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Unterwegs in eine Welt des Verstehens

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Hamburger Historische Forschungen | Band 1

Hamburg University Press

Gehörlosenbildung in Hamburg vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Unterwegs in eine Welt des Verstehens

Iris Groschek

H F

H

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Unterwegs in eine Welt des Verstehens

Gehörlosenbildung in Hamburg vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

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Herausgegeben von Rainer Hering

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Unterwegs in eine Welt des Verstehens

Gehörlosenbildung in Hamburg vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Iris Groschek

Hamburg University Press

Verlag der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky

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Impressum

BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek

DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschen Nationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternetüber http://dnb.dnb.deabrufbar.

DieOnlineVersiondieserPublikationistaufdenVerlagswebseitenfreiverfügbar (openaccess).DieDeutscheNationalbibliothekhatdieNetzpublikationarchiviert.

DieseistdauerhaftaufdemArchivserverderDeutschenNationalbibliothekverfüg bar.

OpenaccessüberdiefolgendenWebseiten:

HamburgUniversityPress–http://hup.sub.unihamburg.de

ArchivserverderDeutschenNationalbibliothek–http://deposit.dnb.de

ISBN9783937816456(Printausgabe) ISSN18653294(Printausgabe)

©2008HamburgUniversityPress,VerlagderStaatsundUniversitäts bibliothekHamburgCarlvonOssietzky,Deutschland

UmschlagundLogogestaltung:LilianeOser

AbbildungaufdemSchutzumschlagundderBuchdecke:

NaturkundeunterrichtmitOttoSchmähl1952/53(ArchivdesGehörlosenverbandes Hamburg).

Produktion:ElbeWerkstättenGmbH,Hamburg,Deutschland http://www.ewgmbh.de

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Inhalt

Vorwort . . . 9

Rainer Hering Dank . . . 11

1 Einleitung . . . 13

1.1 Vorbemerkung 13

1.2 Was bedeutet Gehörlosigkeit? 14

1.3 Die Stellung Hamburgs in der Gehörlosenbildung 23

1.4 Forschungsstand, Quellenlage und Aufbau der Arbeit 25

2 Die erste deutsche Taubstummenanstalt – Samuel Heinicke in Hamburg . . . 33

Exkurs: Das Samuel-Heinicke-Denkmal 49

3 Die Milde Stiftung Taubstummenanstalt Hamburg . . . 51

3.1 Die Anfänge unter Heinrich Wilhelm Buek 51

Exkurs: Weitere Einrichtungen für Gehörlose in Hamburg und Altona 54

3.2 Vom Dammtor zur Bürgerweide (1827–1881) 57

3.2.1 Von der Vereinsgründung bis zum ersten Schultag 57

3.2.2 Unterricht in Lautsprache 62

3.2.3 Neuer Schulbau und neue Lehrer 65

3.2.4 Der Wandel von der kombinierten Methode zur Lautsprachmethode 70

3.2.5 Schüler 72

3.2.6 Anerkennung und Ausbau der Anstalt 78

3.2.7 Die Taubstummenschule soll verstaatlicht werden 83

(8)

6 Inhalt

4

Die staatliche Taubstummenschule . . . 87

4.1 In der Kaiserzeit (1882–1918) 87

4.1.1 Gebäude 87

4.1.2 Schulverwaltung 88 4.1.3 Körperlichen Schwächen begegnen 91 4.1.4 Vorbereitung auf die Berufstätigkeit 92 4.1.5 Auf der Suche nach einem neuen Direktor und neuen Lehrkräften 96 4.1.6 Inspektionen und Kritik 99 4.1.7 Lautsprache und Gebärden 103

4.2 In der Weimarer Republik (1919–1933) 108 4.2.1 Schulselbstverwaltung 108

4.2.2 Die Arbeit der Schulleiter 115

Exkurs: Anregungen der Heilpädagogischen Vereinigung 119

4.2.3 Forderungen der Gehörlosen 121

4.2.4 Folgen der Inflation 122 4.2.5 Jubiläumstagungen 1927 124

4.3 Im „Dritten Reich“ (1933–1945) 129

4.3.1 Machtwechsel und erste Veränderungen an der Taubstummenanstalt 129 4.3.2 Dorothea Elkan – eine jüdische Lehrerin 131

4.3.3 Alfred Schär – ein politisch verfolgter Lehrer 136

Exkurs: Das Phonetische Laboratorium seit seiner Gründung 1910 140 4.3.4 Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 154

Exkurs: Gesundheitspaßarchiv 171 4.3.5 Lehrer und Schüler in NSDAP und Hitler-Jugend 174

4.3.6 Das Ende der Schule an der Bürgerweide 183 Exkurs: Schulpflicht 186

4.3.7 Kinderlandverschickung 194 4.4 Zu Gast in anderen Schulen (1945–1964) 206

4.4.1 Wiederaufbau der Schule 206

4.4.2 Die Bemühungen um den Wiederaufbau des Internats 220

4.4.3 Der Schulneubau – eine unendliche Geschichte 225

(9)

Inhalt 7

4.5 Die Samuel-Heinicke-Schule (1964–2000) 230

4.5.1 Schule im Neubau 230

4.5.2 Vergangenheitsbewältigung? 236

4.5.3 Schüleraktivitäten 239

4.5.4 Unterricht: Lautsprache, Gebärden und Gebärdensprache 241 4.5.4.1 Kurzer geschichtlicher Überblick über die pädagogische

Methodik an deutschen Gehörlosenschulen 241

Exkurs: Die Folgen des Mailänder Kongresses 346

4.5.4.2 Lautsprache, Lautsprachbegleitende Gebärden und Gebärden

im Konsens 253

4.5.4.3 Der bilinguale Schulversuch 256

4.5.5 Schulkindergarten und Sondertagesheim 263

4.5.6 Der Grund- und Hauptschulzug 269

4.5.7 Der Realschulzug 270

4.5.8 Die Klassen für mehrfachbehinderte Kinder 275

4.5.9 Berufsschule 277

5 Die Ausbildung zum/zur „Taubstummenlehrer/lehrerin“. . . . 283

6 Einrichtungen für Schwerhörige und Sprachbehinderte . . . . 293

6.1 Schwerhörigenschule 293

6.2 Sprachheilschulen 296

7 Gehörlose in der Gesellschaft . . . 301 7.1 Selbsthilfeorganisationen, Stiftungen und Vereine 301 7.1.1 Bröhan, Pacher und die ersten Hamburger Gehörlosen-Vereine 301

7.1.2 Zeitschriften 305

7.1.3 Sozialdemokratische Vereine der Gehörlosen 307

7.1.4 Forderungen der Gehörlosen-Vereine bis in die 1920er Jahre 309 7.1.5 Der Dachverband Regede und die nationalsozialistische Zeit 315

7.1.6 Der Landesverband und seine Arbeit 321

7.1.7 Das Taubstummenaltenheim 327

7.1.8 Stiftungen für mehrfachbehinderte Gehörlose 330

(10)

8 Inhalt

7.2 Gehörlose Künstler 333

7.2.1 Ruth Schaumann 333

7.2.2 Elisabeth Seligmann 336

7.2.3 Franz Hartogh 340

8 Die Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen in Groß-Hamburg e. V. und das Kultur- und Freizeitzentrum für Hamburger Gehörlose . . . 345

9 Das Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser an der Universität Hamburg . . . 353

10 Gehörlosenseelsorge . . . 359

11 Zusammenfassung und Ausblick . . . 369

12 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . 373

12.1 Quellen 373 12.1.1 Ungedruckte Quellen 373 12.1.2 Interviews 375 12.1.3 Gedruckte Quellen 376 12.2 Literatur 386 13 Anhang . . . . 407

Abkürzungen 407

Bildnachweis 409

Personenregister 410

Über die Autorin 418

Über den Reihenherausgeber 418

(11)

Vorwort

Rainer Hering

Zu r Re ih e Hamb urg er Historische Fo rschung en

Die neue Reihe Hamburger Historische Forschungen umfasst Beiträge zur Hamburger und deutschen Geschichte, vornehmlich der neueren und neuestenZeit.SieistinsbesonderefürhervorragendeNachwuchswissen schaftlerinnenundwissenschaftleroffen,derenWerkesonstvielfachun veröffentlicht blieben. Gemeinsamer Bezugspunkt aller Publikationen ist Hamburg,dasheißtdieArbeitensindaneinerHamburgerHochschuleent standenoderbeschäftigensichinhaltlichmitderFreienundHansestadt HamburginVergangenheitoderGegenwart.DieReiheschaffteinForum geradefürbislangunerforschteThemen.ZugleichsinddieHamburgerHis torischenForschungen nichteinemeinzigenKonzeptverpflichtet,sondern bietenRaumfürdieVielfaltdertheoretischenundmethodischenKonzep te,Geschichtewissenschaftlichfundiert,aberdochzugleichauchfüralle historischInteressiertenverständlichdarzustellen.

Zum vorliegenden Band

DerersteBandvonIrisGroschekzurGeschichtederGehörlosenbildungin Hamburgvom18.JahrhundertbisindieGegenwartistbesondersgeeignet, dieseSchriftenreihezueröffnen.DieamHistorischenSeminarderUniver sität Hamburg angenommene Dissertation zeigt in einem historischen LängsschnitteinenbislangwenigbeachtetenBereichderBildungs,Kultur undAlltagsgeschichtederFreienundHansestadtanderElbeauf.

GehörlosehabenumdieAnerkennungihrereigenenSprachegekämpft–

undsiehabengewonnen:DieDeutscheGebärdenspracheistseit2002als eigeneSpracheanerkannt.WelcheRolleHamburgdabeispielteundwie

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10 Vorwort

HamburgzuseinerVorreiterrolleinderGehörlosenpädagogikkam,dar überberichtetdiesesBuch.

