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Nova Acta Leopoldina NF 93, Nr. 345, 181-193 (2006)

Evolution durch Schrift

Jan Assmann(Heidelberg und Konstanz)

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Nr. 345) Halle 2006, S. 181-193

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Zusammenfassung

Wir sind „Buchstabenmenschen“, konstatierte der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn im Jahre 1783: „Vom Buchstaben hängt unser ganzes Wesen ab.“ Der Vortrag wird anhand einiger ausgewählter Beispiele der Frage nach­

gehen, in welchem Sinne die Erfindung der Schrift den Menschen verändert hat. Es geht also nicht um die Evolution der Schrift, etwa vom Bild zum Buchstaben, sondern durch Schrift, vom oralen Menschen zum Buchstabenmenschen.

Das soll an vier Errungenschaften deutlich gemacht werden, die, das ist die These, überhaupt erst im Rahmen der ent­

wickelten Schriftkultur möglich wurden: Staat, die Idee der Unsterblichkeit, kritisches Geschichtsbewußtsein und Monotheismus.

Abstract

We are scripturalized beings, the Jewish philosopher Moses Mendelssohn stated in 1783; all our being depends on writing. This essay explores with regard to certain selective aspects in which ways the invention of writing changed human beings and their world. The focus is thus not on the evolution of writing (e.g. from pictures to letters), but on evolution by writing, from oral man to literate man. This is shown for four cultural achievements that were made pos- sible only through elaborate literacy: state, the Ldea of immortality, critical historical consciousness and monotheism.

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1. Einleitung

„Wir sind Buchstabenmenschen“, schrieb der jüdische Philosoph und Aufklärer Moses Men­ delssohnim Jahre 1783, „vom Buchstaben hängt unser ganzes Wesen ab, und wir können kaum begreifen, wie ein Erdensohn sich bilden und vervollkommnen kann ohne Buch“. Und er fährt fort: „Mich dünkt, die Veränderung, die in den verschiedenen Zeiten der Kultur mit den Schriftzeichen vorgegangen, habe von jeher an den Revolutionen der menschlichen Er­

kenntnisse sehr wichtigen Anteil.“ Mendelssohndenkt also an eine Evolution der Schrift und zugleich an eine Evolution durch Schrift. Die Entwicklung der Schrift hat seiner Ansicht nach entscheidende Auswirkungen auf die geistige Entwicklung der Menschheit gehabt. Das gilt seiner Ansicht nach ganz besonders für die Religion; dies ist für ihn der wichtigste Aspekt un­

seres Buchstabenmenschentums (Mendelssohn 1783/1989, 421 f.).

Zweihundert Jahre nach Mendelssohn hat der Soziologe Alfred Lorenzer Mendels­ sohnsReligionskritik aufgegriffen in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel: Das Konzil der Buchhalter: Die Zerstörung der Sinnlichkeit (Lorenzer 1981). Das Thema ist also durch­

aus aktuell. Hat der Gebrauch der Schrift uns zu Buchstabenmenschen bzw. zu Buchhaltern gemacht? Das Thema ist umso aktueller, als wir heute ja, anders als vor 200 Jahren, beim An­

bruch des elektronischen Zeitalters wiederum vor einer Epochenschwelle stehen, die durch ei­

ne Medienrevolution weltgeschichtlichen Ausmaßes bedingt ist. Mit dem Übergang von der Schriftkultur zur Digitalkultur sind Wandlungen verbunden, die sich nur mit den Wandlungen vergleichen lassen, die mit dem Übergang von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit ver­

bunden waren. Um zu verstehen, in welchem Umfang der Computer unsere Welt und damit auch uns zu verändern im Begriff ist, tun wir gut daran, uns darauf zu besinnen, in welchem Umfang die Schrift uns verändert hat.

Um diese Frage einer Evolution durch Schrift soll es also im folgenden Vortrag gehen, nicht um Evolution der Schrift. Aber so ganz, da hat Mendelssohnvöllig recht, lassen sich diese beiden Aspekte nicht trennen. Auch die Schrift hat eine Evolution durchgemacht, die ih­

rerseits wieder intensivste Rückwirkungen auf die schriftbenutzenden Menschen hatte. Die Evolution der Schrift verläuft, ganz allgemein gefaßt, auf zwei Ebenen: von Sinnschrift zu Lautschrift, und vom Bild zum Buchstaben (z. B. Haarmann 1990). So hat es schon Men­ delssohn dargestellt. Sinnschriftliche Notationssysteme reichen weit zurück in der Ge­

schichte der Menschheit; der Schritt zur Notation von Sprachlauten dagegen wurde erst ge­

gen 3200 ungefähr gleichzeitig in Mesopotamien und Ägypten vollzogen. Es gibt Schriften wie die chinesische und die japanische, die ihre bildlichen und sinnschriftlichen Elemente nie ganz abgestreift und sich nie zur Buchstabenschrift entwickelt haben, sondern ihren eigenen Weg gegangen sind, so daß die Formel „Vom Bilde zum Buchstaben“ nur den westlichen, nicht den östlichen Entwicklungsweg der Schrift beschreibt. Daher ist auch die Entwicklung durch Schrift im Osten zweifellos anders verlaufen als im Westen. So gibt es Theorien, die den eigentlichen kognitionsgeschichtlichen Durchbruch erst mit der Alphabetschrift und nicht schon mit der Schrift allgemein ansetzen (z. B. Havelock 1990). Von solchen Feineinstel­

lungen sehe ich hier ab und beschränke mich, schon aus Zeitgründen, auf Entwicklungen, die mit der Schrift an sich und nicht erst mit der Alphabetschrift in Verbindung zu bringen sind.

