• Keine Ergebnisse gefunden

10 Vorwort. Grażyna Kwiecińska, Karol Sauerland

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "10 Vorwort. Grażyna Kwiecińska, Karol Sauerland"

Copied!
9
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)
(2)

Vorwort

Man fragt sich, was „Dialektik des Geheimnisses“ heißen mag. Geheimnisse können enthüllt werden, was nicht unbedingt gelingen muss. Es gibt aber auch offene Geheimnisse, die im Grunde genommen keine Geheimnisse sind, aber als solche aufgefasst werden, weil über sie hinter vorgehaltener Hand gesprochen werden soll. Schließlich gibt es Geheimnisse, die es bleiben, über die man nur Vermutungen anstellen kann. Adelung nennt das „Geheimnis der Dreyeinigkeit.

Das Geheimnis der Menschwerdung Christi“. Auch die „Verbindung der Seele mit dem Leibe“ gehören nach seiner Ansicht „zu den Geheimnissen der Natur“.1 Doch hier geht es um die Dichtung – um die Dunkelheit der Dichtung, von der festzustellen ist, dass sie zur Gegenwart hin immer weiter um sich greift und uns auf die Spuren der hermetischen Literatur führt, wenn auch einer besonderen Version der Hermetik. Es ist eine Hermetik, die sich nicht in gewöhnlicher Kommunikationsverweigerung erschöpft, sondern – mit Adorno und im Lichte seiner Überlegungen zu einem Schreiben nach ‚Auschwitz’ gesprochen – dialek- tisch verfasst ist: ihr Schweigen soll als ein Zeichen, ja darüber hinaus als eine öffentliche Bekundung im weitesten Sinne verstanden werden.

Der Einsatzpunkt dieses Bandes liegt in der Mitte des 18. Jahrhunderts, man könnte wohl sagen in der Goethe-Zeit, drei von den fünfzehn Beiträgen sind Goethe gewidmet, in zwei steht Novalis im Mittelpunkt. Von da aus wird ein Bogen bis ins 21. Jahrhundert geschlagen, bis zu Yoko Tawadas Kommentar zu der japanischen Celanübersetzung und der Holocaustliteratur der ‚dritten Gene- ration’ (Thomas Lehr). Das behandelte Textfeld reicht dabei weit über die klas- sische literarische Sphäre hinaus und dehnt sich über Lyrik, Schauspiel, Romane auf politische Programme und kulturphilosophische Entwürfe aus. Dementspre- chend facettenreich gestalten sich die Beiträge in methodologischer Hinsicht über die Ideen- und Diskursgeschichte, bis hin zur Textrhetorik, Intertextualität und Intermedialität.

1 Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der | Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeut- schen, von Johann Adelung, Churfürstl. Sächs. Hofrathe und Ober-Bibliothekar. Zweyter Theil, von F – L. Mit Röm. Kais., auch K.K. u. Erzh. Oesterr. gnädigsten Privilegio | über gesammte Erblande, Leizpig 1796, Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und Com- pagnie, 1796, S. 493.

(3)

8 Vorwort

Was die Erfassung des Gegenstandes betrifft, so ist die Frage nach der spezi- fischen Vorstellung, die sich aus den wechselnden geschichtlichen Zusammen- hängen ergibt, in allen Beiträgen ins Visier genommen worden. Einen über die Epoche der behandelten Texte hinausweisenden Charakter haben die Beiträge von Marianne Schuller, Heinz Hillmann, Karol Sauerland und Leonhard Fuest.

Gleich im ersten Beitrag scheint Marianne Schuller eine Erklärung zu ge- ben, was Dialektik des Geheimnisses bedeuten könnte. Sie beginnt mit der Dar- stellung der Krypta, eines offenen Raums in einem geschlossenen – also einem architektonischen Modell, das sie zum Sinnbild der Geheimnisstiftenden Aus- grenzung erklärt und veranschaulicht ihre Konzeption am Beispiel der Türhüter- Legende von Franz Kafka.