EszeigtanhandderGeschichtederSamuelHeinickeSchuleundihrer Vorgänger,wieGehörloseinHamburgvondenAnfängenim18.Jahrhun dertbisheuteausgebildetwurdenundwerden.DabeiwirddieRolleHam burgs als Impulsgeber in der Entwicklung der Gehörlosenpädagogik in Deutschlanddeutlich:ImheutigenHamburgerStadtteilEppendorfhatte SamuelHeinickeMittedes18.JahrhundertsmitderAufnahmeeinerGrup pegehörloserKinderdieersteprivateSchulefürGehörloseinDeutschland gegründet.DasBuchberichtetanschaulich,wiefastsechzigJahrespäter aufInitiativeeinigerHamburgerBürgerdieMildeStiftungTaubstummen anstaltgegründetwurde,die1827ihrenLehrbetriebmiteinemgehörlosen Lehreraufnahm.SpannendistderweitereWerdegangderSchuleüberdie Verstaatlichung,dieAdaptionschulpolitischerForderungenderWeimarer RepublikunddieselektierendeRolleihrerLehrerimNationalsozialismus bishinzurAufgabederSchulselbstständigkeitderSamuelHeinickeSchule (heute Schule für Hörgeschädigte Abteilung II) im Jahr 2000. Ende des 20.JahrhundertswareswiederdieHamburgerSchule,diemitderEinfüh rungeinesbilingualenSchulzugesindergehörlosenpädagogischenLand schaft in Deutschland einen neuen Weg aufzeigte und somit an zwei Grenzmarken–demBeginndeutscherGehörlosenpädagogikundinderak tuellen bilingualen Entwicklung – prägend wirkte: Hier nahm die Laut sprachmethodeihrenAnfang,hierwurdeaberaucherstmalswiederauf dieDeutscheGebärdensprachealsUnterrichtsgegenstandzurückgegriffen.

NebenderSchulewerdenweitereSelbsthilfeorganisationen,Stiftungen, VereineundInstitutevonHamburgerGehörlosenundfürHamburgerGe hörlose sowie die Lebenswege einiger bekannter Hamburger Gehörloser vorgestellt.

(13)

Dank

DievorliegendeArbeitwärenichtmöglichgewordenohnedieUnterstüt zungzahlreicherhelfenderPersonen.Herzlichdankenmöchteichallen gehörlosenund hörenden Zeitzeugen und Gesprächspartnern,dieüber sichundihreFamilie,überihreErfahrungen,ihreArbeitundGedanken AuskunftgegebenundmitDokumentenundFotosdieseArbeitermög lichthaben.StellvertretendsollhierderkürzlichverstorbeneEhrenvor sitzende des Gehörlosenverbandes, Eugen Tellschaft, genannt werden.

Prof.Dr.RainerHeringundProf.Dr.AxelSchildtdankeichsehrfürdie stets freundliche und ermutigende Unterstützung meiner Dissertation.

Erstgenanntem,Dr.UweSchmidtundDr.ChristianHannenmöchteich besonders für inhaltliche und lektorierende Anregungen danken. Mein DankgiltschließlichbesondersderJohannaundFritzBuchGedächtnis stiftung für die finanzielle Unterstützung dieser Veröffentlichung und HamburgUniversityPressfürdieverlegerischeBetreuung.

Hamburg,imJanuar2008 IrisGroschek

(14)
(15)

1 Einleitung

1. 1 Vo rbemerku ng

Gehörlos.Washeißtdas?Gehörlose.Wassagensie?Aufdenerstendeut schenKulturtagenderGehörloseninHamburgwurdeeinegrößereÖffent lichkeitaufdiemitHändensprechendenMenschenaufmerksam.Eswar hierinHamburg,dassGehörloseselbstbewusstfürdieAnerkennungihrer Sprache,derGebärdensprache,aufderStraßedemonstriertenundaufder TagunginUniversitätsräumenihreeigeneKulturpräsentierten.1Fasziniert standichamDammtorbahnhofundsahdiegebärdendenDemonstranten, wolltemehrwissenundentdecktedieimAudimaxaufgebautenSchauta felnzurGeschichtederGehörlosen.ErsteSchritteineineselbstbewusste RichtunghattedieMünchnerinGertrudMally(geb.1948)gemacht,dieauf Anregungdesseit1975inHamburgerschienenensogenannten„Blauen Gebärdenbuches“ab1977erstmalsGebärdenkurseanderVolkshochschule Münchengab.SiegründetenachdemBesuchdeserstenKongresseszur Gebärdensprachforschung,derimNovember1985inHamburgstattfand, diekritischeZeitung„Selbstbewußtwerden“,dieerstmalsGehörlosenein kritischesForumbot.2LangwierigeheißgeführteDiskussionenumdieStel lungder GebärdensprachewarendieFolge desHamburgerKongresses, dereinerRevolutiongleichkam,wurdedochhieraufwissenschaftlicher Grundlagehervorgehoben,dassdieGebärdenspracheeineeigeneSprache miteigenständigerGrammatiksei.DieHamburgerKulturtageachtJahre

1JensHeßmann,Schongehört–unerhört.Specialzuden„1.DeutschenKulturtagenderGe hörlosen“unddem„KongreßzurZweisprachigkeitGehörloser“Hamburg14.–17.Oktober 1993,in:DasZeichen.ZeitschriftzumThemaGebärdenspracheundKommunikationGehörlo ser26(1993),S.528536.

2 IngeRichter,PersönlicheGedankenzumJubiläumderZeitschrift„Selbstbewußtwerden“, 1999 (nachzulesen unter http://www.taubenschlag.de/sbw/sbw50/richter.htm, abgerufen am 15.9.2007).ZuGertrudMallysieheauchihrPorträtinderFernsehreihe„SehenstattHören“

1106. Sendung am 6.10.2002 (nachzulesen unter http://www.taubenschlag.de/SSH/1106.htm, abgerufenam7.6.2003).InHamburgerscheintseitJanuar1986die„HamburgerGehörlosen Zeitung“(HGZ)alsKommunikationsundDiskussionsforum.

(16)

14 Einleitung

späterwarenderStartzuvielenAktionen,dieimJahr2002zumZielder AnerkennungderDeutschenGebärdenspracheführten.

1. 2 Was bedeutet Gehör losigkeit?

Jahrhundertelang wurden Menschen, die nicht hören können, künstlich dummgehalten.„Taubstumme“galtenalsgeistigbehindert.Siehattenkei nerleiRechte.3 KaumeinHörenderkamaufdieIdee,dasstaubenMen schenetwasbeigebrachtwerdenkönne.„Wernichthörenundnichtspre chenkann,kannauchnichtdenken“–dieseInterpretationvonAussagen desPhilosophenAristoteles(384–322v.Chr.)ließGehörlosebisindasspäte 16.Jahrhundertals„bildungsunfähig“gelten.Vereinzeltechristlichmoti vierteMöncheinFrankreichundSpanienwiesendannmiteinzelnenSchü lernpraxisnahdasGegenteilnach.DocherstmitdenIdeenderAufklärung undderGründungmodernerStaatenwurdedieBildungallerMitglieder einesVolkesdurchAufundAusbaueinesflächendeckendenSchulsystems gefördert.IndieserZeitkamesauchzurGründungvonSchulenfürGe hörlose. Die weltweit erste Gehörlosenschule wurde 1760 durch Abbé CharlesMicheldel´Epée(1712–1789)inPariseröffnet.InDeutschlandwar esSamuelHeinicke (1727–1790),derab1769gehörloseSchülerinEppen dorfbeiHamburgunterrichteteund1778dieerstedeutscheGehörlosen schuleinLeipziggründete.ErstmalslebtenmehreregehörloseKinderund ErwachseneindiesenalsInternatkonzipiertenGehörlosenschulenzusam menundkonntensoeineeigeneKulturundSprachealsgemeinsameBasis entwickeln.

DieSichtweisederHörenden,dieGehörlosezuallererstüberdenMan geleinesSinnesdefinieren,prägteallerdingsweiterhindenBlickaufgehör loseMitmenschen.DasZielderAusbildungGehörloserdurchHörendelag

3 EinerderältestenHinweiseaufdieUnmündigkeitHamburgerGehörloserfindetsichim Jahr1603:Auszugaus„derStadtHamburgGerichtsOrdnungundStatutavon1603“Part.III Tit.6„VonVormundundPflegschaften“Artikel11:„DaauchgebrechhaftigePersonengefun denwerden,alsUnsinnigeoderSinnlose,StummeundTaube,desgleichendiemitlangwieri gerKrankheitbeladenundlagerhaftsind,auchdieihreGüterunnützlichverschwenden,die sollenunsgleichfallsdurchdieMutter,oder,wenndieselbenichtmehramLeben,durchdie nächsteBlutsverwandte,beyVerlustihrererblichenAnwartung,wieobstehet,angezeiget,und ihnennachGelegenheitCuratoresundVorsorgerverordnetwerden.“

(17)

Was bedeutet Gehörlosigkeit? 15

spätestensseitdemfolgenreichenMailänderTaubstummenlehrerkongress imJahr1880imErlernen,imSprechen,imNachahmenderLautsprache:

ZielwardiemöglichunauffälligeIntegration.ChristlicheBarmherzigkeit warderAntrieb.DerHauptblickgaltderBehinderungundnichtdenMög lichkeiten–dasbesseralsbeivollsinnigenMenschenausgeprägtevisuelle WissenundKönnenGehörloserwurdeunbeachtetgelassen.