Außerdem geht es mir nicht um Schriftsysteme wie Silben-, Buchstaben- und Wortschriften, sondern um Schriftkulturen, um die gesellschaftliche Einbettung von Schrift, um die Frage

„Was fangen Gesellschaften mit Schrift an?". Auf dieser ganz allgemeinen Ebene wiederum

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beschränke ich mich auf vier Gebiete, die durch die Verwendung von Schrift besondere Ver­

änderungen erfahren haben: Staat, Kunst, Geschichte und Religion.

Was kann der Begriff „Evolution“ in unserem Zusammenhang bedeuten? Zweierlei gilt es hier vorab klarzustellen: Evolution bedeutet Veränderung, aber nicht in einer bestimmten, festgelegten Richtung; und zweitens, damit zusammenhängend: diese Veränderungen sind durch Schrift möglich geworden, stellen aber keine notwendigen Konsequenzen der Schrift­

kultur dar (Goody 1986). In diesem Fall gilt: Wer „A“ sagt, muß nicht „B“ sagen, sondern kann auch „C“, „D“ oder „E“ sagen, aber keine dieser Möglichkeiten wäre ohne Schrift denk­

bar gewesen. Die Erfindung und Verwendung der Schrift hat vieles möglich gemacht, was sich dann im Einzelfall in Abhängigkeit von vielen anderen sozialen, kulturellen, politischen, ge­

schichtlichen usw. Faktoren in der einen oder der anderen Weise realisiert hat.

Wenn der Mensch sich durch Schriftgebrauch verändert hat, dann ist damit nicht gemeint, daß das Lesen und Schreiben selbst direkt und unmittelbar uns verändert hätte, sondern daß die Schrift in Verbindung mit all dem, was im gegebenen Fall durch sie ermöglicht wurde, uns, d. h. unser Denken und Handeln, unser Selbstbild und unsere allgemeine Weltorientie­

rung verändert hat. Schließlich, das muß wohl kaum eigens betont werden, ist mit der Rede von der Veränderung des Menschen keine genetische, biologische Veränderung gemeint. Die Veränderungen, von denen hier die Rede sein wird, sind nicht biologisch, sondern nur kultu­

rell vererbbar und können sich, wenn diese Kette abbricht, innerhalb kürzester Zeit wieder rückentwickeln.

Diese Kette ist freilich älter als man denkt und reicht weit vor die Schrifterfindung zurück.

Wir Buchstabenmenschen können, wie schon Mendelssohnschrieb, nicht verstehen, wie ein Erdensohn sich bilden kann ohne Buch. Menschen, die in einer schriftlosen Welt leben, stel­

len wir uns als eine Art geistige Eintagsfliegen vor. In einer solchen Welt kann nichts festge­

halten werden. Alles muß täglich oder doch von Generation zu Generation neu erfunden wer­

den. Die Gedanken, die Sprache, die Technik - alles ist beherrscht vom Prinzip der Flüchtig­

keit, des Vergessens und Verschwindens. Erst die Schrift, denken wir, stellt die Sprache auf ein dauerhaftes Fundament standardisierter Artikulation und Bedeutung und schafft ein über Generationen vererbbares Gedächtnis. Erst durch die Schrift hat sich die Menschheit aus dem geschichtslosen Raum des Vergessens befreit und jene geistige und technische Evolution frei­

gesetzt, die uns nun in immer größerer Beschleunigung in das nachschriftliche Zeitalter der elektronischen Kommunikation katapultiert.

In dieser pauschalen Form stimmt das natürlich nicht. Seit wir ihn zurückverfolgen kön­

nen, hat der Mensch datierbare Spuren hinterlassen, die auf Traditionsbildung, d. h. ein von Generation zu Generation weitergegebenes Know-how schließen lassen. Hier gibt es durch­

aus Entwicklung und Fortschritt. Eins baut auf dem Anderen auf, Erfindungen wie der Ak- kerbau, das Rad, die Pferdezucht werden nicht gleich wieder vergessen, sondern stetig per­

fektioniert, in den immer komplexer werdenden Morphologien der Höhlenmalereien, Fels­

bilder, Petroglyphen, Keramik usw. prägen sich nicht nur zeitliche Abfolgen, sondern auch ethnische Zugehörigkeiten aus, und all das deutet auf ein kulturelles Gedächtnis, kraft dessen sich die Menschheit schon lange vor Erfindung der Schrift im Fluß der Zeit stabile Sinn-, Symbol- und sogar Zeichenwelten aufbaute (Leroi-Gourhan 1964-1965). Wir könnten auch sagen, daß in diesem Sinne die Menschheit immer schon geschrieben hat - wenn wir bereit sind, diese Form-, Symbol- und Zeichenwelten Schrift zu nennen, in denen das kulturelle Ge­

dächtnis einer Gruppe sich zugleich ausdrückt und stabilisiert. Nicht erst die Schrift im Sin­

ne der visuellen Kodierung von Sprache, sondern das Prinzip der Form wirkt als traditions­

