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Archiv "Vor dem Auftakt strömt eine Symphonie der Arbeit" (26.03.1986)

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Eine Etage tiefer das singende Jungfußvolk mit wiederum einem „Einsatz- leiter", — Würdigungen für sie gibt es bestenfalls am Rande der Kritiken Die Aufnahmen von den Proben zur Passion stammen von Jochen Clauss, Berlin

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Bald Manager, bald Musiker, muß der Dirigent schwebend über dem Ganzen Distanz zum eigenen Werk halten

Eine Minute aus Mauricio Kagels Sankt-Bach- Vor dem

Passion erfordert 300 Arbeitsstunden

Auftakt strömt eine Symphonie der Arbeit

Werner Klüppelholz

„Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein?" Michelangelo bemalte die Sixtinische Kapelle:

Hat der Maler das Gerüst herbei- geschleppt? Wagner errichtete den „Ring": Hatte er nicht we- nigstens einen Beleuchter bei sich? Wohin gingen an dem Abend, wo der „Werther" fertig war, die Drucker? Brechts „Fra- gen eines lesenden Arbeiters", eine ironische Kritik am betag- ten Brauch, allein die Namen der Helden, nicht die der Helfer hi- storisch zu überliefern, sind hier auf die Künste gewendet. In fast allen Epochen bedurften deren Feldherrn kaum minder fremden Beistands. Heute zumal, im Zeit- alter seiner technischen Repro- duzierbarkeit, ist jedes Kunst- werk, ob Buch, ob Bild, ob Sinfo- Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 13 vom 26. März 1986 (75) 899

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Das Puzzle einer modernen Komposition hier als Gruppenbild mit Meister

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Das Heer der Mitarbeiter

nie, das Ergebnis einer weitver- zweigten Arbeitsteilung. Einem Hirn zwar entstammt das Werk, dessen Verwirklichung und Ver- breitung aber in den Händen vie- ler liegt — mögen auch alle Spu- ren der Arbeit getilgt und dem Schein gewichen sein, das wah- re Kunstwerk sei soeben vom Musenhimmel gefallen. Wie ent- steht eigentlich Kunst, was wis- sen wir von ihren Helfern, frönen sie nicht ihrem Hobby im Beruf, könnten die Fragen eines Kunst- liebhabers lauten. Einige Phasen des Prozesses zu zeigen, der das fertige Produkt hervorbringt, ist Zweck dieser Sätze.

Um einen anschaulichen Begriff von Kunst als Arbeit zu geben, habe ich — vor der Literatur, noch vor dem Theater — die Mu- sik als Exempel bevorzugt, ihrer Natur gemäß die am stärksten kollektive Gattung — sofern sie ihren Genius nicht auf ein Solo konzentriert, sondern in reich- haltiger Pracht mehrerer Klang- körper abendfüllend entfaltet.

Gewiß bleiben Gebilde solchen Formates bei meinem Unterfan- gen austauschbar. Zur chronolo- gischen Demonstration der Ar- beit von rund 200 Mitwirkenden auf und 100 jenseits der Bühne, wählte ich das jüngste Beispiel einer großen Besetzung, die im September 1985 in Berlin urauf- geführte „Sankt-Bach-Passion"

von Mauricio Kagel, die ihrer- seits das mühselige Leben Bachs, die Leiden und Leiden- schaften einer Musikerexistenz zu beschreiben sucht.

Am Anfang war der Auftrag. Die 1979 von Ulrich Eckhardt, dem Leiter der Berliner Festwochen, gegebene Anregung, ein Orato- rium zu verfassen, traf offenbar aufs glücklichste eine eigene Idee Kagels zu einem Bach-Ora- torium. Ans Werk, das am 16.

April 1985 vollbracht sein sollte, begab der Komponist sich bald:

Lektüre dreier Folianten mit au- thentischen Bach-Dokumenten, Montage eines Librettos daraus,

musikalische Skizzen, Verferti- gung der Partitur für Soli, zwei Chöre, Knabenchor und großes Orchester, 349 Seiten Umfang.