OhneHilfekanneineinzelnerMensch,dernichthörenkann,dieauf AkustiksetzendeWeltumihnherumnichtverstehen.GesprocheneSpra chekannnichtaufnatürlichemWegegelerntwerden.So,wiefürdenEuro päerdieSchriftzeichenderchinesischeSprachenurBildersind,sobedeu tendasSprechen,dieLaute,dieBuchstabenfürjemanden,dergehörlosist, ebenso zuallererst nur Mundbewegungen und Bilder. Das Fehlen einer akustischenWahrnehmungmachtwiederumdenErwerbunddenEinsatz dergesprochenenLautsprachezueinersehrschwerenAufgabe.Nochheu tewirddennochderEinsatzvonGebärdeninSchuleundFamilie–hierbei sindwenigerlautsprachbegleitendeGebärdenalsvielmehrdieGebärden spracheselbstgemeint–vonFachleutenmitderBegründungabgelehnt, dieswürdedenLautspracherwerbbehindernunddieSprachundAblese fähigkeiten negativ beeinflussen.4 Die so lautsprachlich durchgeführte Kommunikation bleibt allerdings oft sehr einseitig und statt Freude am Sprechen entsteht leicht eine Therapiesituation, wenn Aussprache korri giertwirdoderdasnicht(odernursehrschlecht)hörendeKindsichnicht spontanunddirektinseinernächstenUmgebungmitteilenkann.DieDeut scheGesellschaftzurFörderungderGehörlosenundSchwerhörigen(seit 2005DeutscheGesellschaftderHörgeschädigten–SelbsthilfeundFachver bändee.V.)siehteinProblemdarin,dassesdenKindernanselbstbewuss terAnerkennungfehlt,wennsichihreUmwelt(fast)reinlautsprachlichan sie wendet, was zwangsläufig zu einer asymmetrischenKommunikation führt.5DieGesellschaftkritisiertdenderzeitigpraktiziertenAnsatzderora lenFrüherziehungbereitsvordemSpracherwerbertaubterbzw.schwerhö

4 HerbertL.Breiner,LautspracheoderGebärdenfürGehörlose?DergeschichtlicheHinter grunddesProblems,in:ders.(Hg.),LautspracheoderGebärdenfürGehörlose?ZumErhaltder LautsprachmethodeundderenWeiterentwicklungbeiGehörlosen,Frankenthal1986, S.13–31, hier S. 16f.;DeutscheGesellschaftzurFörderungderGehörlosenundSchwerhörigene.V., HörgeschädigteKinder–schwerhörigeErwachsene.Kommunikationmitschwerhörigenund ertaubtenMenschen,Hamburg2000,S.23.

5Ebd.,S.24–25.

(18)

16 Einleitung

rigerKinder,diesichaufeineoptimaleLautsprachentwicklungspeziali sierthatundalsZieleineIntegrationindiehörendeWeltdurcheinehohe Lautsprachkompetenz Gehörloser sieht. Dass diese Integration nicht so vollständigerlangtwirdwievonhörendenPädagogenerhofft,lassenAus sagen schwerhöriger und gehörloser junger Menschen erahnen, die fast durchgehend sogar familiäre Kommunikationsprobleme vor allem im

„Senden“vonNachrichtenschildern,dieebensofastdurchgehendvonden hörendenElternteilennichtgesehenwurden.6 Einausschließlichaufden LautspracherwerbausgerichtetesLernenwirdheutenichtmehrfürgehör lose,alsovonGeburtannichthörendeKinder,sondernfürschwerhörige undertaubteKinderangestrebt.DiesgehtjedochauchhieroftaufKosten des Wissenserwerbs, derkommunikativenSicherheitundeinesselbstbe wusstenSozialverhaltens.7 DieGesellschaftfordertjetztineinemzweiten Schritt,nachdemdieGehörlosenschulendamitbegonnenhaben,dieGebär densprachealsvollwertigeUnterrichtsspracheanzuerkennen,auchvonden SchwerhörigenschuleneinenflexiblerenUmgangmitSpracheinsbesondere imSachunterricht.WeitereWünschegeltenderEinrichtungneuerSchulfä cher wie „Kommunikation“ und „Gebärden“ und dem Einsatz visueller KommunikationzurVerbesserungdersachlichenwiederkommunikativen Kompetenzen.8 EsgibtinDeutschlandheuterund80.000Gehörlose,9 da

6EmilKammerer,ZurSelbstwahrnehmungderKommunikationsbehinderungbeigehörlosen KindernundJugendlichen,in:Feuchte,Herbertu.a.(Hg.),ProceedingsoftheInternational CongressonEducationoftheDeafinHamburg1980,Vol.3,Heidelberg1982,S.328–334.

7DeutscheGesellschaftzurFörderungderGehörlosenundSchwerhörigene.V.,Hörgeschä digteKinder–schwerhörigeErwachsene,S.29.

8Ebd.,S.32.

9 GeschätzteZahldesDeutschenGehörlosenbundesinKiellautInformationvom4.12.2003.

Gehörlosigkeitistnichtmeldepflichtig.UnterschiedlichestatistischeAngabenentstehenbei unterschiedlicher Definition des Begriffes „gehörlos“. Während der Gehörlosenbund eine sprachlicheDefinitionderGehörlosigkeitnachderbevorzugtenKommunikationsformvor nimmt,nimmtdasStatistischeBundesamteinemedizinischeDefinitionvonGehörlosigkeit unterZuhilfenahmedervonHNOÄrztengemeldetenAngabenderVersorgungsämterzur GrundlageseinerZahlen.DabeiunterscheidetdasBundesamtnachGradderHörbehinde rung.DasStatistischeBundesamt,AuszugausderneuestenStatistikderSchwerbehinderten, Stand18.10.2000,nennteineZahlvon24.806deutschenGehörlosenundzusätzlich22.351ge meldetenPersonenmitTaubheitkombiniertmitBeeinträchtigungenderSprachentwicklung und entsprechenden Störungen der geistigen Entwicklung am Ende des Jahres 1999, also 47.000gehörlosenMenscheninDeutschland.WürdenauchdieSchwerhörigenmitgerechnet, dieeinenunterschiedlichenGradanHörfähigkeit–bisanTaubheitgrenzend–haben(190.499 Personen1999),kämemanaufeineAnzahlvon237.500Personen.Insgesamtwerdeninder

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Was bedeutet Gehörlosigkeit? 17

vonetwa5.600Kinder,dieGehörlosenschulenbesuchen.10Alsgehörlosgel tenPersonen,dietaubgeborenwurdenoderihrGehöralsKleinkindvor demErwerbvonSpracheverlorenhabenunddamitnichtaufnatürlichem Wegsprechenlernenkönnen.GehörloseKindersindAugenmenschen,die aufdiegelungeneKontaktaufnahmemitBlickkontakt,LächelnundNach ahmungreagieren,wiejedesgesundeKind.11DakleineWirkungenaberoft unbeachtetbliebenundgehörloseKindernichtsoreagierten,wieHörende essichwünschten,weilsieaufgesprocheneWortenichtreagierenkonnten, wurden „Taubstumme“ lange Zeit als „idiotisch“ oder „dumm“ tituliert undfürgeistigbehindertgehalten.Aber:EingehörlosesKindhatdieglei cheIntelligenzwieeinhörendesKind,eshatnurnichtdieMöglichkeit, überdasinunsererGesellschaftsowichtigeVerbale,dasHörenundSpre chen, sein Bildungsniveau, seine Intelligenz zu erweiternund zu entwi ckelnwieeinhörendesKind.Hiermüssenandere,nonverbale,Kommuni kationswegegegangenwerden.

EinemgehörlosenKind,sobeschreibtesdasZielderGehörlosenpäda gogik,mussderWegindiesprechendeundschreibendeGesellschafter öffnetwerden,indemihmdiegesprocheneSprachebeigebrachtunddamit dieIdeenundWeltanschauungenderHörendeneröffnetwerden.Gehörlo senpädagogenhabendieAufgabe,Abstrakteszulehren:dieLautsprache.

DiesebleibttrotzallerÜbungfürGehörlosedennochkünstlich.Eingehör loses Kind lernt zwar lesen, doch ein traditionell mit der oralen Laut sprachmethodeunterrichteterGehörloserverstehtallzuoftSinnundInhalt desGelesenennurschwer,daderSprachschatzgeringeristundneueoder zusammengesetzteWortenichtohneWeitereszuentschlüsselnsind.Auch

Rubrik „Sprach oder Sprechstörungen“ exakt 253.492 Personen gezählt, d. h. taube und schwerhörigeMenschensowiePersonenmitGleichgewichtsoderSprachstörungen.Gerech netwirdimAllgemeinenmiteinemGehörlosenAnteilvon0,1ProzentinBezugaufdieGe samtbevölkerung(ErnstDierksu.a.,ElterninformationNr.18,Thema:Bildungschancentrotz Hörschäden,Hamburgo.D.[ca.1979]).

10 InformationdesStatistischenBundesamtes,1993,Fachserie11,Reihe1Allgemeinbildende Schulen,12.2Sonderschulen.KlassenundSchülernachKlassentypen.ImSchuljahr2003/2004 warenesinHamburg88SchülerinnenundSchüler(BehördefürBildungundSport,Statisti scheInformation4b/2003,S.8).Auf2.000Geburtenkommt,statistischgesehen,eingehörloses bzw.hochgradigschwerhörigesKind(ArminLöwe,Gehörlose,ihreBildungundRehabilitati on,in:DeutscherBildungsrat,GutachtenundStudienderBildungskommission,Band30,Son derpädagogik2,Stuttgart1974,S.19).

11ImFolgendenwird,wennnichtandersangegeben,ausderBroschüreInformationderGe sellschaftzurFörderungderGehörlosene.V.,Hamburg1980,zitiert.

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18 Einleitung

durchdasAblesenvomMundentstehenMissverständnisse,dennWorte mitverschiedenerBedeutungundAussprachehabengleicheMundbilder (Not–Tod,eins–acht,m–b).Von30LautenderdeutschenSprachesind nurelfvondenMundbewegungenherunterscheidbar.12

TrotzguterAusbildungbleibteinnormalbegabtesgehörlosesKindauf einem niedrigeren Bildungsniveau stehen als ein hörendes Kind. Woher kommtdas?LangeZeitwurdeindersogenannten„Taubstummenpädago gik“alleininLautspracheunterrichtet,mehrWertaufdasSprechenalsauf dasWissengelegt,solautetderVorwurfderVorreitereineranderenPäd agogik, des Bilingualismus. Auch in Hamburg wurde traditionell die Gebärdenspracheabgelehnt,dadiesenichtnurdieIntegrationindieGe sellschaft behindere und Gehörlose absondere, sondern auch deren An wendungunterGehörlosen,wieesderehemaligeHamburgerSchulleiter Hermann Maeßeformulierte, „zueinernegativen seelischgeistigenHal tung“führe.13

DieseEntwicklungderAblehnungvonGebärdensprachefußteaufFor derungenSamuelHeinickes,derdenLautsprachUnterrichtfürGehörlose inDeutschlandeinführteunddamitfürdiedeutscheGehörlosenpädagogik wegweisendwurde.WährendzuAnfangdes19.Jahrhundertsallerdings nocheinekombinierteMethodeandeutschenTaubstummenanstaltenan gewandtwurde,inderGebärdenundLautsprachezumEinsatzkamen undauchgehörloseLehrkräfteandenSchulenunterrichteten,hattesich zumEndedesJahrhundertsdieoraleMethodedurchgesetzt.ErstamEnde des 20. Jahrhunderts wurde die reine Lautsprachmethode erneut tiefge hendinFragegestellt.EsentwickeltensichzweiunterschiedlicheAnsätze, derderhörgerichtetenPädagogik,dieimZugedesSinnesersatzesdurch elektrisch betriebene InnenohrProthesen, den CochleaImplantaten, bis zumHirnstammimplantatneueChanceninderhörgerichtetenFörderung sah,undderdesBilingualismus,deralsWeiterentwicklungderkombinier

12GeübteLippenleserkönnenbeibekanntenThemenbiszu30ProzenteinesTextesablesen.

