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Archiv "Beethovens Taubheit: „Wie ein Verbannter muß ich leben“" (18.10.2002)

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S

o bald ich tot bin, . . . , so bittet ihn [seinen Arzt Professor J. Adam Schmidt]* in meinem Namen, daß er meine Krankheit beschreibe, . . . da- mit wenigstens soviel als möglich die Welt nach meinem Tode mit mir ver- söhnt werde . . .“ Dies schrieb Ludwig van Beethoven 1802, gerade 32 Jahre alt, in sein Heiligenstädter Testament.

Beethoven war bereits als 28-Jähriger schwerhörig. Die letzten Jahre seines Lebens war er taub – ein Dornenweg für den hoch begabten Musi- ker.Hört man die 1798 zu Be- ginn seiner Schwerhörigkeit komponierte, schwer klin- gende Klaviersonate D-Dur (op. 10) „largo e mesto“, so glaubt man, etwas von der Ahnung dieses schweren Weges in der Musik wiederzu- finden. 1801, im Alter von 31 Jahren, schildert Beethoven seine Symptome: Schwer- hörigkeit mit Hochtonverlust und Sprachverständlichkeits- verlust, quälende Ohrgeräu- sche [Tinnitus], Verzerrungen [Recruitment] und Über-

empfindlichkeit für Schall [Hyperaku- sis]. In einem Brief an seinen Freund Dr. Franz Gerhard Wegeler (1765 bis 1848) vom 29. Juni beschreibt Beethoven die dissonante Kognition von Men- schen und eigener Musik:

„Der neidische Dämon hat meiner Gesundheit einen schlimmen Streich gespielt, nämlich mein Gehör ist seit

drei Jahren immer schwächer geworden [Schwerhörigkeit]. . . . nur meine Oh- ren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort [Tinnitus]. . . . Ich bringe mein Leben elend zu. Seit zwei Jahren meide ich alle Gesellschaften, weils mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub. Hätte ich irgend ein ande- res Fach so gings noch eher, aber in mei-

nem Fach ist es ein schrecklicher Zu- stand. . . . Die hohen Töne von Instru- menten und Singstimmen höre ich nicht [Hochtonverlust], wenn ich etwas weit weg bin, auch die Bläser im Orchester nicht. Manchmal auch hör ich den Red- ner, der leise spricht, wohl, aber die Worte nicht [Sprachverständlichkeits- verlust], und doch, sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich [Hyper- akusis].“

Es war Kant, der anmerkte, schlech- tes Sehen trenne von den Dingen, Schwerhörigkeit hingegen trenne von

den Menschen. Beethoven beschreibt die charakteristische, soziale Isolation des Schwerhörigen, die Schwerhörig- keit als Krankheit, die im wahrsten Sin- ne des Wortes doppelt unsichtbar ist:

Man kann sie nicht sehen, und der Be- troffene macht sich unsichtbar. Beetho- ven zieht sich aus der Welt der Hören- den zurück. Ein bestimmender Teil sei- nes Menschseins geht Beet- hoven unaufhaltsam verlo- ren.

Der kranke Beethoven hatte Suizidgedanken. Nur seine Kunst rettete ihn. Der Verlust des Hörens und küh- ne Kompositionsentwürfe – eigentlich ein Widerspruch in sich, und doch waren sie bei Beethoven vereinbar.

Sein damaliger Arzt, Pro- fessor J. Adam Schmidt (1759 bis 1808) vom Josefinum in Wien, hatte Beethoven die Kur in Heiligenstadt empfoh- len. Ihm widmete Beethoven das Klaviertrio Wo0 38 (eine Bearbeitung von Opus 2). Er hatte es bereits 1791 geschrie- ben, noch bevor er schwer- hörig wurde – ein fröhlich und unbe- schwert klingendes Stück, so als wollte Beethoven seinem Arzt sagen, sein Gehör und sein Gemüt sollten wieder so werden wie ehedem. 1805 kompo- niert der 35-Jährige die ersten Skizzen für die 5. Sinfonie (Op. 67/1, 1807/8). Be- kannt ist das Pochmotiv. Der Text dazu lautet: „So klopft das Schicksal an unse- re Seele.“ Beethoven ist noch nicht taub – doch auf dem Weg dorthin.