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oder gedächtnisbildendes Prinzip. Durch Formung können auch dem Gedächtnis selbst Din­

ge eingeschrieben werden. Geformte Sprache, durch Reim, Rhythmus, Assonanz, Wiederho­

lung, behält sich leichter als ungeformte. Wo immer sich das kulturelle Gedächtnis des menschlichen Gedächtnisses als einer Art von Schrift bedient, stoßen wir auf ein hochent­

wickeltes Spezialistentum: die indischen Brahmanen, die afrikanischen Griots, die serbischen Guslaren, die altgriechischen Rhapsoden waren Gedächtniskünstler, die schier unglaubliche Überlieferungsmassen über die Jahrhunderte bewahrt haben.

ln welcher Weise hat also nun die Schrift, im strengen Sinne der visuellen Kodierung von Sprache, die Welt verändert? Da muß man sich zunächst zweierlei klar machen. Erstens: die Schrift ist eine Form, die von sonstiger Formgebung unabhängig macht. Um etwas aufschrei­

ben zu können, muß es nicht geformt sein. Die Schrift macht es möglich, die Prosa des Le­

bens, das Alltägliche, Ungeformte, keinem Gedächtnis Einprägbare festzuhalten. Wir spre­

chen ja auch von der „Schriftform“ und denken da in keiner Weise an poetische Formung, son­

dern bloß an die Niederschrift einer völlig beliebigen Mitteilung. Zweitens: die Lautschrift funktioniert nicht nur als ein externalisiertes Gedächtnis, das uns an etwas erinnern kann, son­

dern auch als eine externaliserte Stimme, die uns etwas mitteilen kann, auch wenn der Sprecher abwesend ist. Wir können nun feststellen, daß die Schrift für genau diese beiden Zwecke erfunden worden ist:

- als ein künstliches Gedächtnis oder Datenspeicher für kontingente, ungeformte, keinem Gedächtnis anvertraubare Daten, und

- als eine künstliche Stimme für Botschaften, die in eine keiner menschlichen Stimme er­

reichbaren räumlichen und zeitlichen Fernen dringen sollten.

2. Staat

Die frühesten Schriften sind in Mesopotamien und Ägypten erfunden worden, gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr., und zwar beide Male in engstem Zusammenhang mit der Entstehung der ersten Staaten der Menschheitsgeschichte. Beide Phänomene gehören offenbar eng zu­

sammen. Der frühe Staat, als Nachfolgeinstitution der vorausgehenden Dorfgemeinschaften und Häuptlingstümer, bedurfte der Schrift als künstlichen Gedächtnisses, um der unendlichen Datenfülle im Zusammenhang von Wirtschaft und Verwaltung Herr zu werden, und als künst­

licher Stimme, um das herrscherliche Machtwort an alle Enden des Reiches dringen zu lassen und als Repräsentation königlicher Macht allen Bewohnern vor Augen zu stellen.

Die Schrift ermöglicht neue Formen von Kontrolle und Verwaltung. Buchhaltung, Rech­

nungsführung, Registratur, Volkszählung. Steuerveranlagung, kurz alles das, worauf die kom­

plexer gewordenen Gemeinwesen und frühen Staaten basieren, ist ohne Schrift nicht möglich.

Diese Staaten kannten keine freien Märkte, sondern nur das System einer auf genauer Planung und Bevorratung basierenden Speicher- und Versorgungswirtschaft, wie sie die Bibel im Zu­

sammenhang der Joseph-Geschichte beschreibt. Die Wandbilder in den altägyptischen Grä­

bern stellen uns eine Welt vor Augen, die von Schrift und Schreibern dominiert war. Es gibt kaum einen Lebensbereich, der nicht auf irgendeine Weise mit der Schrift in Berührung kam.

Es waren zwar nur wenige, die schreiben konnten, aber was „Schrift“ ist, war keinem Ägyp­

ter verborgen. Das war keine esoterische Kunst, von der das breite Volk sich nichts träumen ließ, sondern eine alltägliche Kulturtechnik, auf der der gesamte Staat mit allen seinen Wirt­

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schaftszweigen und Institutionen beruhte und mit der jeder auf seine Weise zu tun hatte, auch wenn er selbst nicht schreiben konnte. So eng begrenzt vielleicht ihre aktive Beherrschung, so allumfassend und alldurchdringend war ihr Einfluß.

In den frühen Hochkulturen bildete die Bürokratie immer den Kernbereich der Schrift­

kultur. Hier entwickelte sie alle Raffinessen der Seitengestaltung, Tabellenschreibung, Ver­

wendung verschiedenfarbiger Tinten usw., sowie die mit dem Schreiben eng verbundenen Künste des Zählens und Rechnens, des Kalenders und der Annalistik, kurz all das, wofür in Ägypten der Mond- und Schreibergott Thot zuständig ist, den die Griechen dem Hermes gleichsetzten und der dann als Hermes Trismegistos zum Inbegriff der Weisheit wurde. In der Götterwelt vereinigt Thot die Kompetenzen des höchsten Beamten (des Wesirs) und des höch­

sten Ritualisten. Zwischen den Amtsstuben und den Tempeln dürfen wir anfangs keine allzu scharfe Trennungslinie ziehen. Die Schreiber waren in beiden Bereichen tätig und wechselten wohl auch oft vom einen zum anderen. Auch im Tempel steht die Schrift im Dienst der Orga­

nisation präziser Abläufe. In beiden Bereichen fungiert die Schrift als Speicher und Stütze.

