SCHWEIZ. Z. OBST-WEINBAU Nr. 6/03
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RETOLEUMANN UNDJÜRGBOOS, HOCHSCHULEWÄDENSWIL, ALBERTWIDMER,
EIDGENÖSSISCHEFORSCHUNGSANSTALTWÄDENSWIL
I
m Rahmen einer Semesterarbeit an der Hochschule Wädenswil wurden fünf moderne Kirschenanlagen im Oberthurgau bezüglich ihrer Forstgefährdung un- tersucht. Die Standorte wurden so ausgewählt, dass verschiedene Höhenstufen und Expositionen be- trachtet werden konnten (Abb. 1). Die Temperaturenim Frostfrühling 2002 wurden vom 25. März bis zum 9. Mai alle 30 Minuten gemessen.
Blidegg 540 m ü.M.
Als höchster Standort des Versuchs liegt Blidegg auf einer Anhöhe. Trotz Neigung der Anlage wird der Kälteabfluss teilweise durch einen Wald behindert.
Zudem ist das Gelände leicht kupiert mit mehreren lokalen Frostmulden. Die Kulturen in Blidegg muss- OBSTBAU
Spätfrostrisiko im Kirschenanbau 2002
Um die Amortisation der hohen Investitionskosten bei modernen Tafelkirschenanlagen mit Re- gendach zu gewährleisten, ist eine hohe Ertragssicherheit bedeutend. Da sich im Frostschutz nichts Grundlegendes geändert hat, ist mit der zunehmenden Tendenz zu früherem Austrieb (Defila 2001) der Anteil der Spätfröste am gesamten Ertragsrisiko gestiegen. Die herausragen- de Bedeutung der Standortwahl zeigten Messungen im Frostfrühling 2002. Je nach Standort schwankten die frostbedingten Schäden an Kirschen zwischen 5% und 90%.
Dozwil 460 m ü.M.
Uttwil 420 m ü.M.
Bodensee 398 m ü.M.
N S
0 41/2 11/2 11 181/2
95%
100%
1100% = Vollertrag
7,8 °C Kümmertshausen
480 m ü.M.
Opfershofen 440 m ü.M.
Sitter 490 m ü.M.
Blidegg erhöhte Lage, teilweise Kältestau
17 Opfershofen
Teillage, Kältesee
15 Kümmertshausen
Südlage, Kälteabfluss
10 Dozwil
seefern
13 Uttwil
Seelage
Anzahl Nächte 4 unter 0 °C
Anzahl Stunden unter -4 °C
Minimum Temperatur
Mittlere Temperatur
45%
60%
-1,8 °C -5,0 °C -4,2 °C -5,7 °C -5,8 °C
65%
85%
15%
45%
10%
40%
8,4 °C 8,8 °C
8,3 °C 9,2 °C
Ertrag1 Kordia Regina
Blidegg 540 m ü.M.
Abb. 1: Blütenfrostge- fährdung und Exposi- tion verschiedener Kirschenanlagen in der Ostschweiz in der Zeit vom 25. März bis 9. Mai 2002. Die Messung der Tempe- ratur erfolgte auf ei- ner Höhe von 1,2 m über dem Boden im Baumbestand. Das Höhenprofil stellt die Exposition und die klimatische Situation der verschiedenen Standorte während der Frostperiode dar.
Die effektive geogra- fische Position weicht von der Darstellung ab.
SCHWEIZ. Z. OBST-WEINBAU Nr. 6/03 11 ten nicht weniger als 17 Frostnächte überstehen. Da-
bei wurde der für Kirschen ab Knospenaufbruch kri- tische Wert von bis 4 °C (Kellerhals, 1997) an fünf Ta- gen unterschritten. Die 1,5 °C tiefere Durchschnitts- temperatur gegenüber der Seelage bewirkte einen Entwicklungsrückstand von etwa zwei Wochen.
Trotz eines sehr guten Blütenansatzes war der frost- bedingte Ausfall bei Kordia nahezu total. Regina zeig- te sich hier, wie auch an den anderen Standorten, als deutlich frosthärter (Abb. 2 und 3).