Um Beethovens Schwerhörigkeit und spätere Taubheit zu verstehen, muss man wissen, wie das Ohr funktio-

Beethovens Taubheit

„Wie ein Verbannter muß ich leben“

Eindringlich beschreibt der Komponist die charakteristische soziale Isolation des Schwerhörigen, die Schwerhörigkeit als Krankheit. Mit den

Mitteln der modernen Medizin hätte man ihm wahrscheinlich helfen können.

Hans-Peter Zenner

*Erläuterungen des Autors in eckigen Klammern Danksagung: Herrn Universitätsmusikdirektor Prof.

Dr. Sumski, Tübingen, bin ich für ausführliche Diskussion und Hilfe zu Dank verpflichtet.

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niert. Das Ohr ist das empfindlichste und schnellste Sinnesorgan des Men- schen. Die große Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs kann man ermes- sen, wenn man bedenkt, dass der so- eben wahrnehmbare Schalldruck im In- nenohr zu Auslenkungen von nur etwa 10-10m, also ungefähr vom Durchmes- ser eines Wasserstoffatoms, führt. Zeit- lich können mehr als 1 000 hintereinan- der auftretende Ereignisse pro Sekunde aufgelöst werden. Vom Trommelfell wird das Schallsignal durch Schwingun- gen der Mittelohrknöchelchen auf den Steigbügel und von dort durch Ein- und Auswärtsbewegungen seiner Fußplatte auf das Innenohr übertragen. Ein Schallsignal führt dazu, dass der Steig- bügel im Mittelohr vibriert, wodurch im flüssigkeitsgefüllten Innenohr eine Welle erzeugt wird. Diese wandert durch das Innenohr (daher ihr Name

„Wanderwelle“: sie ähnelt einer Mee- reswelle am Strand), strandet schließ- lich und reizt an dieser Stelle einige be- stimmte Haarzellen. Es wird angenom- men, dass die Wanderwelle dabei die Sinneshärchen der Haarzellen (Grafik) umbiegt und diese Abscherung der Ste- reozilien die Öffnung von Ionen- kanälen in den Zellmembranen an der Spitze der Zilien hervorruft. Interes- santerweise ziehen kleine Fäden von den Spitzen der meisten Sinneshärchen zur Wandung der dahinter stehenden Zilie.Werden die Stereozilien in Erre- gungsrichtung umgebogen, so werden die Spitzenfäden gespannt.Man stellt sich vor, dass durch den Zug K+-durch- lässige Ionenkanäle geöffnet werden und dass durch diese Kanäle positiv ge- ladene K+-Ionen in die Haarzelle ein- strömen.Das Innere der Haarzelle wird dadurch elektrisch positiver. Auf diese Weise wird das mechanische Schallsi-

gnal in ein körpereigenes elektrisches Signal überführt. Man spricht von der mechano-elektrischen Transduktion.

Das gesunde Ohr hat eine erstaun- lich gute Fähigkeit, Tonhöhen zu unter- scheiden. Ohne diese Fähigkeit wäre Beethovens Musik nur Schallbrei. Oh- ne diese Fähigkeit kann der Kranke auch Sprache kaum noch verstehen. Für die Ausbildung der Tonhöhenselekti- vität besitzt das Innenohr einen raffi-

nierten zweistufigen Mechanismus. Für die Beschreibung der ersten Stufe er- hielt der im Dritten Reich aus Deutsch- land vertriebene Georg von Békésy 1961 den Nobelpreis. Die bereits er- wähnte Wanderwelle hat nämlich zwei wichtige Eigenschaften. In Abhängig- keit von der Tonhöhe strandet sie je- weils an einem ganz bestimmten Ort entlang dem Innohr: Bei hohen Tönen strandet sie am Anfang, bei mittleren in der Mitte und bei tiefen Tönen am En- de des Innenohres. Und dann ganz an- ders als bei einer Meereswelle: Unmit- telbar bevor sie strandet, wird sie an dieser Stelle plötzlich wie von einer

Hand ergriffen, bis zu 1 000fach ver- stärkt und mit einer sehr scharfen Spit- ze versehen, bevor sie anschließend so- fort in sich zusammenfällt. Die Spitze der 1 000fach verstärkten Wanderwelle stimuliert exklusiv die an diesem Ort vorhandenen wenigen, für diese Ton- höhe verantwortlichen inneren Haar- zellen, die anschließend Transmitter an einige afferente Hörnervenfasern wei- tergeben. Damit bei einer bestimmten

Tonhöhe wirklich nur die wenigen inne- ren Sinneszellen exklusiv gereizt wer- den, braucht die Wanderwelle eine scharfe Spitze. Dreimal häufiger als in- nere Sinneszellen sind für diese Spitze die äußeren Haarzellen verantwortlich.