AmLippenbilddeutlicherkennbarsindnurca.15ProzentderLauteindeutscherSprache (Beispieledazuz.B.:http://www.typolis.de/hear/lippenablesen.htm,abgerufenam15.9.2007).

13 HermannMaeße,DasVerhältnisvonLautundGebärdenspracheinderEntwicklungdes gehörlosenKindes(WissenschaftlicheBeiträgeausForschung,LehreundPraxiszurRehabili tationbehinderterKinderundJugendlicherXIII),VillingenSchwenningen2.Auflage1977(die Ergebnisseder1.AuflageausdemJahr1935wurdenhier40JahrespätervonMaeßeerneut überprüftundbekräftigt),S.104.

(21)

Was bedeutet Gehörlosigkeit? 19

tenMethodegesehenwerdenkann.14DieVertreterderbilingualenPädago gikwollenWissenmittelsderSprachederGehörlosengemeinschafterar beitetwissenundGehörlosenmittelsLaut(undSchrift)SpracheundGe bärdenspracheWegeinzweiWelteneröffnen.

Nochheutescheintesso,alsstündensichdieVertreterderunterschied lichenpädagogischenAnsätzefastunversöhnlichgegenüber.Nochimmer hatdiereinlautsprachlicheFörderunggehörloserKindersehrvieleAnhän ger.DieinHamburgansässigeBundesgemeinschaftderElternundFreunde hörgeschädigter Kinder e. V. sieht als Ziel die Integration in die Mehr heitsgemeinschaftderHörendenundmöchtegehörloseKinderinRegel schulenaufwachsensehen.DiesemeisthörendenElternweisenaufdie einhelligeMeinungvonMedizinernhin,dieeineEntwicklungvonLaut sprachkompetenznurdurchfrüheundgezielteakustischeReizeerzielbar halten–dieHirnreifungseiimWesentlichenbereitsimfrühenKindesalter abgeschlossenunddahereinspätererErwerbderLautsprachenichtmehr möglich.15 SiefordernzurVorbereitungaufdiehörendeundlautsprachli che Gesellschaft den Erwerb und Ausbau der Lautsprache in Vor und Grundschule,währenddieGebärdensprache,wennüberhaupt,erstspäter aufeigenenWunschderKindererlerntwerdendürfe.Wennjemandgebär densprachlich gefördert werden sollte, dann höchstens die zehn Pro zentder gehörlosen Kinder, die aus verschiedenen Gründen nicht fähig sind,eineLautsprachkompetenzzuerwerben.Über90Prozentdergehör losen bzw. stark schwerhörigen Kinder, die ohne Hörhilfe keine Spra cheüberdasOhraufnehmenkönnen,solltenmitfrühzeitigermedizinischer Unterstüzung und hörpädagogischer Förderung die Lautsprache erler nen.AlleHörgeschädigtenlehrkräftesollten,stattGebärdensprachezuler nen,liebereineverbesserteAusbildungindenBereichenHören,Hörförde rung, Technik und Kommunikationspsychologie erhalten. Mit Hilfe von

14 Helmut Vogel, Gebärdensprache und Lautsprache in der Taubstummenpädagogik im 19.Jahrhundert.HistorischeDarstellungderkombiniertenMethode,Magisterarbeit,maschi nenschriftlich,Hamburg1999.

15 Prof.Dr.RainerKlinke,SinnesundNeurophysiologeanderUniversitätsklinikFrankfurt amMain,VertreterderauditivverbalenErziehungaufGrundmedizinischerMöglichkeiten derHörwiederherstellungbeschreibtdiesinseinenVeröffentlichungen,u.a.RainerKlinke/

RainerHartmann/SilviaHeid/AndrejKral,WidereineWeltohneWorte.Auchbeiangebore nerGehörlosigkeitNervenverbindungenimHörsystemarbeitsfähig–ChancenfürTherapieim Kindesalter, in: Forschung Frankfurt, Wissenschaftsmagazin der GoetheUniversität 2 (1997), S.16–27.

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20 Einleitung

modernenHörhilfenundlautsprachlicherKommunikationwirdzukünftig, davonistdieBundesgemeinschaftüberzeugt,ursprünglichnichthörenden KinderndievölligeIntegrationinGesellschaftundBerufslebengelingen, wobeiinsbesonderecochleaimplantierteunddamitnichtmehrgehörlose KinderihreHoffnungsind.16

EinWandelinderBildungundAusbildunggehörloserKinderistinzwi scheninderpädagogischenLandschaftdeutlichzusehen,diereinlaut sprachlicheErziehungwirdimmermehrhinterfragt,ohneausdenAugen zuverlieren,dasseineguteSchreibundLesefähigkeitauchfürGehörlose unverzichtbarist.DerEinsatzvonGebärdenundLautspracheimUnter richtgehörloserbzw.hochgradighörgeschädigterKinderwirdzunehmend befürwortet,diebilingualeUnterrichtsundFrühfördermethodesolltesich imInteresseeinergutenAusbildungweiterdurchsetzen.17

DiezumTeilignorante,hochnäsigeoderablehnendeEinstellungderBe völkerung,aberauchderFachleutegegenüberdenGehörlosenistdasEr gebniseinerlangenEntwicklungvonUnkenntnis,Fehlinformationenund Missverständnissen,sosehenesdieBefürworterdesBilingualismus.Men schen,dienichthören,sehensichnichtalsbehindertan,siesindgehörlos.

DasSelbstverständnisderjungenGehörlosenhatsichimVergleichzuden vorigenGenerationengewandelt:18JungeGehörlosesindselbstbewusstge worden,keinVergleichzumtraditionellenBilddesGehörlosenalsdankba resObjektderFürsorgehörenderMitmenschen.HeutewollenGehörlose alsMenschenmiteineranderenSprachegesehenwerden,derGebärden sprache,dieebensovollentwickeltundfähigist,komplizierteGedanken gängezuumschreiben,wiejedeanderealsvollwertiganerkannteSprache.19

16PositionspapierderBundesgemeinschaftderElternundFreundehörgeschädigterKindere.V.

zumThema„Gebärdensprache“,Hamburg1998.

17SoentstehtauchwiedereinBedarfnachgehörlosenLehrkräftenalskompetentenGebärden sprachlernmitVorbildfunktionalsauchnachdemEinsatzvonGebärdensprachdolmetschern z.B.imUnterrichthöhererSchulklassen.

18NoraEllenGroce,JedersprachhierGebärdensprache.ErblichbedingteGehörlosigkeitauf derInselMartha´sVineyard(InternationaleArbeitenzurGebärdenspracheundKommunika tionGehörloserBand4),Hamburg1990,S.134undS.118ff.;AnregungenzufolgenderPassa geüberjungeGehörlosewurdeneinerSchweizerFernsehreportagemitdemTitel„Einestille Welt.DasLebenjungerGehörloser“entnommen,dieam6.6.1994auf3Satausgestrahltwurde.

19Schwedenwar1980dasersteLand,indemdieGebärdensprachezuroffiziellenLandesspra chewurde.GehörloseschwedischeKinderhabeneinRechtdarauf,indieserSprachebzw.bi lingualunterrichtetzuwerden.AuchinDeutschlandfordertenGehörlosemehrAufmerksam

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Was bedeutet Gehörlosigkeit? 21

Die nationalen Gebärdensprachen, so ergaben Ergebnisse linguistischer Forschungen,dieEndeder1950erJahreneinsetzten,sindähnlichkomplex undgenausoausdrucksfähigwieLautsprachen.DievisuellenGebärden sprachenhabengenausoeineeigeneGrammatik.SienutzendenKörperals SprachinstrumentmittelsGebärde,MimikundKörperhaltung.20

Aus Belehrung sollgleichberechtigteKommunikation werden.Die Ge hörlosengemeinschaft,diesichnatürlichauchüberihreSprachedefiniert, fordertdieSichtaufeinepositiveIdentität.DabeinimmtdieDeutscheGe bärdenspracheeinezentralePositionalsSpiegelderdeutschenGehörlosen kulturundtraditionein.21 PositiveIdentitätmeinthierbeidieDefinition einerGemeinschaftübereinegemeinsameSpracheunterAblehnungdes Behindertenstatus. Dies ist das linguistischpositive Menschenbild zwei sprachigerGehörloser(Lautsprache–Gebärdensprache).Aufderanderen Seitestehtdas(traditionelle)medizinischdefizitäreBilddesGehörlosenals hörbehinderterMensch.HierausergebensichunterschiedlicheForderun gen.SelbstbewussthabenGehörlosezunehmendfürdieAnerkennungih rerSprachegekämpft–mitErfolg: Zum1.Mai2002tratdasGesetzzur GleichstellungbehinderterMenschen(Bundesgleichstellungsgesetzfürbe hinderteMenschen)inKraft.NichtFürsorge,sondernBürgerrechtesollen MenschenmitBehinderungenzugestandenwerden.DieDeutscheGebär densprachewurdegesetzlichundpolitischanerkannt.22

keitundService,z.B.durchmehrUntertitelimFernsehen.1974hattesichdasZDFerstmals bereiterklärt,Untertitelzusenden,1975startetedieSendung„SehenstattHören“indenDrit tenProgrammen,abernoch1982mussten575.000UnterschriftendenFernsehanstaltenüber gebenwerden,damitdiesedieTagesschauuntertitelten(DeutscherGehörlosenBund,75Jahre DGB.Jubiläumsschriftanlässlichdes75jährigenBestehensdesDeutschenGehörlosenBundes, Kiel2002,S.21).2001warenerstzweiProzentallerSendungenderdeutschenFernsehsender durchUntertitelerschlossen(SiegmundPrillwitz,AngebotefürGehörloseimFernsehenund ihreRezeption[Themen,Thesen,TheorienBand17],Kiel2001).EineweitereForderungwaren Gebärdenspracheinblendungen während der Nachrichten (Demonstration am 23.6.1995 in Hamburg,KlagevonzweiGehörlosengegendenNDR).Erreichtwurde,dassaufPhoenixseit AusstrahlungsbeginndesSenders1997„Tagesschau“und„heutejournal“inGebärdenspra chebegleitetwerden.

