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Griechisches und semitisches Alphabet:
Buchstabennamen und Sibilantenentsprechungen
Josef Tropper, Berlin
In dem aufschlußreichen Beitrag La date de la creation de l'alphabet grec et
Celle de l'epopee home'rique hat C. J. Ruijgh (1997) kürzlich die Entstehung
des griechischen Alphabets nachgezeichnet und sämtliche relevanten Detail¬
fragen diskutiert. Der Verf. dieses Artikels stimmt mit dem Autor in vielen
wesentlichen Punkten überein und unterstützt insbesondere dessen Haupt-
these, nämlich die relativ frühe Übernahme des griechischen Alphabets (ent¬
schieden vor 800 V. Chr.). Gleichwohl möchte er zum oben genannten Beitrag
einige spezifisch semitistisehe Anmerkungen hinzufügen, die sachgemäßere
und zugleich einfachere Erklärungen für bestimmte von Ruijgh diskutierte
Phänomene bieten.
1. Griechische Buchstabennamen mit Endung -a
Gut die Hälfte der aus dem Nordwestsemitischen, konkret aus dem Phönizi¬
schen, entlehnten Buchstabennamen des griechischen Alphabets weist be¬
kanntlich eine vokalische Endung -a auf {Alpha, Beta, Gaynma [etc.]). Ruijgh
(1997, S. 557 f ) vermutete zu Recht, daß diese Endung einen semitischen
Ursprung besitzt und als Kasusendung betrachtet werden kann. Seine kon¬
krete Erklärung, wonach das betreffende -a als Relikt einer obsolet geworde¬
nen Kasusflexion anzusehen ist, ist aber dennoch sehr wahrscheinlieh nicht
korrekt. Nach Ruijgh ist die nominale Kasusflexion mit den ursprünglichen
Endungen -u (Nominativ), -i (Genitiv) und -o (Akkusativ) im Nordwestsemi¬
tischen um 1000 V. Chr. bereits weitgehend zusammengebrochen. Von den
ursprünglichen Kasusendungen hätte sich nur der offenste der Vokale, näm¬
lich -a, in der Aussprache gehalten. Er läge den Buchstabennamen des griechi¬
schen Alphabets zugrunde.
Es gibt jedoch eine einfachere Erklärung der -«-Endungen der Buchstaben¬
namen, die zugleich grammatisch leichter zu begründen ist. Die Endung -a ist
im Semitischen - wie insbesondere jüngere semitistisehe Untersuehungen zei¬
gen' - nicht nur als Marker des Akkusativkasus, sondern auch als Marker des
sogenannten Absolutivkasus nachzuweisen, der unter anderem als Prädikativ¬
endung und als gewöhnliche Zitierform von Nomina und Eigennamen dient. So
' Siehe insbesondere Lipinski (1997, S. 257-259) und Tropper (1999).
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wurden etwa akkadische Nomina, die früh ins Sumerische wanderten, in der
Regel mit einer Nominalendung -a übernommen, z. B. DAM-HA-RA 'Schlacht'
(von akkadisch tamhär-) oder MA-DA 'Land' (von akkadisch mät-). Vom glei¬
chen Phänomen zeugen etwa 70% der semitischen Lehnwörter in ägyptischen
Quellen des Neuen Reichs^ und der Großteil westsemitischer Eigennamen der
ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr., die in syllabischer Keilschrift über¬
liefert sind. Es liegt auf der Hand, daß auch die Endung -a der Bucbstaben-
namen des griechischen Alphabets als Absolutivendung und somit als gram¬
matisch korrekte semitische Kasusendung zu betrachten ist. Mit anderen
Worten: Viele der Buchstabennamen des phönizischen Alphabets scheinen
um 1000 V. Chr. mit der betreffenden Endung zitiert worden zu sein. Dies gilt
zum einen mit Sicherheit für alle Namen, deren Stamm auf Doppelkonsonanz
bzw. Konsonantengemination endet, nämlich /'Alpa/, /Gamla/, /Dalta/,
/Kappa/, /Lamda/, /Samka/ und /Sinna/-'*, zum anderen offenbar auch für
Namen, deren Stamm auf einen Okklusiv auslautet, nämlich /Beta/, /Heta/,
/Teta/, /Yöda/ und wahrscheinlich /Qöpa/(?). Der Abfall der betreffenden
Endung, von dem etwa die Namen der hebräischen Alphabetzeichen zeugen
(Aleph, Beth, Gimel), ist späteren Datums.*
Semitische Nomina und Eigennamen wurden jedoch nicht durchgehend mit
einer Absolutivendung -a zitiert. Es gibt zwei sichere Ausnahmen: Zum einen
wird diese Endung im Plural nicht gebraucht. Aus diesem Grund hat der phö¬
nizische Buchstabenname, der griechischem (xG zugrundeliegt, um 1000 v. Chr.