Äußere Haarzellen erzeugen näm- lich kräftige mikromechanische Schwin- gungen in der Schallfrequenz. Dazu können sich äußere Haarzellen bis zu 20 000-mal pro Sekunde (20 kHz) ver- kürzen und verlängern. Dadurch wir- ken sie wie Servomotoren, die die stran- dende Wanderwelle ergreifen und sie bis zu 1 000fach verstärken. Die zusätz- liche Schwingungsenergie entsteht nur an dem für die jeweilige Tonhöhe cha- rakteristischen, eng umschriebenen Ort des Innenohres. Die Spitze der so er- zeugten starken Welle wird scharf loka- lisiert an wenige innere Haarzellen ab- gegeben. Durch diese so genannte cochleäre Verstärkung (Cochlear am- plifier) wird die hohe Frequenzselekti- vität des gesunden Ohres – Vorausset- zung für Sprachverständnis und Musik- hören – erreicht.

Beethovens Symptome lassen ver- muten, dass auch bei ihm – wie bei vie- Äußere und innere Haarzellen; aus Zenner, „Hören“, in: Schmidt-Thews: Physiologie, Springer, Heidelberg

Im Heiligenstädter Testament,das Beethoven an seine Brüder richtete, heißt es:

„O, ihr Menschen, die ihr mich für feindseelig, störrisch oder misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime Ursache von dem, was euch so scheinet. . . . (dessen Heilung vielleicht Jahre dauren oder gar unmöglich ist) . . . drum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gern unter euch mischte, doppelt wehe thut mir mein Unglück, indem ich dabei verkannt werde, . . . wie ein Verbannter muß ich leben, . . . welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte, solche Ereignisse brachten mich nahe an die Verzweiflung, es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das al- les hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte, . . .“

Ludwig van Beethoven, Heiglnstadt [Heiligenstadt] am 6ten October 1802.

Grafik

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len Innenohrschwerhörigen – die schar- fe Frequenzabbildung in der Cochlea nicht mehr vorhanden war. Als Folge litt er insbesondere an der von ihm ge- schilderten Einschränkung der Sprach- verständlichkeit. Die drastische Ver- stärkung der Wanderwelle, die zur scharfen Spitze und damit erst zur Fre- quenzselektivität führt, fehlte bei ihm offenbar. Dieser grundlegende Unter- schied kann heute am ehesten auf den Ausfall der äußeren Haarzellen zurück- geführt werden. Wenn eine

äußere Hörsinneszelle sich nicht mehr bewegt, dann fehlt die Spitze der Wanderwelle.

Dann nimmt man wahr, wie Beethoven wahrgenommen hat: „Hör ich . . . wohl . . ., aber verstehe die Worte nicht.“

Aufgrund Beethovens Be- schreibungen kann man an- nehmen, dass seine Schwer- hörigkeit damit begann, dass er sukzessive äußere Hörsin- neszellen verlor.

Störungen oder Funktions- verluste der Motilität äußerer Haarzellen sind eine außer- ordentlich häufige Ursache der Innenohrschwerhörigkeit.

Klinisch erkennt man sie am positiven „Recruitment“ oder/

und am Amplitudenabfall/

-verlust der TEOAE („transi- ent evoked otoacoustic emis- sion“). Bei niedrigen Schall- druckpegeln wird die Wan- derwelle nicht mehr aktiv ver- stärkt, sodass der Schall erst oberhalb der schlechteren physiologischen Schwelle der äußeren Haarzelle, nämlich ab etwa 50 bis 70 dB, gehört wird. Also: Innere Haarzellen