20JörgKeller,DieErforschungderGebärdensprache,in:Beecken,Anne,GrundkursDeutsche Gebärdensprache,2.durchgeseheneAuflageHamburg2002,S.77–80,hierS.78.Anmerkung zurKultur,in:Beecken,Anne,GrundkursDeutscheGebärdensprache,2.durchgeseheneAuf lageHamburg2002,S.22–24,hierS.22.

21Ebd.,S.23.

22GleichstellungsgesetzArtikel1§6Absatz1:„DieDeutscheGebärdenspracheistalseigen ständigeSpracheanerkannt“.

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22 Einleitung

GehörlosigkeitbehindertMenschen,weilsieausderalltäglichenKom munikationderhörendenMitmenschenausgeschlossensind.Sieerhalten dadurchwenigerInformationen,werdenmissverstandenundmissverste henhörendeMenschen–darausresultierteineIsoliertheit,diedurcheine engeBindunguntereinanderwettgemachtwird.DerHörendehörtbeim LesendiegedrucktenWorte,hateinenKlangimKopfundvollziehtsodas Gelesenenach.DerGehörlosesiehtdasSchriftBildundmusssichdenIn haltschwierigerschließen.DasUmwandelnderLautsprachZeicheninGe bärdensprachehilft,sichkomplexeGedankengängevorstellenzukönnen, sieschnellernachvollziehenundverstehenzukönnen.Lautspracheistfür Menschen,dienichthörenkönnen,immereinesehrferneFremdsprache.

GehörloselebenineinereigenengehörlosenGemeinschaftmiteinereige nenKulturmitstarkemZusammenhalt,dieallerdingsalsebensostarrgilt wiehörendeGruppierungen.AuchsiehabenVorurteile–diesichgegen SchwerhörigeoderSpätertaubte richten,dielautsprachlicherzogenwur denundnichtperfektinderGebärdensprachesind.23

WiewurdeundwirddasThemaGehörlosigkeitinHamburgbehandelt?

WiegingdieHansestadtmitgehörlosenHamburgerinnenundHambur gernum?WieentwickeltesichdieGehörlosenbildungindieserStadtund welcheRollenahmundnimmtHamburgdabeiinDeutschlandein?Um dieThesederführendenRolleHamburgsinderdeutschenGehörlosenbil dungzumanifestieren,wirdindervorliegendenhistorischenDarstellung dieGeschichtederHamburgerGehörlosenbildungaufgezeigt,diemitder EntwicklungdererstenTaubstummenanstaltDeutschlandsinden1770er Jahren beginnt und bis in die 1990er Jahre führt, als in Hamburg das deutschlandweiterstebilingualeUnterrichtsprojektfürgehörloseKinder gestartetwurde.DieseArbeitisteinBeitragzurOrganisationsundIdeen geschichtedesBildungswesens,siezeigtalltagsundsozialgeschichtliche AspekteaufundsieträgtnichtzuletztzurErhellungderGeschichtedes HamburgischenSchulundUnterrichtswesensbei.

23ZurTheoriedereigenenKultursieheCarolPadden,TomHumphries,Gehörlose.EineKul turbringtsichzurSprache(InternationaleArbeitenzurGebärdenspracheundKommunika tionGehörloserBand16),Hamburg1991;HarlanLane,DieMaskederBarmherzigkeit.Unter drückungvonSpracheundKulturderGehörlosengemeinschaft(InternationaleArbeitenzur GebärdenspracheundKommunikationGehörloserBand26),Hamburg1994.

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Die Stellung Hamburgs in der Gehörlosenbildung 23

1. 3 D ie Ste llun g Hamburgs in der Gehörlosenbildung

DieheutealsTeilderSchulefürHörgeschädigteineinemGebäudekom plexdichtamHornerKreiselbestehendeHamburgerGehörlosenschule, dieSamuelHeinickeSchule,kannaufeinelangeTraditionzurückblicken.

IhreAnfängereichenbisindas18.Jahrhundertzurück,alsderKantor undSchulmeisterderEppendorferSt.Johanniskirche,SamuelHeinicke, damitbegann,gehörloseSchülerinnenundSchülerimKüsterhausinder Lautsprache zu unterrichten. Dies war die erste „Taubstummenanstalt“

Deutschlands. Heinicke wurde zumBegründerder so genannten „deut schenMethode“,dieinderAusbildungGehörloseraufdiereineLautspra chenlehresetzte.DieseMethodesetztesichab1880weltweitalsfavorisierte Ausbildungsmethode in der Gehörlosenpädagogik durch. Als Heinicke einenRufdesSächsischenKurfürstenannahmund1778mitseinenSchü lernnachLeipzigübersiedelte,umdortdieerstestaatlicheEinrichtungdie serArtzubegründen,ruhteinHamburgdieAusbildungGehörloser,bis 1823durcheineSchriftmitdemTitel„WünscheundVorschlägezurErrich tungeinerTaubstummenanstaltfürHamburgbetreffend“einerneuterAn stoß erfolgte. Verfasser war der Mediziner Dr. Heinrich Wilhelm Buek (1796–1879),derbereitsinden1820erJahrenGehörloseunterrichtethatte undmitdieserVeröffentlichungdengedanklichenGrundsteinfürdieneue HamburgerTaubstummenanstaltlegte.Diesewurdeam28.Mai1827von einerprivatenmildenStiftungalsTrägergegründet.1882wurdedieSchule verstaatlicht,währenddasangegliederteInternatdenCharaktereiner„mil denAnstalt“behielt.IhrersteseigenesGebäudebezogenSchuleundInter nat1872anderBürgerweideinHamburgBorgfelde.ImKriegwurdedas Gebäudezerstört,einNeubauwurde1964imStadtteilHornerrichtet,der obengenannteGebäudekomplexamHornerKreisel.ImJahr2000endete dieeigenständigeGeschichtederHamburgerGehörlosenschule:DieBehör defürSchule,JugendundBerufsbildungführteaufderGrundlageeiner Rechtsverordnungvom5.Juli2000dieSchulefürGehörlose,SamuelHei nickeSchule,mitderSchulefürSchwerhörigezur„SchulefürHörgeschä digte–SchulefürSchwerhörigeundSchulefürGehörlose“organisato rischzusammen.

DievorliegendeArbeitisteineGesamtdarstellungderGeschichtederin stitutionalisierten Gehörlosenbildung in Hamburg. Um die Rolle Ham burgsinderEntwicklungderGehörlosenpädagogikzuverdeutlichen,wird

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24 Einleitung

hiererstmaligumfassendihregeschichtlicheEntwicklungaufgezeigt.Die DarstellungbeginntmitSamuelHeinickeundzeichnetdenWegnach,der von der Milden Stiftung Taubstummenanstalt über die Gründung einer staatlichenSchulefürGehörloseundderenEntwicklungbiszurAufgabe der Selbstständigkeit im Jahr 2000 geführt hat. Neben den organisatori schen Rahmenbedingungen werden die Ausbildung verschiedener Lehr methoden sowie alltagsgeschichtliche Aspekte herangezogen. Die Arbeit verdeutlichtHamburgsüberJahrzehnteführendeStellunginderGehörlo senpädagogik,indemsieSamuelHeinickesersteschulischeUnterrichtsver suchefürGehörloseinEppendorfschildertunddarüberberichtet,wiees 1827zurGründungdererstenprivatenTaubstummenschulefürGehörlose inHamburgkam.AnHamburglassensichauchdieverschiedenenWege, die die Gehörlosenpädagogik in Deutschland nahm, besonders deutlich aufzeigen,weilHamburgzweimalanwichtigenGrenzpunktenprägenden Einflussnahm.Im18.JahrhundertwurdeindeutschenTaubstummenan staltennachderMethodeunterrichtet,dieinHamburgvonSamuelHeini ckeerstmalsimRahmeneinesInternatspraktischgetestetwordenist.Als überallinEuropagebildeteGehörloseanTaubstummenanstaltenunterrich teten,gabesauchinDeutschlandAnfangdes19.Jahrhundertsgehörlose Lehrkräfte–unddieHamburgerTaubstummenanstaltbegannihrenUnter richtmitderEinstellungeinesgehörlosenLehrers.HierinHamburgwurde aberauchraschwiederdieLautsprachmethodefavorisiert,diezumEnde des Jahrhunderts in ganz Europa zur bevorzugten Lehrmethode wurde.

WährendzeitweiseandereStädtedieVorreiterrolleinderdeutschenGe hörlosenpädagogikübernahmen–wieLeipzigoderBerlininden1920er Jahrenundnach1945Dortmund–,soistHamburginden1990erJahren wiederindenBlickpunktgerückt.InderHansestadtwurdedieGehörlo senpädagogikreformiert,dieGebärdeinErziehungundBildungGehörlo seranerkannt,undeinInstitutfürdieErforschungderMuttersprache24der Gehörlosen,derGebärdensprache,errichtet.IndieserArbeitwirddarüber berichtet,welcheDurchsetzungskrafteskostete,diedeutschlandweiterste bilingualeKlassefürgehörloseKinder(deutscheLautsprache–deutsche Gebärdensprache) in Deutschland zu institutionalisieren. Nachdem jahr

24ObwohlderTerminus„Muttersprache“nichteigentlichgilt,dennnurca.10Prozentderge hörlosenKinderhabenauchgehörloseEltern(Gesprächam20.3.1995mitProf.KlausB.Gün ther,EvelineGeorge,VerenaThielHoltzundAngelaStaabinderSamuelHeinickeSchulein HamburgHorn).

