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Forschung Frankfurt : das Wissenschaftsmagazin. 1999, Nr. 2

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lann Wolfgang" Goetbe-Universität lnkfurt am Main

Natur als Text - Zur Syntax der Natur bei Goethe • Goethe und die Beobachtung der Wolken. Zu Goethes Art von Naturwissen- schaft. Über Goethe hinaus: Goethe und die moderne Naturwis- senschaft. Goethe als Patient. Anmerkungen zu Goethes Musikanschauung • Goethes Blick auf die Geschichte. Goethes gegenständliches Denken und Adornos "Vorrang des Objekts" • Zur Ästhetik der Goethe-Zitation bei jüdischen Neurowissen- schaftlern in Frankfurt. Zur Geschichte einer deutschen Kult- figur. Wie die Universität zu ihrem Namen kam

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Forscher Geist zahlt sich aus

Innovation heißt, Neues denken und Neues wagen - immer weitergehen, als bisher möglich war.

Innovation erfordert aber auch hohe Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Sie bereitet den Boden für künftige Erfolge.

Steigerung in % indizierte Werte

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MERCK

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Editorial

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er englische Schriftsteller Sir Charles Percy Snow hat 1959 einen Vortrag veröffent- licht mit dem Titel" The two cultures and the säentific revolution Cl. Seine These von der Beziehungslosigkeit zwischen Natur- und Geisteswissen- schaften löste eine kontroverse Dis- kussion aus, und noch heute zeigt sie Nachwirkungen. Erst vor wenigen Jahren veröffentlichte John Brockman seine Gespräche mit berühmten Literaten und Naturwissenschaftlern Amerikas über das Weltbild der modernen Naturwissenschaft unter dem Titel" The third culture Cl. Er hat damit gezeigt, daß der Dialog zwi- schen Naturwissenschaftlern und Literaten in Amerika bereits begonnen hat.

Sieht man einmal davon ab, daß die Naturwissenschaften in der zwei- ten Hälfte des achtzehnten Jahrhun-

derts noch in den Anfängen lagen, dann begegnen wir in Goethe einem entschiedenen Verfechter jenes Dia- logs. Die von Snow beklagte tiefe Kluft zwischen Naturwissenschaften und Literatur verschwindet in dem Maße, wie man sich Goethes Ver- ständnis von Naturwissenschaft und Literatur annähert. Die Ergebnisse seiner naturwissenschaftlichen Stu- dien hat Goethe in vorbildlicher Prosa, ja zuweilen in poetischer Form abgefaßt. Er stellt den Men- schen mit seinen sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten als ver- bindendes Glied ins Zentrum von Wissenschaft und hofft, Wissenschaft möge auch künftig nicht zu sehr nur mit sich selbst befaßt sein.

Goethes Name bleibt für unsere Universität nicht äußerlich. Sein Verständnis von Wissenschaft im all- gemeinen trifft sich mit dem Anspruch einer Universität, Kluften zwischen den Fachbereichen auf Dauer nicht hinzunehmen. Daß Goethe heute der Anlaß sein kann, Brüken zwischen

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einzelnen Disziplinen der Wissen- schaften zu schlagen, beweist diese Ausgabe des Wissenschaftsmagazins FORSCHUNG FRANKFURT. Hier haben sich Wissenschaftler und Wis- senschaftlerinnen aus verschiedenen Fachbereichen unserer Universität zusammengefunden und auf den einen gemeinsamen Schwerpunkt konzen- triert: auf Goethe. Die Autoren und Autorinnen dieser Ausgabe beschäfti- gen sich mit dem Dichter, dem Litera- ten und dem Naturforscher Goethe.

Unter dem Titel "Durchgeistete Natur. Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und Philoso- phie" greifen wir das Thema mit an- deren Akzenten in einem Symposion vom 7. bis 9. Mai im Casino des I.G. Farben-Gebäudes (Poelzig-Baus) noch einmal auf Auch hierbei wirkt Goethe wieder als Einheit stiftendes Motiv: Zur Vorbereitung und Durch- führung der Veranstaltung haben

insgesamt zwölf Fachbereiche zuein- ander gefunden. So soll es sein.

Präsident der Goethe-Universität

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2 Inhalt

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Natur als Text

Goethes meteorologische Studien

Goethes Naturwissenschaft

Über Goethe hinaus

" ... ein Gleichnis das ich so gerne brauche"

Zur Syntax der Natur bei Goethe

War er Naturforscher, Textil-Experte oder Po- et? Diese Talente scheint Goethe selbst ent- scheidend wichtig gehalten zu haben, wie der Germanist Klaus leziorkowski nachweisen kann: Die Metapher vom Weben und dem Ge- webe war eines seiner elementaren und zentra- len Bilder, vermutlich weil sie Natur und poeti- sche Kunst im selben Bild als ein Ganzes, ein Gewebe ineinanderdenkt. Beide bildenden Prinzipien, das der Natur und das der Sprache,

laufen in ihrer schöpferischen umformenden Folgerichtigkeit für Goethe parallel und sind aufeinander bezogen: das eine ist bildende Kraft des anderen. Das Vermögen der Syntax erschafft die gestaltende Energie der Natur. Für Goethe - so konstatiert der Germanist - wach- sen die Kompetenz des Naturwissenschaftlers und die des Poeten auf demselben Stengel und dies erklärt auch, warum die naturwissenschaft- lichen Schriften zu seinen Hauptwerken zählen.