/Mem/ (< *mayim 'Wasser' [= Plural]) und nicht *Mema gelautet.-"' Zum ande¬
ren findet sich bei (singularischen) Nomina mit vokalischem bzw. diphthongi¬
schem Auslaut ebenfalls nie eine Absolutivendung -a. Folglich sind vier phöni¬
zische Buchstabennamen ohne eine solche Endung anzusetzen: /He/, /Wau/,
/Sade/ und /Tau/.
Schließlich ist in diesem Zusammenhang aber aucb zu beachten, daß semi¬
tische Nomina und Eigennamen im Absolutivkasus bzw. in der Zitierform
anstelle einer Endung -a häufig eine 0-Endung aufweisen. Die Ursachen dafür
sind noch weitgehend unerforscht. Entweder sind -a und -0 Morphemvarian¬
ten, oder aber -0 resultiert aus einem Schwund von -a im Auslaut. So läßt sich
beispielsweise in amurritischen Personennamen beobachten, daß der soge¬
nannte 0-Kasus (endung.sloses Nomen) und der sogenannte a-Kasus (Nomen
2 Siehe Hoch (1994, 454). Hoch interpretiert die Formen freilich als Akkusa¬
tive.
•' /Sinna/ > '^Sirjma = aiyixa..
* Damit erledigt sich auch eine von Rosen (1995, S. 212) gebotene Erklärung,
wonach die betreffenden -a-Endungen bei der Übernahme der kanaanäischen
Buchstabennamen in die ägäische Welt zur Vermeidung „ , unzulässiger' konso¬
nantischer Wortausgänge" sekundär hinzugefügt worden wären.
In älterer Zeit lautete das Wort zwar tatsächlich /Mayüma/ (Nominativ) und
/Mayima/ (Kasus Obliquus). Die Endung -a ist jedoch keine Kasusendung und
nicht mit der Absolutivendung gleichzusetzen.
Griechisches und semitisches Alphabet: Buchstabennamen 319
mit Endung -a) vollkommen funktionsgleich sind, so daß Formen mit -a gleich¬
sam als phonetische Varianten zu endungslosen Formen fungieren.'' Aus die¬
sem Grund ist damit zu rechnen, daß gewisse weitere Buchstabennamen des
phönizischen Alphabets endungslos zitiert wurden. Dies könnte für /Nun/ und
/Rös/ (< *Ra's) einerseits sowie für /Zen/ und /'En/ andererseits gelten,
Namen, deren Stamm mit (nicht geminiertem) Nasal oder Sibilant endet. Bei
der Übernahme ins Griechische dürften die Auslautphoneme - weil durch kei¬
nen folgenden Vokal geschützt - ersatzlos geschwunden sein: /Nün/ > vö,
/Rös/ > p(ö', /Zen/ > *'C,y] (später aus Analogiegründen mit einer sekundären Endung -xa versehen) und /'En/ > *E.
2. Die Phonementsprechungen der semitischen Sibilanten
Rui.iOHs (1997, S. 561-567) Überlegungen hinsichtlich der griechischen Ent¬
sprechungen semitischer Alphabetzeichen, die für sibilantische bzw. sibilan¬
tenähnliche Phoneme stehen, führten zu keinem überzeugenden Ergebnis, da
Ruijgh von inkorrekten Lautwerten der betreffenden semitischen Phoneme
ausging. Ruijgh nahm neuere semitistisehe Untersuchungen nicht zur Kennt¬
nis, die überzeugend nachweisen, daß die Mehrzahl der sogenannten Sibi¬
lanten des Nordwestsemitischen um 1000 v.Chr. als Affrikaten artikuliert
wurden.
Zu den Sibilanten (im engeren Sinn) werden im Semitischen traditionell fol¬
gende vier Phoneme gezählt: /s/ (Samech), /s/ (Sade), /z/ (Zayn) und /§/ (Sin).*
Die ersten drei dieser Phoneme liegen phonetisch auf einer Ebene und lassen
sich zu einer triadischen Phonemreihe zusammenfassen (stimmlose, stimmlos¬
emphatische und stimmhafte Artikulationsart). Der fundamentale Artikula¬
tionsunterschied zwischen der Sibilantentriade /s - s - z/ einerseits und /S/
andererseits liegt neueren komparatistischen Studien" zufolge darin, daß die
sogenannte Sibilantentriade in allen früh bezeugten semitischen Sprachen
(einschließlich der nordwestsemitischen Sprachen der ersten Hälfte des 1.