Am Beispiel von Schrift und Staat kann man sehen, daß die Schrift eine Grenzüber­

schreitung oder Horizonterweiterung ermöglicht: vom Dorf zur Stadt, von der Face-to-face- Gemeinschaft zur großräumigen politischen Organisation, von der Subsistenzwirtschaft zur Versorgungswirtschaft, eine Grenzüberschreitung, die im Alten Ägypten die Form eines Sprungs, einer unglaublich kurzfristigen und durchgreifenden Veränderung zu etwas qualita­

tiv und quantitativ vollkommen Neuem angenommen hat.

3. Kunst und Unsterblichkeit

Grenzüberschreitend hat die Schrift auch in bezug auf die Grenze gewirkt, die dem mensch­

lichen Leben gesetzt ist: den Tod. Auch hier hat die Schrift neue Räume einer, in diesem Fall nun vor allem virtuellen Realität erschlossen. Die Schrift macht es möglich, nicht nur Spuren zu hinterlassen, die die eigene Existenz überdauern, sondern Botschaften, die zur Nachwelt reden. Nicht jede Kultur hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, und auch innerhalb einer Gesellschaft waren es immer nur wenige, die es darauf anlegten, im Medium ihrer Grab­

inschriften als virtuelle Sprecher den Nachgeborenen gegenwärtig zu bleiben. Das alte Ägyp­

ten ist auf diesem Weg der Selbstverewigung durch Selbstthematisierung sicher am weitesten gegangen (Assmann1983, 1987). Hier wurden die Gräber der hohen Beamten schon im Al­

ten Reich, d. h. seit ca. 2700 v. Chr., mit Bildern und Texten dekoriert, in denen die Grabher­

ren gegenüber der Nachwelt von ihrem Leben, ihren hohen Ämtern und vorbildlichen Tu­

genden Zeugnis ablegten in der Hoffnung, sich auf diese Weise einen dauernden Platz im Ge­

dächtnis der Gemeinschaft zu sichern. Die Schrift diente in den Grabinschriften als eine künst­

liche Stimme, mithilfe derer der Grabherr auch über den Tod hinaus zu den Nachgeborenen sprechen wollte. Eine typische Form dieser Inschriften ist etwa der „Anruf an die Lebenden“:

„O ihr Lebenden auf Erden, die ihr an diesem Grab vorbeigeht und seine Inschriften lest, sprecht ein Opfergebet für den verstorbenen NN. Ein Hauch des Mundes ist es ja nur, ohne Mühe für Euch, aber nützlich für den Verklärten ... .“ Hier wäre vor allem das Element des Virtuellen hervorzuheben, die Idee, in einem Medium als Stimme und Gedächtnis fortzudau­

ern, auch über den Zerfall des natürlichen Gedächtnisses und der natürlichen Stimme hinaus.

Genau die gleichen Träume einer virtuellen Fortdauer sehen wir jetzt im Zusammenhang des neuen Mediums der digitalisierten „künstlichen Intelligenz“ und des Internets wieder aufle­

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ben (Hayles 2000, Krüger 2004). Das Internet erscheint als ein Raum, in den hinein man sich verkörpern kann in Form sogenannter „Avatare“, virtueller Personifikationen oder Dop­

pelgänger, und auch wenn es hier vordringlich nicht um Ewigkeit und Unsterblichkeit, son­

dern um Selbstvervielfältigung und Multipräsenz geht, steht dahinter doch das Streben um mediengestützte Aufhebung der existentiellen Grenzen, um Erweiterung der Realität durch Virtualität. In diesem Sinne darf man vielleicht auch den extravaganten Gebrauch verstehen, den die Ägypter in ihren Gräbern von der Schrift gemacht haben.

Auf der Grundlage dieser Idee, im Medium seiner Grabinschriften im Gedächtnis der Nachwelt präsent zu bleiben, sind die Ägypter selbst bereits einen entscheidenden Schritt hin­

ausgegangen und haben das literarische Werk als den unendlich viel besseren Weg zur Un­

sterblichkeit dargestellt. Der Autor eines guten Buches ist der bessere Grabherr; er hat sich ein Monument errichtet, das kein Zahn der Zeit zerstören kann. Auf dieses Motiv, das durch Ho-

razberühmt geworden ist, stößt man bereits in einer ägyptischen Weisheitslehre aus dem 13. Jahrhundert v. Chr.

„[...] die weisen Schreiber seit der Zeit des Re, [...] haben sich keine Pyramiden aus Erz gebaut [...] sondern schufen sich Bücher als Erben und Lehren, die sie verfaßt haben. [...]

Heilskräftiger ist ein Buch als eine gravierte Stele und als eine solide Grabwand.

Es errichtet diese Gräber und Pyramiden im Herzen dessen, der ihren Namen ausspricht.

