Deutsches Ärzteblatt
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Heft 39|
30. September 2011 661M E D I Z I N
EDITORIAL
Randomisierte kontrollierte Studien –
unverzichtbar in der klinischen Forschung
Andreas Stang
Editorial zum Beitrag: „Randomi-
sierte kontrollierte Studien – Teil 17 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher
Publikationen”
von Kabisch et al.
auf den folgenden Seiten
RCT als Arzneimittelzulassungsstudie
Eine RCT als Arzneimittelzulassungsstudie (im Sin- ne einer Überlegenheitsstudie) hat das Ziel zu zeigen, dass ein neues Arzneimittel im Vergleich zu einer Standard- oder Placebotherapie hinsichtlich eines a priori festgelegten Zielkriteriums – häufig ein soge- nannter harter Endpunkt wie zum Beispiel Überleben – überlegen ist. Der Überlegenheitsnachweis erfolgt bewusst unter Bedingungen, die im klinischen Alltag nicht notwendigerweise anzutreffen sind. Hierzu ge- hören:
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Einschlusskriterien, die häufig zu selektionier- ten, homogenen Patientenkollektiven mit hoher Compliance führen●
Ausschlusskriterien, die häufig Patienten mit Komedikationen und Komorbiditäten aus- schließen●
qualitätssichernde Maßnahmen unter Studien- bedingungen, die unter klinischen Routinebe- dingungen oft nicht einzuhalten sind.Diese Bedingungen in Arzneimittelzulassungsstu- dien haben nachvollziehbare Gründe: Die Erkenn- barkeit einer Überlegenheit eines neuen Arzneimit- tels wird erleichtert, wenn störende Faktoren mini- miert werden, das heißt, wenn unter idealen Bedin- gungen untersucht wird.
Nachteile von RCTs
Die verbesserte Erkennbarkeit der Wirksamkeit von Arzneien geht allerdings mit Nachteilen einher: Die Arzneimittelprüfung erfolgt aus klinischer Sicht zum Teil unter künstlichen Bedingungen in selektionier- ten Kollektiven. Weiterhin werden in RCTs, die vor allem als primäres Zielkriterium harte Endpunkte wie zum Beispiel Überleben betrachten, nicht alle klinisch interessierenden und patientenrelevanten Endpunkte wie beispielsweise Lebensqualität oder Hospitalisationsraten untersucht. Aus diesem Grund bleiben verschiedene Fragen in Arzneimittelzulas- sungsstudien oft unzureichend beantwortet. Dazu zählen die Fragen: Welchen Effekt hat das Arznei- mittel
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in Patientenkollektiven mit anderen Charakte- ristika als in der Arzneimittelzulassungsstudie (zum Beispiel Patienten mit mehr Komorbidi- tät, Patienten mit Komedikationen, jüngere und ältere Patienten, Schwangere)D
ie kritische Bewertung wissenschaftlicher Publi- kationen ist für das Selbststudium im Rahmen der Fortbildung von Ärztinnen und Ärzten wichtig und wird seit den Anfängen der evidenzbasierten Medizin gefordert (1). Die Arbeitsgruppe von Prof. Maria Blett- ner hat zu diesem Zweck eine Serie von tutoriellen Bei- trägen zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen im Deutschen Ärzteblatt publiziert (2–4). Der aktuelle Artikel (Teil 17) in diesem Heft handelt von randomi- sierten kontrollierten Studien (RCT) (5).Vorteile der Randomisation
RCTs haben gegenüber nichtrandomisierten Studien zur Evaluation von Therapieverfahren einen entscheiden- den Vorteil: die Randomisation führt mit hoher Wahr- scheinlichkeit zu einer Vergleichbarkeit zwischen Pa- tientengruppen hinsichtlich prognostischer Faktoren (6).
Das bedeutet, dass diese Patientengruppen erwartungs- gemäß gleiche Ereignisraten (Anzahl von erwünschten beziehungsweise unerwünschten Ereignissen pro Zeit unter Risiko) in der Nachbeobachtung haben würden, wenn die Gruppen identische Therapien erhielten.
Die Randomisation bewirkt mit hoher Wahrschein- lichkeit eine Vergleichbarkeit der Patientengruppen nicht nur hinsichtlich bekannter, sondern auch im Hin- blick auf unbekannte Prognosefaktoren wie zum Bei- spiel genetische Faktoren. Diese durch Randomisation erzeugbare Strukturgleichheit bietet einen erkenntnis- theoretisch überzeugenden Vorteil oder gar Luxus ge- genüber nichtrandomisierten Studien, auch wenn be- stimmte nichtrandomisierte Studientypen dem Ideal der Strukturgleichheit nahe kommen können. Aus diesem Grund werden RCTs als Goldstandard für die Evalua - tion der Wirksamkeit von Interventionen angesehen.
Wenn in einer RCT eine Patientengruppe eine andere Therapie erhält als die andere Patientengruppe, so ist bei großen Fallzahlen ein beobachteter Unterschied in den Ereignisraten auf die unterschiedlichen Therapien zurückführbar – sofern weitere Verzerrungen im Studi- enverlauf (Selektions- und Informations-Bias) in kei- nem relevanten Ausmaß aufgetreten sind.
Es gibt auch statistisch-methodische Gründe, warum eine Randomisation Vorteile bietet: der statistische Sig- nifikanztest wird klar interpretierbar – wenngleich er nach wie vor von vielen schlecht verstanden und häufig missbraucht wird, etwa um die Hypothese, die man fa- vorisiert, zu stützen (7).
