• Keine Ergebnisse gefunden

Vom Schmerz zur Schmerzerkrankung

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Vom Schmerz zur Schmerzerkrankung"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Laut Schätzungen erleben etwa 10 Prozent aller Menschen in ihrem Leben eine schwere Schmerzerkrankung. Hierbei hat der Schmerz seine ursprüngliche Funktion oft verloren, er hat sich quasi teilweise verselbstständigt.

Über Ursachen und Mechanismen wird noch geforscht. Neben anderen Therapieoptionen orientiert sich die medikamentöse Therapie am WHO-Schema zur Tumorschmerztherapie.

M . N E U B U R G E R , M . S C H M E L Z , C . KO N R A D

Schmerz wird nach der internationalen Gesellschaft zum Stu- dium des Schmerzes definiert als «ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit einer echten oder potenziellen Gewebsschädigung einhergeht oder mit den Worten einer solchen beschrieben wird (2)». Der Schmerz hat seine ursprüngliche physiologische Funktion, nämlich auf eine Gewebsschädigung hinzuweisen, in seiner chronischen Form oft verloren. Als eigenes Krankheitsbild wird er nur noch «mit den Worten einer Gewebsschädigung» beschrieben, ohne dass eine solche vorliegen muss. Am eindrücklichsten ist dies am Beispiel des Phantomschmerzes zu erkennen, bei dem der

«Schmerzort» nicht mehr vorhanden ist. Als chronisch wird ein Schmerz allgemein dann definiert, wenn seine Dauer über eine zu erwartende Heilungszeit hinaus andauert (2).

Schmerzarten

Die moderne Schmerztherapie unterscheidet zwei Arten des Schmerzes: den nozizeptiven und den neuropathischen Schmerz. Während Letzterer Folge einer Schädigung

beziehungsweise eines krankhaften Prozesses des Nerven- systems selbst ist, ist der nozizeptive Schmerz Folge einer Aktivierung unterschiedlich lokalisierter Nozizeptoren. Dieser Schmerz wird über afferente A-delta- und/oder C-Fasern zum Rückenmark und von dort zu zentralen Zentren (Thalamus, Hirnrinde, limbisches System) geleitet. Alle vorgenannten Umschaltzentren tragen zur Schmerzverarbeitung bei (5).

In der Praxis lassen sich nozizeptiver und neuropathischer Schmerz jedoch selten trennen, oft liegt nach initialem nozi- zeptivem Schmerz ein neuropathischer Folgeschmerz vor.

Ursachen der Chronifizierung

Warum ein Schmerz über das akute Stadium hinaus chronifi- ziert, ist derzeit Gegenstand intensiver Forschung. Sicher ist, dass es keine alleinige, allgemeingültige Ursache für die Chro- nifizierung gibt (1).

Gemäss einer Hypothese kommt Chronifizierung unter ande- rem durch die überschiessende Neubildung nervaler Strukturen nach zum Beispiel traumatisch bedingtem Untergang von Neu- ronen beziehungsweise Nozizeptoren zustande. Diese neuen Nerven bilden darüber hinaus synaptische Verbindungen zum autonomen Nervensystem (Sympathikus) aus. Als Folge kön- nen physiologisch unbedeutende Reize Nozizeptoren erregen und zentral Schmerzen auslösen.

Eine weitere Theorie zur Chronifizierung beleuchtet die Um- schaltung des Schmerzimpulses im Bereich des 2. Neurons.

Dabei werden einerseits inhibitorische Effekte beobachtet, wie zum Beispiel die Abschwächung von Schmerz durch Druck

Vom Schmerz zur Schmerzerkrankung

Strategien gegen die Chronifizierung

ARS MEDICI 16 2006

781

F O R T B I L D U N G

■■

■ In seiner chronischen Form hat Schmerz seine ursprüngliche Funktion, vor Gewebeschädigung zu warnen, verloren.

■■

■ Auf allen Stufen der Therapie chronischer Schmerzen sollte man besonderen Wert auf den Einsatz von Koanalgetika legen.

M M M

M e e e e rr rr k k k k ss ss ä ä ä ä tt tt zz zz e e e e

(2)

oder Berührung (Beispiel: Schmerzhemmung durch intensives Reiben an der traumatisierten Extremität). Andererseits können auch die spinalen Neurone sensibilisiert werden, sodass ur- sprünglich neutrale oder sogar schmerzhemmende Signale wie die Berührung als Schmerz empfunden werden (Allodynie:

Berührung führt zu Schmerz).

