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Handlungsverantwortung und psychische Störung

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Academic year: 2022

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Handlungsverantwortung und psychische Störung

Kultur- und Sozialwissen- schaften

Dissertation

Florian Sturm

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Handlungsverantwortung und psychische Störung

Florian Sturm

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Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/217 von der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen als Dissertation gemäß § 1 Absatz 2 der Promotionsordnung vom 18. Januar 2016 im Promotionsfach Philosophie angenommen. An erster Stelle danke ich Herrn Prof. em. Dr. phil. Dr. med. h.c. Jan P.

Beckmann für die wissenschaftliche Betreuung meiner Dissertation gemäß § 5 Absatz 1 der Promotionsordnung und Erstbegutachtung der Arbeit. Ebenso danke ich Herrn Apl. Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych.

Thomas Keutner, der die Zweitbegutachtung übernommen hat.

Berlin, im Januar 2017

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INHALT

1 EINLEITUNG _______________________________________1 1.1 Vorüberlegungen _____________________________________1

1.1.1 Handeln und Verantwortung ... 1

1.1.2 Handeln, Verantwortung, psychische Störung... 2

1.2 Fragestellung ________________________________________3 1.2.1 Allgemeine Fragestellung ... 3

1.2.2 Störungsspezifische Fragestellung ... 4

1.3 Methodik ____________________________________________5 1.3.1 Begriffsdefinitionen ... 5

1.3.1.1 Moralische Handlungsverantwortung ... 6

1.3.1.2 Psychische Störung ... 7

1.3.2 Die Verwendung von Fallbeispielen ... 9

1.3.3 Die logische Form der Verantwortungszuschreibung ... 9

1.3.4 Analyseschritte ... 15

1.3.4.1 Schritt 1: Die Störung ... 15

1.3.4.2 Schritt 2: Zuschreibungshypothesen ... 18

1.3.4.3 Schritt 3: Antwort ... 20

1.3.4.4 Schritt 4: Extrapolation ... 21

1.4 Struktur und Thesen _________________________________21 1.5 Annahmen __________________________________________23 1.5.1 Normative Ethik ... 23

1.5.2 Kongruenz des Urteils als Verifikation ... 24

1.5.3 Kompatibilismus der Zuschreibung... 27

1.5.4 Prinzipielle Zuschreibung... 29

1.5.5 Erkenntnistheoretischer Realismus ... 30

1.5.6 Diagnostische Prozessvalidität... 31

1.6 Abgrenzung ________________________________________31 1.6.1 Der Status psychischer Störungen ... 31

(7)

2 DER PHILOSOPHISCHE KONTEXT _________________35 2.1 Verantwortung ______________________________________36

2.1.1 Der Begriff der Verantwortung ... 36

2.1.2 Formen der Verantwortung... 38

2.1.3 Kausale versus moralische Verantwortung ... 40

2.1.4 Theorien der Verantwortung ... 45

2.2 Handlungen ________________________________________48 2.2.1 Eine Handlungstheorie ... 48

2.2.2 Verteidigung der Handlungstheorie ... 53

2.3 Theorien der Handlungsverantwortung ________________78 2.3.1 Der voluntaristische Ansatz ... 79

2.3.2 Der intentionalistische Ansatz ... 98

2.3.3 Der hierarchische Ansatz ... 107

3 VOLITIONALE STÖRUNG _________________________123 3.1 Die Störung ________________________________________123 3.2 Zuschreibungshypothesen ___________________________147 3.2.1 Wunschabnormität ... 149

3.2.2 Negative Konsequenzen ... 155

3.2.3 Wunschmissbilligung ... 156

3.2.4 Alternativlosigkeit ... 165

3.2.5 Begrenztheit ... 176

3.2.6 Unzumutbarkeit ... 178

3.2.7 Konditionierung ... 181

3.2.8 Wunschintensität ... 184

3.2.9 Unfreiwilligkeit ... 187

3.2.10 Unabsichtlichkeit... 196

3.3 Antwort ___________________________________________208 3.4 Extrapolation ______________________________________220

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4 ATTRIBUTIVE STÖRUNG _________________________227 4.1 Die Störung ________________________________________229 4.2 Zuschreibungshypothesen ___________________________249

4.2.1 Minimalismus ... 250

4.2.2 Kausale Attribution ... 255

4.2.3 Intentionale Attribution ... 267

4.2.4 Intentionale Identität ... 270

4.2.5 Personale Identität ... 277

4.2.6 Identität durch Bewusstsein ... 281

4.2.7 Psychologische Identität ... 288

4.2.8 Biologische Identität ... 291

4.2.9 Attribution durch Charakteristischsein ... 297

4.3 Antwort ___________________________________________304 4.4 Extrapolation ______________________________________313 5 EPISTEMISCHE STÖRUNG ________________________319 5.1 Die Störung ________________________________________320 5.2 Zuschreibungshypothesen ___________________________333 5.2.1 Unkenntnis ... 333

5.2.2 Relevante Unkenntnis ... 335

5.2.3 Kontrafaktisch identifizierte Unkenntnis ... 336

5.2.4 Unfreiwilligkeit ... 339

5.2.5 Unabsichtlichkeit... 342

5.3 Antwort ___________________________________________345 5.4 Extrapolation ______________________________________352

(9)

6 SCHLUSS: KRITERIOLOGIE _______________________363 6.1 Das volitionale Kriterium ____________________________364 6.2 Das attributive Kriterium ____________________________366 6.3 Das epistemische Kriterium __________________________367 6.4 Die Autorschaft der Psychopathologie _________________369 6.5 Der Trugschluss eines statusabhängigen Kriteriums _____369 6.6 Die Universalität der Kriterien ________________________371 6.7 Rationale, normative und motivationale Kriterien _______372 6.8 Das Handlungskriterium ____________________________375

LITERATURVERZEICHNIS __________________________________383 ANMERKUNG ______________________________________________409 EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG ____________________________411

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1 EINLEITUNG

1.1 VORÜBERLEGUNGEN

1.1.1 HANDELN UND VERANTWORTUNG

Handeln ist an Verantwortung gebunden. Wenn Getanes moralisch lobens- oder tadelnswert erscheint, so hat das Lob oder der Tadel in aller Regel einen Adressaten – die handelnde Person. Sie ist mit der Handlung auf eine Art verknüpft, die sie als rechtmäßigen Empfänger des Lobes oder des Tadels einordnet. Sie trägt die moralische Verantwortung für die Handlung.

Das ist jedoch nicht immer und nicht zwingend so. Wenn sich, was einem zunächst als bewusste Handlung des anderen erscheint, als Unabsichtlichkeit erweist, so setzt man das Urteil aus und spricht das Lob oder den Tadel nicht der Person zu – obgleich man die Handlung an sich für moralisch lobens- oder tadelnswert halten mag. Ganz ähnlich verhält es sich mit Fällen, in denen der Handelnde glaubhaft versichert, er habe nicht aus freien Stücken gehandelt, sondern unter einem wie auch immer beschaffenen Zwang gestanden. Auch gibt es Fälle, in denen eine Person zwar bewusst und ungezwungen, aber auf Grundlage einer falschen Annahme handelt. Würde man hier auch sicherstellen wollen, dass der Irrtum nicht selbstverschuldet war, so scheint doch klar, dass eine moralisch verwerfliche Handlung, die in Unkenntnis stattfand, nicht gelichzusetzen ist mit einer Handlung, die trotz Vorlage aller relevanten Fakten geschehen ist. Kurz: Man schreibt keine moralische Verantwortung zu.

