischen Leiters des Moskauer Staatlichen Jüdischen Theaters, Trägers des Stalinpreises...

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ER lächelt und winkt zum Abschied. SIE sitzt mit tief gesenkten Kopf.

... Volksschauspielers der UdSSR, Professors Solomon Michailovitsch Michoels bei einem Verkehrsunfall mit und spricht dem Theaterkollektiv und der Familie des Verstorbenen ein aufrichtiges Beileid aus.

Eine lange Pause. ER ist nicht mehr auf der Bühne. SIE schaltet langsam, wie im Halbschlaf, das Diktiergerät ein.

SIE Seit diesem Moment ging die Tür unseres Hauses Tag und Nacht nicht mehr zu.

Bekannte und Unbekannte kamen vorbei. Sergej Obraszov, Ilja Ehrenburg, Emil Gilels, Ivan Kozlovskij, Katschalov, Schauspieler... Mir ist ein groß gewachsenes Mädchen aufgefallen. Es stellte sich als eine Nichte von Kaganovitsch vor. Der Oberjude der Sowjetunion äußerte sein Beileid und bat uns, nach den Details Todes von Michoels nicht zu recherchieren. Wahrscheinlich wusste er es genau. Wir haben es längst

verstanden, dass es ein echter Mord war. (Nimmt ein Buch vom Regal, liest darin.) Viele Jahre später habe ich die Memoiren von Stalins Tochter Svetlana Alilujeva gelesen.

Dort schrieb sie Folgendes: «Bei einem der immer seltener werdenden Besuche beim Vater auf seiner Datscha betrat ich das Zimmer, als er gerade telefonierte. Ich wartete.

Ihm wurde etwas berichtet, er hörte zu. Dann sagte er kurz, als eine Art Resümee:

„Autounfall.“ Ich erinnere mich gut an den Tonfall, mit dem er es gesagt hat. Es war eine Bestätigung, eine Antwort, keine Frage. Er fragte nicht nach, er schlug es vor, den Autounfall. Nach dem Telefonat begrüßte er mich und sagte nach kurzer Zeit:

„Michoels ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“... Am fünfzehnten Januar kam der Sarg mit Michoels am Weißrussischen Bahnhof an. Auf dem Bahnhofsplatz herrschte ungewöhnliche Stille. Dutzende Tausend versammelter Menschen

unterbrachen sie nicht. Der Sarg wurde zum Theater gebracht, aber eigenartigerweise nicht in das Gebäude hineingetragen... Es war bitterkalt... Die Träne frohren auf den Wangen. Vor dem Theater versammelte sich eine riesige Menge. Es fing der

Trauerabschied an...

Trauermusik. ER kommt nach vorne. Auf den Schultern - ein mit Goldfäden bestickter Königsmantel, auf dem Kopf – eine Krone.

ER Ich bin so verwundet, dass mein Hirn sichtbar ist.

SIE Mein König!

ER Meine Gräfin! Astka!

Will lustig sein; kommt, kommt, ich bin ein König, Ihr Herren, wisst ihr das?

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Kommt an SIE heran, betrachtet ihr Gesicht.

Sind deine Tränen nass? Ja, wirklich! Bitte, O weine nicht!

SIE geht an IHN heran, nimmt ihm die Krone ab.

SIE Mit einem gebrochenen Schädel lagst du da. Unter dem Pelzmantel ragten die Beine hervor: das eine Bein im Schuh mit dem Galoschen, das andere im Socken. In der Kopfmitte war ein handgroßes Loch. Die Lippen zu einem bitteren Lächeln

zusammengeschmolzen. Aber die Hände, deine Hände sprachen, wie immer, mehr als Worte... Als der Sarg aufgemacht wurde, schrie Markisch auf: „Schaut mal! Wie die Fäuste zusammengepresst sind! Er hat es gewusst, dass er umgebracht wird. Er hat sich verteidigt! Es ist ein Mord!“ ... Denn die Reflexgeste der Verteidigung ist die

Faustbildung...

Eine leise Geigenmelodie erklingt.

ER (hört zu) Col Nidre.

SIE Während der Verabschiedung spielte irgendeiner alter Jude auf dem Dach Geige.

ER Der Geiger auf dem Dach! Chagal wäre begeistert gewesen! Col Nidre... Dieses Gebet befreit angeblich den Menschen von falschen Beschuldigungen. Wie er spielt! Herz zerreißend! Befreie mich, mein Gott, von meinen Sünden... (Lächelt.) Mit welchen Reden wurde ich verabschiedet?

SIE Ich erinnere mich an jedes Wort.

