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Archiv "Krebsfrüherkennung: Von der Wunschvorstellung zu realistischen Ansätzen" (08.09.1995)

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Ulrich R. Kleeberg

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enn man die Mehrzahl der Krebserkrankungen im fortgeschrittenen Stadium nicht heilen kann, so ver- spricht eine frühzeitige Intervention bessere Ergebnisse mit geringerem Aufwand und geringerer Belastung für den Patienten." Dieser Grundsatz führte 1971, aufbauend auf einer Rei- he früherer Initiativen der Ärzte- schaft und Krankenkassen, zur Einführung des "gesetzlichen Krebs- früherkennungs-Programmes". Es wird von einer Kommission des Bun- desausschusses der Ärzte und Kran- kenkassen ständig weiterentwickelt.

Heute müssen wir feststellen, daß der erwartete Erfolg, der Nach- weis einer Abnahme der Krebsmorta- lität, ausgeblieben ist und die Beteili- gung an Früherkennungsuntersu- chungen mehr als zu wünschen übrigläßt, ja rückläufig ist. Damit stellt sich immer dringender die Frage nach der Zukunft dieses zeit-und ko- stenaufwendigen Programmes. Es wäre dringend zu überprüfen, ob die ursprünglichen Wunschvorstellungen überhaupt noch den aktuellen wissen- schaftlichen Kenntnissen entsprechen und nicht grundsätzlich revidiert wer- den müssen.

Paradigmenwandel für die Zukunft

Im folgenden soll dargestellt wer- den, daß nur ein grundsätzlicher Para- digmenwandel eine Fortsetzung des, erhebliche Ressourcen bindenden, Präventionsprogrammes zuläßt. An- stelle des ungerichteten Screenings beijedermann sollten wir einer indivi- duellen Früherkennungsanamnese mit der Beschreibung spezieller Risi- kogruppen den Vorrang einräumen.

Dabei gilt es, neben psychologischen Aspekten vor allem die onkologi- schen Erkenntnisse zu berücksichti-

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AUFSÄTZE

Krebsfrüherkennung

Von der Wunschvorstellung zu realistischen Ansätzen

Seit 1971 gibt es das gesetzliche Krebsfrüherkennungsprogromm. Die damit ver- bundenen Erwartungen hoben sich jedoch nur zum Teil erfüllt. Der Autor des fol- genden Beitrags, Vorsitzender der Hornburger Krebsgesellschaft und Inhaber ei- ner onkologischen Schwerpunktproxis, zieht eine kritische Bilanz des Programms und fordert zugleich eine Neuorientierung in der Prävention des Krebses.

gen-und diese haben sich in den ver- gangeneu 25 Jahren nachhaltig geän- dert.

In der Prävention von Krebser- krankungen werden drei Bereiche un- terschieden:

~ die primäre Prävention, die Vorbeugung und Verhütung von Krebserkrankungen,

~ die sekundäre Prävention, das heißt die Krebsfrüherkennung durch Vorsorgeuntersuchungen, und

~ die tertiäre Prävention, die Krebsnachsorge.

Unser Unvermögen, trotz der Bereitstellung erheblicher Mittel für die sekundäre und tertiäre Prävention einen relevanten Effekt auf Heilungs- raten oder - wenn schon nicht dies - dann auf Überlebensdauer und Le- bensqualität verbuchen zu können, hat in jüngster Zeit die Rückbesin- nung auf die entscheidende Bedeu- tung primärpräventiver Maßnahmen

im "Kampf gegen den Krebs" geför-

dert.

Würden wir uns physiologischer bewegen und ernähren, auf Genuß- gifte verzichten, mit dem Rauchen aufhören und unsere Umwelt weniger verschmutzen, dann ließe sich die Krebsinzidenz erheblich senken und damit unser Sozialetat um Milliarden entlasten. Krebs gehört, ebenso wie die Arteriosklerose, zum natürlichen Alterungsprozeß. Beide stellen das Endprodukt der sich im Laufe eines langen Lebens summierenden dege- nerativen Veränderungen endogener wie exogener Provenienz dar. Die Frequenz von Krebserkrankungen korreliert mit unserer demographi-