[...] Der Mensch vergeht, sein Leib wird zu Erde, alle seine Angehörigen schwinden dahin.

Doch ein Buch bewirkt, daß er erinnert wird, indem ein Mund es dem anderen weitergibt.

|...] Sie sind gegangen und ihre Namen wären vergessen, aber das Buch ist es, das die Erinnerung an sie wachhält."1

Die Literatur erscheint hier als die Fortsetzung oder vielmehr Überbietung der Monumental­

architektur, des „Ehernen“ bzw. „Steinernen", mit anderen, geistigen Mitteln. Nicht die Schrift als solche, aber der literarische, philosophische, künstlerische Diskurs ist das Medium der Unsterblichkeit, er erschließt einen Raum der Unsterblichkeit, in den man sich als Autor eines Werkes hineinzustellen, hineinzuverkörpern hotten kann. Bedenkt man jedoch die Art dieser Verkörperung, wird klar, daß es sich hier eher um einen Vorgang der „Exkarnation"

(Assmann 1993) als der Inkarnation handelt. Die Schrift erlaubt es, die im Autor verkörperte Gedanken- und Empfindungswelt herauszulösen, indem sie ihr einen Ersat/.körper verschafft, der der Vergänglichkeit des Fleisches enthoben ist.

Mit der Erfindung und dem Ausbau dieses künstlichen Gedächtnisses geht die Utopie der Unsterblichkeit einher, als der Wunsch, in diesem Gedächtnis einen dauernden Platz zu er­

ringen. Eng mit der Idee der Unsterblichkeit verbunden sind die Ideen der Autorschaft und der Individualität. Dieser Komplex hat sich besonders eindrucksvoll in der ägyptischen Grabkul­

tur herausgebildet. Die individuierende Auswirkung der Schrift auf den Schreibenden ist

1 Papyrus Chester Beatty IV, verso 2,5-3,11 siehe Brunner 1988, S. 224-226, und Assmann 1991, S. 173-175.

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eine andere der in ihr angelegten Möglichkeiten. Man kann sagen, daß die Schrift den Autor konstituiert; hierfür gibt es im Bereich der Mündlichkeit keine Parallele. Der Name Homers

steht nicht für eine Person, sondern für eine Tradition, die unter seinem Namen kodifiziert wurde. Der Barde ist Träger der Überlieferung; seine Kreativität besteht darin, der Überliefe­

rung, die durch ihn hindurchgeht, eine besonders eindrucksvolle, elaborierte Gestalt zu geben.

Der Autor dagegen steht der Überlieferung gegenüber und muß sie überbieten. Von ihm wird nicht das Alte, sondern das Neue erwartet. Das ist nicht erst die Erfahrung der Moderne, son­

dern kommt schon in einem der ältesten Literaturwerke zum Ausdruck, die wir kennen, den um 1800 v. Chr. entstandenen Klagen des Chacheperreseneb.

„O daß ich unbekannte Sätze hätte, seltsame Aussprüche, neue Rede, die noch nicht vorgekommen ist,

frei von Wiederholungen,

keine überlieferten Sprüche, die die Vorfahren gesagt haben.

[...] keine Rede, von der man nachher sagen wird: ,das haben sie früher gemacht1.“2 ln diesen Sätzen ist das Grundproblem der Schrift auf den Punkt gebracht. Im Gegensatz zum mündlichen Barden kann sich der schriftliche Autor nicht auf die Tradition berufen, sondern muß sie aus Eigenem bereichern; das lateinische Wort auctor heißt ja „Vermehrer“. Er muß in sich selbst die Quelle des Neuen, Unerhörten suchen. So sagt Chacheperreseneb, das Prin­

zip „Exkamation“ auf den Punkt bringend: „Ich wringe meinen Leib aus und was in ihm ist und befreie ihn von allen meinen Worten.“

Das schreibende Ich ist ein anderes als das singende Ich. Es ist in einem ganz neuen Sinne „Ich“ und wird ebenso von seinem Text als dessen Autor hervorgebracht, wie es selbst diesen Text hervorgebracht hat.

Nun macht jedoch die Schrift das schreibende Ich zwar zum Autor, aber damit noch kei­

neswegs unsterblich. Hierfür muß noch etwas Zweites hinzukommen, nicht im Sinne der not­

wendigen Konsequenz, sondern einer in der Schrift angelegten Möglichkeit. Das ist die Ka- nonisierung. Kanonisierung bedeutet, aus der immer unübersehbareren Fülle der Autoren ein­

zelne Leuchttürme herauszuheben, die der weiteren Produktion und Rezeption als Vorbild und Maßstab den Weg weisen sollen (Assmannund Assmann 1987). Nicht schon durch schriftli­

che Aufzeichnung, sondern erst durch Kanonisierung ist Homer unsterblich geworden. Der Kanon erschließt einen Raum virtueller Gleichzeitigkeit, der einen zum Gesprächspartner jahrtausendealter Vorgänger und fernster Nachgeborenen macht. So wie die Ägypter die Grä­

ber der Vorfahren besuchten, las man im Abendland in den Schriften der griechischen und la­

teinischen Autoren und führte mit ihnen, über die Jahrtausende hinweg, ein Geistergespräch.