Dauerfeuer vergrössert Schmerzareal

Durch Daueraktivität entsteht im peripheren Neuron eine pathologische Ruheaktivität sowie eine erniedrigte Reiz- schwelle. Folgen sind Hyperalgesie (schwacher Schmerzreiz führt zu starken Schmerzen) oder Spontanschmerz (periphere Sensibilisierung). Schmerzimpulse aus der Peripherie können durch dauernde Aktivierung von NMDA-aktivierten Glutamat- Rezeptoren zur Sensibilisierung von spinalen Neuronen der Schmerzbahn führen (Konzept der Neuroplastizität; zentrale Sensibilisierung) (Abbildung 1 [1]). Zusätzlich werden hier- durch die peripheren rezeptiven Felder von zentralen Neuronen vergrössert, sodass es auch durch Berührung oder Druck in dem das ursprünglich betroffene Areal umgebenden Gewebe zu Schmerzen kommt.

Hier helfen zentral wirkende Medikamente wie NMDA-Antago- nisten. Absteigende hemmende Bahnen können durch Alpha- 2-Rezeptoragonisten aktiviert werden und somit zur Schmerz- hemmung beitragen.

Phantomschmerz durch Neuordnung

Beim sogenannten Phantomschmerz nach Amputation kann es durch die fehlenden Informationen aus der Extremität zu einer

strukturellen und funktionellen Umorga- nisation der sensorischen Repräsentation im Neokortex («Homunkulus») kommen, sodass in der Folge Reize an ferner Stelle (z.B. am Mund) Phantomschmerzen nach Amputation auslösen können.

Schliesslich können psychische Faktoren der Schmerzverarbeitung zur Chronifizie- rung beitragen. Relevant sind unter ande- rem Mechanismen der Konditionierung, bei denen der Patient den Schmerz durch Lernvorgänge (z.B. positive Verstärkung, Vermeidungsverhalten) verändert. Hier sind psychotherapeutische Behandlungs- ansätze hilfreich, die Verfahren der Schmerzbewältigung und Schmerzverar- beitung vermitteln.

Cannabinoide als Schmerz- modulatoren

Schmerz besitzt eine stark affektive Bin- dung durch die Umschaltung und Ver- schaltung zum limbischen System. Neuere Untersuchungen zeigen, dass durch Cannabinoide das Verges- sen unangenehmer Reize beeinflusst werden kann. Cannabi- noidrezeptoren finden sich an vielen Stellen des ZNS und kön- nen unter anderem Phosphorylierungs- und Transkriptionsvor- gänge modulieren sowie synaptische Aktivierungen retrograd hemmen, welche bei der Schmerzchronifizierung eine grosse Rolle spielen (4).

Grundsätze der Diagnostik

Aufgabe in der Behandlung chronischer Schmerzen ist es zu- nächst, diese wenn möglich gar nicht erst entstehen zu lassen.

Einige der oben beschriebenen Veränderungen sind zum Teil nur schwer bis gar nicht reversibel: Je länger der Prozess fort- schreitet, umso schwieriger wird die Therapie.

Bei der Anamnese sollte man berücksichtigen:

Beginn der Schmerzen

Schmerzlokalisation (inklusive eventueller Ausstrahlungen)

Schmerzstärke (z.B. numerische Analogskala: 0 = kein Schmerz; 10 = stärkster vorstellbarer Schmerz; Beurtei- lung im Verlauf)

Schmerzqualität (z.B. brennend, dumpf usw.)

zeitliches Auftreten

Begleitsymptome

bisherige Medikation sowie sonstige schmerzlindernde Strategien (Ruhe, Bewegung, Wärme usw.).

Zudem sind eine ausführliche Eigen-, Familien- und Sozial- anamnese, das Erkennen möglicher Ursachen mit kausaler Therapieoption und eine gründliche körperliche Untersuchung Grundvoraussetzung für eine gezielte Therapie.

F O R T B I L D U N G F O R T B I L D U N G

782

ARS MEDICI 16 2006

Abbildung 1: Spinale Neurone der Schmerzverarbeitung sind einerseits stimulierenden Einflüssen durch Mediatoren aus den primären nozizeptiven Afferenzen ausgesetzt, zum anderen inhibitorischen Einflüssen von deszendierenden Systemen.

(3)

WHO-Schema als Basis der Therapie

Eine frühzeitige Therapie von Schmerzen ist unabdingbar. Die Strategien zur Therapie chronischer Schmerzen orientieren sich eng am WHO-Stufenschema zur Tumorschmerztherapie (6) (Abbildung 2):Die initiale Therapie von Schmerzen findet mit Nichtopioid-Analgetika statt (z.B. Diclofenac, Ibuprofen, Para- cetamol, Metamizol u.a.), wobei diese Stufe erfahrungsgemäss in der Therapie chronischer Schmerzen nicht ausreichend ist.

