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Archiv "Grundlagen zur Bewertung von Arzneimittelwirkungen" (22.05.1980)

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Grundlagen zur Bewertung von Arzneimittelwirkungen

60. Informationsgespräch der Medizinisch-Pharmazeutischen Studiengesellschaft e. V. in Bad Nauheim

Wolfgang Forth

Das 60. Informationsgespräch der Medizinisch-Pharmazeutischen Studiengesellschaft e. V., dessen Vorträge in nachfolgendem Bericht referiert werden, war zugleich die 24. Veranstaltung für den Kreis der Medizin-Journalisten. Die Veranstaltung am 14./15. Februar 1980 im Bad Nauheimer Fortbildungszentrum der Landesärztekammer Hessen stand unter dem Thema „Grundlagen zur Bewertung von Arzneimittel- wirkungen". Sie wurde von den Farbwerken Hoechst thematisch aus- gerichtet bzw. organisiert und von Dr. Hedda Heuser-Schreiber ebenso charmant wie umsichtig moderiert und geführt.

TAGUNGSBERICHT

Der Arzneimittelmarkt

Dr. Rathscheck, Frankfurt am Main/

Hoechst, skizzierte den Rahmen für das Spannungsfeld, in dem sich heute das, was man allgemein den Arzneimittelmarkt nennen könnte, abspielt. Innovation und Produktion von Arzneimitteln erfolgen unter marktwirtschaftlichen Gesichts- punkten. Dort, wo sich normalerwei- se der Markt zur Verteilung der Pro- dukte anschließen müßte, besteht je- doch für Arzneimittel ein komplizier- tes Verteilungssystem: der Verkauf ist an bestimmte Geschäfte, die Apo- theken, gebunden; die Anweisung zum Verkauf an den Verbraucher er- folgt durch bestimmte Zertifikate, nämlich Rezepte, die von Ärzten ausgestellt werden.

Die Bezahlung der Ware erfolgt in aller Regel nicht durch den Verbrau- cher, sondern durch Versicherun- gen, bei denen der Verbraucher sein Krankheitsrisiko abgesichert hat.

Der Staat hat in diesem System mit gesetzgebenden und administrati- ven Mitteln für Ordnung zu sorgen.

Man versteht bei dieser holzschnitt- artigen Darstellung sehr gut, wie leicht jeder der Beteiligten der Ver-

suchung anheimfallen kann, seinem Partner sagen zu wollen, was er zu tun hat. Das Gespräch in Bad Nau- heim, so Dr. Rathscheck, solle inso- fern einen Beitrag dazu leisten, die Aufgabenteilung aller Partner in die- sem Spannungsfeld rational auszu- leuchten.

Läßt sich Fortschritt planen?

Dr. Zapf, Frankfurt am Main/

Hoechst, stellte die eindrucksvollen Fortschritte der Arzneimitteltherapie seit Beginn unseres Jahrhunderts dar: Fraglos war der erfolgreichste Schritt der Arzneimitteltherapie die Einführung der chemotherapeuti- schen und antibiotischen Prinzipien zur Bekämpfung der Infektions- krankheiten.

Noch im ersten Drittel unseres Jahr- hunderts nahmen diese Krankheiten die ersten Positionen der Sterbesta- tistiken ein. Heute sind sie weit in den Hintergrund der Gefährdungen des menschlichen Daseins getreten.

An der Geschichte der Therapie mit Chemotherapeutika und Antibiotika läßt sich aber auch sehr gut die Ent- wicklung zur Nachdenklichkeit über

die Bewertung des therapeutischen Fortschritts nachvollziehen, der heute bei uns Einzug hält. Das Ne- benwirkungspotential von Arznei- stoffen muß im Einzelfall sorgfältig gegenüber dem Therapieziel abge- wogen werden. Mit anderen Worten heißt dies, daß der Arzt eine Bewer- tung seiner therapeutischen Maß- nahmen vornehmen muß.

Es soll schon hier angeführt werden, daß es legitim ist, wenn Patienten und Kostenträger an diesen Bewer- tungen teilhaben möchten. Genauso muß aber festgestellt werden, daß der Einfluß des Staates beim Vor- gang dieser Bewertung noch nicht hinreichend ausdiskutiert ist.