Martin Opitzpries das „genüge und (die) ruhe, welche wir schöpften auß dem geheimen ge- spreche und gemeinschaft der grossen hohen Seelen / die von soviel hundert ja tausend Jah­

ren her mit uns reden“.3 Diesen Chrono-Topos einer über-lebenszeitlichen, ja Jahrtausende umfassenden Kommunikation erschließt erst der Kanon.

2 Schreibtafel BM 5645 rto. 2-7 ed. Gardiner 1909, S. 97-101; Lichtheim 1973, S. I46f.; Ockinga 1983.

3 Opitz 1978, S. 331-416,412f. Siehe Assmann 1999, S. 124-127.

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4. Geschichte

So wie die Schrift Grenzen überschreitet, zieht sie auch Grenzen. Eine solche durch die Schrift gezogene Grenze ist die schon erwähnte zwischen alt und neu, die es in dieser Form in der schriftlosen Welt nicht gibt. Eine andere Grenze ist die zwischen Mythos und Geschichte oder geglaubter und verbürgter Wahrheit. Damit komme ich zum dritten der durch die Schrift er­

schlossenen Wirklichkeitsbereiche: der Geschichte, als ein quellenkritischer Diskurs über die Vergangenheit als Raum menschlichen Handelns und Leidens, im Gegensatz zu den fundie­

renden Erzählungen des Mythos, denen jede Quellenkritik fremd ist, die auf ganz anderen Wahrheitskriterien beruhen und in denen nicht Menschen, sondern Götter die Hauptrolle spie­

len. Geschichte im Sinne eines quellenkritischen Diskurses kann es erst geben, seitdem es aus­

sagekräftige Quellen gibt. Hier bedeutet die Erfindung und Verwendung der Schrift die ent­

scheidende Epochenschwelle. Erst die schriftliche Quelle gibt verläßliche Kunde darüber, was, wann, wo, wem geschah. Ohne Archive ist keine Geschichtsschreibung möglich. Die Schrift fundiert einen Raum der nachprüfbaren Beurkundung, einen auf Tatsächlichkeit ge­

gründeten Datenspeicher, dessen sich die Geschichte als Erzählung bedienen kann, um die Wahrheit über das Geschehene zu bekunden. So ist die Schrift die Bedingung der Möglich­

keit von Geschichtsschreibung, und zwar im Sinne der Schriftlichkeit nicht nur der Erzählung, sondern auch und vor allem der Dokumente, auf denen diese basiert. Wenn man Herodotund

PlatonGlauben schenken darf, dann haben die Ägypter auf der Basis ihrer Archive ein spe­

zifisch schriftgeprägtes Geschichtsbewußtsein entwickelt, das dem mündlich und mythisch geprägten, aristokratischen Herkunftsbewußtsein der Griechen widersprach. Als Hekataios von Milet, soerzählt uns Herodot, nach Theben kam und den dortigen Priestern seinen Stammbaum bis zum sechzehnten Ahn, einem Gott, vorrechnete, führten ihn die Priester in den Tempel und zeigten ihm die dort aufgestellten Statuen. „Ihre Berechnung (schreibt He­ rodot) war folgendermaßen. Von den Urbildern dieser Standbilder stamme immer einer vom anderen, und im ganzen seien es dreihundertfünfundvierzig solche Standbilder, und trotzdem führe der Stammbaum nicht auf einen Gott oder Heros zurück. Das heißt also: in einem Zei­

traum von 11340 Jahren haben nur menschliche Könige, nicht aber Götter in Menschenge­

stalt, über Ägypten geherrscht.« (HerodotII. 143 übers. Horneffer 1955. S. 162.) Hier geht es nicht um Schrift, sondern um Statuen, aber diese Statuen haben wir uns beschriftet zu den­

ken mit Texten, aus denen die Identität des Dargestellten hervorgeht, so daß sie als Ge­

schichtsquellen gelten können. Noch deutlicher arbeitet Platonden Unterschied zwischen griechischem und ägyptischem Geschichtsbewußtsein heraus. Hier ist es Solon, der die Prie­

ster von Sais mit der griechischen Urgeschichte konfrontiert. „Ihr Griechen bleibt doch im­

mer Kinder“, rufen die Priester aus, „und einen alten Griechen gibt es nicht“. Der Grund für die griechische Jugend liegt in den periodischen Katastrophen, die alles angehäufte Wissen wieder vernichten. In Ägypten dagegen wurde alles Bedeutende „insgesamt von alters her in den Tempeln aufgezeichnet und bleibt also erhalten. Ihr dagegen und die übrigen Staaten seid hinsichtlich der Schrift und alles anderen, was zum staatlichen Leben gehört, immer eben erst eingerichtet, wenn schon wiederum nach dem Ablauf der gewöhnlichen Frist wie eine Krank­

heit die Regentlut des Himmels über euch hereinbricht und nur die der Schrift Unkundigen und Ungebildeten bei euch übrigläßt, so daß ihr immer von neuem gleichsam wieder jung werdet und der Vorgänge bei uns und bei euch unkundig bleibt, soviel ihrer in alten Zeiten sich ereigneten. Wenigstens eure jetzigen Geschlechtsverzeichnisse, wie du sie eben durch­

gingst, unterscheiden sich nur wenig von Kindermärchen.“ (Platon, Timaios 22b übers.