Neben diesen sozusagen kontextbedingten Freisprüchen scheint es eine gänzlich andere Kategorie der Nichtzuschreibung moralischer Verantwortung zu geben: Die Verantwortungsabsprache aufgrund eines bestimmten Status. Wenn ein noch kleines Kind ein Desaster anrichtet, so mag man Ärger empfinden und die Handlung an sich ganz sicherlich nicht gutheißen. Man spricht dem Kind jedoch keinen Tadel im moralischen Sinne aus – wenngleich vielleicht auch edukativ motivierten Tadel. Und zwar genau aus dem Grunde, dass es sich eben

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noch um ein Kind handelt: einen zwar bereits handelnden, jedoch nicht vollumfänglich moralisch belangbaren Menschen.

Ähnlich nimmt man bei denjenigen Personen von der Verantwortungs- zuschreibung Abstand, die aufgrund einer Erkrankung dauerhaft oder vorübergehend nicht als rechtmäßige oder sinnvolle Empfänger des Lobes oder Tadels erscheinen. Beispielsweise mag das bei einer Demenzerkrankung oder im Delirium so sein. In all diesen Fällen überprüft man nicht ständig aufs Neue situationell, ob ein verantwortungsabsprechender Grund vorliegt, sondern geht mehr oder minder ganz allgemein davon aus, dass die andere Person in moralischer Hinsicht kein adäquater Empfänger des Lobes oder Tadels ist. Kurz: Man schreibt statusbedingt keine moralische Verantwortung zu.

1.1.2 HANDELN, VERANTWORTUNG, PSYCHISCHE STÖRUNG Diese Arbeit untersucht die Zuschreibung moralischer Handlungsverantwortung im speziellen Fall psychischer Störungen.

Psychische Störungen können einerseits zu Handlungen führen, die als an sich moralisch schlecht erscheinen. Gleichzeitig kann einen andererseits gerade das Vorliegen einer psychischen Störung dazu bewegen, der Person die moralische Verantwortung für das Getane, sei es auch noch so verwerflich, nicht anzulasten. Die Verantwortungsfrage ist im Falle psychischer Störungen also in gleich zweierlei Hinsicht sowohl interessant als auch drängend.

Häufig mag man nun bei psychischen Störungen ganz allgemein, also statusabhängig, geneigt sein zu sagen: Die Person kann für ihr Handeln nicht im üblichen Sinne moralisch verantwortlich gemacht werden. Häufig jedoch – gerade wenn einem die Tat zum einen besonders verwerflich und zum anderen offensichtlich von langer Hand geplant und geradezu vorsätzlich erscheint, wie es beispielsweise bei öffentlichkeitsträchtigen, sogenannten psychopathischen Vergehen sein mag – wehren sich die moralischen Intuitionen geradezu, die handelnde Person einfach und schlichtweg

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Verantwortung für die Tat freizusprechen. Man möchte dann genau wissen, wie der Handelnde die Situation wahrgenommen hat, was ihn zur Tat motiviert hat, wie sein Leben bisher ablief, ob er zur Tat Reue empfindet oder gar Stolz – und wahrscheinlich vieles mehr. Die Diagnose der psychischen Störung scheint die Verantwortungsfrage hier keinesfalls hinreichend per Status zu klären. Im Gegenteil: Man mag sogar Wut empfinden, wenn im juristischen Verfahren die Störung am Ende strafverhindernd ist.

In weiteren, ähnlichen Fällen verübelt man einem Menschen etwas zunächst aufs Tiefste, erfährt dann jedoch von der bei ihm oder ihr vorliegenden Störung – und mag daraufhin ebenfalls geneigt sein, die Kriterien der Verantwortungszuschreibung aufzuschlüsseln: Worin genau liegt die Störung? Was ist hinsichtlich Wahrnehmung, Wünschen, Motivation, Planung, Kontrolle außerordentlich?

Gegebenenfalls gelangt man auch hier zuletzt zu einem differenzierenden Zuschreibungsurteil.

1.2 FRAGESTELLUNG

1.2.1 ALLGEMEINE FRAGESTELLUNG

Das Verhältnis der beiden Konzepte, der Handlungsverantwortung einerseits und der psychischen Störung andererseits, ist also keinesfalls unmittelbar und offensichtlich. Die vorliegende Arbeit untersucht dieses Verhältnis systematisch. Ihre Fragestellung lautet: Sind Personen, für die zutreffend eine psychische Störung diagnostiziert wurde oder werden könnte, während der symptomatischen Phasen dieser Störung für ihr Handeln moralisch verantwortlich?

Der Komplexität der Zuschreibungspraxis moralischer Verantwortung zu Schulden einerseits, und der Vielfalt psychischer Störungen andererseits, ist nicht zu erwarten, dass diese Antwort eindeutig ausfällt. Weder eindeutig bejahend, noch eindeutig verneinend. Ebenso ist nicht zu erwarten, dass die Antwort uniform ausfällt: Zweifelsohne wirken sich unterschiedliche Störungen in unterschiedlichem Maße,

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zuschreibung aus. Der Anspruch der Arbeit ist also ein differenziertes

„Ja“ beziehungsweise „Nein“.

Neben dem Ob der Verantwortungszuschreibung muss eine zufriedenstellende Antwort außerdem deren Warum nennen. Der Anspruch der Arbeit ist also ein erklärendes „Ja“ beziehungsweise

„Nein“. Die erweiterte Fragestellung lautet daher: Wenn im Falle einer bestimmten Störung moralische Verantwortung zu- oder abgesprochen wird, aus welchem Grund geschieht das dann jeweils – welchem Zuschreibungsprinzip wird gefolgt, und warum wird es im jeweiligen Falle als erfüllt oder nicht erfüllt gewertet?

Allgemeine Zielsetzung der Arbeit ist, zusammengefasst, die systematische philosophische Untersuchung der Auswirkung psychischer Störungen auf die Zuschreibung von Handlungs- verantwortung.

1.2.2 STÖRUNGSSPEZIFISCHE FRAGESTELLUNG

Die Arbeit wählt aus der Vielzahl psychischer Störungen einige spezifische Störungen aus und beschränkt die Fragestellung auf jene.

Diese Einschränkung hat – neben Überlegungen der schieren Realisierbarkeit im Rahmen einer Dissertation – zwei konzeptionelle Gründe: Erstens, so eine These der Arbeit, gibt es die psychische Störung als philosophisch scharf abzugrenzendes Konzept nicht. Ihr Verhältnis per se zum zweiten Konzept, der Handlungsverantwortung, kann also nicht als solches untersucht werden. Zweitens, so eine weitere These der Arbeit, ist eine psychische Störung niemals ein statusbedingter Nichtzuschreibungsgrund moralischer Handlungs- verantwortung, sondern, falls überhaupt, ein kontextbedingter.

Unterschiedliche Störungen beeinflussen den Zuschreibungskontext aber auf unterschiedliche Weise, so die These, so dass nur für spezifische Störungen – oder bestenfalls für in zuschreibungs- relevantem Sinne verwandte spezifische Störungen gemeinsam – untersucht werden kann, ob und warum Verantwortungszuschreibung erfolgt.

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Die Arbeit diskutiert die ausgewählten spezifischen Störungen in drei Gruppen: die volitionale, die attributive und die epistemische.

Begrifflichkeiten und Zuordnungen der drei Gruppen sind dabei nicht gängigen psychiatrischen und psychologischen Klassifikationen entnommen, sondern werden durch die Arbeit vorgeschlagen, plausibilisiert und verteidigt. Es soll gezeigt werden, dass bestimmte Störungen aufgrund verantwortungsrelevanter Merkmale gruppierbar sind, selbst wenn jene Gruppierung nicht deckungsgleich mit in der klinischen Praxis gebräuchlichen deskriptiven oder ätiologischen Einteilungen sein mag.

Durch die Adressierung einzelner Störungen, gruppiert nach verantwortungsrelevanten Merkmalen, lautet die störungsspezifische Fragestellung also: Sind Personen, für die zutreffend eine volitionale, attributive oder epistemische Störung diagnostiziert wurde oder werden könnte, während der symptomatischen Phasen dieser Störung für ihr Handeln moralisch verantwortlich?