Als allgemeines Problem erwies sich beim Komponieren die buchstäblich barocke Weit- schweifigkeit der Sprache: „Ich wollte ausschließlich authenti- sche Dokumente und Kantaten- texte benutzen, und bei der er- sten vorläufigen Zusammenstel- lung der Vorlagen stellte ich fest, daß diese Sprache in Satzbau und Wortwahl zwar für unsere Ohren verworren sein mag, doch außerordentlich plastisch ist. Die klangliche Schwierigkeit liegt darin, daß diese oft blumige Sprache mit langen Nebensät-

zen, in Musik gesetzt, völlig un- verständlich wirkt. Dies löste in mir eine leichte innere Ohn- macht aus, weil mir die Fortset- zung des Vorhabens gefährdet erschien. Es war unmöglich, die- se Sprache zu modernisieren — dann hätte ich gleich auf sie ver- zichten können. Aus Gründen der Verständlichkeit, für mich hier und auch sonst eine wesent- liche Voraussetzung von Spra- che, nahm ich Kürzungen vor, die den Duktus etwas aktualisie-

ren, den Satzbau aber archaisie- rend beließen". Unterdessen werden die Interpreten ausge- wählt und engagiert, und die er- sten Teile der Reinschrift treffen im Verlag ein. Notenschreiber fertigen die Orchesterstimmen an, ein Klavierauszug für die Sänger wird hergestellt. Worte, Noten, Pausen, Spielanweisun- gen ergeben durchschnittlich 200 Zeichen pro Partiturseite, mithin ebenso viele Fehlerquel- len, die selbst dreifaches Korrek- turlesen nicht zum Versiegen bringt. Einige Monate vor Be- ginn der Proben geht das Auf- führungsmaterial an 95 Instru- mentalisten der „Jungen deut- schen Philharmonie", an 70 Sän- ger der Chöre des RIAS und des

Südfunks, an 35 Limburger Domsingknaben mit ihren Lei- tern, an die Solisten (die Sänger Anne Sofie von Otter, Hans Peter Blochwitz, Roland Hermann, den Sprecher Peter Roggisch, den Organisten Gerd Zacher, den Cembalisten Erich Paul Richter), an die Korrepetitoren, die Sub- Dirigenten ... ein Schwall von Namen schon jetzt. Daß nur die der Helden aufbewahrt werden, liegt vielleicht am Platzmangel der Geschichtsbücher? — Kein 900 (76) Heft 13 vom 26. März 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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Zwischen Kunst und Organisation

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Das Heer der Mitarbeiter

einziger Ton ist bislang erklun- gen. Die Interpreten studieren ih- ren Part, suchen nach allgemei- nem Verständnis und besonde- ren Schwierigkeiten. Gemeinsa- me Proben sechs Stunden täg- lich beginnen zwölf Tage vor der Uraufführung. Chöre, Solisten, Orchestergruppen wie Kontra- bässe oder Schlagzeuger zu- nächst für sich, später in größe- ren Einheiten wie alle Streicher oder Orchester mit Solisten, schließlich fügen sich die Teile zum vollständigen Ganzen.

Unterm Zwang, die Probenzeit möglichst ökonomisch zu nut- zen, hat sich die spielerische Phantasie eines einzelnen flugs in den strategischen Ernst eines Generalstabs verwandelt. Konzi- diert man, kleinlich bemessen, dem Komponisten (hier zugleich Dirigenten) etwa dreitausend Stunden Arbeitszeit, so ergibt bereits der Aufwand des Orche- sters —95 Musiker spielen, insge- samt, 20 Tage täglich sechs Stunden — die erkleckliche Zahl von 11 400. Die Institutionen wie Verlag, die Büros der Klangkör- per und des übertragenden Rundfunksenders, der Philhar- monie etc. sowie die Zeit der üb- rigen 110 Musiker hinzugenom- men, schnellt die Zahl der Ar- beitsstunden, wie grob gerech- net auch immer, auf rund drei- ßigtausend (die Summe Geldes, unser Thema nicht, ward übri- gens längst sechsstellig). Die Komposition hingegen dauert zirka 100 Minuten. Mit den Au- gen eines industriellen Kalkula- tors betrachtet, entfallen mithin

auf eine Minute Musik solcher Besetzung 300 Arbeitsstunden.