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Schleiermacher1959, S. 149). Das griechische, mündlich verfaßte Geschichtsbewußtsein ist

„jugendlich“, es geht immer schon nach einigen Generationen in Mythos über, während das ägyptische, schriftlich verfaßte Geschichtsbewußtsein auf „alter Überlieferung“ und „mit der Zeit ergrauter Kunde“ basiert, die viele Jahrtausende zurückreicht, ohne je in die mythische Welt der Götter überzugehen. Die alten Ägypter haben in der Tat über die Vergangenheit mi­

nutiös Buch geführt, und wir dürfen vermuten, daß die Archive des Tempels von Sais zum Zeitpunkt von SolonsBesuch bis in die Tage von Meneszurückreichten, der um 3000 v. Chr.

das Reich gegründet hat.

In diesem Sinne dokumentierter Vergangenheit und kritischer Überprüfbarkeit hat die Schrift die Geschichte hervorgebracht und den Mythos vertrieben oder zumindest in seinem Wahrheitsanspruch relativiert. Die Schrift sorgt dafür, daß, wo Mythos war, Geschichte ent­

stand, weil sie Verhältnisse dokumentierte, in denen nicht Götter, sondern Menschen herrsch­

ten und die Menschen für ihre Taten verantwortlich waren. Die Schrift verleiht der Erinnerung die Eigenschaft der Überprüfbarkeit und damit ihrem 'Wahrheitsanspruch die zusätzliche Ei­

genschaft eines Wahrheitsvvcr/c.v, der dem Mythos abgeht.

5. Religion

Mit genau dem gleichen mythenkritischen Pathos eines neuen Wahrheitswertes tritt die Schrift auch im Bereich der Religion auf. Hier stützt sich ihr Anspruch auf eine Offenbarung, die sie verbrieft und verbürgt. Alle Offenbarungsreligionen - Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus, Jainismus, die Religion der Sikh - basieren auf einem Kanon heiliger Schriften, die den Willen ihres Stifters und die höhere Wahrheit seiner Offenbarungen kodifizieren. Hier stoßen wir also wieder, in anderem Zusammenhang und in anderem Sinne, auf das Prinzip Ka­

non, dem wir schon im Zusammenhang der Autorschaft und der Literatur begegnet sind. Auch hier bedeutet Kanon die Auswahl des zeitlos Maßgeblichen und Hochverbindlichen aus der Fülle des Geschriebenen. Das Kriterium der Auswahl freilich ist ein anderes: hier geht es um eine höhere Wahrheit. Auch hier zieht also die Schrift in der Steigerungsform des Kanons ei­

ne Grenze. Denn erst diese in einem ganz neuen Sinne schriftgestützten Religionen ziehen die Grenze zwischen wahrer und falscher Religion und konstruieren die Umwelt der anderen Re­

ligionen als „Heidentum“, Unwahrheit, Unglauben und Irrtum (Assmann 2003). Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden hat es immer gegeben, aber diese Grenze im Zei­

chen der Wahrheit ist etwas radikal Neues und ohne die Schrift und das auf ihr aufbauende Prinzip Kanon nicht denkbar. Erst die kanonisierte Schrift schafft die Bedingung dafür, daß eine Religion sich auf eine höhere, geoffenbarte Wahrheit berufen und alles andere zu sich in die Beziehung der Unwahrheit setzen kann. Offenbarungsreligionen sind Schrift- bzw. Buch­

religionen.

Buchreligionen kehren das Verhältnis von Text und Ritus um. Beruhten in den Kultreli­

gionen die „konnektiven Strukturen“, die die identische Reproduktion der Kultur über die Ge­

nerationenfolge hinweg sicherten, in allererster Linie auf dem Prinzip ritueller Wiederholung, so beruhen sie in den Buchreligionen auf dem Prinzip der Auslegung der kanonischen Texte.

Am klarsten tritt dieser Wandel in der unterschiedlichen Form hervor, in der die Mitglieder von Kult- und von Buchreligionen an der Überlieferung partizipieren.

Bereits der jüdische Historiker Josephus Flaviushat im 1. Jahrhundert n. Chr. den Unter­

schied zwischen Kultreligion und Buchreligion oder „ritueller“ und „textueller Kontinuität“

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auf den Punkt gebracht, wenn er Judentum und Hellenismus gegenüberstellt: „Wenn alle Schichten des Volkes zur Frömmigkeit erzogen werden, wenn die Pflege der letzteren vor­

nehmlich den Priestern anvertraut ist - sieht das nicht aus, als ob das gesamte öffentliche Le­

ben eine einzige heilige Festfeier wäre? Was die Heiden unter dem Namen Mysterien und Wei­

hen nur in wenigen Tagen begehen, ohne es jedoch dauernd in ihren Herzen bewahren zu kön­

nen, daran halten wir mit unendlichem Entzücken und unverrückten Sinnes allezeit fest.“4 Die Heiden warten bis zur nächsten Durchführung des Rituals, aber die Juden sind im stän­

digen Besitz ihrer kulturellen Texte, weil sie in „öffentlichem Unterricht“ von den Priestern darin unterwiesen werden. Ihre „Mysterien“ sind permanent und kontinuierlich. Sie bestehen in der von priesterlicher Auslegung geleiteten Lektüre der heiligen und kulturellen Texte. Je mehr eine Gesellschaft durch Schrift bestimmt ist, desto weniger spielen die Riten in ihr eine Rolle. Den entscheidenden Wandel in dieser Hinsicht hat aber nicht die Erfindung der Schrift, sondern der Buchdruck herbeigeführt, weil erst er als ein Verbreitungsmedium die Partizipa­

tionsstruktur drastisch verändert hat (Eisenstein 1979).