sehen Entwicklung und ist, so gese- hen, der Preis, den wir für die gestie- gene Lebenserwartung in unserer mo- dernen Zivilisation zu entrichten ha- ben. Nicht jeder vermag die vielfälti- gen onkogenen Noxen, mit denen wir bei einer inzwischen über 76 Jahre lie- genden durchschnittlichen Lebens- dauer konfrontiert werden, effektiv zu eliminieren oder deren genetische Schäden zu reparieren. So bestimmt die biologische Verfassung des Indivi- duums das Risiko, an Krebs zu er- kranken. Es lassen sich heute Popula- tionen definieren, bei denen ererbte und erworbene Belastungen zu einer signifikanten Steigerung der Krebs- Inzidenz führen.

Viele Malignome wären vermeidbar

Dies bedeutet aber nicht, daß man sein diesbezügliches Schicksal nicht günstig zu beeinflussen vermag:

Unterschiede zwischen den höchsten und niedrigsten Inzidenzen für spezi- elle Karzinomtypen in verschiedenen Ländern und Bevölkerungsschichten führten Epidemiologen zu der An- nahme, daß etwa 35 Prozent aller Ma- lignome (Konfidenz-Intervalle zwi- schen 20 und 70 Prozent) durch Kom- ponenten der Ernährung und Lebens- weise, den Genußmittelkonsum wie die berufliche Exposition verursacht werden und damit grundsätzlich ver- meidbar wären (Doll und Peto 1981, Kleeberg 1989, 1991).

Internationale wie nationale Krebsregister zeigen einen mit mo- A-2316 (30) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 36, 8. September 1995

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Gewinn an Überlebenszeit?

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Deutsches Ärzteblatt

Primäre Prävention "Latenz": Biolog. Auseinandersetzung Kik). okkulte Proliferation monifesteKrankheit

Bedeutung von primärer und sekundärer Prävention für Initiierung und Wachstum eines Tumors und der „lead time bias" für dessen natürlichen Krankheitsverlauf

THEMEN DER ZEIT

dernen hygienischen Präventivmaß- nahmen korrelierenden Rückgang in der Inzidenz bestimmter Krebser- krankungen, so zum Beispiel des Bronchialkarzinomes des Mannes oder des Magenkarzinomes. Andere Tumoren wie das Bronchialkarzinom der Frau oder das Melanom nehmen wegen mangelnder Vorsorge zu (Sil- verberg et al. 1990). Eine verantwor- tungsvolle Gesundheitspolitik muß daher das Bewußtsein der Bevölke- rung für die große Bedeutung primär- präventiver Maßnahmen, also der Vorbeugung, wecken und Wege zur Beschreibung individueller Risiken aufzeigen, wenn eine (altersbereinig- te) Trendwende durchgesetzt werden soll.

Vorbeugen schon im Kindesalter

Vorbeugen will aber gelernt sein und muß sich wie jede Art hygieni- scher Maßnahmen früh in unser Ge- sundheitsbewußtsein einprägen. Es gilt, hiermit schon im Kindes- und Ju- gendalter zu beginnen, wenn Präven- tion zum selbstverständlichen Be- standteil einer gesunden Lebens-

AUFSÄTZE

zunehmende Divergenz zwischen In- zidenz und Mortalität zum Beispiel beim Portio- und Mammakarzinom oder beim Melanom (Silverberg et al.

1990) weist darauf hin, daß neben der Vorbeugung auch die Früherkennung mit Vorverlegung der Diagnose die spezifische Krebsmortalität zu senken vermag.

Vorverlegung der Diagnose

Nur: Dies läßt sich nicht für alle Krebserkrankungen verallgemeinern und gilt nicht für das Gros der Bevöl- kerung, sondern nur für bestimmte, genau zu definierende Risikogrup- pen. Entscheidend ist hier die onkolo- gische Familienanamnese bei Häu- fung bestimmter Tumorentitäten. Se- kundärpräventive Maßnahmen kön- nen die Heilungsraten insgesamt gün- stigstenfalls um wenige Prozentpunk- te steigern (Miller 1991). Dies wird sich auch in Zukunft nicht weiter ver- bessern lassen und relativiert die Be- deutung der Früherkennung im Ver- gleich zur primären Prävention.