1.3 METHODIK

1.3.1 BEGRIFFSDEFINITIONEN

Die beiden zentralen Konzepte der Arbeit sind die moralische Handlungsverantwortung einerseits und die psychische Störung andererseits.

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1.3.1.1 MORALISCHE HANDLUNGSVERANTWORTUNG

Moralische Handlungsverantwortung wird verstanden werden als die Eigenschaft eines Akteurs, für eine bestimmte Handlung ein angemessenes Ziel von Lob oder Tadel zu sein.1

Als dieser Definition gleichgesetzt wird verstanden werden: „X ist für eine Handlung A moralisch verantwortlich“ bedeutet „X verdient den moralischen Kredit oder Misskredit bezüglich der Handlung“.2

Hierzu drei Anmerkungen: Erstens ist entscheidend festzuhalten, dass dieses Attribut der Verantwortlichkeit zu unterscheiden ist vom Lob und Tadel beziehungsweise vom moralischen Kredit oder Misskredit selbst. Die Frage, ob ein Akteur für eine bestimmte Handlung verantwortlich ist, ist von der Frage, ob die Handlung an sich moralisch richtig oder falsch sei, analytisch trennbar und im Beurteilungsprozess hierarchisch vorgeschoben.

1 Vgl.: FISCHER, J.M. & RAVIZZA, M. (2000): Responsibility and control: A theory of moral responsibility. Cambridge: Cambridge University Press., S. 8.; FINGARETTE, H. (1966):

Responsibility: Mind (Vol. 75, S. 58-74).; und: ARISTOTELES:NIKOMACHISCHE ETHIK (A). Stuttgart:

Reclam (1969) - Übersetzung nach: Franz Dirlmeier. - Zitierweise nach Seite, Spalte und Zeile des griechischen Textes der Berliner Akademie-Ausgabe von 1831 (Immanuel Bekker). 1109b30 ff. Ein alternatives Begriffsverständnis schlägt vor: PICKARD,H. (2013): Responsibility without blame: Philosophical reflections on clinical practice. In: FULFORD, K., DAVIES, M., GIPPS, R., GRAHAM, G., SADLER, J., STANGHELLINI, G. & THORNTON, T. (Hrsg.): The Oxford handbook of philosophy and psychiatry. Oxford: Oxford University Press.; und: PICKARD, H. (2011a):

Responsibility without blame: Empathy and the effective treatment of personality disorder:

Philosophy, Psychiatry & Psychology (Vol. 18, S. 209-223). PICKARD scheint hier jedoch Definition mit Umgang zu verwechseln: Widerlegt wird nicht die postulierte Definition moralischer Verantwortung (als handlungsbegründeter Tadel - oder eben Lob), sondern, dass im Falle der Verantwortungszuschreibung der explizite Akt des Lobens oder Tadelns der richtige Umgang mit der Person sei.

2 Vgl.: MACKIE,J.L. (1983): Ethik - Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen. Stuttgart:

Reclam., S. 357; und: STRAWSON,P.F. (1962): Freedom and resentment: Proceedings of the British Academy (Vol. 48, S. 1-25).; SMITH, A.M. (2008): Control, responsibility, and moral assessment: Philosophical Studies (Vol. 138, S. 367-392).; und: SZASZ,T. (1993): A lexicon of lunacy: Metaphoric malady, moral responsibility, and psychiatry. New Brunswick: Transaction Publishers.

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Zweitens: Welchen metaethischen Status Proposition wie „X verdient Lob und Tadel bezüglich etwas“ oder „X verdient bezüglich etwas moralischen Kredit oder Misskredit“ haben, ist keine triviale, und vor allem keine voraussetzungslos zu beantwortende Frage. Kurz gesprochen versteht sich die Arbeit als im Bereich der normativen Ethik angesiedelt und geht davon aus, dass Propositionen die aussagen, etwas sei moralisch richtig oder falsch, entweder (a) an sich wahr oder falsch sein können, oder (b) zumindest auch dann sinnvoll zu erörtern sind, sollten für ihr Wahr- oder Falschsein weitere Annahmen getroffen werden müssen, die ihrerseits nicht abschließend als wahr oder falsch verifiziert werden können. Diese Voraussetzung wird unten (Abschnitt 1.5) näher diskutiert.

Drittens: Das Verhältnis zweier Spielarten der Handlungs- verantwortung, der kausalen und der moralischen, verdient gesonderte Aufmerksamkeit. Es wird im nächsten Kapitel, dem Kapitel zum philosophischen Kontext der Fragestellung, erörtert. Wie sich zeigen wird, ist die kausale Verantwortung notwendige Voraussetzung der moralischen, was umgekehrt nicht der Fall ist. Die Brisanz dieser Logik für speziell die Fragestellung dieser Arbeit wird im folgenden Kapitel 2 ebenfalls dargelegt werden.

1.3.1.2 PSYCHISCHE STÖRUNG

Eine psychische Störung wiederum wird zunächst als das verstanden werden, was sie im klinischen psychiatrischen Kontext ist: Eine Diagnose – also ein von expliziten, meist empirisch verifizierbaren Kriterien abhängig zugeschriebener Status bezüglich Wahrnehmung oder Verhalten einer Person, wobei die Kriterien in einem noch näher zu besprechenden Sinne den Nachweis einer Beeinträchtigung leisten.3

3 Welche Elemente des Erlebens oder Verhaltens ‚beeinträchtigt‘ sein mögen, hängt von der spezifischen Störung ab und wird demnach gesondert je Kapitel besprochen werden. Warum

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Wie bereits skizziert adressiert die Arbeit dabei ausgewählte spezifische Störungen – systematisiert durch eine Einteilung in drei Gruppen anhand verantwortungsrelevanter Merkmale.

Dementsprechend werden die Definitionen der spezifischen Störungen verwendet werden und kein allgemeines Konzept der psychischen Störung vorgelegt – ein Unterfangen, das, so eine These der Arbeit, aus philosophischer Sicht ohnehin nicht zufriedenstellend leistbar wäre.

Die Arbeit definiert jede spezifische Störung zunächst anhand der Diagnosekriterien, die im psychiatrischen Kontext aktuell gängig sind.

Das heißt, sie beginnt mit einer klinisch deskriptiven Konsens- formulierung4. Diese Formulierung greift sie aus dem Kapitel V der ICD 10-Klassifikation (INTERNATIONAL CLASSIFICATION OF DISEASES) der Weltgesundheitsorganisation in ihrer aktuell gültigen deutsch- sprachigen Fassung auf. 5

Im Rahmen jedes störungsgruppenspezifischen Kapitels wird die klinisch deskriptive Definition dann konzeptualisiert: Wenn ein Akteur

von einer ‚Beeinträchtigung‘ die Rede ist, ebenso. Wie sich zeigen wird, ist nicht einfach abzugrenzen – zumindest nicht uniform über alle Störungen hinweg –, ob ‚Beeinträchtigung‘

zum Beispiel als bloße statistische Negativabweichung, funktional, als normatives Urteil oder in noch weiterer Form zu verstehen ist. Vgl. hierzu: ARPALY,N. (2005): How it is not 'just like diabetes': Mental disorders and the moral psychologist: Philosophical Issues (Vol. 15).; FRANCES, A. (2013a): The new crisis of confidence in psychiatric diagnosis: Annals of Internal Medicine (2013/11/20, Vol. 159, S. 221-222).; und: MORRIS,C. (1959): Philosophy, psychiatry, mental illness and health: Philosophy and Phenomenological Research (Vol. 20, S. 47-55).