Muß das sein? Es muß. Wie un- endlich langwierig ist zu lernen, ein Tempo immer zu halten, ei- nen Rhythmus genau zu realisie- ren, eine angemessene Lautstär- ke zu finden, den Text exakt zu artikulieren, auf erforderliche Si- gnale zu achten — obgleich die hier Beteiligten keineswegs zu den „untüchtigen und zur music sich gar nicht schickenden Kna- ben" zählen, die Bach anläßlich seiner Aufführungen beklagt, was Kagel zitiert. Probenalltag, Dirigentenworte: Vokal a klingen lassen! — In Takt 108 ist ein Druckfehler — Crescendo! — Die- se Stelle hundert Mal probieren!

muß Kagel Kompromisse herstellen,

— Da schlage ich vier und — die Geigen leben lassen! — Auftakt zu 50 kürzer! — Die Trompete nicht zu viel! — Zu früh! — Mit ganzem Bogen! — Die Trompete etwas weniger! — Nicht schlep- pen! — Wo sind die Kinder? — Nicht schleppen! — Wo ist die Pauke? — Fagotte allein! — Danke schön.

Nicht immer tönt es philharmo- nisch; da wird auch einmal vor Eifer gebrüllt, vor Freude ge- grunzt und zur rechten Akzen- tuierung mit dem Fuß gestampft.

Die Passion der Musik. Nicht nur solche Klänge, vielmehr auch die Tätigkeiten gemahnen, wenn nicht an eine Schmiede, so doch an eine Feinmechanik-Werk- statt; da wird gehobelt, gefeilt, geglättet, poliert. Unterm uner- bittlichen Diktat des Notentextes

manchmal die Richtung wechseln

— dem allein der Autor gelegent- lich durch kleine nachträgliche Änderungen auszuweichen ver- mag — vollzieht sich ein Prozeß permanenter Korrektur, der allen aberwitzige Anstrengungen ab- verlangt. Geht Kunstmusik am Ende wider die menschliche Na- tur, fragt sich der stumme Zeuge nach der neunten Wiederholung derselben fünf Takte? Die Pas- sion der Musik ist ein Dienst an der Differenzierung, eine voll- kommen obsolete Produktions- weise, in der Epoche elektroni- schen Komforts ein Überbleibsel mittelalterlicher Mühseligkeit.

Die Passion ist unabdingbare Voraussetzung jeglicher Kunst.

Ein Rest von Entfremdung bleibt. Kagels Komposition, gleich den meisten anderen die- ses Jahrhunderts, ist kein Bran- denburgisches Konzert, keine Summe in sich gerundeter Ein- zelstimmen, wo jeder seinen ei- genen Part wie das Ganze zu überschauen in der Lage wäre.

Jeder einzelne an diesem Orato- rium Mitwirkende ist lediglich ein Teil eines Teiles, seine Stim- me ein Fragment, die zudem in sich fragmentiert ist, ständig neue Konstellationen in rasch wechselnden Anforderungen präsentiert, deren Addition erst Bedeutung schafft. Gerade ein Orchestermusiker ist hier nicht einem Fließbandwerker ver- gleichbar, der stets am selben Ort die gleichen Schrauben ein- setzt — oder eben einem Spieler von Barockmusik, der aus- schließlich für den Baß zustän- dig ist. Dem dritten Flötisten bei- spielsweise stellt sich zu Beginn Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 13 vom 26. März 1986 (79) 901

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Foto rechts:

Die Ausstellung stieß auf großes Interesse;

Foto unten:

Es sprachen bei der Eröffnung (von rechts) Prof. J. F. Volrad Deneke, Präsi- dent des Bundes- verbandes der Freien Berufe;

Bundespräsident Richard von Weizsäcker; Dr.

