DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
THEMEN DER ZEIT
D
ie Realität der Studenten- praktika am Krankenbett ist oft genug geschildert wor- den: Gruppen von zehn bis fünf- zehn Studenten pro Patient und Ausbilder, nur wenige Termine pro Fach und Semester. Die Kon- sequenz: Unzufriedenheit bei al- len Beteiligten. Die Patienten kla- gen über die als unzumutbar emp- fundene Belästigung durch so vie- le ungeübte Hände. Die Studen- ten verlangen, vielfach in aggres- siver Tonlage, realitätskonforme- ren Unterricht. Ein erheblicher Teil der Hochschullehrer und der an der Ausbildung beteiligten ärztlichen Mitarbeiter sieht die Aufgabe der Ausbildung guter Ärzte unter den derzeitigen Rah- menbedingungen als unlösbar an und resigniert.Doch es geht auch anders: In Es- sen wird ein neues Unterrichtsver- fahren erprobt, bei dem audiovi- suelle Medien eingesetzt werden.
Als unser wichtigstes Ziel betrach- ten wir die so weit wie möglich selbständige, aktive Patientenun- tersuchung. Zu diesem Zweck kommen Zweiergruppen von Stu- denten für eine Woche ganztags in die Essener Poli- und Kinderkli- nik und erheben täglich Anamne- se und klinischen Befund bei je ei- nem Patienten.
Anschließend werden in fünf Prak- tikumsstunden in Gruppen zu zwei bis acht Studenten Untersu- chungen von Neugeborenen (U2 des Vorsorgeprogramms), von ze- rebralgeschädigten, kardiologi- schen, hämatologisch-onkologi- schen und nephrologischen Pa- tienten durchgeführt. Zum Schluß besuchen 16 Studenten für einen Vormittag eine Einrichtung für be- hinderte Kinder.
Für eine erfolgreiche Mitarbeit bieten wir den Praktikumsstuden- ten außer dem „Kursbuch Kinder- heilkunde", das Arbeitsmateria- lien und Literatur zu einigen wich- tigen Krankheitsbildern und Pro- blemkreisen der Kinderheilkunde sowie simulierte Fallbeispiele (1)
An der Universität Essen wird im Fach Kinderheilkun- de ein neues klinisches Unterrichtsmodell erprobt, welches auch bei den der- zeitigen Studentenzahlen Realitätskonformität und Ei- genaktivität ohne Überla- stung von Patienten und Ausbildern ermöglicht.
enthält, 20 Exemplare deutsch- und englischsprachiger pädiatri- scher Lehrbücher an, die wir für besonders geeignet halten.
In einem 14tägigen Pilotprojekt untersuchten wir, ob durch den Einsatz von praxisbezogenen, in- haltlich und technisch guten Vi- deofilmen die studentische Aus- bildung im Praktikum qualitativ verbessert werden kann. Hierbei stützten wir uns auf die bisherigen Erfahrungen mit dem 1982 von Ci- ba-Geigy konzipierten und erst- mals am XXXI. Fortbildungskon- greß in Davos realisierten Modell zur individuellen Fortbildung der Ärzte (3, 4).
Die Beschaffenheit und die mo- derne Videoausrüstung der Lern- kabinen erlaubt dem Benutzer:
1> einen Film nach seiner eige- nen Lerngeschwindigkeit zu bear- beiten,
> einzelne Sequenzen zu wie- derholen, gegebenenfalls in Zeit- lupe zum Beispiel zur Analyse ei- nes Bewegungsablaufs,
1> bestimmte Bilder anzuhalten.
Die Vorteile für eine intensive Analyse und eine individuelle Aus- einandersetzung mit den vorge-
führten Lerninhalten liegen auf der Hand.
Die Arbeitsmöglichkeiten, die sich in den Lernkabinen anbieten, füh- ren zu einer weit intensiveren Be- schäftigung mit dem Film, als es bei herkömmlicher Vorführung des gleichen Streifens im Hörsaal möglich ist.
Um die Auseinandersetzung mit dem Videoprogramm noch effi- zienter zu machen, wurde zu je- dem Film ein Arbeitsbogen ent- wickelt. Die Aufmerksamkeit der Studenten wurde dadurch auf die relevanten Aspekte des Filmes gelenkt, die Selbstkontrolle er- leichtert.
Im Juni 1985 boten wir die folgen- den, uns für Studenten besonders geeignet erscheinenden Filme ei- ner Gruppe von freiwilligen klini- schen Medizinstudenten an: Rhe- sus-Inkompatibilität; Morbus hae- molyticus neonatorum; Moderne Behandlung des Frühgeborenen;
Entwicklung des Greifens und des Laufens; Entwicklung der Perzep- tion; Zerebrale Bewegungsstö- rungen; Epilepsie; Infektions- krankheiten; Diagnostik bei abdo- minellen Erkrankungen; Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte; Grundla- gen der Echokardiographie;
Echokardiographie in der Pädia- trie; Ärztliches Verhalten bei Kin- desmißhandlungen.