Die Methoden der Entwicklung von Arzneistoffen haben sich im Prinzip bis heute nocht nicht sehr weit von denjenigen entfernt, die zu Beginn unseres Jahrhunderts schon Paul Ehrlich angewendet hat: trial and er- ror, oder deutsch: Versuch und Irr- tum. Daran wird sich auch so rasch nichts ändern, denn Fortschritte in der Therapie lassen sich nicht ein- fach „arrangieren", wie man heute eben einmal eine Fahrt in den Welt- raum planen kann. Der Stand der Kenntnisse in den biologischen Wis- senschaften wird von Laien weit überschätzt.

Wie können Nutzen und Risiko von Arzneistoffen

quantifiziert werden?

Mit den gegenwärtig verfügbaren Methoden zur Bewertung von Nut- zen und Risiko von Arzneistoffen ist es nicht zum besten bestellt. Prof.

Dr. Überla, München, führte aus, daß es zwar unter den Epidemiologen und Medizin-Statistikern unstreitig ist, wie eine Studie zur Abwägung des Risikos bei der Behandlung mit Arzneistoffen anzulegen ist. Sehr oft steht aber der Durchführung derarti- ger Studien die ärztliche Ethik ent- gegen. Außerdem gelangt man mit der technischen Durchführung schnell an die Grenzen dessen, was

„machbar" ist. Derartige Studien er- fordern die Kooperation einer gro- ßen Zahl von Forschern und Patien-

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Bewertung von Arzneimittelwirkungen

ten oft über Jahre hinaus. Schließ- lich muß angemerkt werden, daß auch bei optimal angelegten und durchgeführten Studien eine abso- lute Sicherheit der Bewertung nicht zu erwarten ist. Ein wichtiger Satz:

Beim „Neuen" gibt es keine abolute Sicherheit! Es kommt also darauf an, Methoden zu entwickeln, die bei einer permanenten Kontrolle der Therapieerfolge erlauben, die mögli- chen Nebenwirkungen so lückenlos wie es eben geht zu erfassen. Dane- ben muß die ständige Bereitschaft zur Neubewertung von Risiko und Nutzen der Therapie bestehen. Übri- gens muß auch erst noch eine Stra- tegie entwickelt werden, wie neue, noch unbekannte Nebenwirkungen von Arzneistoffen hierzulande mit einiger Sicherheit entdeckt werden können.

Beiläufig darf man anmerken, daß die Entwicklung derartiger Studien noch in den Kinderschuhen steckt.

Es ist sicherlich nicht viel geholfen, wenn Untersuchungen von Arznei- Wirkungen und -Nebenwirkungen nur im nationalen Rahmen durchge- führt werden. Es verwundert den Laien, nicht aber den Fachmann, wenn bei der Neueinführung eines Arzneimittels eine bestimmte Ne- benwirkung beispielsweise 50mal in den Vereinigten Staaten entdeckt wurde, in Deutschland aber bis jetzt noch keinerlei ähnliche Beobach- tung gemeldet wurde. Man versteht diese Diskrepanz, wenn man weiß, daß in den Vereinigten Staaten rund 300 000 Behandlungsfälle ausge- wertet wurden, dagegen in Deutsch- land mit derselben Arznei erst 30 000 Beobachtungen zur Verfü- gung stehen.

Mit welcher Methode soll sicherge- stellt werden, daß die fünf zu erwar- tenden Fälle bei einer angenomme- nen gleichen Häufigkeit wie in den USA hier mit Sicherheit erfaßt wer- den können? Ist sicherzustellen, daß in den einzelnen Ländern die Thera- pie-Schemata vergleichbar sind?

Welche Rolle spielen die verschiede- nen Lebensweisen in den einzelnen Ländern auf die Auswirkung der Therapie-Schemata? Ist es über- haupt wünschenswert, die Therapie-

schemata zu uniformieren, oder ist es nicht ganz im Gegenteil zur Si- cherstellung des therapeutischen Fortschritts geradezu erwünscht, daß Abweichungen der Therapie- schemata in verschiedenen Popula- tionen — immer nach bestem Wissen und Gewissen der behandelnden Ärzte — beibehalten werden sollten?