hören ohne äußere Haarzellen an der Schwelle nichts, sondern erst ab 50 bis 70 dB. Klinisch resultiert eine Schwel- lenanhebung im Tonaudiogramm von maximal 50 bis 70 dB. Darüber hinaus geht die durch die Verstärkung erzeugte scharfe Spitze der Wanderwelle, die für die Frequenzselektivität von Bedeu- tung ist, verloren. Dies kann einen Verlust der Sprachdiskrimination im Sprachaudiogramm erklären.Weiterhin tritt ein Recruitment auf, und die Am- plitude transitorisch evozierbarer oto-

akustischer Emissionen nimmt ab oder geht verloren. Die TEOAE messen nämlich direkt die Mobilität äußerer Haarzellen. Darüber hinaus ist zu er- warten, dass binaurale Hörleistungen wie laterales räumliches Hören und Si- gnalerkennung vor Hintergrundgeräu- schen deutlich eingeschränkt sind.

Die Behandlung von Beethovens Ohrenleiden begann 1800. Mandelöl- Ohrentropfen und Meerrettich-Baum- wolle wurden angewandt, danach be-

stimmte Teesorten, aber auch so ge- nannte Vesikatorien, die zu Blasen auf der Haut führten; man hoffte, dass mit Verschwinden der Blasen auch die Krankheit vergehe. Was heute fremd anmutet, war typisch für die damalige Zeit. Schließlich wurden ihm lauwarme Donaubäder verschrieben, die ihm bei seinem Ohrgeräusch etwas geholfen ha- ben sollen.

Allerdings war von Heilung keine Rede, und so war Beethovens Ärzte- Hopping kein Wunder. Aber die be-

sten Ärzte seiner Zeit konnten ihm al- le nicht helfen. Und doch hat Beetho- ven in den Jahren bis 1812 acht seiner neun Sinfonien abgeschlossen. Es war Johann Melzel, der Erfinder des Me- tronoms, der Beethoven 1814 eine kleine Hilfe zukommen ließ: ein Hör- rohr.Eine weitere Unterstützung war ein an seinem Erard-Flügel befestigter Holzstab, den Beethoven zwischen seine Zähne nahm. Auf diese Weise hatte er ein Vibrationsempfinden.

Doch selbst diese kleinen Fortschritte wurden sofort zunichte gemacht. Ab 1814 verschlimmerte sich Beetho- vens Schwerhörigkeit zuneh- mend. Die Indizien: 1814 war sein letzter öffentlicher Auf- tritt als Pianist. Danach spiel- te er nur noch im Freundes- kreis oder für sich alleine.

Der Musiker Tomaschek be- schrieb Beethoven als sehr taub [„taub“ bedeutete da- mals auch schwerhörig]. Ein Jahr später (1815) meinten Neate und Simrock, engli- scher Pianist der eine und sein Verleger der andere, wenn überhaupt noch ein Restverstehen vorhanden sei, dann nur noch auf dem linken Ohr. Von seiner rech- ten Seite angesprochen, ver- stehe Beethoven nichts mehr. 1816, so Simrock, sei Persönliches nur noch schriftlich vermittelbar ge- wesen. Seit 1818 wurden Ge- spräche mit Beethoven aus- schließlich schriftlich ge- führt. Überliefert sind rund 400 so genannte Konversati- onshefte. Vergleicht man Beethovens Porträts aus den Jahren 1812, 1815 und 1818, so gewinnt man den Eindruck, sein Antlitz sei in diesen sechs Jahren fast 20 Jahre älter gewor- den. Es spiegelt offensichtlich die furchtbare Erfahrung Beethovens wider.

Es sollte noch schlimmer kommen.

1819 schrieb der schwedische Dichter Atterbom, Beethoven sei, was man

„stocktaub“ nenne. Ludwig Spohr be- obachtete 1821, dass Beethoven beim Piano die Tasten nicht mehr anschlug.

Beethovens Hörrohre wurden von Johann Melzel, dem Erfinder des Metronoms, hergestellt. Abbildung: Beethovenhaus Bonn

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Am 7. Mai 1824 wurde Beethoven als Dirigent eines Konzertabends an- gekündigt. Von der Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“ über eine Teilauf- führung der Großen Messe (Kyrie, Cre- do, Agnus dei) bis zur 9. Sinfonie war ein umfangreiches Programm zu hören.

