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Archiv "Marburger Bund: Kampf ums Überleben" (17.11.2000)

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er Marburger Bund (Verband der angestellten und beamteten Ärz- tinnen und Ärzte Deutschlands e.V.) sieht Handlungsdruck vor allem in drei Bereichen: bei der Implementie- rung des leistungsbezogenen, flächen- deckenden neuen Entgeltsystems, bei der Umsetzung des jüngsten Urteils des Europäischen Gerichtshofes zum Be- reitschaftsdienst der Klinikärzte und bei der strategischen Erweiterung des sta- tionären Sektors zu einem durchgän- gigen Verbundsystem. Der Marburger Bund (MB) sorgt sich um die wirt- schaftliche Existenz der Krankenhäu- ser. Trotz der politischen Vorgabe, zu sparen, soweit es gesundheitspolitisch tolerabel ist: Vor hektischen Sparaktio- nen, beispielsweise durch die vor- schnelle Schließung von Kliniken, die Stilllegung von Abteilungen und ver- sorgungsnotwendigen Betten, hat der Marburger Bund anlässlich seiner 98.

Hauptversammlung am 3./4. November in Berlin gewarnt.

Effizienz und Produktivität

Wie kein anderer Leistungssektor habe gerade der stationäre Sektor längst er- wiesen, dass die Effizienz und Produkti- vität in den vergangenen Jahren über Gebühr gesteigert wurde. Die „Zitrone Krankenhaus“ sei längst ausgequetscht, und weitere Rationalisierungsmaßnah- men endeten in Rationierung und Zwei- Klassen-Medizin zum Nachteil der Pati- enten. Nach den Worten des Vorsitzen- den des Marburger Bundes, Dr. med.

Frank Ulrich Montgomery, Radiologe aus Hamburg, hat der Kliniksektor sei- ne Anpassungs- und Leistungsfähigkeit längst unter Beweis gestellt. Statt Ka- tastrophenszenarien zu entwerfen, soll- te dem deutschen Gesundheits- und Krankenhaussystem Lob gezollt wer-

den. Schließlich zähle dieses zu den be- sten weltweit. Montgomery stellte fest:

Das bundesdeutsche Versorgungssy- stem ist geprägt durch Verteilungsge- rechtigkeit, eine flächendeckende Ver- sorgung bei gleich hohem Versorgungs- standard und vor allem einen weitge- hend barrierefreien Zugang zu den Ver- sorgungsleistungen. Hierzulande gebe es im Gegensatz zum europäischen Aus- land nur moderate Zuzahlungen im sta- tionären Bereich, die zudem durch Überforderungs- und Härteklauseln so- zial abgefedert seien. Auch sei der bun- desdeutsche Krankenhaussektor im Vergleich zu ausländischen Systemen relativ preisgünstig; die Finanzierungs- quote, gemessen am Bruttoinlandspro- dukt, bewege sich auf einem mittleren Niveau. Dies sei eine gute Vorausset- zung für einen innovativen, dynami- schen Wachstums- und Beschäftigungs- sektor. Das Krankenhaus sei ein unver- zichtbarer Dauerarbeitsplatz für mehr als eine Million zumeist hoch qualifi- zierte Mitarbeiter. Der Marburger Bund bekräftigte: Wer weiter rationalisiert ohne Augenmaß, Betten und Personal abbaut, ohne gleichzeitig zu investieren, gefährdet eine funktionierende flächen- deckende Versorgung und erhöht die Kosten. Vor der Umstellung auf ein neues Entgeltsystem müsse zunächst der Investitionsstau vor allem beim Kli- nikbau und der Renovierung durch ein stärkeres finanzielles Engagement der Bundesländer abgebaut werden. Der Staat entziehe sich immer mehr seiner finanziellen Einstandspflicht. Der MB veranschlagt den zusätzlichen Investiti- onsbedarf auf acht bis zehn Milliarden DM. Hier müsse eine Begradigung schnell bewirkt werden, um den Kran- kenhäusern vor dem Start in ein noch ungewisses pauschaliertes DRG-Ent- geltsystem möglichst gleiche, rechtlich abgesicherte finanzielle Rahmenbedin-

gungen und faire Wettbewerbschancen einzuräumen. Die Krankenhäuser müs- sten mit dem wachsenden „demogra- phischen Morbiditätsdruck“ zurecht- kommen – mit einem relativ starren Ausgabenbudget, das zudem an die nur minimalen jährlichen Aufstockungen gekoppelt sei. Damit lasse sich aber ein rasch wachsender medizinischer Fort- schritt, die stärkere Inanspruchnahme und die höhere Krankenhaushäufigkeit kaum finanziell abfangen.