"Ein Angehäuftes, flockig löst sich 's auf"

Goethe und die Beobachtung der Wolken

Goethes Überlegungen zur Wolkenbildung gründen auf den Schriften von Luke Howard, einem englischen Naturforscher, den er tief be- wunderte und verehrte. Howard hatte gezeigt, daß Wolkenformen nicht zufällig entstehen, sondern stets wiederkehrende, physikalisch begründete Ähnlichkeiten zeigen. Goethe be- nutzte Howards Wolkentypologie als Mittel, um das Prinzip der Variation typischer Grund- formen, wie er es in seinen botanischen und

zoologischen Studien zur Morphologie entwik- kelt hatte, auf einen weiteren Bereich der Natur anzuwenden. Er führte systematische Beobach- tungen durch, verfolgte die Fachliteratur und betrieb in seiner Funktion als Leiter der Anstal- ten für Kunst und Wissenschaft im Herzogtum Weimar die Gründung von Wetterstationen.

Christian-Dietrich Schönwiese vom Institut für Meteorologie und Geophysik stellt den "Meteo- rologen" Johann Wolfgang von Goethe vor.

" ... daß ich geteilt und doppelt bin"

Zu Goethes Art von Naturwissenschaft

Das geteilte, symmetrisch vereinte Ginkgo-Blatt isi ein schönes Symbol für den Künstler und Naturwissenschaftler Goethe. Sein Weg, um Phänomene durchschaubar zu machen, erlaubt ein Miteinander von Erklärung in der Wissen- schaft und erklärendem Verstehen im geschaffe- nen Kunstwerk. Am Beispiel von Goethes Mor- phologie erläutert Walter G. Saltzer vom Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, wie das Weltbild des Universalgenies von der Vor-

herrschaft des Lebendigen, der Entfaltungskraft der Natur und der in ihr wohnenden dynami- schen Wirk- und Ordnungsprinzipien geprägt ist. Was verbirgt sich hinter Goethes Typus der Urpflanze? Kein biologischer Gattungsbegriff, keine Idee, wie Schiller fälschlich meinte, son- dern das reine Phänomen von "Pflanzenhaftig- keit", das aus der Vielfalt botanischer Erschei- nungen als das zugrundeliegende Allgemeine faßbar wird - eine dynamische Erstuniversalie.

Goethe als inspirierender Partner für die modernen Naturwissenschaften?

Goethe spürte und wußte es wohl auch, daß die Welt mehr ist als die Summe der Objekte in ihr, daß die Natur keine "Sinn-lose" Anhäu- fung einzelner Objekte ist. Das unterschied ihn ganz grundsätzlich von Isaac Newton, der eine Wissenschaft begründete, die die Welt in Teile zerlegt und die meint, durch diese Zerlegung das Ganze bereits erfaßt zu haben. Der Physiker

Stadt-u. Univ.-Bibl.

Frankf~rt / Mai n

Thomas Görnitz hält Goethes WeItsicht heute für durchaus aktuell und inspirierend, sie hat in gewisser Weise mit der Quantentheorie auch wieder Eingang in die Physik gefunden. So hat die Quantentheorie deutlich gemacht, daß der ganzheitliche Aspekt der Welt bei himeichend gen auen Experimenten selbst in der Physik nicht mehr vernachlässigt werden kann.

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Über Goethe hinaus

Goethe als Patient

Goethes Musikanschauung

Goethes Geschichtsverständnis

Inhalt 3

I···SM • •

Über Goethe hinaus?

Goethe und die modeme Naturwissenschaft

Die heutige Naturwissenschaft ist über Goethe hinaus, ist über ihn hinweggegangen, daran gibt es für den Chemiker Martin Trämel keinen Zweifel: Dem Dichter und Naturforscher be- kundet die modeme Naturwissenschaft zwar Respekt, doch sieht sie in ihm nicht den weg- weisenden Denker. Trömel charakterisiert

Goethe als Außenseiter auch in seiner Zeit: Er stand zeitlebens außerhalb einer Naturwissen- schaft, die sich als exakte Wissenschaft zu ver- stehen begann. Erst unser Jahrhundert sieht wieder deutlicher, was Goethe noch wußte:

Wissenschaft von der Natur ist nicht möglich ohne den Betrachter.

Goethe als Patient

Krankheit und Lebensgeschichte

Goethe als Patient, als kranker Mensch? Ist diese Frage "erlaubt", oder ist es nicht gerade- zu frevelhaft, sich darauf einzulassen? Der Me- dizinhistoriker Helmut Siefert begibt sich auf diese Spur und versucht, Goethes Krankheiten lebens geschichtlich einzuordnen; ihm geht es dabei nicht um eine diagnostische Etikettierung.

Goethe selbst bezeichnete sich als "Kränkling, der mehr an der Seele als am Körper zu leiden

schien". An zwei Beispielen macht Siefert deut- lich, wie eng bei Goethe akute schwere Erkran- kungen mit dem Tod ihm wichtiger Menschen zusammenhängen. Als beispielsweise sein Sohn August in Rom stirbt, unterdrückt er gewaltsam alle Gefühle von Trauer, flüchtet verbissen in die Arbeit am Schlußkapitel von "Dichtung und Wahrheit", aber nur wenig später erleidet er ei- nen schweren Blutsturz.