Institut für Klinische Epidemiologie, Medizinische Fakultät,
Martin-Luther-Univer- sität Halle-Wittenberg, Halle (Saale):
Prof. Dr. med. Stang
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in Patientenkollektiven, bei denen eine begleiten- de Qualitätssicherung (zum Beispiel ein regel - mäßiges Monitoring von Blutwerten) wie in der Arzneimittelzulassungsstudie nicht möglich ist?●
bezüglich anderer Endpunkte wie bespielsweise Lebensqualität oder Hospitalisationsraten, die in der Arzneimittelzulassungsstudie nicht evaluiert wurden?Arzneimittelzulassungsstudien werden in der Regel für den Überlegenheitsnachweis optimiert. Die mini- mal erforderlichen Fallzahlen für diese Studien orien- tieren sich unter anderem an einem aus klinischer Sicht minimalen Effekt – wie zum Beispiel einer um fünf Prozentpunkte geringeren 2-Jahres-Mortalität unter Verum als unter Standard – den man statistisch nach- weisen können möchte. Das führt dazu, dass das ver- mehrte Auftreten von Nebenwirkungen, die oft seltener sind als die primären Endpunkte, auf denen die Fall- zahlberechnung der RCT beruht, mit zu geringer statisti- scher Teststärke (Power) nachweisbar sind, sofern nicht die Effektgrößen hinsichtlich der Nebenwirkungsraten deutlich größer sind als die minimale Effektgröße, die bei der Fallzahlkalkulation für den Überlegenheits- nachweis herangezogen wurde. Auch das im Verlauf der Nachbeobachtungszeit der RCTs verhältnismäßig späte Auftreten von Nebenwirkungen kann dazu füh- ren, dass erhöhte Nebenwirkungsraten neuer Arzneien in Arzneimittelzulassungsstudien nicht aufgedeckt wer- den können. Deswegen hat die aus erkenntnistheoreti- scher Sicht zu Recht als Goldstandard bezeichnete RCT in der Praxis hinsichtlich der Evaluation von uner- wünschten Wirkungen Limitationen.
Aus diesem Grund fordert das Arzneimittelgesetz (AMG) der Bundesrepublik Deutschland nach Zulas- sung von Arzneien Phase-IV-Studien beziehungsweise Anwendungsbeobachtungen, die die genannten offenen Fragen beantworten sollen.
Kritiker beklagen das künstliche Vorgehen bei Arz- neimittelzulassungsstudien. Diese Kritiker müssen sich die Frage gefallen lassen, ob es sinnvoll ist, über den Einsatz einer Arznei in der klinischen Routine (Ef- fektivität) zu diskutieren, wenn nicht vorher unter idealen methodischen Bedingungen gezeigt wurde, dass die Arznei überhaupt wirksam ist. Arzneimittelzu- lassungsstudien (Überlegenheitsstudien) sollen davor schützen, dass Arzneien zugelassen werden, die nicht wirksam oder lediglich genauso gut wirksam sind wie bisher etablierte Therapien (Vergleich mit Standardthe- rapie).
Studien kritisch bewerten
Die Fähigkeit, wissenschaftliche Literatur der klini- schen Forschung kritisch bewerten zu können, gehört zum Rüstzeug von gut ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten. Tutorielle Artikel, die das Vermögen zur kriti- schen Bewertung wissenschaftlicher Publikationen stärken, leisten im Deutschen Ärzteblatt insbesondere in Anbetracht der Auflage von circa 400 000 Exempla- ren einen wichtigen Beitrag.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
LITERATUR
1. Bennett KJ, Sackett DL, Haynes RB, Neufeld VR, Tugwell P, Roberts R: A controlled trial of teaching critical appraisal of the clinical lite - rature to medical students. JAMA 1987; 257: 2451–4.
2. du Prel J, Röhrig B, Blettner M: Statistical methods in medical re- search. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(7): 99.
3. Röhrig B, du Prel du J, Wachtlin D, Blettner M: Types of study in medical research: part 3 of a series on evaluation of scientific publi- cations. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(15): 262–8.
4. Röhrig B, du Prel J, Wachtlin D, Kwiecien R, Blettner M: Sample size calculation in clinical trials: part 13 of a series on evaluation of scientific publications. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(31–32): 552–6.
5. Kabisch M, Ruckes C, Seibert-Grafe M, Blettner M: Randomized controlled trials: part 17 of a series on evaluation of scientific publi- cations. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(39): 663–8.
6. Fletcher RH, Fletcher SW. Klinische Epidemiologie. 2. vollständig überarbeitete Auflage. Bern: Verlag Hans Huber; 2007.
7. Stang A, Poole C, Kuss O: The ongoing tyranny of statistical signifi- cance testing in biomedical research. Eur J Epidemiol 2010; 25:
225–30.
Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Andreas Stang, MPH Institut für Klinische Epidemiologie Medizinische Fakakultät
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Magdeburger Straße 8, 06097 Halle (Saale) andreas.stang@medizin.uni-halle.de
Randomized Controlled Trials—an Indispensible Part of Clinical Research
Zitierweise
Stang A: Randomized controlled trials—an indispensible part of clinical research.
Dtsch Arztebl Int 2011; 108(39): 661–2. DOI: 10.3238/arztebl.2011.0661
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The English version of this article is available online:www.aerzteblatt-international.de