Ein kurzer Exkurs in die Tumor- zellkinetik soll erläutern, wie relativ

le immunologischen Überwachungs- mechanismen überwunden und proli- feriert autonom mit eigenen (autokri- nen) oder vom Wirtsorganismus ent- lehnten (parakrinen) Wachstumsfak- toren, den Onkokinen. Hinzu kommt, daß der Körper bei seinem Bemühen, die gesetzten Defekte zu reparieren, ähnlich wie beim Entzündungsvor- gang verschiedene Zytokine aktiviert und so auf parakrinem Wege Selekti- on und Promotion resistenter Zellclo- ne fördert, die schließlich die Ober- hand gewinnen (Kleeberg 1989, 1992).

Unsere so ad absurdum geführte Immunabwehr, sei sie aktiv oder pas- siv auch noch so sehr unterstützt oder moduliert, vermag die sich ständig an ihre Umgebung adaptierende, „mas- kierte" Tumorzelle in ihrem infiltrati- ven Wachstum höchstens noch flüch- tig zu beeinflussen. Aber erst in die- sem Stadium werden die führenden Tumorleiden, so die Bronchial-, Ga- strointestinal- und Urogenitaltrakt- Karzinome, die zusammen mehr als drei Viertel aller Krebstodesfälle aus- machen, klinisch diagnostizierbar.

Längst hat sich also das Schicksal von bis zu zwei Dritteln dieser Kranken entschieden.

führung werden und die Krebsinzi- denz nachhaltig beeinflussen soll.

Die moderne Onkologie erlaubt es, auch dort, wo wir die Inzidenz be- stimmter Krebsleiden noch nicht zu beeinflussen vermögen, durch eine Vorverlegung der Diagnose die spezi- fische Mortalitätsrate zu senken. Die

wenig sich durch eine Vorverlegung der Diagnose grundsätzlich erreichen läßt. Die Grafik zeigt den Weg, der von einem entarteten Zellclon durch das Netz unserer Immunabwehr bis zur klinischen Manifestation von ca. 1 ml mit 108 bis 109 Zellen führt. In die- sem Stadium hat der Tumor längst al-

Früherkennung und Lebensqualität

Frühdiagnose führt also nicht un- bedingt auch zu einer erfolgreichen Frühtherapie mit Anhebung der Hei- lungsraten. Zumindest für die Patien- ten, bei denen zu diesem Zeitpunkt bereits eine klinisch stumme, systemi- sche Metastasierung vorliegt, wird le- diglich die Leidenszeit verlängert — und sei es auch „nur" die psychi- sche — , nicht aber die Lebenszeit. Die- se relative Verlängerung der Krank- heitsdauer, relativ zum Zeitpunkt der Erstdiagnose gesehen (die sogenann- te „lead time bias"), bleibt ohne fakti- schen Einfluß auf den Verlauf der Er- krankung.

Der Wert von Früherkennungs- untersuchungen wird darüber hinaus auch durch die natürliche Wachs- tumsrate des Tumors eingeschränkt.

Vorsorgediagnostik deckt bevorzugt klinisch stumme, langsam proliferie- rende Krebserkrankungen auf, die Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 36, 8. September 1995 (31) A-2317

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THEMEN DER ZEIT

insbesondere aber beim älteren Men- schen ohne Bedeutung für die Über- lebenswahrscheinlichkeit bleiben („length bias"). Hier kann die Früh- diagnose mit unreflektierten Eingrif- fen leicht zu einem krassen Mißver- hältnis zwischen dem kurativen Auf- wand und dem Resultat führen und die Lebensqualität des Patienten be- einträchtigen, ohne das Leben zu ver- längern.

Umgekehrt erlauben uns sche- matisch definierte, etwa in jährlichen Abständen durchgeführte Früher- kennungsuntersuchungen nicht, rasch proliferierende, sich im Intervall ma- nifestierende Tumoren so rechtzeitig zu erkennen, daß hier eine Therapie die Mortalitätsrate entscheidend sen- ken könnte.

