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Archiv "Konventionelles oder alternatives Sitzen?: 1 Dynamisches Sitzen" (15.07.1991)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Konventionelles oder alternatives Sitzen?

1 Dynamisches Sitzen

Nachdem wir heute zwei Drittel unseres Lebens versitzen, ist es schon notwendig, um das Wie und Worauf, über das richitge und fal- sche, über konventionelles und alter- natives Sitzen zu streiten. Wir wis- sen, daß Bewegungsreize zur Erhal- tung des Knochens, der Sehnen, Muskeln und Gelenke, der inneren Organe, lebensnotwendig sind. Da- mit ist schon gesagt, daß das ständige Sitzen an sich ungesund sein muß.

Sitzt man noch falsch — nicht rücken- gerecht —, so sind Sitzschäden, Sitz- krankheiten vorprogrammiert: Nak- ken-, Rücken- und Kreuzschmerzen (Venenstau, Hämorrhoiden, Ver- dauungsstörungen, Herz- Kreislauf- störungen, Mangeldurchblutungen des Gehirns u. a.).

Den idealen Stuhl wird es wohl nie geben, wenngleich man sich auf breiter Ebene bemüht, Sitzmöbel nach ergonomischen Gesichtspunk- ten zu konstruieren. Mit allen Raffi- nessen ausgestattete „Bandscheiben- stühle" werden heute schon fürs Bü- ro angeboten, eine individuelle An- passung sowie eine Einweisung, das Sitzgerät richtig zu benutzen, wird zumeist jedoch nicht gegeben. Man kann auch auf dem besten Stuhl falsch sitzen.

Prof. Berquet behauptet: „Heu- te gibt es in Deutschland gute Schul- möbel, die den Forderungen der Or- thopädie entsprechen, insbesondere, wenn sie nach der von uns angeführ- ten Norm (DIN Iso 5970) gefertigt werden". Diese Feststellung ent- spricht eher einem Wunschdenken als der Realität. In der Wirklichkeit kümmern sich weder Schulleitung, Lehrer noch Hausmeister um die körpergerechte Anpassung der Schulmöbel. Die Folgeschäden, mit denen die Schüler die Schule verlas- sen, weisen eher darauf hin, daß sich die Schüler den unmöglichen Mö- beln angepaßt haben. Bei allem gu- ten Willen, wie sollte eine korrekte

Zu dem Beitrag von Prof. Dr. med.

Karl-Hans Berquet in Heft 3/1991

Anpassung auch praktisch durch- führbar sein? Jede einzelne Schu- le müßte dabei ein eigenes Möbel- transportunternehmen beschäftigen, denn ein einzelner Hausmeister ist maßlos überfordert, selbst wenn ihm der Lehrer oder Schulleiter beim Bänkeschieben helfen sollte. Beim schnell wachsenden Jugendlichen müßte unter Umständen jedes halbe Jahr der Stuhl und der Tisch gewech- selt werden. Beim Kauf der Schul- möbel spielt der Preis eine wesent- lich größere Rolle als die Qualität oder die Ergonomie. Eine hochpo- lierte Sitzfläche ist für die hygieni- schen Anforderungen weit sinnvoller als ein rutschfester, damit haltungssi- chernder Sitzbezug. Ein höhenver- stellbarer Stuhl läßt sich eben we- sentlich schlechter stapeln als die an- gebotenen starren Holzstühle. Nach- dem die Schüler sich zumeist nicht für die Ordnung im Klassenzim- mer verantwortlich fühlen, darf es den Raumpflegerinnen nicht allzu schwer gemacht werden — rein ge- wichtsmäßig —, die vielen Stühle auf die Tische und nach dem Putzen wie- der auf den Boden zu stellen. Im Vergleich zu den Büromöbeln schei- nen bei den Schulmöbeln ganz ande- re ergonomische Richtlinien zu gel- ten.

Der Schülerrücken hat nicht die Lobby, die den Rücken des Büroan- gestellten stützt. Die von Prof. Ber- quet aufgeführten Wissenschaftler (Anthropologen, Arbeitsmediziner, Orthopäden) haben selbst bei der Kreation sogenannter dynamischer Bürostühle mitgewirkt, bei der Durchsetzung dynamischer Schul- stühle verweigern sie ihm anschei- nend jegliche Unterstützung. Wenn man 30 Jahre mit seinen Gedanken allein gelassen wird, ist man zwar mit seinen Gedanken einig und versucht, diese Gedanken europaweit erfolg- reich durchzuboxen. Wird diese Ge- dankenwelt dann, was irgendwann zwangsläufig kommen muß, irritiert, so wird eine gewaltige Abwehr- schlacht entfacht. Als interessierter Beobachter weiß man schließlich nicht mehr so richtig, geht es hierbei um Marktanteile oder schlicht ein- fach um Rechthaberei? Der Bann- strahl des einen „Sitzpapstes" trifft einen anderen „Sitzpapst". Es wer- den dann mit unglaublicher Akribie Schwachstellen des anderen ausfin- dig gemacht, bildliche Beweise schlagkräftig herausgestellt.