Die Geige verstummt. Trauermarsch.

MÄNNERSTIMME (traurig und feierlich) Die schreckliche Nachricht über den unerwarteten Tod unseres lieben Solomon Michailovitsch Michoels erfüllte unsere Herzen mit

Schmerz... Er war ein aktiver und vielseitiger Vertreter unserer multinationalen Kultur...

ER (Finger im Mund, pfeift) Verschwinde, du, Schurke!.. Hast du vergessen, wie du mir in deinem ZK- Bunker die Hände verdrehtet und geschrieen hast: „Es ist kein Städtele- Theater! Es ist ein sowjetisches Theater!“

FRAUENSTIMME Als ein feuriger sowjetischer Patriot war er auch ein gesellschaftlich aktiver Mensch... Der treue Sohn seiner Heimat, der Vorsitzende des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Mitglied des Komitees für Stalinpreise im Bereich der Kunst, Mitglied des Vorstandes der Allrussischen Theatergesellschaft, Mitglied...

ER (tänzelnd) Glied, Mitglied, Multiglied!

Glied, Mitglied, Multiglied!

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Wie lustig ist es, der eigenen Bestattung beizuwohnen!

MÄNNERSTIMME Das große warme Herz hat aufgehört zu schlagen... Alle Kunstschaffenden verbeugen sich...

ER (verschließt die Ohren) Hört auf! (Leise.) Sprich lieber über die Freunde. Wie ist es mit Süßkin? Vor meiner Abreise habe ich ihm angeboten als mein Double in „Reubejni“

aufzutreten.

SIE (zögernd) Ein Tag vor deiner Abreise nach Minsk hast du ihn bei uns eingeladen.

ER Ja.

SIE Du hast ihn auf den Platz an deinem Schreibtisch hingesetzt...

Er Ja, so war es...

SIE ... Du hast ihm gesagt: „Hier, in diesem Sessel, wirst du bald sitzen.“ Nicht wahr?

ER Woher weißt du es? Hat Süßkin wieder ausgeplaudert?

SIE An dem Tag, als man uns aus Minsk angerufen hat... Er heulte. „Hat der Alte eine Vorahnung gehabt?“, schluchzte er.

ER Er hatte immer schon schwache Nerven... Nun, gut. Wie war die Premiere von

„Reubejni“?

SIE (flüstert leidend) Es gab keine Premiere.

ER Wieso? Bist du verrückt? Keine Premiere? Hat Süßkin mich im Stich gelassen?

SIE Es gibt keinen Süßkin mehr.

ER (lacht) Wieso gab es keinen Süßkin?

SIE Er wurde verhaftet und...

ER Was? Erschossen? Süßkin? Einen Schauspieler an die Wand stellen? Wofür? Was hat er falsch getan?

SIE Und was hast du falsch getan?

ER Warte mal! Wer leitet dann das Theater?

SIE Es gibt kein Theater mehr.

ER Lass den Spaß! (Stark aufgeregt.) Wieso „kein Theater mehr“? Begreifst du, was du gesagt hast?!

SIE Das Theater wurde geschlossen... Alles versiegelt. Dein Kabinett, Archiv, Museum...

Sie waren auch bei uns zu Hause.

ER Eine... Durchsuchung?

Sie nickt mit dem Kopf.

In meiner Wohnung?

SIE Sie haben alle Wände abgeklopft, alles herausgeschüttet: deine Notizen, Briefe, Fotos...

(28)

ER Schweine! Und? Sind sie findig geworden?

SIE Ja. Untergrundliteratur.

ER Es ist wohl ein Witz! Bei mir?

SIE Ja, bei dir. Auf dem obersten Regalbrett.

ER Was war es? Sprich doch aus!

SIE Eine nationalistische Broschüre „Jüdische Frage in Russland“.

ER Zum Teufel! Ihr Autor ist doch Lenin.

SIE Sicher. Aber der Titel ist verdächtig. Antisowjetisch. Bei uns gibt es keine jüdische Frage und kann es auch nicht geben.

ER Und? Was hat man damit gemacht?

SIE Konfisziert.

ER Schwachsinn! Hirnlose Ochsen!

Beide lachen. Nach einer Pause.

Teufel weiß, was da alles los ist! Und was macht das Jüdische Antifaschistische Komitee? Schweigt? Ja? Markisch könnte doch...

SIE Markisch ist erschossen worden.

ER bleibt stehen. Begreift, dass etwas Unerhörtes passiert ist.

ER (leise, mit etwas Hoffnung in der Stimme) Und Bergelson?

SIE Auch.