Wirkliche Erfolge sind von der sekundären Prävention nur dann zu erwarten, wenn es gelingt, die maligne Entartung schon in statu nascendi zu diagnostizieren, dann also, wenn die Tumorzellen ihre benachbarten Strukturen noch nicht infiltriert ha- ben. Dies ist nur der Fall beim Carci- noma in situ mit etwa 10 2- bis 104-Zel- len oder noch besser, wenn es gelingt, schon abartige Strukturen zu erken- nen wie etwa beim atypischen Naevus der Haut, den Dysplasien und Prä- kanzerosen der Portio oder der Schleimhäute.

Bescheidene Erfolge

Ein Vergleich der durch Früher- kennungsuntersuchungen diagnosti- zierten schweren Dysplasien und In- situ-Karzinome mit der Inzidenz pro- gredient infiltrierender Karzinome der Cervix (Schrage 1987) führt aber zu einem erstaunlichen Ergebnis („screening bias"): die Zahl der In-si- tu-Karzinome (Pap.V) liegt um mehr als das Fünffache über der statistisch zu erwartenden Inzidenz infiltrieren- der Tumoren. Ein Teil dieser frühen Karzinome bildet sich also wohl zurück oder bleibt klinisch latent, das heißt proliferiert so langsam, daß der alternde Organismus hierdurch nicht vital bedroht wird.

Unsere „Erfolge" bei der opera- tiven Sanierung präinvasiver Mali- gnome sollten im Hinblick auf Hei- lungsraten daher bescheidener for-

AUFSÄTZE

muliert werden. Überdiagnostik und/oder Überbewertung der Befun- de schränken die Kosten-Nutzen-Re- lation der Früherkennungsmaßnah- men noch weiter ein. Daneben gibt es vernünftige praktische Beweggründe, etwa hochbetagte oder polymorbide Kranke trotz des hier besonders ho- hen Tumorrisikos vor inkommodie- renden Untersuchungen zu bewah- ren.

Risikobezogene Früherkennung

Neben den genannten onkologi- schen wie allgemeinärztlichen Ein- wänden gegen eine allgemeine Ver- pflichtung von jedermann zu Früher- kennungsuntersuchungen gibt es wei- tere Grenzen, die deren Wert relati- vieren. Es sind insbesondere die ge- sundheitsbewußten, gegenüber vor- beugenden Maßnahmen aufgeschlos- senen Teile unserer Bevölkerung mit einem vergleichsweise geringeren Krebsrisiko, die sich bevorzugt den Früherkennungsuntersuchungen stel- len. Diese sogenannte „selection bias" macht uns die Notwendigkeit deutlich, das Füllhorn gesetzlicher Maßnahmen nicht über alle gleich- mäßig zu verteilen, sondern risikobe- zogen zu intervenieren (Weber 1993, Goldgar et al. 1994). Das entscheiden- de Instrument hierfür ist die Früher- kennungs-Anamnese, die zu einem zentralen Bestandteil hausärztlicher und präventiver Maßnahmen werden muß. Voraussetzung hierfür ist eine adäquate Schulung der Ärzteschaft, wozu sich im Rahmen der Fortbil- dung spezielle Qualitätszirkel als be- sonders effektiv erwiesen haben (Brucks et al. 1992, 1994).

Der sich auf die aktuellen Kennt- nisse der Onkologie gründende Para- digmenwandel, der vom zwar wohlge- meinten, aber ungerichteten Scree- ning für alle hin zur speziellen Risiko- beschreibung einzelner führen muß, fordert auch eine besondere Zuwen- dung des Arztes .zu neuen Aufgaben in der Früherkennung chronischer Krankheitsprozesse. Voraussetzung ist hier die Entwicklung einer beson- deren Arzt-Patienten-Beziehung mit der Rückbesinnung auf eine umfas- sende hausärztliche Krankenversor-

gung. Es gilt, den Wert epikritischen Vorgehens und die Fallanalyse in der ärztlichen Praxis wiederzuentdecken und statt eines beliebigen Zuganges zu normierten, technischen Untersu- chungsabläufen die ärztliche Verant- wortung für eine umfassende Präven- tion für den Patienten und seine Fa- milie sicherzustellen.

