Der medizinische Fortschritt ge- deiht seit einigen Jahrzehnten fast ausschließlich westlich des Atlantiks.
Als besonders expandierender Be- reich erweist sich die Begegnung der juristischen und medizinischen Kunst, eine verwickelte Beziehung voller Mißverständnisse. Welch ein vorsich- tiger und neuartiger Umgang dadurch notwendig wird, erlebte ich kürzlich in meiner Praxis: Herr Mayer-Steck- mann, ein neuer Patient, kam wegen plötzlich aufgetretener, heftiger Ze- phalalgien. Als der
52jährige Privatpa- tient, Inhaber einer Kette von Schnell- restaurants, ins Sprechzimmer ein- trat, wurde er von einem wesentlich jüngeren Mann im gedeckten Anzug mit noch gedeckte- rer Krawatte be- gleitet. Bevor Herr Mayer-Steckmann meinen Gruß erwi- dern konnte, griff sein Begleiter ein:
„Halt, bevor Sie mit der Untersu- chung und Be- handlung beginnen dürfen, müssen wir einen Behand-
lungsvertrag erarbeiten. Ich bin Dr.
Dreher, der Rechtsbeistand von Herrn Mayer-Steckmann.“
Mich noch dunkel an wenig fes- selnde rechtsmedizinische Vorlesun- gen erinnernd, wonach jede Behand- lung mit einem – wenngleich zumeist stillschweigend abgeschlossenen – Behandlungsvertrag beginnt, nahm ich an, daß es sich nur um eine Forma- lie handelt, und stimmte zu. Herr Mayer-Steckmann hielt sich den of- fenbar sehr schmerzhaften Kopf und stöhnte leise. Nach 35 Minuten, in denen die Arzthelferinnen mich schon mehrfach an die wartenden Pa- tienten erinnert und zur Eile gemahnt hatten und ich mich durch die schar- fen Fragen des Anwalts bedrängt fühlte, wurde es mir zuviel. Ich ver- weigerte jede weitere Aussage und
zog meinen Praxisanwalt Werner Winkler zu Rate. Er übernahm die Verhandlungen, und die beiden Rechtsanwälte blockierten für die nächsten Stunden das Sprechzimmer.
Herr Mayer-Steckmann, den ich nach ausdrücklicher Warnung durch seinen Anwalt – jede Berührung vor Zustan- dekommen des Behandlungsvertra- ges müsse als versuchte Körperverlet- zung betrachtet und zur Anzeige ge- bracht werden – nur von weitem se- hen durfte, lag mit angezogenen Bei-
nen und nach hinten überstrecktem Kopf opisthotonisch auf der Behand- lungsliege.
Am frühen Abend waren die Verhandlungen der Anwälte endlich zum Abschluß gekommen. Herr May- er-Steckmann wirkte inzwischen leicht stupurös. Während eine Helfe- rin den dreizehnseitigen Vertrag tip- pen mußte, bat ich, auf den ausdrück- lichen Rat von Herrn Winkler, per Te- lefax meine Berufshaftpflichtversi- cherung um eine Verdopplung der Versicherungssumme. Die Anwälte prosteten sich bereits mit Sekt auf ih- re gelungene Arbeit zu.
Als die positive Antwort vorlag, stand der Untersuchung nichts mehr im Wege. Das heißt: Es hätte ihr nichts mehr im Wege gestanden, denn als ich mich endlich dem Patienten zuwen-
den konnte, war sein Koma in einen asystolischen Ruhezustand überge- gangen. Bevor jedoch auch nur die einfachste Reanimationsmaßnahme möglich gewesen wäre, wies mich Dr.
Dreher sehr deutlich darauf hin, daß der zustandegekommene Vertrag nur für den lebenden Herrn Mayer-Steck- mann gegolten habe. Für Leichen gäl- ten andere, leider etwas komplizierte- re Paragraphen, so daß eine erneute Verhandlung über das Ausmaß, die Bedingungen und Zielsetzungen von medizinischen Manipulationen an derselben notwendig würden. Gerne hätte ich gewußt, ob der arme Mann nun einer Sub- arachnoidalblu- tung oder einer ful- minanten Menin- goenzephalitis erle- gen war: In Anbe- tracht der ungün- stigen Prognose über das Zustande- kommen eines all- seits befriedigen- den Behandlungs- vertrages verzich- tete ich.
Mehrere Wo- chen später las ich in der Zeitung, daß ein Kollege aus der Pathologie Beru- fung gegen ein Gerichtsurteil, wo- nach ihm die Ob- duktion der Leiche von Herrn Mayer-Steckmann unter- sagt worden sei, eingelegt habe. Mein Schmunzeln über diese Meldung ver- flüchtigte sich schnell, als mir die Mit- teilung zugestellt wurde, daß gegen mich ein Ermittlungsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung, ange- strengt von Frau Mayer-Steckmann, der Witwe des unglücklichen Patien- ten, vertreten durch Dr. Dreher, ein- geleitet worden sei. Werner Winkler, den ich inzwischen öfter sehe als mei- ne Patienten, bot mir sofort freudig an, meine Verteidigung zu überneh- men.
Ich solle doch nicht so defensiv sein, riet er, und hatte bereits seiner- seits vorsorglich Dr. Dreher angezeigt – wegen übler Nachrede und Behin- derung von Hilfeleistungen.
Dr. med. F. Jürgen Schell, Köln A-1610
P O L I T I K GLOSSE
(38) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 24, 14. Juni 1996
Therapeutische Prozesse
Zeichnung: Jörg Spielberg, Kempten