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Die Stellung Hamburgs in der Gehörlosenbildung 25

hundertelangkeinehöhereBildungfürGehörloseinDeutschlandzuerrei chenwar,istesjetztGehörloseninbreiteremRahmenmöglich,anderUni versitätzustudieren,inHamburgauchGehörlosenpädagogikamFachbe reichSprachwissenschaftenmitdemZiel,Lehrkraftzuwerden.25

MitdieserDarstellung,dieauchdasWirkenderLehrkräfteunddasEr gehenderSchülerinnenundSchülerimhistorischenBezugdarstellt,sollen VerständnisundInteressefürgehörloseMenschenundihreForderungen gewecktwerden.EssollenzudemAnregungenzuweitererForschungge gebenwerden,dadievorliegendeArbeitvieleThemennuranschneiden kann.

1. 4 Fo rschungsst and , Q ue lle nla ge und Au fba u de r A rbe it WährenddasLebenSamuelHeinickesheuterechtguterforschtscheint,ist LiteraturüberdieHamburgerBildungseinrichtungen für Gehörlose und dieGeschichtederSchule,derLehrkräfte,SchülerinnenundSchülerrecht rar.UmfassendeDarstellungengibtesnicht.

1927fandzum200.GeburtstagSamuelHeinickeseineJubiläumstagung desBundesdeutscherTaubstummenlehrerinHamburgstatt.Ausdiesem AnlasswurdeneinigehistorischeAbhandlungenpubliziert,daruntereine GeschichtederHamburgerSchuleunterdemTitel„DieTaubstummenAn staltfürHamburgunddasHamburgerGebiet“,diederHamburgerTaub stummenlehrerundehemaligeSchuldirektorAlwinHeinrichsdorffverfasst hatte. Dieser hatte für die Erstellung seiner Arbeit „Jahresberichte und sonstigeUrkunden“herangezogen.26Vielederursprünglichfürpotentielle finanzkräftige Förderer der Anstalt publizierten Jahresberichte der An staltsleitung stehen auch heute noch der Forschung zur Verfügung und

25 1994studierteninHamburgsiebengehörloseStudentendasFachGehörlosenpädagogik, 1995warenesschonzehnundOlafTischmann(geb.1965),bestandalserstergehörloserGe hörlosenlehrer sein Examen. Werden für weitere studierte gehörlose Lehrkräfte Stellen an deutschenGehörlosenschulengeschaffen,wirddiesvoraussichtlichzueinererneutenReform führenunddieGebärdenspracheweitgehenderindenUnterrichtandenGehörlosenschulen durchdringen.Wiedasgeschehenkann,zeigtsichinanderenbilingualenSchulen,dieesvor wiegendindenVereinigtenStaatenundSkandinaviengibt,inderalsersteSprachedieGebär denspracheunddaraufaufbauendgeschriebeneLandessprachegelehrtwird.

26AlwinHeinrichsdorff,DieTaubstummenAnstaltfürHamburgunddasHamburgerGebiet, Hamburg1927,Einleitungstext.

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26 Einleitung

sind eine wichtige Quelle zur Schulgeschichte, während Schriftwechsel und weitere Dokumente der Amtsleitung kaum noch zu ermitteln sind.

Den Teilnehmern der Tagung im Jahr 1927 wurde außerdem eine Fest schriftmitArtikelnverschiedenerAutorenausgehändigt,dieheutewert volleEinblickeindieSichtaufgehörloseundschwerhörigeKinderundEr wachsenegibt.27

MitdemInteresseander„DeafHistory“gabesEndedes20.Jahrhun dertszunehmendauchAufsätzezuhistorischenThemenmitHamburg Bezug,dieinderseit1987inHamburgherausgegebenenZeitschrift„Das Zeichen. Zeitschrift zum Thema Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser“veröffentlichtwurden.HansUweFeigeerforschtedieLebens wege einiger Schüler Heinickes,28 Studentengruppen um Renate Fischer, Professorin für GebärdensprachLinguistik und Geschichte der Gehörlo senGemeinschaftenanderUniversitätHamburg, bemühtensichumdie Wiederentdeckung der Bedeutung Hamburger Gehörloser wie John Pa cher.29InneuesterZeitsetztsicheinBerlinerVereinfürdieFörderungder GeschichtevonKulturundGebärdensprachederGehörlosenein.Vorden erstenDeutschenKulturtagenderGehörlosen1993inHamburggründete derDeutscheGehörlosenBunde.V.die„InteressengemeinschaftzurFör derungderKulturGehörloser“(IFKG).DieIFKGwurdefünfJahrespäter in „Kultur und Geschichte Gehörloser“ (KuGG) umbenannt. Die KuGG unddieseit1996aktive„DeafHistory–InteressengruppezurGeschichte Gehörloser“schlossensich2001zusammen.DieserVereinwirdvonden gehörlosenHistorikernHelmutVogel,Hamburg,undJochenMuhs,Berlin, geleitetundstelltseineForschungsergebnisseauchimInternetvor.30

27FestgabezurSamuelHeinickeJubiläumstagungdesBundesDeutscherTaubstummenlehrer, Hamburg1927.Darinu.a.:AlwinHeinrichsdorff,GeschichtedesTaubstummenbildungswe sensinHamburg;PaulJankowski,EntwicklungundgegenwärtigerStanddesSchwerhörigen bildungswesensinHamburg;WilhelmBehrens,DieTaubstummenfürsorgeinHamburg.

28 HansUweFeige,„DenntaubstummePersonenfolgenihrenthierischenTrieben…“–Ge hörlosenBiographienausdem18.und19.Jahrhundert,Leipzig1999;ders.,SamuelHeinickes Eppendorfer„Muellersohn“,in:DasZeichen.ZeitschriftzumThemaGebärdenspracheund KommunikationGehörloser48(1999),S.188–193.

29RenateFischeru.a.,JohnE.Pacher(1842–1898)–ein„Taubstummer“ausHamburg,in:Das Zeichen.ZeitschriftzumThemaGebärdenspracheundKommunikationGehörloser32(1995), S.122–133und33(1995),S.254–266.

30http://www.kugg.de,abgerufenam2.8.2007.

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Forschungsstand, Quellenlage und Aufbau der Arbeit 27

DadasgewählteThema„GehörlosenbildungimHamburg“rechtum fangreichist,wurdederSchwerpunktdieserArbeitaufdieGeschichteder institutionalisiertenBildunggelegt.AufGrundihresengenVerhältnisses zueinanderwerdenauchdieSchwerhörigenschule,dieGehörlosenvereine undanderefürdieKulturundAusbildunggehörloserHamburgerinnen undHamburgerwichtigeEinrichtungenvorgestellt.Hierzugibtesneuer dings zwei Veröffentlichungen, die sich konkret mit der Geschichte des HamburgerGehörlosenvereinswesensbeschäftigen.31

In jedem Zeitabschnitt der vorliegenden grundlegend chronologisch aufgebautenArbeitsindSchwerpunktthemenderjeweiligenZeitalseinzel neKapitelausgearbeitet. AlsHintergrundundGrundlagedientendabei nichtnurgedrucktenQuellen–dievorliegendeArbeitbasiertvorallemauf bisherunveröffentlichtenArchivalien,die vorwiegendaus demStaatsar chivHamburgstammen.AktenderSamuelHeinickeSchulesindimJahr 1943beiderAusbombungdesSchulgebäudesanderBürgerweidevollstän digvernichtetworden,sodassausUnterlagenschulischerProvenienznur aufdieZeitnach1945zurückgegriffenwerdenkonnte.DafüristdieÜber lieferung,diezurGeschichtederHamburgerGehörlosenbildungdurchdie verschiedenenJahrhunderteAuskunftgebenkann,inanderenBeständen desStaatsarchivserstaunlichvielfältig.VieledieserUnterlagenwurdenfür dieseArbeiterstmalsverwertet.32

DurchdieArchivaliendesStaatsarchivskannauchderbisherzusehr vernachlässigtegeschichtlicheAbschnittderZeitdes„DrittenReiches“er helltundzumBeispieldurchdieSchilderungendesLehrersFritzSchmidt (1892–1973),derdiegehörlosenKinderindieKinderlandverschickungbe gleitete,genaudargestelltwerden.DieErinnerungandiedurchdenStaat

31ChristianHannen,VonderFürsorgezurBarrierefreiheit.DieHamburgerGehörlosenbewe gung1875–2005,Seedorf2006;GehörlosenverbandHamburge.V.(Hg.),75JahreGehörlosen verbandHamburg.JubiläumsFestschrift,Hamburg2005.

32ImBestandSenatfindensichArchivalienzurGeschichtederTaubstummenanstaltundihrer LehrerzuAnfangdes20.Jahrhunderts.AlsbesondersinhaltsreicherwiesensichUnterlagen derSchulbehörde(BestandOberschulbehördeVfürdieZeitvon1873bis1933,BestandOber schulbehördeVIfürdieZeitnach1933).ÜberdieAnwendungdes„GesetzeszurVerhütung erbkrankenNachwuchses“berichtenAktenausdemErbgesundheitsgerichtunddemMedizi nalkollegium. Vigilanzberichte und gesammelte Zeitungsausschnitte der Politischen Polizei sowieSchriftstückeausPersonalaktenderSchulbehördelassenEinzelschicksaledeutlichwer den.DieVereinsgeschichteHamburgerGehörloserkannebenfallsdurchAktendesBestandes PolitischePolizeisowieausarchiviertenUnterlagenderSozialbehördenachvollzogenwerden.