Aus onkologischer Sicht gehören zu den wenigen Bereichen, in denen eine sekundäre Tumorprävention for- ciert werden muß, neben den Tumo- ren der Haut, des Rektums und des Genitales insbesondere das Mamma- karzinom. Hier wurden inzwischen die Untersuchungsmethoden im Rah- men des gesetzlichen Auftrages ent- scheidend verbessert. Das Mamma- karzinom, in unserem Lande die häu- figste Krebskrankheit der Frau, ist ein Beispiel dafür, wie mit einer Vorverle- gung der Karzinomdiagnose durch re- gelmäßige jährliche Untersuchungen, speziell die Mammographie, das in- itiale Tumorstadium im Vergleich zum vergangenen Jahrzehnt kleiner und die krankheitsfreien Fünfjahres- Überlebensraten größer wurden (Harris 1994, Frischbier et al. 1994).

Obwohl auch hier die oben erwähnte

„lead time bias" günstigere Ergebnis- se vortäuschen könnte, sprechen die besseren krankheitsfreien Überle- bensraten nach fünf bis zehn und mehr Jahren für einen realen Effekt.

Mit der frühen Diagnose lassen sich auch die Belastungen der Behandlung minimieren: brusterhaltende Eingrif- fe statt der Mastektomie und das Ver- meiden adjuvanter chemo- und/oder strahlentherapeutischer Therapie- maßnahmen.

Entsprechendes gilt für die Früherkennung des Melanoms, des Tumors mit der zur Zeit höchsten Wachstumsrate. Die Vorverlegung der Diagnose führte trotz steigender Inzidenz zu einer Abnahme in der Frequenz prognostisch ungünstiger, tief infiltrierender Tumoren und so zu einer meßbaren Steigerung der Hei- lungsraten.

Globale Aufforderungen an un- sere Bevölkerung zur Teilnahme an Früherkennungs- und „Gesundheits- Untersuchungen" können leicht Ver- ängstigung und Verunsicherung be- wirken, die wenig geeignet sind, deren allgemeine Akzeptanz zu verbessern A-2318 (32) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 36, 8. September 1995

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THEMEN DER ZEIT AUFSÄTZE/BERICHTE

Hyperhomocysteinämie

Im Studium lernt der angehende Mediziner die Homocysteinurie ken- nen, in seiner späteren Praxis begegnet er dieser seltenen erblichen Erkran- kung kaum. Personen mit Homocy- steinurie erleiden bereits in jungen Jahren Gefäßerkrankungen wie Arte- riosklerose und Thromboembolie, und sie sterben früh daran. Auf der ersten internationalen Konferenz über Ho- mocystein-Stoffwechsel in Irland wur- de es nun deutlich: Nicht die ausge- prägte Homocysteinurie, jedoch die Hyperhomocysteinämie ist weit ver- breitet, und: Erhöhte Homocystein- Werte im Blut beschleunigen die Pro- gredienz der Arteriosklerose und er- höhen das Risiko thromboemboli- scher Komplikationen.

Die Ergebnisse einer großen Zahl von klinischen Studien, darunter so bedeutende wie die Framingham- Studie, lassen den Schluß zu, daß er- höhte Homocystein-Spiegel im Blut in viele pathologische Prozesse invol- viert oder aber ihre Ursache sind.

Tierversuche haben ergeben, daß Ho- mocystein die Proliferation glatter Muskelzellen in der Gefäßwand sti- muliert, einen toxischen Effekt auf die Kollagene der Elastica interna ausübt und eine konsekutive Ver- dickung der Basalmembran bewirkt.

Unter dem Einfluß von Homocystein nimmt die Thromboseneigung zu, da vermehrt Thrombozyten aktiviert werden und sich ihr Umsatz erhöht.

Auch die forcierte Leukozyten-Akti- vierung hat vielfältige Konsequenzen für die Pathogenese arterioskleroti- scher Plaques. Homocystein fördert außerdem die Ablagerung von Lipi- den und Proteinen in der Gefäßwand, und es trägt bei zur Bildung freier Sauerstoff-Radikale und damit zur Oxidation von LDL-Cholesterin.