Opfershofen 440 m ü.M.
Opfershofen ist eine typische, Kälte stauende Talla- ge. Die wiederholt tiefen Temperaturen dürften dem enormen Kaltluftzufluss der Ottenberg-Südostflanke zuzuschreiben sein. Aufgrund des Geländeverlaufs staut sich die schwere Kaltluft in der Zwischen- talsohle in Opfershofen, ehe sie ganz ins Thurtal fliesst. Die häufig tiefen Temperaturen haben sich auch in der Summe der Minusgradstunden niederge- schlagen. Elf Stunden (in 4 Nächten) unter -4 °C mit einem Tiefstwert von -5,7 °C reduzierten den Be- hang von Kordia trotz einer Vollblüte auf rund 15%
eines Vollertrags. Auch hier fiel der Ertrag bei den frosthärteren Regina etwa doppelt so hoch aus wie bei Kordia.
Dozwil 460 m ü.M.
Mit dreizehn Frostnächten liegt Dozwil an dritter Stel- le der fünf Versuchsstandorte. In zwei Nächten wur- de die Schwelle von -4 °C unterschritten. Der tiefste Wert wurde sehr früh, am 25. März mit -5,0 °C ge- messen. Obwohl nur während viereinhalb Stunden Temperaturen unter -4 °C gemessen wurden, waren die beobachteten Frostschäden gravierend. Einzelne Blütenpartien von Kordia waren abgestorben. Auch hier zeigte sich Regina etwas frosttoleranter. Der ge- schätzte Ertrag lag bei Kordia bei etwa 45% und bei Regina bei 60% eines Vollertrags. Die um 1 °C tiefere Durchschnittstemperatur erklärt den Entwicklungs- rückstand von rund zehn Tagen gegenüber der Seela- ge Uttwil.
Dozwil liegt zwar nur etwa drei Kilometer von Utt- wil entfernt, ist aber vom See deutlich abgeneigt. Das Klima ist nicht mehr vom Bodensee beeinflusst. Die Kaltluft kann kaum abfliessen und lagert sich nach Süden hin an. Das gegen Nordosten hin offene Gelän- de weist eine leichte Gefährdung durch Bise (kalt- trockene Ostwinde) auf. Der Standort weist erfah- rungsgemäss eine mittlere Forstgefährdung auf. Der etwas spätere Austrieb vermag den oft stauenden Frost nicht zu kompensieren.
Kümmertshausen 480 m ü.M.
Kümmertshausen schnitt mit zehn Frostnächten am zweitbesten ab. Die Temperatur fiel an der leicht ge- neigten Südhanglage in einer Nacht unter den Wert von -4 °C. Sonst lagen die Frostereignisse im mittel gefähr- deten Bereich von -4 °C bis -2 °C. Frostschäden von rund 30% waren vor allem an den zuerst geöffneten Blüten zu erkennen. Diese litten ganz besonders unter den tiefen Temperaturen der letzten Märzwoche. Der Mittelwert der gemessenen Temperaturen liegt eben- falls zwischen Uttwil und Dozwil, was mit der phäno- logischen Entwicklung übereinstimmt. Der Grund für die relativ schwache Frostgefährdung dürfte dem unge- hinderten Abfliessen der Kaltluft zuzuschreiben sein.
Uttwil 420 m ü.M.
Uttwil war mit Abstand die frostsicherste Lage im Ver- such. Nur gerade in vier Nächten fielen die Tempera- turen unter 0 °C, die Tiefsttemperatur lag bei -1,8 °C.
Es waren ganz leichte Frostschäden an den frühsten Blüten zu verzeichnen, was aber kaum ins Gewicht fiel und für einen Vollertrag ausreichte.