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28 Einleitung

verfolgtenHamburgerTaubstummenlehrkräfteAlfredSchärundDorothea Elkankonntewiederhergestelltwerden.VorallemsollandieserStellevon dengehörlosenHamburgerinnenundHamburgernberichtetwerden,die vondenNationalsozialistendiskriminiertundals„minderwertig“tituliert verfolgtwurden:Unterdeninsgesamt24.000OpferndesaufGrunddes

„Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“zwangssterilisierten HamburgerinnenundHamburgernfindensichauchGehörlose.Entgegen den Behauptungen damaliger Lehrkräfte waren sogar gehörlose Kinder, dieinHamburgzurSchulegingen,unterBerufungaufdiesesGesetzsteri lisiertworden. Fürden Themenkomplex der Zwangssterilisationbegann sichdieForschunginden1990erJahrenzuinteressieren.33DerGehörlosen lehrerHorstBiesold(1939–2000)warinden1980erJahrenderersteWissen schaftler,deraufdasSchicksalgehörloserDeutscherimDrittenReichhin wiesundsichfürdieRehabilitationsterilisierterGehörlosereinsetzte.Sein heute in der Hamburger Universität aufbewahrter wissenschaftlicher Nachlasswurdebishernochnichtweitergehendgeordnet.TeileseinerBib liothek wurden der Forschung als Teil der Bibliothek des Instituts für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser zur Verfü gunggestellt.

NebendenUnterlagenausdemStaatsarchivkonntenmitfreundlicher UnterstützungvonEugenTellschaftundDr.ChristianHannenauchAkten ausderAltregistraturdesältestenHamburgerGehörlosenvereins,desAll gemeinenGehörlosenUnterstützungsVereins,fürdieZeitabden1930er Jahrenausgewertetwerden.DieBibliothekdesInstitutsfürDeutscheGe bärdensprache und Kommunikation Gehörloser verfügt über größere Zeitschriftenbestände.UmdieQuellenlagezuergänzen,wurdenaußer demInterviewsmitZeitzeugengeführt.IhreprivatenDokumenteundEr innerungenandieeigeneSchulzeitundanihreVäter,AussagenzurAr beitsweiseundHinweiseaufweiterführendeQuellen,FotosundLiteratur habendieseArbeitvorangebrachtundmitLebenerfüllt.

33Vgl.HorstBiesold,KlagendeHände.BetroffenheitundSpätfolgeninbezugaufdasGesetz zurVerhütungerbkrankenNachwuchses,dargestelltamBeispielder„Taubstummen“,Solms Oberbiel1988;ChristianeRothmaler,Sterilisationennachdem„Gesetz zur Verhütungerb krankenNachwuchses“vom14.Juli1933(AbhandlungenzurGeschichtederMedizinund derNaturwissenschaftenHeft60),Husum1991;AndreasKammerbauer,Behindertenpolitik.

EineChancefürHörgeschädigte?Hamburg1993.

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Forschungsstand, Quellenlage und Aufbau der Arbeit 29

DiehistorischeDarstellungderEntwicklungderHamburgerTaubstum menanstaltistinihremFacettenreichtumeinBeitragzurSozialgeschichte, zurRegionalgeschichte,zurAlltagsgeschichte,aberauchzurMinderheiten geschichte.DieseArbeitmöchtedamitaucheinenBeitragzudernochjungen historischenDisziplin„DeafHistory–GeschichtederGehörlosen“liefern, welcheimJuni1991aufder„ersteninternationalenTagungzurGeschichte derGehörlosen“anderGallaudetUniversityinWashingtonD.C./USA–

derweltweiteinzigenUniversitätfürGehörlose–offiziellbegründetwur de.34ZweiJahrezuvorhatteesaufdem„DeafWayFestival“inWashington D.C. bereitseinigewissenschaftlicheBeiträgezurGehörlosenkulturund geschichtegegeben.1990fandinHamburgdasersteTreffenaller„Deaf History“InteressiertenwährenddesinternationalenKongresseszur„Ge bärdenspracheinForschungundPraxis“statt.35„DeafHistory“beschäftigt sichmitderGeschichtederGehörlosen,ihrerGemeinschaftundihrerKul tur.DieseFormderGeschichtsdarstellungstelltdieSpannungenzwischen hörenderMehrheitundgehörloserMinderheitinVergangenheitundGe genwartdarundzeigtdiegesellschaftlicheSituationGehörloseralsMin derheitengeschichte.DeafHistory,sodefiniertesderBerlinerGehörlosen lehrerUlrichMöbius,„berücksichtigtalleLebensbereiche,indenensichdie GehörlosenKulturmanifestiertunddieGehörloseundihreGemeinschaft berühren“–dassindbiografischewiekulturelle,linguistischewiesoziale Gesichtspunkte,wobeiGehörloseals„kulturelleundsprachlicheMinder heit“definiertwerden.36 Dabeimussichmichfragen,inwieweitichmich alshörendeForscherinvorwiegendmitderRollederHerrschaftsstruktur Schule innerhalb der asymmetrischen Grundstruktur im Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit der Minderheit Gehörloser beschäftige – wäh rend gehörlose Forscher die Gehörlosenkultur darstellen – und ob dies nochals„DeafHistory“definiertwerdenkann.IchkannmichdemAspekt

34Die„zweiteinternationaleTagungzurGeschichtederGehörlosen“fanddannvom1.–4.Ok tober1994inHamburgstatt.

35 Eine Einführung zur Deaf History gibt Ulrich Möbius, Aspekte der „Deaf history“For schung,TeilI,in:DasZeichen.ZeitschriftzumThemaGebärdenspracheundKommunikation GehörloserNr.22(1992),S.388–401,hierS.388.

36 Ebd.,S.389.DasBewusstwerdeneinereigenenGeschichteistidentitätsundsinnstiftend und bringt der Gehörlosengemeinschaft durch die Verknüpfung von Kultur und Sprache einenwichtigenBezugzureigenenVergangenheit(MarkZaurov,GehörloseJuden.Einedop peltekulturelleMinderheit.FrankfurtamMain2003,S.41und84f.)

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30 Einleitung

„History“inder„DeafHistory“naturgemäßnurannähern.Bedingtdurch diearchivischeQuellenlagewird,sosehrsichalsomeineArbeitalsBeitrag zur„DeafHistory“inderDefinitiondesHistorikersDr.GüntherListals

„GeschichtedesUmgangsderhörendenMehrheitmitdergehörlosenMin derheit“sieht,37 dieGeschichtederHamburgerGehörlosenbildunginder vorliegendenArbeitausderSichtderHörendenerzählt.Siemöchteden noch in der Schilderung eine Mittlerposition einnehmen zwischen einer einseitigen„DeafHistory“,dieGehörlose,vereinfachtformuliert,als„Sub jekte“siehtundsichalsinterneGeschichteaußerhalbhörenderGeschichts schreibung darstellt, und dertraditionellen „Geschichte der Gehörlosen pädagogik“,dieaufGehörloseeherals„Objekte“schaut,unddiesebeiden SichtweiseninihrerBeziehungaufdieGeschichtegehörloserHamburger verbinden.DieEmanzipationGehörloser,ihrBemühenumAnerkennung ihrerSpracheundihrKampfgegendenOralismuskannausdenvorhande nenAktenebensoherausgelesenwerden,wiedie–ingrößererAnzahlvor handenen–MeinungenHörender.EinenGegenpolzurGeschichtsschrei bungHörenderbildenzudemInterviewsmitgehörlosenZeitzeugensowie dieUnterlagendesAllgemeinenGehörlosenUnterstützungsVereins.Da bei steht die „Oral History“ in der „Deaf History“ für „erzählende Ge schichte“undnicht„mündlicherzählteGeschichte“undstelltgeradefür InterviewsGehörlosereinwichtigesMediumdar.38

EinWortzurTerminologie:Gehörlosesindnichtstummodersprachlos, dasieeineeigeneSprachehaben,dieGebärdensprache.SoistderBegriff

„taubstumm“,derauchdieDummheitimpliziert,39 heutenichtmehrge bräuchlich.InmeinerArbeittauchtdiesesprachlicheBezeichnungdennoch

37 GüntherList,ArbeitsfeldundBegriffder„Deafhistory“– einKlärungsversuch,in:Das Zeichen.ZeitschriftzumThemaGebärdenspracheundKommunikationGehörloser25(1993), S.287–294,hierS.294alsAntwortaufeineGehörlosenvorbehalteneDefinitionvonDeafHis toryvonOwenWrigley,Die„Deafhistory“derHörenden;oder:StrategienzurRettungder Andersartigkeit,in:DasZeichen.ZeitschriftzumThemaGebärdenspracheundKommunika tionGehörloser23(1993),S.14–19.

38Möbius,Deafhistory,TeilI,S.397;JohnS.Schuchman,OralHistoryunddasErbederGe hörlosen,in:Fischer,Renate/Lane,Harlan(Hg.),Blickzurück.EinReaderzurGeschichtevon GehörlosengemeinschaftenundihrenGebärdensprachen(InternationaleArbeitenzurGebär denspracheundKommunikationGehörloserBand24),Hamburg1993,S.609–631.

39 ImalthochdeutschenSprachgebrauchbedeutettaub:tumb=dumm,verstockt.(Deutsches Wörterbuch,begründetvonJakobundWilhelmGrimm,bearbeitetvonMatthiasLexer,Diet richKralikundderArbeitsstelledesDeutschenWörterbuches,Band11,I.Abteilung,I.Teil, Leipzig1935,Sp.162–165).

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Forschungsstand, Quellenlage und Aufbau der Arbeit 31

auf: als Teil eines offiziellen Namens wie „Taubstummenanstalt“ oder

„Taubstummenlehrer“oderwennvonZeitendieRedeist,inderGehörlose inderGesellschaftals„Taubstumme“galten.

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2 Die erste deutsche Taubstummenanstalt – Samuel Heinicke in Hamburg

SamuelHeinickewurdeinHamburgzumBegründerderdeutschenGehör losenpädagogik.ErentwickeltefürdenUnterrichtGehörloserdiesoge nannte„deutscheMethode“: Heinickenahm „Taubstumme“beisich auf undbrachteihnendieLautsprachebei:ErließsievomMundablesenund ließsieselbstsprechen.