Im Blut von gesunden Proban- den findet sich Homocystein nur in sehr niedrigen Konzentrationen, außerdem nur bei rund einem halben Prozent der Bevölkerung. Dagegen

weist jeder zweite bis vierte Patient mit Schlaganfall, peripherer arteriel- ler Verschlußkrankheit, Herzinfarkt und chronischer Niereninsuffizienz eine Hyperhomocysteinämie auf. In der amerikanischen Ärztestudie (Physicians Health Study) wurde das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko bei erhöhten Homocystein-Werten berechnet: Es war um mehr als das Dreifache erhöht.

Multivarianzanalysen ergaben eine bemerkenswerte Unabhängig- keit erhöhter Homocystein-Spiegel von anderen kardiovaskulären Risi- kofaktoren wie Hypertonie, Diabetes mellitus, Zigarettenrauchen und Dys- lipidämie. Demnach ist ziemlich si- cher, daß Hyperhomocysteinämie keine Folge oder Begleiterscheinung anderer Risikofaktoren ist.

Die Media ist deutlich verdickt

Bereits bei einem Plasma-Ho- mocystein-Wert von etwa 11,7 ju,mol/L beginnt das erhöhte kardio- vaskuläre Risiko, erklärte Prof. Johan Bernhard Ubbink (University of Pre- toria). Ein hoher Prozentsatz der Männer aus Populationen mit einer hohen Prävalenz kardiovaskulärer Erkrankungen weist Plasmawerte oberhalb von 11,7 ilmol/L auf. In ei- ner Studie, an der 2 237 Männer aus Wales teilnahmen, hatten 45,2 Pro- zent von ihnen eine Hyperhomocy- steinämie. Dr. Lars Brattström (Uni- versity Hospital, Lund) konnte nach- weisen, daß bei Personen mit erhöh- ten Plasma-Homocystein-Werten die Media in den Koronar- und Karotis- Arterien deutlich verdickt ist. Die un- tersuchten Personen waren zwischen 45 und 60 Jahre alt.

Nach den Ausführungen von Prof. Irwin H. Rosenberg (Tufts Uni- versity School of Medicine, Boston) belegen mehr als 20 Studien weltweit (Verres 1989). Überzogene Erwartun-

gen müssen den bescheidenen Rea- litäten angepaßt werden.

Mit Hilfe der Früherkennungs- anamnese sind Risikogruppen zu defi- nieren und diese gezielt anzuspre- chen. Dabei ist zum einen die Fürsor- ge der Erkrankten für ihre (noch) ge- sunden jüngeren Familienangehöri- gen zu nutzen, zum anderen die per- sönliche Risikoanamnese (Lebens- führung, berufliche Exposition, Krebsvorerkrankung usw.) zu berück- sichtigen. Der Schlüssel hierfür liegt beim Hausarzt, der — unterstützt von den Kostenträgern — Daten aus Fami- lien- und Eigenanamnese, beruflicher Belastung, Komorbidität gezielt zu- sammenträgt und jene Familienmit- glieder motiviert, die ein besonders hohes Risiko tragen. Stets müssen Aufwand und zu erwartender Nutzen sorgfältig und altersbezogen zueinan- der in Beziehung gesetzt werden.

Hierfür unsere beschränkten Res- sourcen gezielt einzusetzen ist volks- wirtschaftlich sinnvoll, erspart unnöti- ge Belastungen des einzelnen und ver- spricht die gewünschte Effektivität.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1995; 92: A-2316-2320 [Heft 36]

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med.

Ulrich. R. Kleeberg Max-Brauer-Allee 52 22765 Hamburg-Altona

Berichtigung

In dem Aufsatz „Pneumologie in Deutschland: ein Stiefkind" von Pro- fessor Dr. Nikolaus Konietzko (Deut- sches Ärzteblatt Heft 33/1995, „The- men der Zeit", Aufsätze) ist die Le- gende zur Abbildung 1 zu berichtigen.

Bei den einzelnen Ländern, für die die Zahl der Lehrstühle für Pneumologie dargestellt wurde, muß es statt Polen Portugal heißen und statt Andorra Österreich. DÄ

Ein eigenständiger

kardiogener Risikofaktor

A-2320 (34) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 36, 8. September 1995

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