Jahrtausends v. Chr.) affriziert war und etwa als [ts - ts' - dz] realisiert wurde.
Demgegenüber ist /s/ der einzige genuin frikative (stimmlose) Sibilant des
Semitischen. Die Artikulationsstelle des /§/ schwankt in den verschiedenen
" Siehe Streck (1997, S. 139-142 [§§ 3.39; 3.40; 3.43]). Auffällig ist etwa, daß
Wurzeln mediae geminatae (z. B. Hadda, Yamina, hanna) überhaupt keinen 0-
Kasus bilden und daß der 0-Kasus vor enklitischem -ma nie begegnet.
' Zu einer anderen, m. E. weniger wahrscheinlichen Erklärung des Wegfalls des
Auslautsibilanten siehe Powell (1991, S. 37), die auch von Ruijgh (1997, S. 558)
als „explication satisfaisante" übernommen wurde (Sequenz „pÜQ-nLyyLo." verein¬
facht zu „pcÖCTtyfxa").
" In sprachvergleichenden Darstellungen wird /sV anstelle von /s/ und /s'/
anstelle von /§/ verwendet.
« Faber (1985), Steiner (1982) und Bomhard (1988, S. 123-128).
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semitisehen Sprachen. Das betreffende Phonem kann alveolar oder palato-
alveolar artikuliert werden.
Dieser Befund läßt die Entsprechungen griechischer und nordwestsenüti-
scher Sibilanten (im weiteren Sinn) unter neuem Licht erscheinen. Da alle
nordwestsemitischen Sibilanten außer /§/ zur Entstehungszeit des griechi¬
schen Alphabets affriziert artikuliert wurden, kam für griechisches /s/ nur
semitisches /s/ in Frage. Auf der anderen Seite erklärt die Affrizierung von
nordwestsemitisch /s - s - z/, warum die entsprechenden Schriftzeiehen im
griechischen Sprachraum allesamt wieder für Affrikaten verwendet werden
konnten: Nordwestsemitisches /z/ mit der Artikulation [dz] war bestens
geeignet, griechisches [dz] wiederzugeben. Nordwestsemitisches /s/ mit der
ungefähren Artikulation [ts'] (= emphatisch artikuliertes [ts]) konnte für grie¬
chisches [ts] (Buchstabenname *Tsan)"' verwendet werden. Damit aber war
der Weg frei, um nordwestsemitisches /s/, das - anders als das Transliterati¬
onssymbol es vermuten läßt - als [ts] gesprochen wurde, für die Wiedergabe
einer anderen Konsonantenverbindung, nämlich [k''s] (Buchstabenname *?,ti,
5i) zu benutzen. Es läßt sich auch ein Grund dafür wahrscheinlich machen,
warum nordwestsemitisches /s/ und As/ in dieser Weise und nicht umgekehrt
verwendet wurden: Emphatisch artikulierte Verschlußlaute des Semitischen
sind durch Nicht-Aspiration gekennzeichnet, während nicht-emphatische
Verschlußlaute durchweg aspiriert ausgesprochen wurden. Es ist folglich sehr
wahrscheinlich, daß der dentale Verschluß von /s/ ohne Aspiration, der von
/s/ aber mit Aspiration, d. h. genaugenommen als [t''s] artikuliert wurde.
Somit eignete sieh nordwestsemitisches /s/ = [ts] besser als /s/ = [t^s] für die
Wiedergabe von griechischem nicht-aspiriertem [ts], während nordwestsemi¬
tisches /s/ = [t''s] griechischem [k''s] phonetisch nahe kam.
Bibliographie
A. R. Bomhard, 1988: The Reconstruction of the Proto-Semitic Consonant System.
In: Y. L. Arbeitman (ed.), Fucus: A Semitic/Afrasian Gathering in Remem¬
brance of Albert Ehrman, Amsterdam/Philadelphia, S. 113-140.
A. Faber, 1985: Akkadian Evidence for Proto-Semitic Affricates. In: Journal of
Cuneiform Studies 37, S. 101-107.
J. E. Hoch, 1994: Semitic Words in Egyptian Texts of the New Kingdom and Third
Intermediate Period. Princeton.