Am10.April1727wurdeSamuelHeinickeinNautschützbeiZschorgu la,KreisWeißenfels,inKursachsenalsSohneinerBauernfamiliegeboren.40 ErwuchsaufdemelterlichenHofaufundbesuchtedieDorfschule.Daer begabtwarundgutlernte,schlugenderLehrerundderPastorHeinickes Vatervor,denSohnstudierenzulassen.DochderVaterlehntediesab, dennderSohnsollteBauerwerdenundspäterdenHofübernehmen.An scheinendwehrtesichHeinickeimmerwiedergegendieAutoritätdesVa ters,letztendlichgingerinfolgeeinerLiebesaffäre–esheißt,erwidersetzte sicheinervomVatergewünschtenHeirat–nachDresden,woerinden Dienst der Leibgarde des Kurfürsten Friedrich August II. von Sachsen

40 Eine ausführliche, allerdings mit Legenden und Geschichtchen geschmückte Biographie Heinickesschrieb1870HeinrichErnstStötzner.ErstütztesichdabeiaufdenNachlassHei nickesund–besondersinBezugaufHeinickesJugendzeit–aufAussagenderWitwe(Hein richErnstStötzner,SamuelHeinicke.SeinLebenundWirken,Leipzig1870).PaulundGeorg SchumannwurdenAnfangdes20.Jahrhundertszubekanntenundwissenschaftlichfundier ten HeinickeExperten: Georg und Paul Schumann, Samuel Heinicke, Leipzig 1909; dies., NeueBeiträgezurKenntnisSamuelHeinickes,Leipzig1909;dies.(Hg.),SamuelHeinickesge sammelte Schriften, Leipzig 1912 (im Folgenden: Schumann, gesammelte Schriften); Paul Schumann, Samuel Heinickes Persönlichkeit. Vortrag gehalten in der Aula der Universität Leipzigam4.Oktober1909aufder8.VersammlungdesBundesdeutscherTaubstummenlehrer, Leipzig1909;ders.,NeueBeiträgezurKenntnisSamuelHeinickes,in:BlätterfürTaubstum menbildungNr.7und8,OsterwieckHarz1926;ders.,SamuelHeinickesSendung.Festrede gehalten in der Musikhalle zu Hamburgzur Weihefeierder SamuelHeinickeJubiläumsta gung des Bundes deutscher Taubstummenlehrer, Leipzig 1927; ders., Samuel Heinicke in Hamburg,in:FestgabezurSamuelHeinickeJubiläumstagungdesBundesDeutscherTaub stummenlehrer,Hamburg1927;ders.,Festgabe.SamuelHeinickesLebenundWirken,Ham burg1969(NeuauflagederAusgabevon1927).

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34 Die erste deutsche Taubstummenanstalt – Samuel Heinicke in Hamburg

(1696–1763)trat.NebenbeibildeteHeinickesichautodidaktisch–wiezuder Zeitdurchausüblich–inverschiedeneRichtungenweiter.DaesimLeibheer manchmalmonatelangkeinenSoldgab,versuchteHeinickesichalsMusi ker– erspieltemehrereStreichinstrumente–undalsLehrerfürSchreiben undMusik.SobekamerauchersteKontaktezuGehörlosen:Erunterrichtete einentaubstummenJungennachdem1692erschienenenLehrbuch„Surdus loquens“ des in Amsterdam lebenden Arztes Johannes Conrad Amman (1669–1724)inderLautsprache.41HeinickeentdeckteseineFreudeamUnter richtenundentschiedsich,Lehrerzuwerden.SeinePläne,ausdemMilitär auszuscheiden,wurdendurchdenBeginndesSiebenjährigenKrieges1756 durchkreuzt.SeinAbschiedausdemMilitärdienstwurdeHeinickeverweigert.

Abbildung 1: Samuel Heinicke

41Stötzner,Heinicke,S.10.ZuAmmansieheExkursmiteinemgeschichtlichenÜberblicküber dieverschiedenenpädagogischenModelle.DieLegendewillesso,dassHeinicke,alserim ParkvonDresdenspazierenging,aufeineFörstersfraumitihrenzweiSöhnentraf,vondenen dereinegehörloswar.DieserhatteimSpielausVersehenseineSandburgzertretenundbe schuldigte nun seinen Bruder. Heinicke aber zeigte auf den schuldigen Jungen und sagte:

„Du!“DamithabeerausdemJungendiesesWorthervorgelockt,woraufdieMutterihrenge hörlosenJungenzumUnterrichtzuHeinickegab(nach:FritzSchneider,WodurchHeinicke zum ersten TaubstummenUnterricht kam, in: Allgemeine Deutsche GehörlosenZeitschrift (OrgandesRegede,NachfolgerdererstendeutschenGehörlosenzeitung„DerTaubstummen freund“)Nr.16(FestnummerzurSamuelHeinickeJubiläumstagung)vom15.8.1927,S.80.

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Die erste deutsche Taubstummenanstalt – Samuel Heinicke in Hamburg 35

DieNiederlagedessächsischenHeeresbeiPirnaimOktoberdesselbenJah resbrachte Heinicke in preußischeKriegsgefangenschaft.Daerzwangs weisezumpreußischenMilitäreingezogenwerdensollte,flohernachJena undimmatrikuliertesichanderdortigenUniversität.ErstudiertePhiloso phie,MathematikundNaturlehre.42Dochauchdortwähnteersichnichtsi cher, so dass er – inzwischen verheiratet mit Johanna Maria Elisabeth Kracht(gestorben1775)43–imSommer1758mitFrauundSohnüberAlto nanachHamburgging.HierbegegneteHeinickederEhefraudesDichters FriedrichGottliebKlopstock(1724–1803),Margarethe(genanntMeta)Klop stock,geb.Moller(1728–1758),dieHeinickeindieHamburgerGesellschaft einführte.44 Heinicke bekambaldauchinHamburgdieMöglichkeit,sich seinenLebensunterhaltdurchUnterrichtenzuverdienen.ErwarinHam burgundimbenachbartendänischenAltonaPrivatlehrerbeimehrerenFa milien und unterwies deren Kinder in Musik, Sprachen, Schreiben und Rechnen.1760wurdeHeinicke–vielleichtdurchdieVermittlungdermit ihmbekanntenFamiliedesPredigersundDichtersJohannAndreasCra mer45(1723–1788)–HauslehrerfürdieKinderdesSpekulanten(undspäte

42NeueDeutscheBiographie,Band8,Berlin1969,S.304.

43StaatsarchivHamburg(künftig:StAHbg),5131St.JohannisinEppendorf,CgNr.1,S.111.

IhrGeburtsdatumkonntevonderHeinickeForschungnochnichtermitteltwerden(Mittei lungderBibliothekderLeipzigerSamuelHeinickeSchuleam17.8.1995;PaulSchumann,Mit teilungausdemdeutschenMuseumfürTaubstummenbildungNr.44–46,1942).

44 DiesesKapitelfolgt:PaulSchumann,SamuelHeinickeinHamburg,in:FestgabezurSa muelHeinickeJubiläumstagungdesBundesDeutscherTaubstummenlehrer,Hamburg1927, S.7–35(keineeinheitliche,fortlaufendePaginierung,daauseinzelnenFestgabenbestehend);

neunterBerichtdesVerwaltungsAusschussesderam28stenMai1827gestiftetenTaubstum menSchulefürHamburgunddasHamburgerGebiet,Hamburg1847,S.27–36;HansUwe Feige,SamuelHeinickesEppendorfer„Muellersohn“,in:DasZeichen.ZeitschriftzumThema GebärdenspracheundKommunikationGehörloser48(1999),S.188–193;IrisGroschek,Samu elHeinickeinHamburg.EinebiographischeSkizze,in:Auskunft.MitteilungsblattHambur gerBibliotheken18.Jahrgang(1998)Heft4,S.345–359.DieAussageStötzners,Heinickeseiin DresdenFreimaurergewordenundwurdedurchFreimaurernachHamburgvermittelt(Stötz ner,Heinicke,S.14und17),wurdebereits1927durchPaulSchumanninFragegestellt,der keineMitgliedschaftHeinickesineinerHamburgerLogefeststellenkonnte(Schumann,Fest gabe,S.8).

45LexikonderhamburgischenSchriftsteller,Band3,Hamburg1857,S.149;zehnterBerichtder TaubstummenSchule1850,S.7.ZuCramer:AllgemeineDeutscheBiographie,Band4,1876,S.

550ff.Schumann,Festgabe,S.8,bezweifeltdieVermittlungdurchCramer.

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36 Die erste deutsche Taubstummenanstalt – Samuel Heinicke in Hamburg

rendänischenLehngrafen)HeinrichCarlSchimmelmann(1724–1782).46Zu dieserZeitlebtedieSchimmelmann’scheFamilie,diegroßeLändereienin Wandsbek verpachtete, hauptsächlich in ihrem Schloss zu Ahrensburg, aberauchinWandsbekundKopenhagen.Heinickeunterrichtetediedrei jüngstenSöhnederFamilie,waralsbegabterMusikeraußerdemMitglied derSchimmelmann’schenHauskapelleundarbeitetefürdieFamiliealsVor leserundÜbersetzer.47

Abbildung 2: Das Müllerhaus in Eppendorf

1768wurdedieStelledesKantorsderJohanniskirchezuEppendorffrei.

EppendorfwareinKirchdorfbeiHamburg.ErstimDezemberjenesJahres

46 Otto Hintze, Aus der Geschichte AltEppendorfs, in: Hamburger Nachrichten vom 27.6.1926;GustavIlow,SamuelHeinicke(ohneHerkunftsangabe),in:StAHbg,Zeitungsaus schnittsammlung(künftig:ZAS)A758,SamuelHeinicke.ZurFamilieSchimmelmannsiehe ChristianDegn,DieSchimmelmannsimatlantischenDreieckshandel.GewinnundGewissen, Neumünster1974.

47 HansUweFeige,„DenntaubstummePersonenfolgenihrenthierischenTrieben…“–Ge hörlosenBiographienausdem18.und19.Jahrhundert,Leipzig1999,S.97;WalterFrahm, Klopstock,Heinicke,VoßunddieplattdeutscheSprache,in:JahrbuchdesAlstervereinse.V., Nr.37,Hamburg1958,S.55–62.

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