Der Standort Uttwil ist erfahrungsgemäss eine sehr frostsichere Lage. Der Austrieb ist nicht ausser- ordentlich früh, weil die grosse Fläche des Boden- sees die Temperaturschwankungen dämpft. Das Wasser absorbiert am Tag sehr viel Wärme und gibt sie in der Nacht zum Teil wieder an die Umgebung ab. Gleichzeitig ist die Sonneneinstrahlung auf der nach Norden abfallenden Fläche etwas geringer. Der See hat also eine verzögernde, vor allem aber eine ausgleichende Wirkung. Diese ausgleichende Wir- kung bremst einerseits anfänglich die Entwicklung der Bäume und verhindert auf der anderen Seite das zu starke Abfallen der Temperaturen. Diese beiden Faktoren verhindern in den meisten Jahren eine OBSTBAU
Abb. 3: Rechts frostgeschädigte Kirschenblüte. Die äusserlich noch intakt scheinende Kir- schenblüte weist kurz nach dem Frostereignis schon braun ver- färbte, geschädigte weibliche Blütenorgane auf, die männli- chen Blütenorgane zeigen op- tisch noch weniger Schäden.
Links gesunde Kirschenblüte.
(Foto: Jürg Boos, HSW)
Abb. 2: Frostgeschädigte Kordia-Kirschenblüten. In den Zellen der Blütenstiele ist der Zelldruck zusammengefallen. Abgestor- ben hängen die Blüten nach unten. (Foto: Reto Leumann, HSW)
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Frostschädigung der Blüten. Nur starke Ostwinde können in Uttwil die Temperaturen ähnlich tief sin- ken lassen wie an den anderen Vergleichsstandorten, die nicht durch die «Wärmepufferung» des Sees ge- schützt sind.
Fazit der Versuche
Berechnungen ergaben, dass nur schon bei einem einmaligen 100%-igen Frostschaden innerhalb der 15- jährigen Standzeit einer Kirschenanlage sich das er- wirtschaftete Kapital aus der Anlage um über Fr.
20'000 verringert. Dies bedeutet in vielen Fällen, dass die hohen Investitionen in eine Kirschenanlage nicht vollständig abgeschrieben werden können.
Die Versuche bestätigen, dass die früher gemach- ten Empfehlungen für die Standortwahl (z.B. Kobel 1949) besonders bei Kulturen mit hohen Investiti- onskosten unbedingt zu berücksichtigen sind. Die Resultate lassen folgende Schlüsse zu:
Positiv auf die Frostsicherheit eines Standorts wir- ken sich folgende Punkte aus:
● Seelagen
● Hanglagen mit Kälteabfluss
● ostwindgeschützte Lagen
● Anbau von Sorten wie zum Beispiel Regina, die weniger frostanfällig sind.
Zu einer Erhöhung des Frostrisikos tragen folgende Faktoren bei:
● Lagen mit Kältezufluss oder behindertem Kälteab- fluss
● Höhenlagen
● windoffene Lagen
● frostanfällige Sorten wie zum Beispiel Kordia.
Literatur:
Defila C.: Veränderung der Vegetationsperioden in der Schweiz?
Schweiz. Z. Obst-Weinbau 137, 553–555, 2001.
Kellerhals M. et al.: Obstbau. Landw. Lehrmittelzentrale, Zollikofen, 1997.
Kobel F. und Spreng H.: Neuzeitliche Obstbautechnik und Tafelobst- verwertung. Buchverlag Verbandsdruckerei AG, Bern, 475 S., 1949.
OBSTBAU
Le risque de gelées tardives dans la culture des cerises en 2002
L'exposition et l'altitude sont les principaux facteurs de risque pour les cerisaies. Les essais ont mon- tré qu'à partir d'altitudes supérieures à 500 mètres, le risque de pertes de rendement est énorme dans les années de gelée en période de floraison. Il convient d'éviter par principe les situations très expo- sées aux vents où à proximité de lacs lorsque des poches froid peuvent se former, même à des altitudes plus basses. Les cerisaies plantées en bordure de lacs ou à flanc de coteaux dans des endroits où l'air froid pouvait s'écouler sans retenue présentaient pas ou beaucoup moins de dégâts imputables au gel.
Il s'est également avéré que la variété de cerise Regina résistait beaucoup mieux au froid que Kordia.
R
ÉSUMÉAbb. 4 und 5: Gesun- de, gut ausgereifte Kirschen kurz vor der Ernte (links = Regina, rechts = Kordia).
(Foto: Reto Leumann, HSW)