" ... als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte"

Im Gegensatz zur bildenden Kunst hat Goethe sich offenbar nur sporadisch mit Musik aus- einandergesetzt; eine größere zusammenhän- gende Schrift über musikalische Fragen fehlt im Gesamtwerk. War Goethe also unmusika- lisch? Keineswegs, wie die Musikwissen- schaftlerin Ulrike Kienzle zeigt: Goethe besaß beachtliche musikalische Fähigkeiten, konnte mehrere Instrumente spielen und Partituren studieren. Er schrieb Singspieltexte und insze- nierte Opern. Die Konzerte in Goethes Haus

gehörten zu den Höhepunkten des Weimarer Kulturlebens. Goethes besonderes Interesse galt akustischen und musiktheoretischen Fra- gen, über die er mit seinen Komponisten- freunden Kayser, Reichardt und Zelter kennt- nisreich debattierte. Für Goethe war Musik das Urelement aller Poesie. Er erlebte Bachs Präludien und Fugen als Abglanz der kosmi- schen Harmonie, und er gestand der Musik fundamentale Bedeutung für eine ideale Pä- dagogik zu.

Physische und moralische Welt Goethes Blick auf die Geschichte

Vergleicht man Goethes Verhältnis zur Ge- schichte mit seiner Haltung zur Naturfor- schung, wird ein Kontrast sichtbar, den der Philosoph Alfred Schmidt in seinem Beitrag beleuchtet. In der Naturforschung fühlt er sich heimisch, die Geschichte bleibt ihm fremd.

Auf festerem Boden bewegt sich der Forscher in der Natur, weil sie gegenwärtig ist und sich den Sinnen offenbart. Die Geschichte hinge- gen ist dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht gegenwärtig ist und nur durch Quellen verrnit-

telt erfaßt werden kann. In ihr scheint das Zu- fällige zu überwiegen, während in der Entwick- lung der Natur ein gesetzmäßiger Gang erkenn- bar ist. Gleichwohl übersieht Goethe über dem Nachteil der Historie ihren Nutzen nicht, denn sie errege neben Verdruß auch Ansporn und En- thusiasmus. Seine wissenschaftshistorischen Studien und seine autobiographischen Schriften belegen, daß er bei allen Vorbehalten deutender wie faktischer Erkenntnis des historischen Uni- versums durchaus positiv gegenübersteht.

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4 Inhalt

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WSUMi

Befreiender Goethe

Befreiende Sinnlichkeit - Goethes gegenständliches Denken und Adomos "Vorrang des Objekts"

Die Autoren der kritischen Theorie Max Hork- heimer und Theodor W. Adomo haben nur an wenigen Stellen ausdrückliche Bezüge zu Goe- the hergestellt. In der Sache aber steht vor allem Adomos Einschätzung des Verhältnisses von Ästhetik und Philosophie in nächster Nähe zu Goethes gemeinschaftlicher Behandlung von Kunst und Wissenschaft. Was Adomo als Forde- rung nach "Vorrang des Objekts" dem aufs Er- kenntnissubjekt konzentrierten Idealismus ent-

gegenhält, das hatte auf ähnliche Weise bereits Goethe mit seinem Anspruch auf "gegenständli- ches Denken" der idealistischen Philosophie kritisch vorgehalten. In beiden Fällen wird der ästhetischen Ausdrucksweise der Wirklichkeit im Kunstwerk große Bedeutung beigemessen bei der Befreiung des Menschen aus der Befan- genheit in der Systematik seiner Denkformen.

Der Philosoph Klaus-Jürgen Grün spürt diese unterirdischen Verbindungen erstmals auf.

Goethe-Bild bei Neurowissenschaftlern

Goethe-Kult

Ornament und Programm: Zur Ästhetik der Goethe-Zitation bei jüdischen Neurowissenschaftlern in Frankfurt am Main

Als der Hirnforscher und Nervenarzt Ludwig Edinger (1855-1918) im Oktober 1907 sein Neurologisches Institut neu eröffnete, ließ er dort ein Goethe-Zitat anbringen: "Willst Du ins Unendliche schreiten, Geh' nur im Endlichen nach allen Seiten." Noch 1948, im US-ameri- kanischen Exil, berief sich Edingers Schüler Kurt Goldstein (1878-1965) auf diesen Wahl- spruch. Ausgehend von dieser Aneignung Goe-

thes skizziert der Beitrag des Soziologen Ge- raid Kreft vielfältige Goethe-Bezüge bei Frank- furter Neurowissenschaftlem deutsch-jüdischer Herkunft aus drei Generationen. Diese spiegeln sowohl Goethes S teIlung in der Geschichte der deutschen Juden als auch die Bedeutung seiner Naturauffassung beziehungsweise seiner mor- phologischen Studien für die modemen Neuro- wissenschaften .

"Doktor, was halten Sie von Goethe?"