Diese Überlegungen, die nach Mei- nung des Berichterstatters noch nicht hinreichend ausdiskutiert sind, führen alle zur Relativierung heute noch sehr festgefügter Meinungen über den Wert und die Durchführ- barkeit sogenannter prospektiver Studien. Man darf davon ausgehen, daß in Zukunft den Strategien der langfristigen Beurteilung von Arz- neimittelwirkungen ex post wieder mehr Gewicht zukommen wird.

Wie kontrolliert der Rechtsstaat Produktion und Vertrieb riskanter Produkte?

Prof. Dr. Samson, Kiel, skizzierte den Auftrag des Gesetzgebers bei der Bewertung von Arzneistoffen: er soll das Risiko bei der Therapie, ins- besondere aber auch bei der Einfüh- rung von Arzneistoffen, in Grenzen halten. Auch hier steht eindeutig die Bewertung des Therapieziels im Vordergrund. So steht es beispiels- weise außer Frage, daß bei Thalido- mid die Schadwirkungen in keinem Verhältnis zum therapeutischen Ziel standen, obgleich es gute pharma- kologische Gründe für die Einfüh- rung von Thalidomid als Schlafmit- tel gab, mit dem es praktisch nicht möglich war, suizidale Absichten zu verwirklichen. Dagegen gibt es gute Gründe dafür, Zytostatika trotz des hohen teratogenen Potentials, das sicherlich demjenigen des Thalido- mids in nichts nachsteht, zur Thera- pie verfügbar zu halten. Bei der Ab- wägung des Nutzens der Zytostatika in der Tumortherapie und ihres möglichen Schadens überwiegt ein- deutig der therapeutische Nutzen.

Es kommt allerdings darauf an, daß die Indikationsstellung scharf defi- niert wird, damit eine vernünftige Abwägung von Nutzen und Risiko durchgeführt werden kann. Hier liegt übrigens im Rückblick auf die

Thalidomid-Katastrophe das eigent- liche Versagen; bei der gelegentli- chen Einnahme von Thalidomid zur Behebung von Schlafstörungen und unter Einhaltung des prinzipiellen Gebotes, während einer Schwanger- schaft nur aus lebensbedrohlichen Gründen Arzneimittel einzunehmen, wäre uns diese Katastrophe erspart geblieben.

Der Gesetzgeber hat im Arzneimit- telgesetz zur Abschätzung von Nut- zen und Risiko von Arzneistoffen das Bundesgesundheitsamt einge- schaltet. Es ist eine einseitige Ausle- gung des Arzneimittelgesetzes bei der Bewertung von Nutzen und Risi- ko, den Verbraucherschutz in den Vordergrund zu stellen. Es bedarf eines klugen Mittelweges zwischen dem Sicherheitsauftrag, den das Arzneimittelgesetz vorsieht, auf der einen Seite und dem notwendigen Spielraum für die Eigenverantwort- lichkeit auf der anderen Seite, ohne die kein Fortschritt in der Therapie denkbar ist.

Die Rolle des Patienten bei der Bewertung von Arzneimitteln Frau M. Bosch, Bonn, formulierte die Wünsche der Patienten bei der Bewertung der Arzneitherapie. Es leuchtet ein, daß der Patient das Therapieziel auf dem schnellstmög- lichen und dem sichersten Weg er- reichen möchte. Dabei steht gegen- wärtig die Verunsicherung des Laien durch die unerwünschten Arzneimit- telwirkungen im Vordergrund, deren Bedeutung er nicht abschätzen kann. Es ist zu hoffen, daß die lange verfolgten Absichten der Arzneimit- telkommission der Deutschen Ärzte- schaft zur Entwicklung vernünftig abgefaßter, gut leserlicher Beipack- zettel für den Laien nun endlich in die Tat umgesetzt werden können.