Die Stühle des Dänen Dr. Man- dal entsprechen der deutschen Norm nicht. Stühle und Tische sind höher als bei uns. In einem vorhergehen- den Ärzteblatt wurde auf der Titel- seite die von dem deutschen Profes- sor Rettig geschaffene Schulbank von Berquet als die ideale Schulbank dargestellt. Das praktisch identische Schulmöbel, jetzt aus Dänemark, wird als Erfindung „des Bösen" dar- gestellt. Bei den Abbildungen 7 a und 7 b handelt es sich um unglück- lich getroffene Momentaufnahmen, denn für die vordere Sitzhaltung ist auf dem Mandal-Stuhl die Schrägflä- che als „Sitzfläche" vorgesehen, so daß hierdurch eine Beckenaufrich- tung und physiologische Wirbelsäu- lenkrümmungen ohne Kopfneigung induziert werden sollen. Wenn ich die Momentaufnahme Abbildung 6 b dagegen halte (Angebot Prof. Ber- quet), so sehe ich hier ebenso einen krummen bucklig sitzenden jungen Mann, dessen Rücken absolut nicht dem Ideal entspricht.

Das gleiche Spielchen wird ge- trieben bei Abbildung 10, Zitat Prof.

Berquet: „Wie das aus einem Rekla- A-2492 (60) Dt. Ärztebl. 88, Heft 28/29, 15. Juli 1991

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mekatalog entnommene Bild zeigt, ist die Benutzung der Rückenlehne beim Schreiben praktisch unmöglich;

die Kniegelenke tragen die Last. Die in Norwegen entwickelten Sitzmöbel entsprechen der deutschen Sitznorm nicht, obwohl man gut darauf sitzt."

Dieser von der Firma Stokke vertrie- bene Sitz mit dem Namen Oposit bietet tatsächlich die Möglichkeit, seine Knie auf zwei Kniestützen zeit- weise abzustützen. Die Abbildung stellt eine Momentaufnahme dar. Im nächsten Moment kann der in der vorderen Sitzposition sitzende Büro- angestellte auch ein Bein oder beide Beine abstellen und dann wie auf ei- nem Hocker sitzen, er kann auch, wenn er sich müde fühlt, seinen Hin- tern nach hinten schieben, sich nach rückwärts lehnen und sich zeitweise von der angebotenen Lenden-Kreuz- Stütze verwöhnen und entlasten las- sen. Damit das möglich ist, ist der Stuhl nicht starr gebaut, sondern kann auf den runden Kufen nach hinten pendeln.

Die Sitzwissenschaftler sind sich, so bin ich informiert, darin ei- nig, daß dynamisches Sitzen das Sit- zen der Zukunft sein wird, weil es

„gesund" ist. Ein Sitzgefühl, auf dem man seine Position dauernd wech- seln kann, ist doch das, was gesucht wird. Um so weniger verstehe ich die Argumentation von Prof. Berquet.

Flexibel sitzen setzt voraus, daß man auch flexibel denkt. Leute, die sich einen solchen Stuhl kaufen, haben sich sicherlich vor dem Stuhlkauf ei- niges zum Thema Sitzen überlegt.

Ich denke, daß der mit dem richtigen Sitzbewußtsein Ausgestattete nach der Sitzschule seinen Sitz richtig be- sitzt. Ich stimme Herrn Prof. Ber- quet aber darin zu, daß in Denk- und Verhaltensweise genormte Men- schen auf einem solchen Sitzgerät keinen Platz haben. Ideologisch fest- gefahrene Stuhlbesitzer werden das von der Schule her übernommene Sitzbewußtsein ins Büro mit über- nehmen und dort in vorderer, mittle- rer und hinterer Sitzhaltung einra- sten und rosten — leider zu Kosten der Beitragszahler der Krankenkas- sen. Meine persönliche Meinung:

Ein beweglicher Stuhl, zum Bei- spiel ein Balansstuhl, ist das erste Trainingsgerät, das sie für Ihre

„Turnhalle" Büro mit gutem Gewis- sen anschaffen können.