E. Lipinski, 1997: Semitic Languages. Outline of a Comparative Grammar (Orien¬
talia Lovaniensia Analecta 80). Leuven.
B. B. Powell, 1991: Homer and the Origin of the Greek Alphabet. Cambridge.
H. B. Rosen, 1995: Lat. rete. In: Indogermanische Forschungen 100, S. 210-212.
C. J. Ruijgh, 1997: La date de la creation de l'alphabet grec et celle de l'epopee homerique. In: Bibliotheca Orientalis 54, Sp. 533-603.
"> Siehe dazu Ruijgh (1997, S. 563-565).
Griechisches und semitisches Alphabet: Buchstabennamen ... 321
W. VON Soden, 1995: Grundriß der akkadischen Grammatik (Analecta Orientalia
33). -'Rom.
R. C. Steiner, 1982: Affricated. sade in Semitic Languages. New York.
M. P. Streck, 1997: Das amurritische Onomastikon der altbabylonischen Zeit.
Grammatische, lexikalische und religionshistorische Untersuchungen (Habilita¬
tionsschrift Universität München [unpubliziert]).
J. Tropper, 1999: Die Endungen der semitischen Suffixkonjugation und der
Absolutivkasus. In: Journal of Semitic Studies 44 [im Druck].
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Jakob Philipp Fallmerayers Rückkehr in die Heimat
Hermann Ekkehard Laischmann, Brixen
Der lür den folgenden Versuch gewählte Titel zeigt, daß nicht die Absicht
besteht, der überaus reichen Literatur über den berühmten Orientalisten
eine weitere wissenschaftliche Untersuchung hinzuzufügen'.
Der weltberühmte Orientalist und Mitbegründer der modernen Byzantini¬
stik, Jakob Philipp Fallmerayer, ist immer mehr und mehr in Vergessenheit
geraten und fristet nur mehr ein - wenn auch sehr umfangreiches - lexika¬
lisches Dasein. Dennoch hat gerade er viele entscheidene Entwicklungen,
die uns heute unmittelbar berühren, scharfsichtig vorausgesagt, z. B. die
schicksalsträchtige Bedeutung des südosteuropäischen Raumes „ungeheueres
illyrischer Länderdreieck" ... und „Keime zu jiolitischen Verwicklungen der
ernsthaftesten Natur"^, oder die Bedeutung Rußlands und den Niedergang
Preußens und Österreichs „Das große Oesterreich wird dann in die Kreise
des neuen Weltreiches gezogen werden, und zugleich aller Regierungssorgen
über Galizien, Ungarn und Zubehör, früher als es denkt, enthoben sein. Das
eigentliche Preußen dagegen, das altpolnische Lehen, kehrt wieder in das
frühere Dienstverhältniß zurück, und Danzig mit Graudenz und Thorn wer¬
den Grenzfestungen eines Reiches sein, größer und furchtbarer als je eines
nach dem Fall der Römerwelt die Sonne beschienen hat"''.
Freilich hat er als maßgebender Mitbegründer einer historischen Wissen¬
schaft zahlreiche Irrtümer begangen und Entwicklungen angekündigt, die
niemals eingetreten sind, und gilt heute infolgedessen als veraltet, aber hier¬
hin teilt er das Schicksal aller bedeutenden Wegbereiter. Ein sehr wesent¬
licher Bestandteil seines Werkes ist die journalistische Tätigkeit - vor allem
' Zu allgemeiner Orientierung über Leben und Werk sei verwiesen auf:
Deutsrhcn bioyrap/iivclicn Arrhir, Microfiche-Au.sg. München 1982-1986, Fiche
307. Verz. 235-249; Dcut.schi.s biographischcs Archiv, N. F.. Microfiche-Ausg.
München 1987. Fiche 352, Verz. 377-395; Allgemeine Deulsche Biographie, Bd.
6, Berlin 1877, S. 558-566; Neue Deulsche Biographie, Bd. 5, Berlin 1961, S.
19-20; Biographisches Lexikon zur Geschichle Südeuropas, Bd. 1, München
1974. S. 488-490; Tatisend Jahre Öslerreich. Bd. 2, Wien - München 1973, S.
22-26.
-Jakob Philipp Fallmerayer: Gesammelle Werke. Hrsg. von G. M. Thomas. Bd
2, Lei])zig 1861, Blick aufdie unteren Donauländer (1839), S. 18.
^ Jakob Philipp Fallmerayer: Gesammelle Werke, Bd 2, Leipzig 1861, Czar,
Byzanz, Oeeident, S. 94.