4 Mit „Konsens“ sei hier lediglich impliziert, dass es sich jeweils um explizit als solche deklarierte, und dem Anspruch nach seiende, disziplinweite, dem Forschungsstand Rechnung tragende Leitlinien handelt – nicht, dass diese nicht kontrovers diskutiert würden. Vgl. hierzu:

FRANCES (2013a); FRANCES,A. (2013b): The past, present and future of psychiatric diagnosis:

World Psychiatry (2013/06/06, Vol. 12, S. 111-112); FRANCES,A. & NARDO,J.M. (2013): ICD-11 should not repeat the mistakes made by DSM-5: The British Journal of Psychiatry (2013/07/03, Vol. 203, S. 1-2); MICHELS, R. & FRANCES, A. (2013): Should psychiatry be expanding its boundaries?: Canadian Journal of Psychiatry (2013/10/30, Vol. 58, S. 566-569).

5 Vgl.: GRAUBNER,B. (2014): ICD 10 Alphabetisches Verzeichnis 2014: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Köln: Deutscher Ärzte- Verlag; GRAUBNER, B. (2013): ICD-10-GM 2014 Systematisches Verzeichnis: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 11. Revision - German Modification. Version 2014. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag.

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mit einer der jeweiligen Störungen behaftet ist, was bedeutet das handlungstheoretisch, epistemologisch und so fort. Die sozusagen philosophische Definition einer Störungen wird also im Verlauf des jeweiligen Kapitels erarbeitet und somit nicht hier vorabgestellt.

1.3.2 DIE VERWENDUNG VON FALLBEISPIELEN

Bisweilen wird es bei einzelnen Störungen oder Aspekten einzelner Störungen zielführend sein, nicht nur Diagnosekriterien heranzuziehen, sondern konkrete Fälle. Das zum einen deshalb, weil Fallbeispiele, wie sich zeigen wird, häufig weitere, für die handlungstheoretische Analyse, die epistemische Analyse und so fort relevante Charakteristika der Störungen aufzeigen. Zum anderen deshalb, weil die Betrachtung tatsächlicher Personen und ihrer Handlungsumstände die Relevanz der Fragestellung für die normative Ethik eindrücklicher zu belegen vermögen als allein die formellen Diagnosekriterien.

Neben diesen tatsächlichen Fällen werden in der Arbeit zudem fortlaufend hypothetische Fallbeispiele konstruiert werden. Das – als analytische Standardmethode der normativen Ethik – dazu, bestimmte Charakteristika der Handlung und deren Auswirkung auf die Verantwortungszuschreibung schärfer abgrenzen zu können. Zum Beispiel werden häufig tatsächliche Fallbeispiele in einzelnen Aspekten hypothetisch variiert werden, um demonstrieren zu können, worin genau das verantwortungsrelevante Merkmal der Handlungssituation im tatsächlichen Fall liegt.

1.3.3 DIE LOGISCHE FORM DER

VERANTWORTUNGSZUSCHREIBUNG

In der Arbeit wird das normative Urteil der Zuschreibung moralischer Handlungsverantwortung als von folgender logischer Form A verstanden werden:

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IA Person X ist dann für eine Handlung A nicht verantwortlich, wenn Kriterium K erfüllt ist. 6

IIA Wenn Umstand U gegeben ist, dann K.

IIIA Wenn U, dann ist X für A nicht verantwortlich.

Propositionen des ersten Typus (I) werden im Folgenden als ‚Kriterien postulierende Prämissen‘ bezeichnet. Propositionen des zweiten Typus (II) werden im Folgenden als ‚Kriterien prüfende Prämissen‘

bezeichnet werden. Die letzte Proposition (III) leitet sich als Schlussfolgerung aus den beiden Prämissen zwingend ab. Sie werden im Folgenden, um sie von anderen Schlussfolgerungen abzugrenzen, als ‚Zuschreibungskonklusionen‘ bezeichnet.

Einen logisch konsistenten Satz dreier Propositionen der Form I bis III, über die hinweg U und K jeweils referenzidentisch sind, wird in der Arbeit als eine ‚Basisstruktur‘ der Zuschreibung moralischer Handlungsverantwortung bezeichnet werden.

Hierzu sechs Anmerkungen: Erstens formuliert der Konditionalsatz

‚wenn K‘ der Basisstruktur die Bedingungen der Zuschreibung. K ist also das postulierte Zuschreibungskriterium oder, je nach logischer Form, das Nichtzuschreibungskriterium moralischer Verantwortung. K kann als Nichtzuschreibungskriterium beispielsweise lauten:

(i) „X hat sich nicht aus freien Stücken für A entschieden“

(ii) „X war sich nicht aller relevanten Fakten zu A bewusst“

(iii) „X hätte Nicht-A nicht tun können“

Zweitens: Sicherlich gibt es Zuschreibungsurteile auch anderer logischer Form. Neben verschiedenen sprachlich differenten, aber

6 Logisch identisch kann diese Prämisse auch als von folgender Form verstanden werden: (IA) Wenn Kriterium K erfüllt ist, dann ist Person X für die Handlung A nicht verantwortlich.

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analytisch nicht erheblich unterschiedlichen Varianten, sind zwei Formen der Basisstruktur relevant. Die erste formuliert das Zuschreibungskriterium K in der Kriterien postulierenden Prämisse I nicht als notwendig, sondern als hinreichend. Die Kriterien postulierende Prämisse der Basisstruktur hat dann folgende Form B:

IB Person X ist dann für eine Handlung A verantwortlich, wenn Kriterium K erfüllt ist.

Hier ist K ein Einschlusskriterium, in der zuvor genannten Form ein Ausschlusskriterium. In der jetztgenannten Form könnte K beispielsweise sein:

(i) „X hat sich aus freien Stücken für A entschieden“

(ii) „X war sich aller relevanten Fakten zu A bewusst“

(iii) „X hätte auch Nicht-A tun können“

Dieser Unterscheid scheint zunächst nur formalistisch, ist es jedoch nicht. Wird K als Einschlusskriterium verstanden, so verfasst die Basisstruktur potenziell bereits eine sozusagen vollständige Zuschreibungstheorie moralischer Verantwortung, weil mit K bereits ein hinreichendes Kriterium benannt ist, das potenziell allen Akteuren Verantwortung zuzuschreiben vermag.

Eine zweite Formvariante C der Basisstruktur, die K ebenfalls als hinreichend formuliert, postuliert K zudem als notwendig:

IC Person X ist dann und nur dann für eine Handlung A verantwortlich, wenn Kriterium K erfüllt ist.

Hier verfasst die Basisstruktur nicht nur eine möglicherweise, sondern de facto vollständige Zuschreibungstheorie. Ist man beispielsweise der Ansicht, dass Personen genau dann für eine Handlung moralisch verantwortlich sind, wenn sie absichtlich gehandelt haben, so ergibt sich eine Instanz dieser logischen Form der Basisstruktur, die eine bereits vollständige Zuschreibungstheorie mit genau einem Zuschreibungskriterium formuliert:

IC-1 Person X ist dann und nur dann für eine Handlung A

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Logische Formen der Basisstruktur der Art C werden im Folgenden als globale Einschlusstheorien bezeichnet, Formen der Art B als partielle Einschlusstheorien und die eingangs genannte Form A als partielle Ausschlusstheorien.

Hierbei bezieht sich „global“ und „partiell“ selbstredend auf die logische Form, nicht auf ihr Zuschreibungsurteil: Auch eine sogenannte globale Einschlusstheorie mag im Ergebnis keinem Akteur Verantwortung zusprechen, oder nur einzelnen – sie tut dies dann aber in jedem Falle auf Basis nur eines, sowohl hinreichenden als auch notwendigen Kriteriums.

Im Folgenden wird typischerweise die logische Form A der Basisstruktur verwendet werden. Das aus drei Gründen:

1. Die Arbeit geht – per Annahme (siehe unten) – davon aus, dass Verantwortung sozusagen standardmäßig zugeschrieben wird, und es der Nichtzuschreibung eines Grundes Bedarf, nicht der Zuschreibung.