Vielleicht darf man sogar noch einen Schritt weitergehen. Buchreligionen verändern nicht nur die Struktur der kulturellen Kohärenz, von ritueller zu textueller Kontinuität, und sie zie­

hen nicht nur eine Grenze zwischen sich und den anderen Religionen, die sie als Grenze zwi­

schen Wahrheit und Unwahrheit interpretieren. Vielleicht zieht in diesem Funktionszusam­

menhang die Schrift sogar die entscheidendste aller Grenzen: die Grenze zwischen Gott und Welt.

Die Verschriftung der Offenbarung führt letztlich zu einer Ausbürgerung des Heiligen aus der Welt, einerseits in die Transzendenz und andererseits in die Schrift. Die Kultreligionen set­

zen das Heilige als auf vielfältigste Weise innerweltlich, in der Welt anwesend voraus, in Bil­

dern, Bäumen, Bergen, Flüssen, Gestirnen, Tieren, Menschen und Steinen. Das alles wird in den Buchreligionen als Idolatrie, Götzendienst, Fetischismus gebrandmarkt. Moses Zorn beim Anblick des orgiastischen Tanzes ums Goldene Kalb fängt diesen Gegensatz mit der Prägnanz einer Urszene ein. Die Schrift in seinen Händen (die Tafeln mit den Zehn Geboten) und die Szene vor seinen Augen erweisen sich als inkompatibel. Diese Schrift und dieser Kult bilden einen unversöhnlichen Gegensatz.

Die Dinge dieser Welt und insbesondere die Bilder stellen Fallstricke dar. um die Auf­

merksamkeit von der Schrift abzuziehen. Die Schrift fordert eine grundlegende Umlenkung der Aufmerksamkeit, die ursprünglich auf Erscheinungen dieser Welt und das in ihnen sich zeigende Heilige gerichtet war und nun ganz auf die Schrift und ihre Auslegung konzentriert wird. Wo Bild war, soll Schrift werden. Vieles spricht dafür, daß der jüdische Monotheismus, das Prinzip der Offenbarung und der aus diesem Prinzip entwickelte und sich immer mehr steigernde Abscheu gegen traditionelle Formen des Kultes aus dem Geist der Schrift geboren ist. Der Schritt in die Religion der Transzendenz war ein Schritt aus der Welt - man möchte fast von einer Auswanderung, einem Exodus, sprechen - in die Schrift (Halbertal 1997). Die Welt wird als solche zum Gegenstand der Idolatrie erklärt und diskreditiert. Der radikalen Außerweltlichkeit Gottes entspricht die radikale Schriftlichkeit seiner Offenbarung.

Ohne die Kulturtechniken der Schrift und der Hermeneutik wäre das, was man im 18. Jahr­

hundert „positive Religion“ nannte und der „natürlichen Religion“ als etwas Artefizielles gegenüberstellte, nicht denkbar. Dem prophetischen Monotheismus mangelt es an natürlicher Evidenz; er wandelt, wie Paulus sagt, nicht in der Schau, sondern im Glauben (2 Kor 5,7).

4 Josephus Flavius, Contra Apionem cap. 22, in: Clementz 1993, 177f.

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Der Glaube stützt sich auf die Schrift, auf den verbrieften Bund und das Gesetz. Der Kult stützt sich auf den Akt, den Vollzug, die Schau. Die Schrift führte zu einer Entritualisierung und Ent- theatralisierung der Religion.

So hat die Schrift uns und unsere Welt verändert. Sie hat Grenzen überschritten und Gren­

zen gezogen. Mit der Überschreitung der Grenzen unseres Gedächtnisses und unserer Stim­

me hat sie die Bildung großräumiger politischer und wirtschaftlicher Organisationsformen er­

möglicht und die Idee der Kultur als eines Jahrtausende umfassenden Gedächtnisses und Kommunikationsraums entstehen lassen, angesichts dessen die Menschen von Unsterblich­

keit und Fortdauer träumen konnten. Mit der Aufrichtung der Grenzen zwischen dem Alten und dem Neuen sowie dem Geglaubten und dem Verbürgten hat sie einen neuen, kritischen Wahrheitsbegriff geschaffen und eine Ideenevolution in Gang gesetzt. Mit der Aufrichtung der Grenze schließlich zwischen Buchreligion und Kultreligion, scriptum und natura, offenbar­

ter und natürlicher Religion, Monotheismus und Kosmotheismus hat sie die Dynamik der abendländischen Religionsgeschichte bestimmt.

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Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Jan Assmann Universität Heidelberg

Ägyptologisches Institut Marstallhof 4

69117 Heidelberg

Bundesrepublik Deutschland Tel.: +49 6221542533 Fax: +49 6221 542551

E-Mail: Jan.Assmann@urz.uni-heidelberg.de

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