Beethoven war zwar formal Dirigent, tatsächlich folgte das Orchester Micha- el Umlauf, dem „assistierenden“ Diri- genten. Frenetischen Beifall gab es be- reits nach dem Kyrie. Beethoven wand- te sich jedoch nicht zum applaudieren- den Publikum. Man nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn sanft um, da- mit er den Beifall in Empfang nehmen könne. Offensichtlich war Beethoven taub. Nach allem, was wir heute wissen, kann man vermuten, dass 1824 nicht nur Beethovens äußere Hörsinneszellen, sondern auch seine inneren Hörsinnes- zellen ihre Funktion aufgegeben hat- ten.

Was hat Beethoven zu jener Zeit sei- ner vollständigen Ertaubung kompo- niert? Die Missa solemnis mit ihrem Kyrie (Op. 123), nach dessen Erklingen die Ertaubung evident wurde. Aber der vom sozialen Rückzug Betroffene kom- ponierte auch: „Seid umschlungen Mil- lionen“ und: „Alle Menschen werden Brüder“ (9. Sinfonie, op. 125, 1823/24).

Vielleicht wollte er mit seiner glanzvol- len Musik etwas über sich sagen, was der Ertaubte mit Sprache allein nicht mehr ausdrücken konnte.

Auch ohne Schwerhörigkeit und Taubheit war Beethoven ein kranker Mann. Er hatte Masern, aber auch Pocken gehabt. Die von Franz Klein 1812 erstellte Gesichtsmaske Beetho- vens zeigt charakteristische Pockennar- ben. Alois Weizenbach, Chirurgie-Pro- fessor in Salzburg, notierte einen Ty- phus vor 1798. 1797 bis 1802 wurden von seinem damaligen Arzt Professor Schmidt rheumatische Beschwerden genannt. Ob diese mit unseren heutigen medizinischen Begriffen übereinstim- men, bleibt unklar. Ab 1802 litt er im- mer wieder an Infekten der Nase, an Nasenbluten und an einem Asthma bronchiale. 1810 ist er offenbar schwer auf den Kopf gestürzt. Beethoven war ausgeprägt kurzsichtig. Er trug Sehglä- ser zwischen 1,5 bis vier Dioptrien.

In seinen Briefen beschreibt er nicht nur seine Schwerhörigkeit, sondern auch Unterleibskrämpfe und Unter- leibserkrankungen. Die Bäder in der Donau, von denen die Rede war, dien- ten nicht nur dazu, sein Ohrenleiden zu lindern, sondern auch sein Unterleibs- leiden zu behandeln. Heutige Erkennt-

nisse lassen auf eine Pankreatitis schließen. In seinen letzten Lebensjah- ren (ab 1821) kamen ein Ikterus und Hämoptoen (ab 1825) hinzu.

„Matt und elend lag er da, zuweilen tief seufzend . . .“

Im Krankenzimmer herrschte während Beethovens letzten Lebenswochen re- ger Betrieb. Der Kranke erlebte soziale Zuwendung, von der er sich mehr als 15 Jahre ausgeschlossen hatte. Nicht nur ka- men täglich mindestens zwei Ärzte zur Visite, sondern auch Freunde und Be- kannte stellten sich regelmäßig ein. Der spätere Komponist und Schriftsteller Ferdinand Hiller war zusammen mit sei- nem Kompositionslehrer, Johann Nepu- muk Hummel, in den letzten Tagen bei Beethoven. Er besuchte ihn im März 1827, also unmittelbar vor seinem Tod, dreimal und war am 8. März „nicht wenig erstaunt, den Meister dem Anschein nach behaglich am Fenster sitzend zu finden“. Beim zweiten Besuch, am 13.

März, war Beethoven bereits bettlägrig.

Er stöhnte zuweilen tief, habe aber noch viel und lebhaft gesprochen. Und über den Besuch am 23. März schreibt Hiller:

„Matt und elend lag er da, zuweilen tief seufzend, kein Wort mehr entfiel seinen Lippen – der Schweiß stand ihm auf der Stirn.“ Am selben Tag unterschrieb Beethoven sein letztes Testament – nach von Breuning im Halbschlummer. Am 24. März 1827 tobte nachmittags ein Ge- witter über Wien – und Beethoven starb.

Beethovens Leichnam blieb bis zur Obduktion, die übrigens in seinem Haus stattfand, in seinem Bett liegen.

Begraben wurde er am 29. März. An- denkenjäger hatten ihm bis dahin fast das gesamte Kopfhaar abgeschnitten.