Zur Geschichte einer deutschen Kultfigur

Der Kult um Goethe begann schon zu dessen Lebzeiten: Die Weimarer Hofhaltung des alten Goethe ließ ihn zur alles überragenden Litera- tur- und Kunstinstanz werden. Treffsicher nannte Heine diese Epoche "Goethesche Kai- serzeit". Die Literaturwissenschaftlerin Wal- traud Wiethölter zeichnet exemplarisch nach, wie wechselvoll Goethe in den Epochen deut- scher Geschichte rezipiert und instrumentali- siert wurde: 1848 und Goethes vergessener

hundertster Geburtstag, das Deutsche Reich und Dichterfürst, der Heilige Goethe neu er- standen im Nachkriegsdeutschland. Der Philo- soph und Goethe-Preisträger Karl Jaspers plä- dierte 1947 für eine neue Betrachtungsweise:

Wo "Goethes Geist" atme, müsse sich "die Freiheit des Wortes" analog zu den Widersprü- chen des Werks in einem Wettbewerb nüchtern abgewogener "Gründe und Gegengründe" ma- nifestieren.

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Inhalt 5

U niversitätsgesch ichte

Bücher zu Goethe

Rückkopplung

Impressum/Bildnachweis

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Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Wie die Universität zu ihrem Namen kam

Schon als die Frankfurter Universität, als Stiftungsuniversität ein Unikum in der deut- schen Hochschullandschaft, 1914 gegründet wurde, war im Gespräch, sie nach dem gro- ßen Dichter der Stadt zu benennen. Doch das entsprach nicht den Etiketten, und die Räson der Frankfurter Bürger gegenüber dem preu- ßischen Staat und dem Kaiser ließen diese Bestrebungen in den Hintergrund treten, wie der Historiker Notker Hammerstein berichtet.

So hieß die Anstalt zunächst ab 1918 "Kö- nigliche Universität zu Frankfurt am Main".

Anfang der dreißiger Jahre, die hundertjähri- ge Wiederkehr von Goethes Todestag rückte näher, ergriffen Stadt und Universität erneut die Initiative und stießen beim Preußischen Kultusministerium auf deutliches Wohlwol- len. Es gab keine langen Debatten, der Vor- schlag war allgemein konsensfähig. Während eines öffentlichen akademischen Festakts verlieh der preußische Kultusminister am 25.

Juni 1932 die Urkunde zur Namensgebung:

Fortan hieß die Hochschule Johann Wolf- gang Goethe-Universität.

Buchtips zu Neuerscheinungen

Neuerscheinungen entdecken Goethe zuneh- mend als begabten Zeichner und Maler - sein neben der Dichtung zweites großes Talent.

Damit komplettiert sich das Goethe-Bild: als Naturwissenschaftler und Künstler zugleich.

Die unter der Vielzahl von Neuerscheinun- gen im Goethe-Jahr ausgewählten Buchtips bieten neben Metzlers Goethe Handbuch und einer preiswerten dtv-Gesamtausgabe vor al- lem etwas fürs Auge. Zum Beispiel den groß- formatigen Bildband aus dem Elisabeth Pe- tersen-Verlag. Poetische und naturwissen- schaftliche Texte verbinden sich auf kunst-

volle Weise mit den Zeichnungen und male- rischen Werken. Naturwissenschaft als le- benslange Leidenschaft Goethes, bei der vor allem die genaue Beobachtung zählt, illu- striert der Bildband von Otto Krätz im Call- wey-Verlag. Multimediale Zugänge zu Goe- thes Werk eröffnet die von der Stiftung Wei- marer Klassik sowie Jürgen von Esenwein und Harald Gerlach herausgegebene CD- Rom "Zeit Leben Werk". Volltextrecherche und Hyperlinks verbinden Berliner Ausgabe mit Artikeln aus dem Goethe Handbuch, Tondokumenten und zahlreichen Bildern.

Wes Geistes Kind im Kopf gesessen

Das 18. Jahrhundert, vom Studium der Natur inspiriert, durch die Ausgrabungsfunde von Herculaneum (1709) euphorisiert, ließ die Por- trätsilhouette, die anfänglich noch wegen ihrer Ähnlichkeit zur schwarzfigurigen Vasenmale- rei als "Mode

a

la grecque" bezeichnet wurde, einen wahren Siegeszug durch die deutschen Fürstenhöfe und gebildeten Kreise des geho-

benen Bürgertums antreten. Goethe, in dessen Umfeld man ebenfalls mit wahrer Leiden- schaft schnitt, riß und silhouettierte, notierte 1791: "Jedermann war darin geübt, und kein Fremder zog vorüber, den man nicht abends an die Wand geschrieben hätte, die Storchen- schnabel durften nicht rasten." Die Geschichte des Schattenrisses skizziert Gabriele Kioske.

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6 Natur als Text 1 • •

wSM,m

" • • • ein Gleichnis

das ich so

gerne brauche"

Zur Syntax

der Natur bei Goethe

von I<laus Jeziorkowski

I

nder Überfülle der nötigen und unnö- tigen Preisfragen zum Goethe-Ge- burtstag 1999 scheint man eine über- sehen und übergangen zu haben: Was oder wer war Goethe eigentlich? War er Naturforscher, Textil-Experte oder Poet?

Diese Talente scheint er selbst für ent- scheidend wichtig gehalten zu haben. Für alle drei Kompetenzen liefert er selbst die anschaulichsten Argumente.