2. Die Arbeit bespricht eine Vielzahl potenzieller Zuschreibungskriterien, die nicht alle einer umfassenden Verantwortungstheorie entspringen. Während aber globale Einschlusstheorien auch als partielle Ausschlusstheorien abgeschwächt formuliert werden können und dabei trotzdem konsistent mit den Wahrheitsbedingungen der vollständigen Theorie bleiben, wären für die Umformulierung einer partiellen Ausschlusstheorie als globale Einschlusstheorie immer weitere Annahmen notwendig, die der Theorie Prämissen unterstellen müssten, die jene nicht, oder zumindest nicht explizit teilt.7

7 (I) sei die Prämisse „Es gibt ein K, für das für alle X und alle A gilt: X ist dann und nur dann für A moralisch verantwortlich, wenn K.“, die eine globale Einschlusstheorie formuliert. (II) sei die Prämisse „Es gibt ein K, für das für alle X und alle A gilt: Wenn Nicht-K, dann ist X für A moralisch nicht verantwortlich.“, die die globale Einschlusstheorie als partielle Ausschlusstheorie abgeschwächt formuliert. Dann ist II aus I ableitbar, I jedoch nicht aus II. Für

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3. Die Prüfrichtung der Arbeit sind die psychischen Störungen, nicht die Verantwortungstheorien. Die Arbeit fragt nicht, ob eine bestimmte Verantwortungstheorie wahr ist – und zieht dazu als prüfende Extremfälle unter anderem psychische Störungen heran.

Sondern sie fragt, ob eine bestimmte psychische Störung Nichtzuschreibung rechtfertigt – und zieht dazu Zuschreibungs- kriterien bestimmter Verantwortungstheorien heran. Somit wird meist nur ein spezifisches Zuschreibungskriterium in Anwendung auf die Störung zu diskutieren sein, nicht eine vollumfängliche Theorie.

Letztere werfen in den allermeisten Fällen viele weitere zu diskutierende Punkte auf, die nicht oder kaum mit psychischen Störungen zu tun haben – also eine sehr viel breitere Diskussion, die sowohl Anspruch als auch Möglichkeiten der Arbeit übersteigen würde.

Drittens: Die zweite, die Kriterien prüfende Prämisse trifft eine nur deskriptive Aussage. Fragt man zum Beispiel, ob die Proposition

„Wenn X zu A gezwungen wurde, dann hat X A nicht freiwillig getan.“ auf eine bestimmte Handlungssituation zutrifft, so mag konzeptioneller Klärungsbedarf bestehen (Was bedeutet es, zu etwas gezwungen zu sein? Was bedeutet es, etwas freiwillig zu tun?) und faktischer Klärungsbedarf (Wurde X zu A gezwungen?). Die Klärung wird jedoch in jedem Falle durch die korrekte Beschreibung der Begriffe und Tatsachen erreicht. Die erste Prämisse, die Kriterien postulierende Prämisse, referiert hingegen auf das inhärent normative Konzept der moralischen Handlungsverantwortung. Es muss also der Fall sein, dass sie aus einer deskriptiven Aussage eine normative ableitet. Diese Ableitbarkeit postuliert – und, wenn zutreffend, leistet – das Zuschreibungskriterium.

Letzteres müssten zusätzlich Prämissen der Art (III) „Es gibt ein K, für das für alle X und alle A gilt: Wenn K, dann ist X für A moralisch verantwortlich.“ und (IV) „Es gibt genau ein K.“ erfüllt sein.

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Viertens: Wenn die Zuschreibung moralischer Handlungs- verantwortung anhand einer bestimmten Basisstruktur versagt, so wird entscheidend sein zu prüfen, welche der beiden Prämissen nicht zutrifft. Zum einen mag man beispielsweise abstreiten, dass „Wenn X sich zu A nicht aller Fakten bewusst war, dann hat X A nicht absichtlich getan.“ (Prämisse IIA). Zum anderen mag man dieser Prämisse jedoch zustimmen, aber verneinen, dass „Wenn X A nicht absichtlich getan hat, dann ist X für A nicht verantwortlich.“, also die erste, die Kriterien postulierende Prämisse (Prämisse IA) für falsch halten. Wie sich in der Arbeit zeigen wird, sind beide Prüfungen ganz anderer philosophischer Aufgabennatur. Die Prüfung der ersten, der Kriterien postulierenden Prämisse erfordert, die den moralischen Urteilen zugrunde liegenden normativen Zuschreibungskriterien offen zu legen. Das ist eine nicht unmittelbar mit psychischen Störungen zusammenhängende Aufgabe. Die Prüfung der zweiten, der Kriterien prüfenden Prämisse hingegen erfordert, die für die Störung definierenden Handlungsgegebenheiten konzeptionell so hinreichend zu beschreiben, dass entschieden werden kann, ob das Zuschreibungskriterium durch die Störung erfüllt wäre oder nicht – unabhängig davon, ob es nun zutrifft. Die Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit – Sind Personen, die eine psychische Störung zeigen, moralisch handlungsverantwortlich oder nicht, und warum? – erfordert die Lösung beider Aufgaben.

Fünftens: Noch einmal, zur Erinnerung, die Basisstruktur der Zuschreibung moralischer Handlungsverantwortung:

IA Person X ist dann für eine Handlung A nicht verantwortlich, wenn Kriterium K erfüllt ist.

IIA Wenn Umstand U gegeben ist, dann K.

IIIA Wenn U, dann ist X für A nicht verantwortlich.

Die Basisstruktur beinhaltet keine explizite Referenz auf psychische Störungen. Prinzipiell mag eine psychische Störung auf zweierlei Weise in der Basisstruktur zu Tage treten: Entweder als Umstand U, oder aber als Zuschreibungskriterium K. Hier findet sich das formale Äquivalent der eingangs vorgestellten Unterscheidung zwischen

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kontext- und statusbedingter Zuschreibung moralischer Handlungs- verantwortung: Tritt die psychische Störung als K auf, so wird unterstellt, dass die Störung an sich die Nichtzuschreibung nach sich zieht. Tritt die psychische Störung aber als U auf, so wird postuliert, dass die Störung ein bestimmtes Nichtzuschreibungs-kriterium, K, das seinerseits postuliert werden muss, erfüllt sein lässt, und dass deshalb gegebenenfalls keine Verantwortung zugeschrieben wird. Wie die Arbeit versuchen wird zu zeigen, muss die letztere Variante die zutreffende sein, gleichwie das korrekte Kriterium K auch lauten mag.

Sechstens, ein sprachlicher Hinweis nur technischer Natur: Die aufgeführten Formulierungen der Basisstruktur verzichten auf den qualifizierenden Zusatz ‚moralisch‘ vor dem Adjektiv ‚verantwortlich‘.

Dies wird im Folgenden, schlichtweg der besseren Lesbarkeit wegen, beibehalten. Wann immer es inhaltlich ausschlaggebend sein wird, ob die Rede von moralischer oder anders gearteter (insbesondere kausaler) Verantwortung ist, so wird darauf hingewiesen werden.

1.3.4 ANALYSESCHRITTE

Die Methodik der Arbeit folgt je Störung vier Schritten.

1.3.4.1 SCHRITT 1: DIE STÖRUNG

Eine psychische Störung wird ausgewählt und konzeptualisiert, wie eingangs beschrieben per Übertragung zum einen der deskriptiv- klinischen Diagnosekriterien und zum anderen gegebenenfalls der Fallbeispiele.