Die Rolle

des behandelnden Arztes bei der Bewertung von Arzneimitteln Die Wünsche der Patienten lassen sich nahtlos mit den Vorstellungen der praktizierenden Ärzte in Zusam-

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Aufsätze • Notizen

Bewertung von Arzneimittelwirkungen

menhang bringen, die von Dr. Jork, Frankfurt am Main, dargestellt wur- den. Vorweg sei schon festgestellt, daß bei allen denkbaren Möglichkei- ten zur Bewertung der Arzneithera- pie der Arzt offenkundig die Haupt- last zu tragen hat, unabhängig da- von, ob er in Industrie, Krankenhaus oder in der freien Praxis tätig ist. Er ist der Fachmann, der die Bewer- tung durchzuführen hat! Er muß schon während seiner Ausbildung hinreichend darauf vorbereitet wer- den, Therapieziele zu formulieren, die Erreichbarkeit der formulierten Ziele abzuschätzen, die Therapie beim Patienten durchzusetzen, das heißt seine Kooperation sicherzu- stellen, und vor allem die Therapie anhand vernünftiger Kriterien zu be- messen.

Die neue Approbationsordnung lie- ße ohne weiteres eine Verlagerung der Schwerpunkte der Ausbildung des Arztes in dieser Richtung zu;

indes ist noch kaum irgendwo in der Bundesrepublik Deutschland der ra- tionalen Pharmakotherapie in der Lehre der Stellenwert zuerkannt worden, der ihr gebührt. Nebenbei bemerkt: mit einem Experimental- kurs für Pharmakologie ist dieses Ziel sicher nicht zu erreichen.

Die Intensivierung der Lehre in Phar- makologie und Pharmakotherapie muß auf andere Art durchgeführt werden. Gleichzeitig ist sicherzu- stellen, daß der Pharmakologie und Pharmakotherapie sowohl in der Weiterbildung wie in einer perma- nenten Fortbildung während der ak- tiven Lebensjahre des Arztes Rech- nung getragen wird.

Mit der wachsenden Sicherheit des Arztes im Umgang mit Arzneimitteln wird seine Überzeugungskraft zu- nehmen, mit der er dem Patienten gegenübertritt. Dies wird fraglos durch eine Steigerung der Koopera- tionsbereitschaft des Patienten be- antwortet werden, die beim Thera- pieversagen beispielsweise einen viel höheren Stellenwert einnimmt als alle Überlegungen über die man- gelhafte Bioverfügbarkeit von Arz- neistoffen.

Nicht alles, was der Arzt therapiert, hat Krankheitswert. Es ist bekannt, daß ein Großteil des Tagwerkes ei- nes Arztes in der Behandlung soge- nannter „Störungen der Befindlich- keit" besteht. Hier bedarf es vor je- der Arzneitherapie vor allem des Einsatzes der ärztlichen Autorität und Überzeugungskraft. Hier müsse auch die klinische Medizin als Adressat einbezogen werden, denn es ist auch dem Patienten nicht ge- holfen, wenn er mit einer Unzahl von Arzneistoffen zur Behandlung jedes Symptoms aus der klinischen Obhut in die Hände des Hausarztes entlas- sen wird.

Es geht darum, daß eine Krankheit sauber festgestellt und dann mit al- len Mitteln, die der heutigen Medizin zur Verfügung stehen, angegangen und nach Möglichkeit geheilt wird.

„Störungen der Befindlichkeit", sollten als Indikation für den Einsatz von Arzneistoffen nicht gelten, allen- falls für den Einsatz eines Placebos.

Hier ist allerdings anzufügen, daß dieser puristische, theoretisch durchaus berechtigte Standpunkt in der Praxis rasch relativiert werden muß.

Die Rolle des Forschers bei der Bewertung von Arzneimitteln Die Rolle des Forschers bei der Be- wertung von Arzneistoffen darzu- stellen, oblag Prof. Dr. Kramer, Frankfurt am Main/Hoechst. Natür- lich greift der Forscher immer nach dem höchsten Ziel, der Entwicklung eines neuen therapeutischen Prin- zips, mit dem ein Leiden erfolgver- sprechend anzugehen sein wird. Da- neben existiert auch das Tagwerk der pharmazeutisch-technischen Entwicklung zur Verbesserung der Anwendung von Arzneistoffen und die sicherlich wenig spektakuläre Durchforstung von Struktur und Wirkung eines chemischen Prinzips, die aber immer noch in der Pharma- kokinetik, nämlich der gezielten Ver- teilung im Organismus, der Metabo- lisierung und Ausscheidung der Arz- neistoffe und der möglicherweise damit verbundenen Verringerung des Nebenwirkungspotentials Fort-

schritte bewirken kann; allerdings rangieren derartige Innovationen in der Skala der Bewertung beim For- scher ziemlich weit unten.