Heinz Hillmann geht dagegen im Vorspann zu seinem Beitrag „Über Gott reden – in Mythos, Poesie und Religion“ auf die Geheimniserörterungen von Niclas Luhmann und Georg Simmel ein. Luhmann erörtert in dem Kapitel „Die Geheimnisse der Religion und Moral“ seines Buches Die Gesellschaft der Ge- sellschaft, wie Religion bestimmt und vor allem vor Angriffen verteidigt werden könne. Das Religiöse ist das Unbezeigbare, in ihm ist Gott das Unzulängliche, das wie ein Geheimnis geschützt werden muss. Simmel erörtert dagegen Ge- heimnis in einem weiteren Kontext. Für ihn ist das Geheimnis etwas gesell- schaftlich Relevantes. Gesellschaft ist gleichsam ohne Geheimnis nicht möglich.

„Es charakterisiert jedes Verhältnis zwischen zwei Menschen oder zwei Grup- pen, ob und wie viel Geheimnis zwischen ihnen ist“, wobei es eine produktive Dynamik zwischen dem Schutz des Geheimnisses und seiner Offenbarung gibt.

Man könnte hier von einer Dialektik des Öffnens und Verschließens sprechen, ähnlich wie beim Krypta-Gleichnis.

Doch wie steht es um Gott als Geheimnis, als einem, der sich verbirgt und doch erkannt werden will. In der Bibel gelingt es ihm „zugleich gesehen und nicht gesehen zu werden, zu glänzen und zu leuchten und Moses doch nicht zu verbrennen und zu vernichten“. Aber auch Dichter und Denker spielen mit dem Verbergen, dem Verborgen sein und der Sichtbarkeit, dem Sich-Zeigen, sei es ein Rilke, sei es Meister Eckhart. Gleichzeitig schaffen sie mit ihren Bildern und Visionen eine gesonderte Geheimnisgesellschaft, um mit Simmel zu sprechen.

Manche mögen es eine „Diskursgemeinschaft“ nennen, die in sich abgeschlos- sen ist, wenngleich offen für jeden.

Im modernen politischen Leben duldet die Öffentlichkeit keine Geheimnis- se. Dass man dem „Volk“ etwas vorenthält, wird als verwerflich erachtet. Kabi- nettspolitik gilt als hinterlistige Machtaneignung. Ein Goethe sah dies anders,

(4)

Vorwort 9

wie Karol Sauerland zeigt. Aber bereits damals gab es in Deutschland andere Stimmen. So reflektierte Friedrich Schlegel darüber, wie man gemeinsam über das Zusammenleben entscheiden könne. Aber allein absolute Offenheit hält die Menschen nicht zusammen, dazu muss, wie Novalis einzuwerfen scheint, noch eine geheime Macht hinzukommen: unsichtbare Kräfte, „religio“ im Sinne des Bindenden. Schlegels Reflexionen veranlassen Sauerland dazu Parallelen zu der polnischen Solidarność-Bewegung zu entwickeln.

Bernd Hamacher erklärt in seinem Beitrag Goethes „Poetik des Geheimnis- ses“ und verweist auf dessen Begriff des „offenbaren Geheimnisses“, welcher genau das zum Ausdruck bringt, was in diesem Band mit Dialektik des Geheim- nisses bezeichnet wurde – es gibt Geheimnisse, die eine Offenbarung darstellen, wenn man sich ihnen nur stellt, sie zu lesen versteht.

Hamacher führt hierzu den Begriff des „Offenbarungsaugenblicks“ an. Und zu Recht zitiert er Goethes Gedicht aus dem West-östlichen Divan, das auch hier wiedergegeben sei:

Offenbar Geheimnis Sie haben dich, heiliger Hafis, Die mystische Zunge genannt Und haben, die Wortgelehrten, Den Wert des Worts nicht erkannt.

Mystisch heißest du ihnen, Weil sie Närrisches bei dir denken Und ihren unlautern Wein In deinem Namen verschenken.