Im Jahr 1820 publiziert er in Zur Mor- phologie einen wenig über eine Seite lan- gen Text mit dem Titel Bedenken und Er- gebung. Er spricht hier von der Schwierig- keit, Idee und Erfahrung bei der Naturfor- schung miteinander zu verbinden, und ret- tet sich aus dem ungelösten Dilemma da- mit, daß er sich "in die Sphäre der Dicht- kunst" flüchtet und als ebenso rätselhaf- ten Schluß ein eigenes Gedicht zitiert:

So schauet mit bescheidnem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück, Wie ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schif.flein hinüber herüber schießen, Die Fäden sich begegnendfließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.

Das hat sie nicht zusammengebettelt, Sie hats von Ewigkeit angezettelt;

Damit der ewige Meistermann Getrost den Einschlag weifen kann.

Goethes Frankfurter Arbeitszimmer, gezeichnet auf der dritten Seite des Briefes an Auguste Gräfin zu Stolberg (1775).

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Natürlich ist hier im Gedicht Antepir- ;:.

rhema - aus dem Umkreis der naturphilo- sophischen und weltanschaulichen Ge- dichte - in anschaulichen Details von der Weberei die Rede. Das Dilemma freilich bleibt, es verdichtet sich in der zweiten Zeile: Wer ist die ewige Weberin, was ist ihr Meisterstück? Im spontanen Impuls glauben wir es zu wissen: es ist die schaf- fende Gottheit und ihr Haupt- und Mei- sterwerk, die Natur, die als gewebtes Ge- webe, als texturn erscheint. In diese Rich- tung deutet auch der dem Faust erschei- nende Erdgeist als artistischer Weber: So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit/Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid - die Natur als das Gewebe, in das die Gottheit sich hüllt. Natürlich aber läßt Antepirrhema - Bezeichnung für eine Versfolge, die in den von Goethe ge- schätzten Komödien des Aristophanes der persönlichen Ansprache des Dichters an sein Publikum vorbehalten ist - auch die parallele Deutung offen: im Zusammen- hang mit dem letzten Satz von Bedenken und Ergebung, der zum zitierten Gedicht hinleitet, wäre die ewige Weberin damit ebenso die Göttin oder die Muse der Poe- sie und ihr gewebtes Meisterstück also in der Tat das textum, der Text, die Poesie, die Dichtung, die eigentlich Webung hei- ßen müßte.

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Gewebe-Metapher - Natur und poetische Kunst

Goethe wußte in voller Klarheit, daß diese Metapher vom Weben und dem Ge- webe eines seiner elementaren und zen- tralen Bilder war, vermutlich weil sie Na- tur und poetische Kunst im selben Bild des texturn ineinanderdenkt. Im wahr- scheinlich allerletzten seiner Briefe schreibt er am 17. März 1832 an Wilhelm von Humboldt wiederum über die ge- heimnisvolle Nahtstelle zwischen Natur

Goethe auf einem Rohrstuhl am Fen- ster seiner römi- schen Wohnung (1786/87) - gezeichnet von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein.

sehen den Bildern wechseln: Jedes der beiden ist die eine Seite einer wunderba- ren Medaille oder eben eines kostbaren Gewebes, für die oder das wir keinen Na- men haben, es sei denn das Provisorium Kunst-Natur oder Natur-Kunst. Dieses Behelfswort aber ist zu additiv, nennt

, , Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten,

beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten. , ,

und Kunst: Hier treten nun die mannigfal- tigen Bezüge ein zwischen dem Bewußten und Unbewußten; man denke sich ein mu- sikalisches Talent, das eine bedeutende Partitur aufstellen soll; Bewußtsein und Bewußtlosigkeit werden sich verhalten wie Zettel und Einschlag, ein Gleichnis das ich so gerne brauche. Natur und Kunst - das eine als Zettel, das andere als Einschlag - ergeben gemeinsam ein Ganzes, ein Ge- webe, eben das textum. Man kann zwi-

nacheinander, was ineinander gewoben oder auch geprägt ist: Gedeutete Natur läßt es sich in aller Vorsicht nennen.

Der letzte Brief an Humboldt hat ja so recht: die textile Metapher gehört zum in- nersten Bestand des Goetheschen Bilder- Archivs, ist dessen zentraler Nerv, wie je- der Leser aus seinem eigenen Faust-Fun- dus bestätigen kann:

Zwar ist's mit der Gedankenfabrik Wie mit einem Weber-Meisterstück,

Wo ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber hinüber schießen, die Fäden ungesehen fließen,

Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt So doziert Mephisto gegenüber dem Schüler und meint mit der Gedankenfa- brik jenes anschauende Bewußtseins-Ge- genüber, das die Natur wahrnimmt und re- flektiert. Erfahrung und Idee kommen in der Metapher mit ironischem Einschlag zueinander. Mit deutlich zurückgenom- mener Ironie doziert der Autor Goethe freilich auch gegenüber sich selbst in Ma- ximen und Reflexionen:

Indem ich mich zeither mit der Lebensgeschichte wenig und viel bedeutender Menschen anhaltender beschäftigte, kam ich auf den Gedanken:

es möchten sich wohl die einen in dem Weltgewebe als Zettel, die andern als Einschlag betrachten lassen; jene gäben eigentlich die Breite des Gewebes an, diese dessen Halt, Festigkeit, vielleicht auch mit Zutat irgendeines Gebildes. Die Schere der Parze hingegen bestimmt die Länge, dem sich denn das übrige alles

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8 Natur als Text IM.MSM • •

zusammen unterwerfen muß. Weiter wollen wir das Gleichnis nicht verfolgen.