Die nächste Stufe sieht die zusätzliche Gabe niederpotenter Opioide (z.B. Tramadol, Tilidin/Naloxon) vor. Auf der dritten Stufe werden die niederpotenten Opioide durch hochpotente Opioide ausgetauscht (Morphin, Oxycodon, Fentanyl u.v.a.).

Da speziell der neuropathische Schmerz initial zwar häufig opioidsensibel ist, im Verlauf jedoch gegenüber Opioiden in- sensitiv werden kann, wird auf allen Stufen der Therapie chro- nischer Schmerzen ein besonderes Augenmerk auf die Koanal- getika gelegt (z.B. Antidepressiva, Muskelrelaxanzien, Gaba- pentin u.a.), welche die vielfältigen zentralen Verschaltungs- und Sensibilisierungsprozesse modulieren können (3).

Darüber hinaus muss beim chronischen Schmerz unbedingt ein multimodales Therapiekonzept unter Einbeziehung psychothe- rapeutischer Massnahmen sowie krankengymnastischer oder ergotherapeutischer Verfahren angestrebt werden.

Stimulierende und invasive Verfahren

Weitere Therapieoptionen stellen stimulie- rende Verfahren wie die Applikation eines Reizstroms dar (transkutane elektrische Nervenstimulation [TENS]). In einigen Fäl- len können invasive Verfahren wie Sym- pathikusblockaden (Stellatum-Blockaden) oder lokale Opioidapplikationen erfolgver- sprechend sein (ganglionäre lokale Opioid- applikation [GLOA]). Zuletzt sind gelegent- lich auch invasive Massnahmen zur Dauer- therapie notwendig. Erwähnt seien hier subkutan implantierbare Medikamenten- pumpen für intrathekal gelegene Schmerz- katheter sowie rückenmarknahe elektri- sche Stimulationsverfahren (Spinal Cord Stimulation [SCS]). Neurodestruktive Ver- fahren wie Thermokoagulationen, Sympathikolysen oder die Chordotomie sind weitere, seltene Therapieoptionen.

Generell ist die frühzeitige und enge Anbindung an einen spe- zialisierten Schmerztherapeuten sinnvoll, wenn sich beim Patienten der Verdacht auf ein chronisches Schmerzsyndrom

ergibt.

Dr. med. Michael Neuburger D.E.A.A.

Prof. Dr. med. Christoph Konrad Prof. Dr. med. Martin Schmelz Institut für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin Universitätsklinikum Mannheim Theodor-Kutzer-Ufer 1–3 D-68167 Mannheim

Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de

Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 1/2006. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.

Interessenkonflike: keine

V O M S C H M E R Z Z U R S C H M E R Z E R K R A N K U N G V O M S C H M E R Z Z U R S C H M E R Z E R K R A N K U N G

ARS MEDICI 16 2006

783

Abbildung 2: WHO-Stufenschema. Gelegentlich wird als 4. Stufe noch die rückenmarknahe Opioidapplikation genannt.

plus Co-Analgetika 1. Stufe

2. Stufe

3. Stufe

Alle Stufen

Nichtopioidanalgetika

Schwache Opioidanalgetika

plus

Nichtopioidanalgetika

Starke Opioidanalgetika

plus

Nichtopioidanalgetika

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Mehr als drei Millionen Bun- desbürger leiden ständig unter Schmerzen. Die ARD veran- schaulicht das Schmerzpro- blem in einem Fernsehspiel. nuar, 22.40 Uhr) mit Günter

Migräne Hier handelt es sich um anfallartige, oft pulsierende Kopf- schmerzen, die meist einseitig auf- treten und Stunden bis Tage an- dauern können.. Bei Migräne mit

Diese wiederum können die Schmerzen verstärken, was in der Folge zu einer erhöhten Muskelverspannung führen kann.. Verschiedene Entspannungs- techniken können neben der

Randzio: Wir wollen sowohl die Pflegenden als auch die Ärzte, aber auch die Gesund- heitspolitik für die speziellen Belange von pflegebedürftigen Menschen mit chronischen oder

Die präoperative Patienteninforma tion und -edukation soll auch eine Schmerz- und Analgetikaanamnese umfassen und Patienten mit Risikofaktoren für starke Schmerzen und

Die Prävalenz chronischer Schmerzen ist bei dementen Patienten ebenfalls stark erhöht, wenn man bedenkt, dass 25 bis 50 Prozent aller zu Hause lebenden älteren Personen

Es muss davon ausgegangen werden, dass diese auf einer Dysbalance der Neurotransmitter basieren, welche auch bei psychologi- schen Prozessen wie der Depression oder Angst von

Grundsätzlich gilt es, einen Verband zu wählen, der für den jeweiligen Wundtypen geeignet ist, eine feuchte Wundheilung aufrechterhält (verringert die Reibung an der