Du aber bist mystisch rein, Weil sie dich nicht verstehn,

Der du, ohne fromm zu sein, selig bist!

Das wollen sie dir nicht zugestehn.

Im Kontext des Geheimnisses erweist sich der Schleier als eine äußerst produk- tive Metapher, das Lüften eines Schleiers wird mit der Entdeckung eines Ge- heimnisses assoziiert. Den Schleiertexten von Novalis (Der Lehrling zu Sais), Schiller (Das verschleierte Bildnis von Sais) sowie Ann Radcliffes Gothic Novel (The Mysteries of Udolpho) wendet sich Anne-Rose Meyer zu. Julia Boog ent- deckt noch ein anderes Schleier-Phänomen, das in dem Schaffen von Yoko Ta- wada zu verfolgen ist. Sie spricht von dem Entschleiern (der Neuentdeckung) der Sprache während des Übersetzens von Celans Gedichten ins Japanische. Sie prägt dafür den Begriff des „Hinüberdunkelns“. Über Paul Celan schreiben auch

(5)

10 Vorwort

Andrzej Kopacki und Paweł Piszczatowski. Kopacki verfolgt in seinem Beitrag ein geheimnisvolles Gespräch zwischen Brecht und Celan, während Pis- zczatowski der Materialisierung der Begegnung zwischen dem Ich im Dialog mit dem zum Du Gewordenen im Geheimnis auf den Grund geht.

Diesem Band liegt ein Projekt zugrunde, das im Rahmen der schon Jahr- zehnte währenden Zusammenarbeit germanistischer Literaturwissenschaftler der Universitäten Hamburg und Warschau gemeinsam entworfen wurde. Alle Bei- träge sind von wissenschaftlichen Mitarbeitern beider Universitäten verfasst worden. Vermerkt sei am Rande, dass schon mehrere gemeinsame Publikationen aus dieser Kooperation hervorgegangen sind.2 Es sei gehofft, dass mit dem Band auf ein Phänomen hingewiesen wird, welches trotz des allgegenwärtigen Inter- nets, das uns verspricht, alle Geheimnisse Preis zu geben, es dennoch ‚Regio- nen’ gibt, von denen wir einzig glauben, dass sie uns ihr Geheimnis gelüftet ha- ben.

Warschau, 2013 Grażyna Kwiecińska, Karol Sauerland

2 Z.B. Wege der Lyrik in die Moderne, hrsg. von Gunter Martens, Würzburg: Königshau- sen&Neumann 2003, 184 S.; Bilder des Ostens in der deutschen Literatur, hrsg. von Ul- rich Wergin und Karol Sauerland, Würzburg: Königshausen&Neumann 2009, 273 S.

(6)

Die Krypta – eine Geheimnis-Figur

Marianne Schuller

Die Krypta ist der Name für ein architektonisches als Gebilde. Eine Krypta, ab- geleitet von griechisch ‚kryptos’ verborgen, geheim, ist ein christlichen Kirchen integrierter Raum, der sich unterhalb der Apsis befindet. Er beherbergt in der Regel Sarkophage, also dem Einblick sich verschließende Grabarchitekturen, aber auch Altäre. Vor allem aber zeichnet sich die Krypta dadurch aus, dass sie im Raum der Kirche einbegriffen ist und als dieser einbegriffene Raum zugleich ausgeschlossen ist. Die Krypta ist ein verborgener, geheimer Ort in dem Maße als sie ein im Innern eingeschlossener und zugleich ausgeschlossener Raum ist:

ein im Innern des Innen ein- und ausgeschlossenes Außen1.

Diese einer Enklave ähnelnde Figur taucht in einem anderen Zusammen- hang wieder auf: als orientierendes Muster einer metapsychologisch ausgerichte- ten Konstruktion, die in Auseinandersetzung mit Sigmund Freud der Frage der Subjektstruktur nachgeht. Es waren die französischen Psychoanalytiker Nicolas Abraham und Maria Torok, die in ihrer Studie Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfmanns2die Figur der Krypta im Sinne eines im Innern des Subjekts ein- und ausgeschlossenen Raumes aufgenommen und verwendet haben. Diese Stu- die hat Jacques Derrida verallgemeinernd fortgeschrieben, indem er die Krypta als eine Figur ausweist, die auch im philosophischen Prozessieren am Werke ist.