Ciba-Geigy hatte für dieses Expe- riment sechs Lernkabinen mit der gesamten technischen Ausstat- tung und sieben der Filme kosten- los zur Verfügung gestellt. Das Audio-Visuelle Medien-Zentrum der Universität beschaffte die übrigen Filme. Die teilnehmenden Studenten hatten sich verpflich- tet, alle genannten Filme anzuse- hen und sich vor Beginn und am
Neue Wege
für die klinische Studentenausbildung
Hermann Olbing, Daniel Grandt und Mircea Weiser
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 8 vom 19. Februar 1986 (23) 455
Studenten bei der Arbeit in einer Video-Lernkabine
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Ausbildung
Ende des Video-Lernprogramms einer schriftlichen Prüfung mit Fragenpaaren gleichen Schwe- regrades zu den Inhalten zu unter- ziehen.
Über die Filme des Pflichtpro- gramms hinaus konnten die Stu- denten freiwillig die komplette Ei- dophor-Synthesen-Videothek zu nicht pädiatrischen Themen stu- dieren. Jede Lernkabine konnte von zwei Studenten gleichzeitig benutzt werden. Da der Ton über Kopfhörer kommt, wird niemand gestört. Um die neben dem Pflichtprogramm angebotenen Filme erarbeiten zu können, ba- ten die Studenten darum, die Lernkabinen über die zunächst vorgesehenen Vormittgs- und Nachmittagsstunden hinaus durchgehend bis in den Abend und sogar an Sonn- und Feierta- gen benutzen zu dürfen.
Durch den Vergleich der Ein- gangs- und Endklausur konnten wir einen beträchtlichen Wissens- zuwachs dokumentieren: wäh- rend die durchschnittliche Punkt- zahl bei der Video-Praktikumsein- gangsklausur bei gut fünf Punkten lag, stieg sie bei der Endklausur auf fast 15 Punkte (die maximale erreichbare Punktzahl lag bei 17).
Alle Studenten haben die Mög- lichkeit genutzt, die Filme anzu- halten, um sich Notizen zu ma- chen (93 Prozent) bzw. Teile noch einmal zu sehen (100 Prozent), die Hälfte sah sich ganze Filme mehr- mals an. Alle befürworteten die
Aufnahme eines Video-Lernpro- gramms ins Praktikum Kinderheil- kunde. Der Rektor der Universität und der Dekan des Fachbereichs Medizin waren beim Besuch der Videothek während des Pilotpro- jektes durch die Mitarbeit und of- fensichtliche Begeisterung der Studenten und vor allem durch den dokumentierten Lernerfolg so beeindruckt , daß sie gemein- sam mit der Verwaltung des Klini- kums die Mittel für eine dauerhaf- te Etablierung der Lernkabinen beschafften.
Vom Wintersemester 1985/86 an wird für die Essener Mediziner ein Video-Lernprogramm mit erwei- tertem Filmprogramm obligater Bestandteil des Praktikums Kin- derheilkunde. Die dauerhafte Ein- richtung der Videothek wird durch Zuwendungen der Universität Es- sen, der Gesellschaft von Freun- den und Förderern der Universität Essen sowie der Firmen Ciba-Gei- gy und Sony ermöglicht. Das Ar- beitsamt Essen richtete im Rah- men von Arbeitsbeschaffungs- maßnahmen zur Anleitung der Studenten und zur Beaufsichti- gung der Videothek für jeweils zwei Jahre Stellen für einen Leh-
rer und eine Sekretärin ein.
Um noch mehr aktive Mitarbeit der Studenten zu gewährleisten, werden wir die Filme unserer Vi- deothek in computergestützte in- teraktive Lernprogramme inte- grieren. Nachdem die Mittel für die notwendigen Geräte und für
die Erstellung der Computerpro- gramme durch die Universität Es- sen und die Gesellschaft von Freunden und Förderern unserer Universität zur Verfügung gestellt wurden und die Firma IBM nicht nur die erforderlichen Geräte, sondern auch Hilfe bei der Pro- grammgestaltung zugesagt hat, rechnen wir damit, daß wir die in- teraktiven Lernprogramme zum Wintersemester 1986/87 ins Prak- tikum Kinderheilkunde aufneh- men können. Später soll das The=
menspektrum auf die Innere Me- dizin und gegebenenfalls dann auch auf andere klinische Fächer erweitert werden.
Aus unseren bisherigen Erfahrun- gen ziehen wir die folgenden, un- seres Erachtens auch über den Rahmen unserer Universität hin- aus gültigen Schlußfolgerungen:
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Die derzeitige Studentengene- ration ist zu sehr aktiver Mitarbeit motivierbar, wenn man Möglich- keiten zu weitgehend selbständi- ger Arbeit am Patienten oder mit Hilfe moderner Medien realitäts- ähnliche Lernprogramme anbie- tet.© Eine Qualitätsverbesserung des klinischen Unterrichtes ist oh- ne Mehrbelastung für die Patien- ten sowie Hochschullehrer und ärztliche Mitarbeiter möglich.
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Die Industrie ist zu einer part- nerschaftlichen Zusammenarbeit mit der Hochschule und zur Un- terstützung sinnvoller neuer Aus- bildungswege bereit.Literatur bei den Verfassern Anschriften der Verfasser:
Professor Dr. Hermann Olbing GHS Essen
Abteilung für Nephrologie Hufelandstraße 55, 4300 Essen 1 cand. med. Daniel Grandt Burgstraße 2, 4690 Herne 2 Dr. med. Mircea Weiser Leiter der Abteilung AVMS Ciba-Geigy GmbH
7867 Wehr/Baden 456 (24) Heft 8 vom 19. Februar 1986 83. Jahrgang Ausgabe A