Betrachtet werden, in jeweils eigenem Kapitel, die drei Gruppen der volitionalen Störung, der attributiven Störung und der epistemischen Störung. Dass nicht das gesamte Spektrum der psychischen Störungen betrachtet wird, und die Fragestellung somit, streng betrachtet, nicht vollständig beantwortet werden kann, hat die bereits angedeuteten Gründe: Erstens wird die Arbeit versuchen zu zeigen, dass es die psychische Störung als philosophisch scharf abzugrenzendes Konzept

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psychischen Störung aufzutrennen, um ihn der philosophischen Analyse zugänglich zu machen. Zweitens ist eine psychische Störung niemals ein statusbedingter Nichtzuschreibungsgrund moralischer Handlungsverantwortung, sondern allenfalls ein kontextbedingter. Da die verschiedenen Störungen den Zuschreibungskontext aber jeweils unterschiedlich verfremden, kann das Wie der Verfremdung auch jeweils nur für einzelne (beziehungsweise verantwortungsbezogen ähnliche) Störungen analysiert werden. Wiederum alle im klinischen Kontext vorkommenden psychischen Störungen zu betrachten, würde die Möglichkeiten der Arbeit übersteigen.

Die Arbeit bespricht daher drei Störungsgruppen. Dass es gerade diese drei sind, hat mehrere Gründe, deren erster entscheidend ist: Jede der drei Störungen, so eine These der Arbeit, scheint die Zuschreibung moralischer Handlungsverantwortung aus anderem Grunde zu verhindern, so dass jeweils spezifische philosophische Arbeit zu leisten ist und spezifische philosophische Einsichten zu gewinnen sind. Jedes Kapitel entwickelt diesen (tatsächlichen oder mutmaßlichen) Grund der Nichtzuschreibung als ein von den anderen Gründen konzeptionell differentes und auf sie nicht reduzierbares Kriterium.

Neben diesem Grund der Auswahl ergeben sich mehrere, zwar nicht selektionsentscheidende, aber doch erwähnenswerte Aspekte, die das Spektrum der zu besprechenden spezifischen Störungen auszeichnen:

1. Unter den Referenzdebatten der Literatur zu den einzelnen Störungen sind sowohl vor allem gegenwärtig geführte Debatten (wie zum Beispiel zur volitionalen Störung die Diskussion zu alternativen Handlungsmöglichkeiten als Conditio sine qua non der Verantwortungs- zuschreibung)8 als auch historisch wegweisende Beiträge (wie zum

8 Hierauf wird im störungsspezifischen Kapitel 3 näher eingegangen werden. Überblickshafte Kommentare zur allgemeinen, nicht störungsbezogenen Diskussion sowie eine Essay- Sammlung verschiedener wichtiger Standpunkte dazu finden sich in: GINET,C. (1996): In defense of the principle of alternative possibilities: Why I don't find Frankfurt's argument convincing: Noûs (Vol. 30 (Supplement: Philosophical Perspectives, 10), S. 403-417); MCKENNA,

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Beispiel zur multiplen Persönlichkeitsstörung LOCKES Verständnis personaler Identität als Identität des Bewusstseins)9.

2. Es werden sowohl Zuschreibungskontexte adressiert, die ganz offensichtlich moralischer Natur sind (wie zum Beispiel die dissoziale Persönlichkeitsstörung), als auch Zuschreibungskontexte, die nicht typischer, offensichtlicher oder notwendiger Weise moralischer Natur sind (wie zum Beispiel der Fetischismus oder, je nach Natur des Zwangs, auch die zwanghaften Störungen).10

3. Es wird ein klinisch breites Diagnosespektrum adressiert.

Und zwar: (a) verschiedene Untergruppen der F-Kategorie der ICD 10- Klassifikation;11 (b) sowohl eher episodisch ablaufende Störungen (wie zum Beispiel einige Impulskontrollstörungen) als auch eher chronisch vorherrschende (wie zum Beispiel die Persönlichkeitsstörungen);12 und

M. (1997): Alternative possibilities and the failure of the counterexample strategy: Journal of Social Philosophy (Vol. 28, S. 71-85); WIDERKER,D. & MCKENNA,M. (2003): Moral responsibility and alternative possibilities. Aldershot: Ashgate Press.

9 Vgl.: LOCKE,J. (1997 [1690]): An essay concerning human understanding. In: WOOLHOUSE,R.

(Hrsg.): Penguin Classics. London: Penguin., II,XXVII,§9.

10 Vgl. hierzu die Diagnosekriterien und die ebenfalls teilweise mitaufgeführten, typischerweise konkomitanten Sozialauffälligkeiten in: GRAUBNER (2013). Den empirisch untypischen Fall eines im Zusammenhang mit einer Depression stehenden, schweren Rechtsbruchs bespricht aus handlungstheoretischer und moralphilosophischer Sicht: HANNAN, B. (2005): Depression, responsibility, and criminal defenses: International Journal of Law and Psychiatry (Vol. 28, S. 321-333).

11 Die volitionale Störung findet sich zum einen als Gruppe der Zwangsstörungen in F42. Zum anderen zeigen jedoch auch die unter F63 („Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“) aufgeführten Bilder in moralphilosophischer Hinsicht entscheidende Parallelen – siehe hierzu die Eingangsdiskussion im Kapitel 3 zur volitionalen Störung. Die multiple Persönlichkeitsstörung ist als Subdiagnose in F44 („Dissoziative Störungen“) gelistet.

F20-F29 beinhaltet die Schizophrenie und andere wahnhafte Störungen. F60.2 entspricht der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Zuordnung und Benennung variieren über die Ausgaben der ICD hinweg. In dieser Arbeit verwendet wird die aktuelle Version: GRAUBNER (2013).

12 Die empirische Häufigkeitsverteilung der Dauer symptomatischer Phasen wird für die einzelnen Störungen in der ICD nur teilweise explizit benannt. Detaillierter wird sie durch störungsspezifische epidemiologische Untersuchungen beschrieben. Für die in dieser Arbeit relevanten Störungen sind das exemplarisch: LOEBEL, A.D., LIEBERMAN, J.A., ALVIR, J.M., MAYERHOFF,D.I., GEISLER,S.H. & SZYMANSKI,S.R. (1992): Duration of psychosis and outcome in first-episode schizophrenia: The American Journal of Psychiatry (Vol. 149, S. 1183-1188); LENZ,

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(c) sowohl eher psychotherapeutischer Therapie zugängliche Störungen (wie zum Beispiel bestimmte Formen zwanghafter und phobischer Störungen) als auch eher medikamentöser Therapie zugängliche (wie zum Beispiel die Schizophrenie). 13

1.3.4.2 SCHRITT 2: ZUSCHREIBUNGSHYPOTHESEN

Nach der Skizze der Störung werden verschiedene Hypothesen zur Verantwortungszuschreibung formuliert, und zwar anhand der Basisstruktur in der beschriebenen Form A. Das heißt, es wird zum einen ein für die Absprache der Handlungsverantwortung hinreichendes Nichtzuschreibungskriteriums K artikuliert, also die Kriterien postulierende Prämisse IA, und zum anderen die Kriterien prüfende Prämisse IIA.

Die Zuschreibungshypothesen rekrutiert die Arbeit dabei aus verschiedenen Quellen: erstens aus vorhandenen störungsspezifischen Beiträgen der philosophischen Fachliteratur; zweitens aus allgemeinen, grundlegend verschiedenen, aber jeweils der Verbreitung nach

G. & DEMAL, U. (1998): Epidemiologie, Symptomatik, Diagnostik und Verlauf der Zwangsstörung. In: LENZ,G., DEMAL,U. & BACH,M. (Hrsg.): Spektrum der Zwangsstörungen.

Wien: Springer; BLANK,A.S. (1993): The longitudinal course of posttraumatic stress disorder. In:

DAVIDSON,J.R.T. & FOA,E.B. (Hrsg.): Posttraumatic stress disorder: DSM-IV and beyond (S. 3-22).