Folgt man diesen verschlungenen Wegen so beginnt sich die Frage nach dem Geheimnis weniger zu lüften als vielmehr zu konturieren.

Ihren Ausgangspunkt nimmt die Kryptonymie von einer Relektüre des Tex- tes Trauer und Melancholie von Sigmund Freud aus dem Jahr1917. Freud sucht nicht nur nach den Gründen, die den Menschen angesichts eines Verlustes in den Zustand der Trauer versetzen sondern er befragt den ebenso merkwürdigen Umstand, dass die Trauer wieder beendet werden kann. Vollzieht sich die Been- digung der Trauer im Modus der ‚Trauerarbeit’ so zeichnet sich die Melancholie

1 Paraphrasierte Sequenz aus Jacques Derrida: FORS, in: Nicolas Abraham / Maria Torok, Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns. Aus dem Französischen von Werner Ha- macher, Basel: Urs Engler Edition 2008, hier S. 10. – Geläufig ist auch der Terminus

„Kryptographie“ für Geheimschrift.

2 Ebd.

(7)

12 Marianne Schuller

demgegenüber dadurch aus, dass sie niemals an ein Ende kommt. Sie verhält sich wie eine offene Wunde, die sich nicht schließt.3

Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an die Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw. Unter den nämlichen Einwirkungen zeigt sich bei manchen Personen, die wir darum unter den Verdacht einer krankhaften Disposition setzen, an der Stelle der Trauer eine Melan- cholie.4

Die Trauerarbeit besteht darin, das unwiederbringlich verlorene geliebte Objekt durch ein anderes zu ersetzen.

Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet? Ich glaube, dass es nichts Ge- zwungenes enthalten wird, sie in folgender Weise darzustellen: Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erlässt nun die Aufforde- rung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben, – es ist allgemein zu beobachten, dass der Mensch eine Libidoposition nicht gern verläßt, selbst dann nicht, wenn ihm Ersatz be- reits winkt. Das Normale ist, dass der Respekt vor der Realität den Sieg behält.5

Ist dieser Prozess der Ersetzung konfliktreich, so wird er doch in der Regel mit Erfolg durchgeführt: „Tatsächlich wird aber das Ich nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt.“6 Und noch deutlicher um nicht zu sagen drastischer heißt es an anderer Stelle:

Wie die Trauer das Ich dazu bewegt, auf das Objekt zu verzichten, indem es das Ob- jekt für tot erklärt und dem Ich die Prämie des am Leben Bleibens bietet, so lockert jeder einzelne Ambivalenzkonflikt die Fixierung der Libido an das Objekt, indem es dieses entwertet, herabsetzt, gleichsam auch erschlägt.7

Die Melancholie hingegen folgt dieser Ersetzungslogik nicht. Wie der Melan- choliker nicht weiß, was er verloren hat, so ist ihm nicht möglich, in einen Trau- erprozess einzutreten, der, da das verlorene Objekt kenntlich ist, mit dem Ersatz eines neuen Objektes sein Ende finden kann. Der Melancholiker, so Freud, weiß zwar, wen, aber nicht was er an ihm verloren hat.8

3 Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt am Main: Fischer-Verlag 1973, S. 427–446, hier: S. 446.