Die Rolle des Staates bei

der Bewertung von Arzneimitteln Die Rolle des Staates bei der Bewer- tung von Arzneimitteln wurde von Prof. Dr. Schönhöfer, Bundesge- sundheitsamt Berlin, dargestellt. Bis jetzt lägen nur positive Erfahrungen mit dem neuen Arzneimittelgesetz vor: Die gehobenen Anforderungen bei der Anmeldung von Arzneistof- fen haben einen Leistungsdruck er- zeugt, der direkt zu einer Verbesse- rung des Arzneimittelangebotes bei- getragen hat. Nach Meinung des Be- richterstatters spielt die Aufgaben- stellung des Bundesgesundheitsam- tes beim Verbraucherschutz eine zu große Rolle. Es muß hier diskutiert werden, ob das Bundesgesundheits- amt nicht bereits der Gefangene des so leicht über die Lippen gehenden Slogans der Arzneimittelsicherheit ist.

Dieser Slogan mag beim Laien sogar die Vorstellung suggerieren, daß es so etwas wie eine Arzneimittelsi- cherheit geben kann. Es kann ge- fährlich sein, wenn man dem Laien die Abwägung von Nutzen und Risi- ko ersparen will. Man kommt mit diesen Vereinfachungen auch zu leicht in die Nähe der Mondfahrt- Philosophie, die alles, was denkbar ist, auch als machbar darstellt. Tat- sache ist, daß wir uns bemühen kön- nen, die Arzneimittelsicherheit zu steigern, daß man sich aber dem Ziel der Sicherheit von Arzneistoffen nur wird asymptotisch nähern können.

Die Überbewertung des Verbrau- cherschutzgedankens gleitet leicht in Reglementierungen ab, deren Fol- ge die völlige Erstarrung des Sy- stems sein könnte, auf das der thera- peutische Fortschritt der Kulturna- tionen gebaut ist.

Hier fand die Diskussion schnell ih- ren Anknüpfungspunkt bei der Ab- wägung des durch den Gesetzgeber vorgeschriebenen Sicherheitsauf-

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Aufsätze • Notizen

Ernst Th. Mayer*)

In letzter Zeit mehren sich naturwis- senschaftlich erhärtete Befunde von der biologisch beobachtbaren Natur des menschlichen Verhaltens, die geeignet sind, angeblich progressi- ve Bildungstheoretiker zu widerle- gen. So hat man bestätigt gefunden, daß es nicht einmal im Kindergarten Gleichheit gibt, und das nicht etwa aufgrund von Umwelteinflüssen der- zeit bestehender Herrschaftsstruktu- ren, sondern aufgrund von angebo- renen Verhaltensmustern. Kaum ha- ben die lieben Kleinen sprechen und laufen gelernt, bricht der Drang nach Geltung bei ihnen durch und formt eine soziale Rangordnung. Am Ende majorisieren wenige die Mehr- heit und bilden sogar einen eigenen

„Führungsstil" heraus.

Schön ist diese Form der naiven Herrschaft freilich nicht, zu humani- sieren vermag dies aber die Familie weit besser als ein Kindergarten, denn Vorzüge anderer können letzt- lich doch nur durch Liebe ertragen werden. Sonst bleibt als Korrektur- möglichkeit bloß der Neid, der sehr häßlich ist, und den man sich nun einmal grundsätzlich nicht dienstbar machen soll.

Von der Naturwissenschaft her wird ein in den ersten Denkschritten stek- kengebliebenes rationales Aufklä- rungsdenken mit dem Ziel der Emanzipation des Menschen heute nachhaltig erweitert und korrigiert.