Washington, DC: American Psychiatric Press; NOLEN-HOEKSEMA, S. (1991): Responses to depression and their effects on the duration of depressive episodes: Journal of Abnormal Psychology (Vol. 100, S. 569-582); BLACK,D.W., BAUMGARD,C.H. & BELL,S.E. (1995): A 16-to 45- year follow-up of 71 men with antisocial personality disorder: Comprehensive Psychiatry (Vol.

36, S. 130-140).

13 Einen Überblick über die therapeutischen Optionen und ihre Erfolgsaussichten geben zum Beispiel: BANDELOW, B., GRUBER, O. & FALKAI, P. (2013): Kurzlehrbuch Psychiatrie. Berlin:

Springer., S. 155 ff.; und: NATHAN,P.E. & GORMAN,J.M. (2002): A guide to treatments that work.

New York: Oxford University Press. Speziell die häufigste nicht-medikamentöse Behandlungsmaßnahme, die Verhaltenstherapie, diskutiert: HAUTZINGER,M. (1998): Kognitive Verhaltenstherapie bei psychischen Störungen. Weinheim / Basel: Beltz Verlag. Einen Versuch, die Therapiesituation de facto abzubilden, unternimmt: WITTCHEN,H.-U. & JACOBI,F. (2001): Die Versorgungssituation psychischer Störungen in Deutschland: Eine klinisch-epidemiologische Abschätzung anhand des Bundes-Gesundheitssurveys 1998: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz (Vol. 44, S. 993-1000).

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klassischen Theorieansätzen der Verantwortungszuschreibung; 14 drittens durch Weiterentwicklung und Abänderung der Hypothesen der beiden genannten Quellen; sowie viertens durch Alternativ- hypothesen, die weder von den störungsspezifischen noch den allgemeinen Zuschreibungsansätzen abstammen. Im Falle der ersten Quellenart ist die philosophisch zu leistende Arbeit die Übertragung in die Basisstruktur, um die Hypothesen zum einen vergleichbar zu machen und sie zum anderen auf ihre Antwort auf die Fragestellung exakt festzulegen. Im Falle der zweiten Quellenart liegt die Arbeit in der Extraktion der störungsrelevanten partiellen Ausschlusshypothese aus der globalen Einschlusstheorie – und somit ebenfalls in der der Vergleichbarkeit und Festlegung hinreichenden Übersetzung in die Basisstruktur. Im dritten und vierten Punkt leistet die Arbeit einen genuin eigenständigen Beitrag zur Beantwortung der Fragestellung und versucht, eine auf die Fragestellung gegebenenfalls zufriedenstellendere Antwort zu finden als aus den existierenden Ansätzen ableitbar.

Nach ihrer Formulierung wird jede Zuschreibungshypothese der Prüfung unterzogen. Methodische Systematik wird dabei zum einen durch die Formulierung anhand der Basisstruktur erreicht; zum

14 In erster Linie sind dies: erstens der voluntaristische Ansatz, basierend vornehmlich auf:

ARISTOTELES: NIKOMACHISCHE ETHIK (A) 1109b30 ff.; zweitens der intentionalistische Ansatz, basierend vornehmlich auf: MACKIE (1983); drittens der hierarchische Ansatz, basierend vornehmlich auf den vier Essays: FRANKFURT,H.G. (1977): Identification and externality. In:

RORTY,A. (Hrsg.): The identities of persons. Berkeley: University of California Press; FRANKFURT, H.G. (1987): Identification and wholeheartedness. In: SCHOEMAN,F.D. (Hrsg.): Responsibility, character, and the emotions: New essays in moral psychology. Cambridge: Cambridge University Press; FRANKFURT, H.G. (1989): Concerning the freedom and limits of the will:

Philosophical Topics (Vol. 17, S. 119-130); FRANKFURT,H.G. (1998b): Freedom of the will and the concept of a person. In: FRANKFURT,H.G. (Hrsg.): The importance of what we care about.

Cambridge: Cambridge University Press. Die Ansätze werden je nach Verwendung in den störungsspezifischen Kapiteln 3 bis 5 skizziert und für die Zwecke der Arbeit formalisiert. Ein weiterer – eklektischer – Ansatz, dem diese Arbeit maßgebliche inhaltliche Orientierung schuldet, ist: ELLIOTT,C. (1996): The rules of insanity - Moral responsibility and the mentally ill offender. Albany: State University of New York Press. Selbstredend ist diese Quelle jedoch nicht als klassisch zu bezeichnen – und jenseits psychiatriephilosophischer Kreise auch nicht verbreitet.

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anderen durch die konsistente (wenn auch nicht immer explizite) Anwendung vierer Prüffragen, die sozusagen die analytischen Gütekriterien der Beantwortung der Fragestellung darstellen:

Aussagefähigkeit: Lässt sich die Zuschreibungshypothese anhand der Basisstruktur so formulieren, dass für die Störung ein Urteil ableitbar ist, ob Handlungsverantwortung besteht oder nicht?

Differenzierungsvermögen: Kann die so formulierte Zuschreibungs- hypothese hinreichend zwischen unterschiedlichen Szenarien der Störung unterscheiden? Führt zum Beispiel die Variation einzelner Details eines Fallbeispiels dazu, dass das Zuschreibungsurteil gegebenenfalls zutreffend different ausfällt?

Erklärungsvermögen: Unterbreiten die dem Zuschreibungskriterium zugrunde liegenden Überlegungen eine Rechtfertigung, warum das Zuschreibungskriterium das zutreffende sei und warum demnach Verantwortung bestehe oder nicht?

Verifikation in sano: Angewandt auf Handlungssituationen, die keine psychische Störung beinhalten, fällt die Zuschreibungshypothese auch hier eindeutige, differenzierte und erklärbare Urteile der Verantwortungszuschreibung? Und entsprechen diese Urteile dem reflektierten, prätheoretischen normativen Urteil? Dieses Kriterium fordert also ein analytisches Gegenzeichnen in Kontexten, die frei von der Komplikation der Störung sind.

1.3.4.3 SCHRITT 3: ANTWORT

Im entscheidenden vierten Schritt wird eine bestimmte Zuschreibungshypothese als die zutreffende formuliert – und verteidigt. Es soll jeweils demonstriert werden, dass sie die den anderen Zuschreibungshypothesen vorwerfbaren Schwächen umgeht oder aufhebt und (den Gütekriterien nach zu urteilen) eine philosophisch zufriedenstellende Antwort auf die Fragestellung für die jeweilige Störung gibt. In Summe soll so, wie in der Fragestellung eingangs gefordert, eine sowohl differenzierte als auch erklärende Antwort auf die Frage gegeben werden, ob Personen mit psychischer

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Störung für ihre pathognomischen Handlungen moralisch verantwortlich sind.

1.3.4.4 SCHRITT 4: EXTRAPOLATION

Im Nachgang der Verteidigung der Zuschreibungshypothese wird skizziert, ob und inwiefern das Zuschreibungskriterium die Verantwortungsfrage auch bei verwandten Störungen zu klären vermag. Zum Beispiel wird bei der epistemischen Störung argumentiert werden, dass die Störung als sozusagen epistemischer Autor die Wahrnehmung des Akteurs auf zum einen charakteristische und zum anderen zuschreibungsrelevante Art verfremdet. Diese Art der epistemischen Verfremdung lässt sich aber auch bei anderen Störungen, zum Teil in abgewandelter Form, finden. Jene Verwandtschaft wird im vierten Schritt aufgezeigt, wenn sie auch, im Rahmen der Arbeit, nicht immer abschließend belegt werden kann.

1.4 STRUKTUR UND THESEN

Vorausschauend seien die einzelnen Kapitel und die in ihnen verteidigten Thesen der Arbeit kurz zusammengefasst. Im vorliegenden Kapitel 1 wurden bislang Fragestellung und Methodik beschrieben. Nach der Vorstellung der Kapitel und ihrer Thesen werden abschließend die Annahmen der Arbeit formuliert – also jene Prämissen, die durch die Arbeit nicht verteidigt werden, von deren Richtigkeit ihre Thesen jedoch abhängen. Zudem werden die Grenzen der Thesen der Arbeit benannt.