4 Ebd., S. 429.

5 Ebd., S. 430.

6 Ebd.

7 Ebd., S. 445.

8 „[M]an kann nicht deutlich erkennen, was verloren wurde, und darf um so eher anneh- men, daß auch der Kranke nicht bewusst erfassen kann, was er verloren hat. [...] so wür-

(8)

Die Krypta – eine Geheimnis-Figur 13

Der in der Trauerarbeit vollzogene Ersetzungsvorgang erfolgt in einer Pro- zedur, die Freud als ‚Introjektion’ beschreibt. Danach wird das an die Stelle des verlorenen Objekt tretende Objekt symbolisch ins Ich eingeführt oder ‚verinner- licht’, mit dem Ergebnis dass es vom Ich angeeignet wird. Die Introjektion re- sümiert den Prozess der Aneignung des Anderen; sie ergeht gemäß dem Identi- tätsgesetz.9 Danach steht die Ersetzungsökonomie dafür ein, dass der Verlust, dessen absolute Form der Tod ist, qua Ersetzung zur Ruhe kommt. Die Trauer- arbeit als Ersetzungsarbeit eines Verlustes, eines Fehlens legt noch einmal sym- bolisch zur Ruhe was schon ruht. Das hat Auswirkungen auf den Bestand, auf den Erhalt des Subjekts sowie der Kultur mit ihren symbolischen Ordnungssys- temen und ihren gesellschaftlichen Institutionen. Sie werden qua Ersetzungs- ökonomie restituiert und somit im Zeichen von Identität und Haltbarkeit auf Dauer gestellt.

Die Introjektion in diesem das Ich – es wird wieder frei und ungehemmt – und die symbolische Ordnung restituierenden Sinn gelingt in der Melancholie nicht. An die Stelle der Introjektion tritt ein anderer Vorgang, den Freud als

‚Einverleibung’ namhaft macht: Die Melancholie nimmt den Verlust nicht an, sondern nimmt ihn in sich hinein. So heißt es bei Freud: „Es [das Ich in der Me- lancholie] möchte sich dieses [verlorene] Objekt einverleiben, und zwar der ora- len oder kannibalischen Phase der Libidoentwicklung entsprechend auf dem Wege des Fressens.“10 Während die Trauer die Beziehung zum Toten zu erhal- ten oder – was auf das Gleiche hinausläuft – den Verlust zu kompensieren sucht, entsteht Melancholie, wenn der Introjektionsprozess blockiert wird. Der Melan- choliker nimmt den Verlust nicht einfach hin, sondern er nimmt ihn – phantas- matisch, qua Inkorporation – als ein Fremdes, Anderes, Unverdauliches in sich auf.11 Er hütet ihn.

Genau an dieser Stelle nun setzt das Denken der ‚Krypta’ durch Abraham / Torok ein. Dieses Denken verleiht der Melancholie einen eigenen, von der Trauer kategorial unterschiedenen Status, indem zwischen Introjektion und In-

de uns nahe gelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewußtsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, im Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verluste unbewußt ist.“ Sigmund Freud: Trauer und Melancholie (wie Anm. 3), S. 431.

9 Vgl. hierzu grundsätzlich Ulrike Dünkelsbühler: Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon- Versionen nach Kant und Derrida. München: Wilhelm Fink Verlag 1991, bes. das Kapi- tel „Übersetzungsarbeit als Trauerarbeit“, S. 89–110.

10 Sigmund Freud: Trauer und Melancholie (wie Anm. 3), S. 436.

11 Vgl. hierzu grundsätzlich Laurence Rickels, Der unbetrauerbare Tod. Mit einem Nach- wort von Friedrich Kittler, Wien: Passagen-Verlag 1989; hier bes. S. 23.

(9)

14 Marianne Schuller

korporation eine methodische Trennung eingeführt wird. Der Rückfall in die Einverleibung, die als Regression auf die orale Phase beschreibbar ist, wird nicht, wie bei Freud als missglückte Introjektion aufgefasst, sondern erscheint als ein Prozess, der fällig ist, wenn die Introjektion versagt: Was als verlorenes Objekt – es geht immer um Verlust als das, was unser Leben und das Leben der Kultur bewegt – der Introjektion nicht zugänglich, nicht qua symbolischer Er- setzungsoperationen assimilierbar ist, wird nach Torok / Abraham phantasma- tisch inkorporiert. Durch diesen Prozess, der das Objekt als unverdaulichen Fremdkörper aufnimmt, bildet sich im Subjekt eine Enklave oder Höhlung, ein Grabraum, eine Krypta. Es ist ein dem Ich eingeschlossener und, sofern es dem Ich nicht zugänglich ist, ein dem Ich zugleich fremder, ausgeschlossener Ort: ein Geheimnis.