Danach ist der Mensch nicht mehr das solitäre Einzelwesen eines Rousseau, das sich erst, um seiner Wehrlosigkeit abzuhelfen, mit ande- ren verbindet und auf der letzten Stufe schließlich einen Staatsvertrag schließt, sondern nach seiner ihm

biologisch vorgegebenen Verhal- tensstruktur ein Wesen geselliger Art.

Genauer gesagt: Der Mensch lebt von Natur aus in beiden ihm gleich- sam angeborenen Sozialformen, nämlich in der Familie und in der Heimatgemeinde. Es ist zu bemer- ken, daß die Erscheinungen der hei- matlichen Entwicklungsreihe immer auch einen emotionalen, biologi- schen Kern haben, von dem aus al- les weitere seine Lebendigkeit emp- fängt. Wer meint, ohne angestamm- te Heimat als angeblicher Weltbür- ger leben zu können, vielleicht noch dazu nach dem Motto: „Wo es mir gut geht, ist mein Vaterland", der wird auch für die weite Welt und seine Mitbürger nichts Ersprießli- ches leisten können.

Die beiden Sozialformen Familie und öffentliche Gemeinde ergänzen sich, machen in ihrem Zusammen- wirken das Sozialleben des Men- schen aus, bleiben aber in diesem Zusammenhang durchaus selbstän- dig und können nicht auseinander abgeleitet werden. Damit kommen wir zu unserer ersten, grundsätzli- chen These:

1. These

Familienpolitik, die auf die biologi- sche Natur des Menschen keine Rücksicht nimmt, macht krank.

Die Familie beginnt in der ge- schlechtlichen Paarbindung, fortge-

*) Zum Gedächtnis an meinen Vater, Prof. Dr.

jur. et rer. pol. Hellmuth Mayer, 1. 5. 1895-9.

4. 1980

Arzneimittelwirkungen

trages und des für den therapeuti- schen Fortschritt notwendigen Frei- raums der Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten. Sicherlich ist gerade in Deutschland die Einordnung der Exekutive in das Spannungsfeld zur Bewertung von Arzneimitteln nicht ganz leicht.

Das Bundesgesundheitsamt verfügt über die gute Tradition des Reichs- gesundheitsamtes, die sich bis zu Robert Koch zurückverfolgen läßt.

Gerade er war es, der den therapeu- tischen Fortschritt bei, der Behand- lung einer Krankheit mit gesetzge- berischen und exekutiven Maßnah- men durchgesetzt hat, nämlich die Bekämpfung der Tuberkulose. Man sollte aus dieser Tradition vielleicht so viel entnehmen, daß es auch dem Bundesgesundheitsamt obliegt, An- stöße zu neuen Therapieprinzipien zu entwickeln. Es gilt zu überden- ken, ob die Präponderanz der exe- kutiven Aufgaben an derjenigen ge- messen werden muß, die in der Ver- gangenheit zur Durchsetzung des Organisationsschemas bei der Be- treuung der an Tuberkulose Er- krankten geführt hat. Dies wird zu einer Abwägung der Effizienz zwi- schen zentralistisch-administrativ gelenkten und denjenigen Systemen führen, die sich am freien Spiel aller den Arzneimittelmarkt tragenden Kräfte orientieren. Bis heute geben wir bei dieser Abwägung den letzte- ren den Vorzug. Wie überall wird es auch hier eine Kunst sein, den rech- ten Mittelweg zu finden.

Die Formulierung, daß die Welt „vol- ler Betrug und Profitgier" sei, stammt von Jan Fleming und mag zur Beschreibung von Horrorsitua- tionen in der Welt James Bonds ganz treffend sein. Als Philosophie zur Beurteilung des eingangs skiz- zierten Spannungsfeldes, in dem sich das abspielt, was wir den Arz- neimittelmarkt nennen, eignet sich diese Einstellung indes nicht.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Wolfgang Forth Pharmakologisches Institut 8000 München

Nußbaumstraße 26 8000 München 2

FORUM

Thesen und Forderungen zum Schwerpunktthema Familie und Gesundheit

1410 Heft 21 vom 22. Mai 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT

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