ER Hofstein... Feffer... Kvitko... Schimielovitsch...

SIE senkt jedes Mal den Kopf.

SIE Alle, Micha, alle... In einer einzigen Nacht. Dein Tod hat den Henkern freie Hand gegeben.

ER setzt sich in den Sessel, versenkt den Kopf in die Hände.

Dein Tod... Ich jage dieses Wort von mir weg, will nicht glauben, dass es dich nicht mehr gibt. In mancher Nacht höre ich deine Schritte an der Tür. Du willst herein... und...

und... (Weint.)

Nein, lieber Micha, ich weine nicht. Ich denke immer daran, was du gesagt hast: „Wenn ich nicht mehr da bin, und du plötzlich an mich denkst, trink ein Gläschen. Nur keine Tränen!“ Und weiter hast du gesagt: „Man soll höher leben, über dem Tod.“

Tragisches Thema in der Musik. Vielleicht Beethoven. Er zieht langsam die Jacke aus, nimmt die Krawatte ab, legt alles ordentlich sich zu Füßen. ER steht jetzt im weißen, offenen Hemd.

Seine Hose wird am Bund mit einem breiten Ledergürtel zusammengehalten. Plötzlich

(29)

bekommt sein Gesicht einen romantischen, stolzen, erhabenen Ausdruck. Es brennen die Kerzen, die SIE in der Zwischenzeit angezündet hat. Die Musik wird von den

Hinrichtungstrommeln übertönt. ER tritt auf die Vorderbühne. Hinter ihm geht loderndes Feuer eines Scheiterhaufens auf.

Als man mich mit aufgeschlagnem Schädel In Schneehaufen warf,

Und meine Brust von Studebeckers Rädern Zerschmettert wurde,

Noch lebte ich... Das Sternenbild im Himmel Sah mir in offne Augen...

Ich war nicht mehr ich selbst, Michoels Solomon, kein Regisseur mehr, Deputat, Preisträger...

Ich war mein letztes Rollenspiel, das nicht gespielte, tote, unerfüllte – Ich war David Reubejni,

Der falscher Prinz, Prophet, und auch falscher, der Lügner Lügen straft.

Als Rudel Wölfe hetzten sie mich tot...

Nicht mich allen! Mein ganzes Volk, gehetzt...

So dachte ich in meiner letzten Stunde,

Der Minsker Schnee war eiskalt und brannte wie das Feuer.

Und plötzlich öffnete der Himmel seine Tore, Ich hörte Stimme... Stimme meines Gottes...

Das Licht geht aus. Die Geige singt. Das Gesicht von Michoels, von Lichtreflexen beleuchtet, erscheint auf dem Bühnenhintergrund. ER und SIE treten vor, diesmal als Schauspieler. Beide halten Papierblätter in der Hand. Die Geige verstummt. Wieder hört man das

Schreibmaschinenklappern.

ER „Streng geheim. In einem Exemplar, handschriftlich. An den Genossen Beria, Lavrentij Pavlovitsch... Auf Ihre Forderung berichte ich Ihnen über die Umstände der

durchgeführten Operation der Liquidierung des Anführers der jüdischen Nationalisten Michoels...

SIE Am 6.- 7. Januar 1948 fuhr ich als Stellvertreter des Ministers des

Staatssicherheitsdienstes der UdSSR mit einer Gruppe der Kollegen: Schubnjakv (F.G.), Lebedev (V.E.) und Kruglov (B.A.) mit dem Auto in Richtung Minsk.

(30)

ER Es wurde beschlossen, Michoels über einen Agenten nachts zu einem befreundeten Kollegen einzuladen, ihn auf das Grundstück der Datscha des Ministers für die Staatssicherheit Weißrusslands Zanava (L.F.) zu bringen, wo er liquidiert wird, dann seine Leiche auf eine wenig befahrene Straße zu legen und von einem Lastwagen überfahren zu lassen.

SIE Die Operation wurde erfolgreich durchgeführt.“

ER „Erlass der Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Für den erfolgreich

durchgeführten Sonderauftrag der Regierung werden ausgezeichnet... mit dem Orden des Großen Vaterländischen Krieges: Oberst Schubnjakv, Oberst Lebedev und

Oberstleutnant Kruglov ...

SIE ...mit „Roter –Banner-Orden“ Generalmajor Zanava ...

ER Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Schwernik, der Sekretär es Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Gorkin.

SIE Moskau. Kreml. Zur Veröffentlichung nicht zugelassen.

Musik. Schlag der Kremluhren. Die Kerzen brennen. Aus der Dunkelheit der Bühne blickt uns Michoels an.

ENDE

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