Das inkorporierte Objekt, an Ort und Stelle des verlorenen Objekts, wird für immer (durch seine Existenz ebenso wie durch inhaltliche Anspielung) an etwas anderes Verlorenes gemahnen: an ein Begehren, das von der Verdrängung in Bann geschla- gen wurde. Als ein Monument zum Gedenken markiert das inkorporierte Objekt das, was von der Introjektion ausgeschlossen und verbannt wurde: ebenso viele Grabstät- ten im Leben des Ich.12

Die Inkorporation, wie sie Torok und Abraham beschreiben, steht nicht einfach an der Stelle der Introjektion vielmehr steht sie, indem sie die Trauerarbeit und die von ihr verlangte libidinösen Reorganisation verweigert, der Introjektion entgegen. Sofern die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft zur Trauer dazu führt, dass das verlorene Objekt in einer inneren Krypta und durch die innere Krypta verborgen und bewahrt wird, erscheint es als ein noch nicht zur Ruhe gebrachtes, als ein rumorendes Phantom: Signum einer „unmöglichen Trauer“.13

Während die Introjektion die ‚Verinnerlichung’ als einfach erscheinen lässt, bleibt in der Inkorporation der Übergang von außen nach innen problematisch und mit ihm die Metaphorik des Einverleibens selbst. Es gilt daher, wie Derrida vorschlägt, im Zusammenhang der Figur der Krypta von einer „anderen Topik“

zu sprechen: Die Krypta konstruiert einen „anderen Hof (for): geschlossen, also sich selbst innerlich, inneres Geheimnis im Inneren des großen Platzes, ihm aber zugleich äußerlich, im Innern äußerlich.“14 Wie die architektonische Krypta als ein im „Innern des Innen ausgeschlossenes Außen“ konstruiert ist und mit dieser

12 Abraham/ Torok : L’Ecorce et le noyau2, Paris 1978, S. 237f; dt: Psyche 37 (1983), 497–

519, hier: S. 505.

13 Vgl. Jacques Derrida: FORS, in: Kryptonymie (wie Anm. 1), S. 23.

14 Ebd., S. 13.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die Decke wirkt durch das nackte, jedweden Anstrichs entbehrende Material freilich recht verstim- mend gegenüber den weissen, gegliederten Wänden. Dass aber ursprünglich daran

Diese Arbeiten sind stets vom glei- chen Standort aus entstanden — hier verrät Uecker sein künstleri- sches Konzept: Gleiches in ständi- ger Variation in Form von serien-

Die Kinder stellen sich in einer frei geräumten Klasse (oder im Pausenhof oder Schulhof) in einer lockeren Gruppe auf. Sie schließen die Augen und gehen

ser experimentellen Grundlagenfor- schung (zum Teil als Kooperation, wie erwähnt) waren schließlich die Basis für mehrere prospektiv randomisierte klinische Multicenterstudien,

Diejenigen, die einen Anspruch auf Asyl haben, aber in der Tür- kei nicht sicher sind, müssen unter EU-Mit- gliedern verteilt werden, die bereit sind, diese Menschen aufzunehmen.

12.2 Einen Funktionswert einer vorher definierten Funktion f berechnen

Ich frage Sie, weil vergangenen Samstag knapp 100 impfkritische Menschen oder Gegner der Corona-Maßnahmen gewaltsam auf Befehl Ihres Aufsichtsratsvorsitzenden Christian Geselle

Das Niedrige zeigt sich im Bild der bescheidenen, auch optisch sich mit Grau und etwas Grün ganz zurückhaltend gebenden Pflanze, die von Punktmusfern, in Kreisform gefaßt, gebor-