Die Obduktion nahm Dr. Johann Wag- ner,Assistent am Pathologischen Muse- um, vor. Sein Gehilfe war der später berühmte Dr. Karl von Rokitansky.

Am ehesten wird man heute meinen, dass Beethoven an einer so genannten chronischen Innenohrschwerhörigkeit gelitten hat. Seit 1798 wies Beethoven mit voranschreitendem Hochtonverlust, Sprachverständlichkeitsverlust,Tinnitus und Hyperakusis sehr charakteristische Zeichen dieses Leidens auf. In diesem Fall wäre es zunächst zum Funktions-

Obductions-Bericht [Auszüge]

Über den Leichnam des (P.T.) Herrn Ludwig van Beethoven, welcher in Gegenwart des Herrn Med. Doctors und Professors Wawruch in seiner Wohnung pathologisch untersucht, und hierüber nachstehender Befund erhoben wurde.

Der Leichnam war, insbesondere an den Gliedmaßen, sehr abgezehrt . . .

Der Ohrknorpel zeigte sich groß und regelmäßig geformt, die kahnförmige Vertiefung, besonders aber die Muschel desselben war sehr geräumig und um die Hälfte tiefer als gewöhnlich; die verschiedenen Ecken und Windungen waren bedeutend erhaben. Der äußere Gehörgang erschien, besonders gegen das ver- deckte Trommelfell, mit glänzenden Hautschuppen belegt. Die Eustachische Ohrtrompete war sehr ver- dickt, ihre Schleimhaut angewulstet und gegen den knöchernen Theil etwas verengert. Vor deren Ausmün- dung und gegen die Mandeln bemerkte man narbige Grübchen. Die ansehnlichen Zellen des großen und mit keinem Einschnitte bezeichneten Warzenfortsatzes waren von einer blutreichen Schleimhaut ausge- kleidet. Einen ähnlichen Blutreichthum zeigte auch die sämmtliche, von ansehnlichen Gefäßzweigen durchzogene Substanz des Felsenbeins, insbesondere in der Gegend der Schnecke, deren häutiges Spi- ralblatt leicht geröthet erschien.

Die Antlitznerven waren von bedeutender Dicke; die Hörnerven dagegen zusammengeschrumpft und marklos; die längs denselben verlaufenden Gehörschlagadern waren über eine Rabenfederspuhle ausge- dehnt und knorplicht. Der linke, viel dünnere Hörnerve entsprang mit drey sehr dünnen, graulichen, der rech- te mit einem härteren, hellweißen Streifen aus der in diesem Umfange viel consistenteren und blutreicheren Substanz der vierten Gehirnkammer. Die Windungen des sonst viel weicheren und wasserhältigen Gehirnes erschienen nochmahl so tief und (geräumiger) zahlreicher als gewöhnlich. Das Schedelgewölbe zeigte durchgehends große Dichtheit und eine gegen einen halben Zoll betragende Dicke . . .

Doctor Joh. Wagner, Assistent beym pathologischen Musäum.

27. III. 1827

(5)

verlust und Untergang der äußeren Haarzellen – und mit der Ertaubung auch der inneren Haarzellen – gekom- men. Nach Untergang der inneren Haarzellen kann auch der Hörnerv zum Teil zugrunde gehen. Im Sektionsproto- koll steht, dass der Hörnerv deutlich zu dünn gewesen sei, zusammenge- schrumpft und marklos. Wagner und Rokitansky bemühten sich, bei dem hochberühmten Mann, der an einer Taubheit gelitten hatte, das Gehör mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln zu beschreiben. Die Haarzellen

waren noch nicht entdeckt, ein Mikro- skop gab es nicht. Nur das bloße Auge stand zur Verfügung. So ist die Beschrei- bung der zu dünnen Hörnerven Zeichen damaliger größtmöglicher Präzision.

Schwer zu beantworten ist die Frage, warum die Sinneszellen untergingen.