Dr. med. Bernd Reinhardt Arzt für Orthopädie Sportmedizin —

Badearzt — Chirotherapie Rosenheimer Straße 53 W-8202 Bad Aibling

Mehrere dänische Untersuchun- gen haben gezeigt, daß 55 bis 60 Pro- zent von 16jährigen Schülern an Rückenschmerzen leiden. Die Schü- ler meinen selbst, daß dieses von schlechten ISO-Norm-Schulmöbeln verursacht ist. Besonders die vorge- neigte Schreib- und Lesestellung ist ein Problem, weil die Schüler mehre- re Stunden jeden Tag gezwungen sind, mit total kyphotischem Rücken zu sitzen. Professor Berquet schrieb, daß auch eine gemäße Kyphose „auf die Dauer absolut schädigend ist"

(1985). Während der letzten 50 Jah- re ist die durchschnittliche Größe von Schülern fast 10 cm höher ge- worden. Im gleichen Zeitraum ist die Tischhöhe 10 bis 20 cm niedriger ge- worden. Die Kinder werden dadurch gezwungen, die Rücken viel mehr zu beugen, um die Augen in einen opti- malen Abstand (20 bis 40 cm) zu den Büchern zu bringen.

Die Höhe von deutschen Schul- möbeln ist in DIN-Normen festge- legt. In 1979 wurden die DIN-Nor- men auch als Internationale Normen

— ISO — akzeptiert. Professor Ber- quet ist verantwortlich für diese Nor- men und damit auch für die Gestal- tung der Schulmöbel und Arbeitstel- lungen der Schüler in einem großen Teil der Welt. Berquet hat selbst ei- ne Multimoment-Foto-Untersuchung mit Zwei-Minuten-Intervall von der Schreibstellung eines jungen Schü- lers auf genau angepaßten ISO- Schulmöbeln publiziert (1971, 1989).

Das Kind sitzt aber die ganze Zeit mit Totalkyphose, und die Beckensi- cherung hat natürlich überhaupt kei- nen Einfluß bei der Arbeit in vor- geneigter Haltung. Auch auf allen anderen Fotos von Schülern bei Schreib- und Lesearbeit, die Berquet

publiziert hat, sitzen alle mit Total- kyphosen. Trotz seiner Verantwort- lichkeit für die sehr niedrigen ISO- Normen behauptet er auch, daß die alte Rettig-Bank gerade ideal war.

„Mir persönlich wäre es am liebsten, wir hätten die Rettig-Bank wieder.

Dann hätten wir sehr viel weniger Probleme" (1989). Berquet schreibt auch: „Praktisch kehrt er (Mandal) damit zur Anpassung der alten Ret- tig-Bank zurück." (1991)! Die Ret- tig-Bank war aber um 20 cm höher als die ISO-Möbel. Er stellt auch fest: „Beim Schreiben sollte der Sitz nach vorne geneigt sein" (1991). Es gibt keine wissenschaftliche Grund- lage für die ISO-Normen, und alle seine Behauptungen sind durchaus widersprüchlich.

Alle Kinder wissen aber, daß man viel bequemer über dem Tisch arbeitet, wenn man auf den vorderen Beinen des Stuhls wippt. Mit unge- fähr 30° Neigung der Oberschenkel kann man mit der maximal mögli- chen Hüftgelenk-Flexion von 60° mit einem geraden Rücken schreiben und lesen. Deshalb haben wir seit 1967 Schul- und Bürostühlen mit nach vorn und zurück wippenden Sitzen in Dänemark verwendet. Be- sonders die Leute mit Rücken- schmerzen verstehen augenblicklich, daß es viel bequemer ist.

Um genügend Vorwärtsneigung der Oberschenkel zu erzielen, muß man viel höhere Möbel verwenden.

Deshalb haben wir in Dänemark und Schweden seit vielen Jahren unge- fähr 20 cm höhere Schulmöbel vor- gezogen. Der Sitz und die Tischplat- te sind um 10 bis 17 Grad gegenein- ander geneigt. Die Schüler sitzen au- tomatisch mit einer viel mehr auf- rechten Haltung, und bei 90 Prozent sind die Rückenschmerzen vermin- dert. Mit Reibungslack vermeidet man leicht ein Abrutschen. Die neueren Modelle sind ganz einfach und preiswert. Diese Möbel sind schon jetzt so erfolgreich geworden, daß viele Gemeinden in Dänemark und Schweden versuchen, möglichst schnell alle alten ISO-Schulmöbel gegen die neuen viel höheren Möbel auszutauschen. Die Vereinigung von Dänischen Schulärzten und Schwe- dischen Schullehrern fördern jetzt höhere Schulmöbel und haben beide

111 2 Widersprüchliche Behauptungen

A-2494 (62) Dt. Ärztebl. 88, Heft 28/29, 15. Juli 1991

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