Kapitel 2 skizziert den philosophischen Kontext der Fragestellung.

Ausgehend von der Beobachtung, dass Verantwortungsaussagen ein mehrstelliges Prädikat darstellen, wird aufgezeigt, dass sich diese Aussagen ganz sicherlich nicht auf ein einziges, einheitliches Konzept der Verantwortung beziehen. Vielmehr werden in unterschiedlichen Verantwortungsaussagen unterschiedliche Formen der Verantwortung bemüht. Diese Formen der Verantwortung werden im Anschluss –

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voneinander abgegrenzt. Die für diese Arbeit relevante Verantwortungsform, die Handlungsverantwortung, wird im Anschluss genauer betrachtet. Hierzu wird das Handlungsverständnis der Arbeit, das sich im Wesentlichen am Ansatz DONALD DAVIDSONS orientiert, definiert und gegen verschiedene Alternativen und Einwände verteidigt. Im dritten und letzten Teil des Kapitels werden drei sowohl grundlegende als auch grundlegend verschiedene Theorien der Handlungsverantwortung kritisch skizziert.

Kapitel 3 adressiert die erste der drei Störungen, die volitionale Störung. Es folgt dabei den bereits vorgestellten Analyseschritten.

Verteidigt wird die These, dass eine Verantwortungsabsprache im Fall der volitionalen Störung nicht zu rechtfertigen ist. Hierzu wird für eine Unterscheidung zwischen einerseits der Verantwortlichkeit für eine Wahl unter gegebenen Optionen und andererseits der Verantwortlichkeit für die Optionen selbst plädiert, und argumentiert, dass zumindest erstere bei der volitionalen Störung besteht. Es soll zudem gezeigt werden, dass bei der volitionalen Störung scheinbare Urteile der Verantwortungsabsprache tatsächlich Rechtfertigungsurteile sind – eine Unterscheidung, die im Kapitel entwickelt und ebenfalls verteidigt wird.

Kapitel 4 adressiert die zweite der drei Störungen, die attributive Störung. Es folgt dabei ebenfalls den oben skizzierten Analyseschritten.

Verteidigt wird die These, dass in Fällen der attributiven Störung die scheinbare Problematik der Verantwortungszuschreibung tatsächlich eine Problematik allein der Handlungszuschreibung und der Akteurindividuierung ist. Für beide Konzepte werden verschiedene Lösungsvorschläge diskutiert und deren Implikationen für die Verantwortungszuschreibung geklärt.

Kapitel 5 adressiert die letzte der drei Störungen, die epistemische Störung. Auch hier werden die skizzierten Analyseschritte durchlaufen. Verteidigt wird die These, dass irrtümliches Fürwahrhalten genau dann von Verantwortung ausnimmt, wenn es zur Unabsichtlichkeit einer Handlung führt. Verteidigt wird hierbei die Relevanz unterschiedlicher Handlungslesarten für einerseits Handlungsverantwortung und andererseits Handlungsrechtfertigung.

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Im sechsten und letzten Kapitel werden die Thesen der drei störungsspezifischen Kapitel zusammengefasst und als Kriteriologie in Zusammenhang gesetzt. Argumentiert wird, dass die drei Störungen jeweils auf archetypischen Klärungsbedarf der allgemeinen Zuschreibungspraxis, jenseits des psychiatrischen Kontexts, referieren.

Zudem wird diskutiert, welche weiteren Störungen handlungs- theoretisch abzugrenzen möglich sein könnte – und ob auch diese weiteren Störungen dann jeweils einen Archetyp der allgemeinen Zuschreibungspraxis reflektieren. So wird in Summe eine Kriteriologie der Zuschreibung moralischer Handlungsverantwortung bei psychischen Störungen entworfen.

1.5 ANNAHMEN

1.5.1 NORMATIVE ETHIK

Die Arbeit ist im philosophischen Teilbereich der normativen Ethik angesiedelt. Sie geht davon aus, dass Propositionen, die aussagen, was moralisch richtig oder falsch sei, inhaltlich sinnvoll diskutiert werden können, unabhängig davon, ob die Propositionen dabei lediglich auf eine intersubjektive, möglicherweise epochen- und kulturrelative Praxis referieren, oder aber sich ihr Wahrheitswert durch eine geistesunabhängige Realität bestimmt, oder, wenn nicht das, sich das moralisch Richtige und Falsche zumindest objektiv klären lässt. Die Arbeit geht also davon aus, dass sich moralische Prinzipien inhaltlich erörtern lassen ohne sich dabei zwingend auf den Status der Prinzipien im Sinne einer metaethischen Position festlegen zu müssen.15

15 Zur Frage der wahrgenommenen Legitimität der normativen Ethik als wissenschaftliche Disziplin, speziell im Verlauf der jüngeren Philosophiegeschichte, vgl.: WILLIAMS,B. (1998):

Ethics. In: GRAYLING,A.C. (Hrsg.): Philosophy 1: A guide through the subject. Oxford: Oxford University Press., S. 549-551. Die oben nur andeutungshaft beschriebenen möglichen

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1.5.2 KONGRUENZ DES URTEILS ALS VERIFIKATION

Die Arbeit geht außerdem davon aus, dass sich die Prinzipien, die Urteilen bezüglich des moralisch Richtigen und Falschen unterliegen, zum einen systematisieren und zum anderen prüfen lassen. Ersteres zumindest in dem Maße, in dem sie der Urteilspraxis tatsächlich konsistent unterliegen. Zweiteres zumindest dadurch, dass von mutmaßlichen Prinzipien abgeleitete Urteile mit reflektierten moralischen Urteilen in tatsächlichen oder hypothetischen Einzelfällen abgeglichen werden können. Stimmen die Urteile nicht überein, so liegt nahe, dass ein unzutreffendes Prinzip unterstellt wurde. So kann methodisch in einem iterativen Prozess vom reflektierten moralischen Urteil im konkreten Falle auf das Zutreffen oder Nichtzutreffen des postulierten Prinzips im Allgemeinen geschlossen werden – bis ein reflektiertes Gleichgewicht16 entsteht. Die Arbeit geht davon aus, dass postulierte moralische Prinzipien so in einem streng begrenzten Sinne verifiziert oder falsifiziert werden können – und zwar als übereinstimmend mit oder abweichend von der tatsächlich gegebenen Urteilspraxis. Die Arbeit geht also davon aus, dass die Verifikation durch Kongruenz mit reflektierten moralischen Urteilen in der normativen Ethik eine valide Methodik darstellt.17

metaethischen Positionen ausführlich zum Beispiel in: SCARANO,N. (2002): Metaethik – Ein systematischer Überblick. In: DÜWELL,M., HÜBENTHAL,C. & WERNER,M.H. (Hrsg.): Handbuch Ethik (S. 25-35). Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler. Speziell die in der Tradition der analytischen Philosophie entwickelten Positionen führt aus: WILLIAMS (1998), S. 557 ff.

16 Die Übersetzung des aus der englischsprachigen analytischen Literatur stammenden Terminus reflective equilibrium schwankt in der deutschsprachigen Literatur zwischen

„reflektives Gleichgewicht“ und „reflektiertes Gleichgewicht“. Die Arbeit entscheidet sich hier für Letzteres – folgend BREMER,M. (2005): Philosophische Semantik. Heusenstamm: Ontos- Verlag., S. 41.

17 Die Gleichgewichtsfindung schließt hierbei ausdrücklich auch die Möglichkeit nicht aus, dass sich bestehende Urteile als unhaltbar erweisen, zum Beispiel, weil inkonsistent mit anderen Urteilen oder mit ihrerseits bereits als haltbar herausgearbeiteten Prinzipien. Prominenter

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