Der Marburger Bund prognostiziert:

Im Jahr 2015 werden rund 600 000 Pati- enten unter 70 Jahren weniger im Kran- kenhaus behandelt werden (vor allem wegen verbesserter ambulanter Be- handlungsmöglichkeiten). Die Zahl der stationär versorgten Patienten wird je- doch um mehr als 1,4 Millionen zuneh- men. Dadurch wächst zugleich die Ar- beitslast der Beschäftigten und die Lei- stungsverdichtung.

Integrierte Zentren

Der Marburger Bund ist ein Befürwor- ter des gegliederten Gesundheitswe- sens, in dem die Krankenhäuser eine entscheidende Koordinations- und zen- trale Versorgungsfunktion übernehmen sollen. Er setzt auf „integrierende Ge- sundheitszentren“, ein durchgängiges Verbundsystem, bei dem das Kranken- haus mit den Praxen niedergelassener Ärzte, mit Rehabilitations-, Vorsorge- und Pflegeeinrichtungen, dem öffentli- chen Gesundheitswesen und den sonsti- gen Gesundheitsversorgungsdiensten kooperiert. Überfällig sei die Aufhe- bung der Trennung zwischen ambulan- ter und stationärer Patientenversor- gung. Auch die ambulante Pflege müsse im Krankenhaus besser organisiert wer- den. Mit verstärkten Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten könne man P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 46½½½½17. November 2000 AA3051

Marburger Bund

Kampf ums Überleben

Die Klinikärzte sehen sich widrigen rechtlichen und

finanziellen Rahmenbedingungen ausgesetzt.

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„gutes Geld verdienen“ (Montgo- mery). Der Marburger Bund befürwor- tet ein funktional gestuftes Verbund- system. Die Krankenhäuser müssten sich unternehmerischen Führungsprin- zipien öffnen, einer adäquaten Rechts- form bedienen und die Entscheidungs- strukturen den sich ändernden gesetz- lichen Rahmenbedingungen anpassen.

Bei der durchgängig ambulant-statio- nären Patientenversorgung müsse die freie Arztwahl erhalten bleiben. Ein Primärarztmodell lehnt der MB ab. Es berge die Gefahr in sich, den Zugang zum Facharzt zu verhindern und Selek- tionen zu fördern.

Die Krankenhäuser sollten sich künf- tig verstärkt darum bemühen, Facharzt- praxen als Krankenhaus zu zentrieren.

Dadurch würden leistungsge- rechtere, effektivere Versor- gungsstrukturen realisiert, neue Entwicklungschancen für die belegärztliche Versor- gung eröffnet und die Arbeit der unterschiedlich speziali- sierten Berufsgruppen besser aufeinander abgestimmt. Da- durch könnten Doppelstruk- turen ebenso weitgehend un- terbunden werden. Allerdings reichen nach Meinung des MB die Öffnungsklauseln der

§§ 140 a bis h SGB V nicht aus, um die Verzahnung zu be- wirken.

Der Verband hat die Kli- nikarbeitgeber auch aufge-

fordert, ihr Leistungsangebot zu diver- sifizieren und sich um ausländische Märkte zu bemühen. In der Konzentra- tion von Krankenhäusern und in der Kooperation lägen Chancen, Synergie- Effekte zu nutzen. Beispiel Hamburg:

Hier hat ein öffentlich-rechtlicher Krankenhausträger mit einem kirch- lichen Krankenhaus fusioniert. Die Krankenhausmitarbeiter könnten sich nicht einem Trend widersetzen, wenn Klinikstandorte zusammengelegt wer- den.

Die von den Spitzenverbänden der Gesetzlichen Krankenversicherung mit Wirkung vom 1. Januar 2001 beschlos- sene Richtlinie zur Überprüfung der Fehlbelegung (§ 282 SGB V) nach einem aus den USA importierten Prüfmodell lehnt der MB ab. Das

Verfahren (EAP) sei lediglich im Rah- men von Qualitätssicherungsmaßnah- men und als wissenschaftliches In- strument einsetzbar, um bestimmte Trends zu erkennen. Stattdessen sollten in dreiseitigen Verhandlungen (Kran- kenkassen, Krankenhäuser, Ärzte) praktikable Wege zur Überprüfung der Fehlbelegung entwickelt werden.