Weiter ginge es auch kaum. Denn hier findet er die Bezeichnung für jenes Ge- samt von Natur und Kunst, für das es zu- nächst kaum einen Namen gab: Weltgewe- be, das, eigentlich wichtiger noch als die immer wieder zitierte verbale Erfindung von Weltliteratur, das Ineinanderver- schränktsein von Natur und Kultur, die Unauflöslichkeit von Materie und Histo- rie als den uns alle eingrenzenden Maja- Schleier anschaubar macht, jenes Gewebe vor dem Anblick der Wahrheit, das man nur um den Preis des Lebens lüftet. Wir schauen auf Welt -Gewebe, den kosmi- schen Universal-Text, und weben an ihm mit, und im günstigsten aller Fälle sind wir uns dessen bewußt.

In das Kapitel Schicksal der Druck- schrift seiner Morphologie legt er wieder- um eines seiner Gedichte ein. Abermals an einer Stelle, an der es um das für Goe- the so elementar bedeutsame Terrain von

"Wissenschaft und Poesie" geht, rettet und flüchtet er sich - dennoch nicht in Form einer Ausflucht - in seine Elegie Die Metamorphose der Pflanzen, die er in

Diese Tuschfeder-Zeichnung entstand wahr- scheinlich unter Goethes Beteiligung und sollte seine Theorie zur "Metamorphose der Pflanzen"

illustrieren.

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fer geschrieben wurden. Vor ihm sind wir die Lesenden und Entziffernden - die Ge- schichte dieser Lesbarkeit der Welt hat

, ' ... daß nämlich mein Denkvermögen gegenständlich tätig sei ... ,

daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen

und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei ... , ,

voller Länge in den naturwissenschaftli- chen Kontext setzt - übrigens ein Ge- dicht, das in der von Goethe selbst arran- gierten Gruppe Gott und Welt eng mit An- tepirrhema zusammengehört. So stehen dann in der zitierten Elegie gegen Ende auch folgende Verse mitten in der Ab- handlung:

Jede Pflanze verkündet dir nun die ew 'gen Gesetze,

Jede Blume. sie spricht lauter und lauter mit dir.

Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,

Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug

Unschwer ist das textile Gleichnis wiederzuerkennen: Die Natur als geweb- tes Gewand der Gottheit ist nun wahrhaf- tig texturn in Gestalt einer Schrift, die man "entziffern" kann und lesen soll als Text, der sich durch Blumen, Gewächse, Tiere, Naturphänomene in "Lettern" ma- nifestiert. Hier offenbart das Goethesche textum-Gleichnis, daß es an jener uralten Tradition teilnimmt, die durch die Jahr- tausende die gesamte Schöpfung als auf- geschlagenes Buch oder als hermetischen

Hans Blumenberg geschrieben, die Schrift der Schrift. Daß die Romantiker zur selben Zeit diese Schöpfer-Schrift des Mikro- und Makro-Kosmos erkundeten,

hat Goethe höchstens dann irritiert, wenn es katholisierend und dogmatisierend ge- schah und damit in seinen Augen einen- gend, in genauem Kontrast dazu, daß das vorchristliche griechische Wort katholos ein Allumfassendes bezeichnet und damit den Gegensatz zu aller Eingrenzung mar- kiert.

Lesbare und gedeutete Natur ordnet sich perspektivisch auf den hin, der sie anschaut und entziffert. Wissen wir in Handlungen diese Erkenntnisse auf uns zu beziehen, so verdienen wir klug genannt zu werden, heißt es im Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, wobei im Titel klar wird, daß es Natur bei Goethe nur als vermittelte für ein Subjekt gibt. Jedem er- scheint sie in einer eigenen Gestalt, hatte schon das Fragment Die Natur festgehal- ten. Das gilt noch in den späten Schriften und gerade für das Härteste und Wider- ständigste, dem der Forschende in der N a- tur begegnet. In dem Text Verhältnis zur Wissenschaft, besonders zur Geologie, reißt es den späteren Goethe wiederum zu Bekenntnissen hin: Kommt man tiefer in die Sache, so sieht man, wie eigentlich das Subjektive auch in den Wissenschaften waltet, und man prosperiert nicht eher, als bis man anfängt, sich selbst und seinen Charakter kennenzulernen, und er schließt diese Konfession: Alles, was wir ausspre- chen, sind Glaubensbekenntnisse, und so werde das meinige in diesem Fache begon- nen, als hätte er nicht schon früher damit angefangen, als er in dem Aufsatz Über den Granit jenes Härteste und Älteste in genaue Beziehung zum menschlichen Herzen gesetzt hatte, eine Relation, die der Natur-, Gesteins- und Herzensfor-

Text zu sehen gelehrt hat, die vom Schöp- Goethes Gartenhaus in Weimar von der Rückseite - so wie es Goethe gemalt hat.

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scher Adalbert Stifter dann erzählend weiterverfolgen wird.