Evelyn Weiss (im Vordergrund), stellvertretende Direktorin des Museums Ludwig, Köln

Fotos: Querbach, Wesseling

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

FEUILLETON

der dritten Nummer folgende Aufgabe: eineinhalb Takte Pau- se; zwei Töne; eindreiviertel Tak- te Pause; einen Ton; zwei Takte Pause; einen Ton; neun Takte Pause; einen Ton usw...

Was der Flötist produziert, selbstredend beseelt im Ton und präzise im Zeitpunkt, wird mal hier, mal dort benötigt in der rie- sigen Maschinerie, deren Funk- tion ihm insgesamt undurchsich- tig bleibt. Ist's anders im „Le- ben"? Da eine Schallplatte des Werkes oder eine allgemein ver- fügbare Partitur den Musikern der Uraufführung zur Orientie- rung notwendigerweise fehlte, blieben allein die wenigen Au- genblicke, die zumindest eini- gen erlaubten, sich von der Büh- ne in den Saal zu stehlen, um die Klangtotale aus der Distanz wahrzunehmen, die Bedingung jedweden Verstehens ist.

Während solcher Beobachtun- gen, und nachdem der Unmut über die Verweigerung der Teil- nahme von fünf Choristen abge- klungen, der Herpes simplex auf den Lippen dreier Bläser geheilt und bei der Generalprobe zuletzt noch das rechtzeitige Aufstehen und Niedersetzen der Chöre ge- klärt wurde, geht die Urauffüh- rung von Kagels „Sankt-Bach- Passion" über die Bühne der na- hezu gefüllten Philharmonie.

Das Publikum applaudiert vier Vorhänge; die Musikkritik quali- fiziert sämtliche Sänger und Spieler mit bestenfalls einem Ad- jektiv (zum Beispiel „kompe- tent"); insgesamt hatten rund 5000 Menschen Gelegenheit, die Früchte der Passion im Konzert- saal zu kosten, da drei weitere Aufführungen (mit diesen Musi- kern) andernorts unmittelbar folgten; eine Wiederaufnahme des Stückes bleibt, nach jahr- zehntelangen Erfahrungen, un- gewiß. Also geschehen nicht nur im Jahr der Musik 1985.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Werner Klüppelholz Nußbaumerstraße 43, 5 Köln 30

Die Heilkraft der Kunst

in Lebenskrisen

In mindestens zwölf Städten der Bundesrepublik wird die Ausstel- lung „Der andere Blick", die Anfang März in Bad Godesberg startete, noch zu sehen sein. Sie demon- striert mit den Werken von 24 Künst- lern die psychisch heilenden Ein- flüsse, die zeitgenössische Kunst auszuüben vermag, wenn sie Patien- ten im Krankenhaus oder auch in

Arztpraxen umgibt. Besondere Er- fahrungen damit hat einer der Initia- toren, Prof. Dr. Gerhard Heinrich Ott, Ev. Waldkrankenhaus, Bad Go- desberg: „Der Kranke ist ebenso wie für Ton und Licht auch für Farbe, Form, Rhythmus und Erzählung be- sonders sensibilisiert." Die Ausstel- lung wird vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft geför- dert. Träger sind AOK, BfG, Bundes- verband der Freien Berufe sowie

Deutsche Apotheker- und Ärzte- bank. Der begleitende Katalog mit Aussagen der Künstler und wissen- schaftlichen Beiträgen zum Thema

„Heilungswirkung der Kunst heute"

ist auch als Buchausgabe im Du- Mont Verlag, Köln, erschienen. rom

902 (80) Heft 13 vom 26. März 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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