Eine Lues, die man Beethoven später andichtete, war offensichtlich nicht die Ursache. Unwahrscheinlich ist, dass ei- ne Lues einzig und allein das Gehör be- traf und ansonsten völlig folgenlos an seinem Körper vorüberging. Bei der damaligen Häufigkeit der Lues haben die beiden Sektionsärzte sicher nach Zeichen einer Lues gesucht. Die Schä- delverletzung kann auch nicht Ursache des Hörverlustes gewesen sein, denn es fehlt der zeitliche Zusammenhang. Ty- phus scheidet ebenfalls als Ursache aus. Auch hier wird man einen engen

zeitlichen Zusammenhang mit der Er- taubung fordern: Zu dem Zeitpunkt, als der Typhus auftrat, müsste auch die Ertaubung aufgetreten sein. Dies war nicht der Fall. Für eine Altersschwer- hörigkeit ist Beethoven nicht alt genug geworden. Auch eine Bleivergiftung macht nicht schwerhörig: Arbeiter von Bleibergwerken, etwa in Südamerika, leiden zu Tausenden an Bleivergiftun- gen. Schwerhörig sind sie nicht. Man findet Angaben, dass Beethoven an ei- ner Otosklerose, einer Knochenkrank- heit des Ohres, gelitten haben soll. Das

verbesserte Hören mit dem Holzstab am Klavier wird als Indiz aufgefasst.

Allerdings macht eine Otosklerose außerordentlich selten völlig gehörlos.

In 30-jähriger klinischer Tätigkeit hat der Autor eine beidseitige Ertaubung durch Otosklerose noch nicht erlebt.

Auf Fotos von Beethovens Schädel glaubt man eine Knochenverdickung zu sehen, wie sie für eine Pagetsche Krankheit typisch ist. Allerdings ist der von Fotos bekannte Schädel Beet- hovens ein Gipsabdruck, der nach Beethovens Exhumierung im Jahr 1863 angefertigt wurde. Damals war Beetho- vens Schädel in neun Teile zerfallen.

Nachdem diese neun Teile von Alois Wittmann zusammengefügt worden waren, stellte er davon einen Gipsab- druck her. Die beim Gipsabdruck sicht- bare Verdickung kann also auch auf ei-

nen Abdruck- oder Rekonstruktions- fehler zurückgehen.

Die moderne Medizin hätte Beetho- ven zwar nicht heilen – sie hätte ihm je- doch helfen können.Vermutlich hätte er seine Musik noch viele Jahre lang mit modernen Hörgeräten hören können.

Später hätte man ihm möglicherweise ein modernes Hörimplantat operativ ins Mittelohr einpflanzen können. Durch Mikrovibrationen reizt es die inneren Hörsinneszellen, wenn die äußeren zer- stört sind. Nach dem Untergang der in- neren Haarzellen hätte man Beethoven ein Cochlear-Implantat in die Hör- schnecke einsetzen können. Ein Cochle- ar-Implantat wirkt, wenn das gesamte Innenohr einschließlich der inneren Hörsinneszellen nicht mehr funktio- niert, aber der Hörnerv noch intakt ist.

Selbst wenn – wie bei Beethoven der Fall – schließlich die Hörnerven eben- falls betroffen sind, gibt es heute Hilfe, nämlich in Form eines Hirnstammim- plantats. Das Implantat reizt das Gehirn direkt. Der Hörnerv wird nicht ge- braucht. Allerdings funktionieren Cochlear-Implantat und Hirnstamm- Implantat nicht so perfekt wie das nor- male Hörvermögen. Sie ermöglichen je- doch in vielen Fällen eine sprachliche Kommunikation. Einschränkend muss man sagen, dass diese Implantate aus- drücklich nicht dafür konzipiert sind, Musik besonders gut zu hören. Viel- mehr besitzen diese Implantate einen hoch spezialisierten Computer, der vor allem Sprache verarbeitet und diese in ganz bestimmte elektrische Signale zer- legt. Diese werden vom Hörnerven oder dem Gehirn aufgenommen und an das Sprachzentrum weitergegeben.

Beethovens Musik klingt daher mit ei- nem Cochlear- oder Hirnstamm-Im- plantat nicht unbedingt elegant, aber er hätte sie vermutlich hören können.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2762–2766 [Heft 42]

Das Literaturverzeichnis ist über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Hans-Peter Zenner Ärztlicher Direktor

Universitäts-Hals-Nasen-Ohren-Klinik Elfriede-Aulhorn-Straße 5

72076 Tübingen (B) Beethovens Lebendmaske von Franz Klein, 1812 (C) Beethovens Totenmaske

Abbildungen:Beethovenhaus Bonn

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