Allseitige Beziehung von Subjekt und Objekt

Diese Beziehung hätte keinen Boden, wenn beide Seiten für Goethe nicht auf- einanderzu strukturiert wären - vor allem darin, daß beide, Objekt und Subjekt, dem hermeneutischen Grundgesetz entspre- chen, in dem Einzelnes und Ganzes auf- einander verweisen, innigst zusammenge- hören. In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und ebendas korre- spondiert der lebendigen Natur des An- schauenden, der dieses hermeneutische Prinzip wiederum der Natur unterlegt.

Idee und Eifahrung miteinander zu ver- binden, wird so zum Prinzip des Anschau- ens wie des Angeschauten und ihrer Un- trennbarkeit. Analyse und Synthese wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft. Sie durchleuchten den Ge- genstand und zugleich das Leben dessen, der Wissenschaft treibt. Naturforschung und der, der sie praktiziert, gehorchen bei Goethe dem Prinzip der allseitigen Bezie- hung von Subjekt und Objekt, von Detail und Ganzem, einer umfassenden Korre- spondenz der Phänomene und Vermögen, die Goethe keinesfalls statisch fixiert denkt, sondern als in Rhythmen und Zy- klen pulsierende Bewegung und Entwick- lung, als spiralförmigen Progress.

Vokabeln der Bewegung, der Evolu- tion und der Genese prägen allenthalben Goethes Rede von Natur, bis hin zu Meta-

, , In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe ... , ,

phern der körperlichen Bewegung: Durch alle diese Betrachtungen steigen wir zu- letzt zum Menschen herauf So wie die Na- tur sich steigernd bewegt, so bewegt der Betrachtende sich in ihrem Angesicht, da- bei unablässig die Perspektiven wech- selnd und die angeschaute Natur damit umformend. Die Sprache bewegt die Na- tur, die sich bewegende Natur motiviert und treibt die anschauende Sprache. Im Aufsatz Die Lepaden, der Carl Gustav Ca- rus und seine Forschungen ehrt, spricht Goethe vom grenzenlosen Naturreich, in welchem ich zeit meines Lebens mehr im Glauben und Ahnen, als im Schauen und Wissen mich bewege. Fortschreiten und Progression bei diesem Tun resultieren al- lein aus dem Sich-Bewegen, das von den

Energien der Sprache in Gang gesetzt und gehalten wird wie beim allmählichen Bil- den eines Satzes. Für die angeschaute Na- tur gilt genauso wie für die anschauende Sprache: Funktion, recht begriffen, ist das Dasein in Tätigkeit gedacht.

Die produzierende und modellierende Kraft der Syntax schafft in der Rede eben- die Bewegung, die die Entwicklung der Formen in der Natur generiert. Die Folge- richtigkeit der Rede schreibt der Natur die Folgerichtigkeit ihrer Metamorphose vor, die ein Prinzip sprachlichen Generierens, also Hervorbringens ist, wie später Noam Chomskys Generative Transformations- grammatik bekräftigen wird. Generative Transformation korrespondiert weitge- hend den Gesetzen der Goetheschen Mor- phologie. Goethe spricht in der Geschich- te meiner botanischen Studien von der ge-

Natur als Text 9

iM.M'D'.

"Werningeroder Feuer- stein" betitelte Georg Melchior Kraus diese Zeichnung, die er im Auftrag Goethes 1784 zeichnete.

rierende Prinzip der Syntax und der folge- richtigen Rede aus. Beide bildenden Prin- zipien, das der Natur und das der Sprache, laufen in ihrer schöpferisch umformenden Folgerichtigkeit für ihn parallel, beide sind aufeinander zugeordnet; das eine ist bildende Kraft des anderen, da beide auf dem Prinzip der schaffenden und um- schaffenden Metamorphose beruhen. Das Wirken der Metamorphose ist ihm zu- gleich und womöglich zuerst ein syntakti- sches. Das hieße: das Vermögen der Syn- tax erschafft bei ihm die gestaltende Ener- gie der Natur.

Allein diese Einsicht erklärt, daß für ihn die Kompetenz des Naturwissen- schaftlers und die des Poeten auf demsel- ben Stengel wachsen, und die immer neu erstaunende Tatsache, daß er seine natur- wissenschaftlichen Schriften zu seinen

, , Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf' ,

deihlichen Folge meiner Bemühungen. Es sei den uns umgebenden Pflanzenformen, bei einer eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartnäckigkeit, eine glückli- che Mobilität und Folgsamkeit verliehen - damit spricht Goethe zugleich das gene-

Hauptwerken zählte. Daher will er nicht untergehen lassen, was er weithin igno- riert sah: Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe; nur des- halb kann er seine Elegie Die Metamor- phose der Pflanzen zur Achse der Argu-

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10 Natur als Text

I···'d'.

"Alles ist Blatt ... ": Hier notierte Goethe sein Credo zur Metamorpho- se der Pflanze.

mentation seiner Morphologie machen.