Beifällig beschied der MB die Ent- scheidung des Bundesgerichtshofes vom 3. Oktober zum Bereitschaftsdienst von Klinikärzten. Dieses hat den Bereit- schaftsdienst in Krankenhäusern als Ar- beitszeit definiert. Ein unaufschiebba- rer Handlungs- und Vollzugsdruck laste deshalb auf der Politik, dem Gesetzge- ber, den Krankenkassen und den öffent- lichen Arbeitgebern, die Auswüchse

rasch abzustellen. Die Regelung, die in Deutschland auch für Ärzte in der Wei- terbildung gilt, erfordere krankenhaus- spezifische Arbeitszeitregelungen und Änderungen des Bundesangestellten- Tarifvertrages. Das Mehr an Leistungen müsse zu einer höheren Vergütung oder einem adäquaten Ausgleich durch Frei- zeit führen. MB-Vorsitzender Mont- gomery: „Europa verbietet den über- müdeten Arzt. Marathon-Dienste von 30 und mehr Stunden kann und darf es zum Wohl der Ärzte und der Patienten nicht mehr geben.“

Eine rechtskonforme Umsetzung des Urteils sei nur durch Aufstockung der Personalstellen möglich. Dies müss- ten auch die Krankenkassen akzeptie- ren. Schon befürchtet die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V., dass im

Durchschnitt pro Krankenhaus zehn zusätzliche Klinikarztstellen geschaffen werden müssten und eine Kostenlast von mehr als einer Milliarde DM daraus resultiert (der MB prognostiziert die Umsetzung des EuGH-Urteils auf zwei Milliarden DM Mehrkosten). Staats- sekretär Erwin Jordan, Bundesgesund- heitsministerium, stellte beim MB-Kon- gress eine Anhebung der Krankenhaus- budgets in Aussicht, sollte das Urteil konsequent umgesetzt werden.

DRG-System: Riskantes Neuland

Die gesetzlich vorgeschriebene Umset- zung diagnosebezogener Fallpauschalen bedeute in vieler Hinsicht Neuland. Der Marburger Bund setzt sich für eine Ad- aption und einen ausreichenden Probe- lauf ein, um eventuell zu korrigieren.

Voraussetzung seien fundiert kalkulierte Kostenerhebungen als Basis für die Ent- gelte. Da das Abrechnungssystem flä- chendeckend für alle Patientengruppen gelten soll, müsse der Test mindestens auf drei Jahre verlängert werden. Die re- gionalen Budgetdeckel müssten aufge- hoben werden, denn sie passten nicht zum Leistungsbezug. Das Pauschalsy- stem dürfe nicht als Budgetverteilungsin- strument missbraucht werden. Damit der Umstellungsakt nicht zur bloßen Man- gelverwaltung gerät, sei es erforderlich, im Jahr 2000 sämtliche erbrachten Lei- stungen (auch die nicht bezahlten) zu do- kumentieren, „bis die Schwarte kracht“

(Montgomery). Das Jahr 2001 müsse zum „Jahr der Dokumentation“ werden.

Denn das System sei auf die Istkosten ab- gestellt, die zur Zeit nicht den tatsächli- chen Gegebenheiten entsprächen.

Zudem müssten DRGs die Sonder- probleme wie die Flächen- und Spit- zenversorgung sowie Sonderaufgaben bei der Aus- und Weiterbildung und die Notfallversorgung berücksichtigen.

Wer nicht sämtliche Leistungen doku- mentiert, rationalisiert sich selbst weg.

Schließlich müsse das Krankenhaus wis- sen, wo die Kosten gedeckt, Gewinn er- zielt und Defizite erwirtschaftet werden.

Dabei dürfe die Ökonomie nicht die Medizin dominieren, so der MB. Das Krankenhaus kann sich nur dann be- haupten, wenn die Motivation der Lei- stungsträger stimmt. Dr. rer. pol. Harald Clade P O L I T I K

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A3052 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 46½½½½17. November 2000

Dr. med. Frank Ulrich Montgomery: „Dokumentieren, bis die Schwarte kracht.“ Foto: Jürgen Gebhardt

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