Die rhythmisch-plastische Kraft der Disti- chen und des Daktylos wird hier zur schaffenden Energie der Pflanzenent- wicklung. Goethe setzt mit der generie- renden Potenz der Verse und auch seiner

kannten Qualitäten ausmachte, weist er letztlich von sich: Trennen und Zählen lag nicht in meiner Natur. Dergleichen er- schien mir immer als eine Art von Mosaik, eine statische Systematik vieler lebloser Einzelheiten. Zahl und Maß in ihrer

, , Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol,

in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen. , ,

Prosa die Kräfte der Metamorphose in der Natur in Bewegung. Das syntagmatische Vermögen der Sprache und ihres Rhyth- mus erschafft bei ihm den folgerichtigen Zusammenhang der Natur.

Umformende Energien der Sprache:

Goethe erzählt die Natur

Er bringt das, was er bei dem schwedi- schen Botaniker earl von Linne (1707- 1778) als statisches System kennengelernt hat, in lebendige Dynamik, dank der be- weglichen und bewegenden Metamorpho- se-Energien der Sprache. Das, was das Linnesche System bei allen seinen aner-

Nacktheit heben die Form au/und verban- nen den Geist der lebendigen Beschauung.

Form und Geist erscheinen ihm erst mit der den Zusammenhang produzierenden morphologischen Kraft der Sprache, die die Natur in Gang setzt; ohne sie gäbe es nur die tote Systematik Linnes. Es ist ganz sichtbar das sprachliche Verbinden und Umgestalten, das sich als syntakti- sche Energie in die Metamorphose der Pflanzen und Tiere umsetzt. Vor allem aus diesen Gründen kann in der Elegie die Pflanze verkünden und sprechen, sie parti- zipiert am plastischen Metamorphose- Vermögen der Sprache. Die Natur ist Dichterin, so wie sie Weberin ist. Das

textum zu schaffen, ist ihre primäre Kraft.

Goethe als der geborne Dichter entwickelt ihre umgestaltende Potenz aus der schaf- fenden Kraft der Sprache heraus. So kann er den I. Abschnitt der Principes de Philo- sophie Zoologique mit dem im Druck markant herausgehobenen Montaigne-Zi- tat schließen: 'Ich lehre nicht, ich erzähle '.

Goethe erzählt die Natur. Und das Er- zähltwerden ist nichts anderes als die Energie der in ihr wirksamen Metamor- phose. Goethes Natur ist erzählter Prozeß.

Nur so erklärt sich die vielzitierte Fest- stellung aus dem Vorwort der Farbenleh- re: Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden. Die Natur wird pragmatisch, narrativ, dramatisch, ihr Raum wird zur Szene. Sie kommt in Gang durch den sprachlichen Prozeß. Die sprachliche Er- zählenergie setzt sich um in die erzählte (Helden-)Geschichte der Natur, in die al- lein das sprachliche Vermögen die Dyna- mik von Erzählung und Drama zugleich

"Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht. , ,

Die Ableitung komplizierterer Blattformen aus ein- facheren - am Beispiel des Fenchel. Diese Skiz- zen notierte Goethe auf dem Umschlag eines Brie- fes aus dem Jahre 1789.

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, , Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt und sich vor der Synthese

gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege;

denn nur heide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft. , ,

hineinprojiziert. Diese universellen Be- zeichnungen, diese Natursprache auch auf die Farbenlehre anzuwenden, [ ... ] war die Hauptabsicht des gegenwärtigen Werkes.

Wenig später vergleicht er seine Farben- lehre mit einem guten Theaterstück.

Bei Goethe wird sichtbar, was es vor, neben und nach ihm höchstens in Ansät- zen gegeben hat: Natur als Text. Bei Georg Büchner (1813-1837) taucht das wieder auf, vor allem im Woyzeck und der Zürcher Antrittsvorlesung Über Schädel- nerven, die in besonders engem Konnex mit dem Naturforscher Goethe steht. Die- sem Goethe erscheint Natur als ein syn- taktisch geschaffenes und schaffendes Phänomen, das ohne sprachliche Entfal- tung nicht denkbar, ja noch nicht einmal vorhanden wäre - ein Konzept, das auch den gegenwärtigen Naturwissenschaften immer vertrauter wird.

Goethe präfiguriert das Projekt der Mo- deme: Natur ist die Sprache, die von ihr re- det. Anders hätten wir sie nicht. Nach Nils Bohr wäre es falsch, zu denken, daß die Wis- senschaft herauszufinden hat, wie die Natur ist. Sie beschäftigt sich allein mit dem, was

Professor Dr. Klaus Jeziorkowski (64) I

lehrte bis zum Wintersemester 1997 neue- re deutsche Literatur an der Goethe-Uni- versität. Im Zentrum seilfIes wissenschaft- lichen Interesses standen u.a. Untersu- chungen zu Raum- una Oberflächen-Ei- genschaften von Texten, d.h. zur Relation zwischen Wort- und Satzfolge einerseits und den Raum- und Flächen-Aspekten der liter:ar~schen Text-Seite, zur Bezie- hung zwischen dem Sc~warzen und dem Weißen auf dem Papier andererseits. In Vorlesungen und Seminaren behandelte Jeziorkowski mit seinen Studentinnen und Studenten häufig Themen aus poe-

"Zahl und Maß in ihrer Nacktheit heben die Form auf und verbannen den Geist

der lebendigen Beschauung. , ,

thes Werken: Dazu zählten "Wahlver- wandtschaften", "Werther", "Westöstli- cher Diwan", "Herrmann und Dorothea",

"Italienische Reise" und "Naturwissen- schaftliche Schriften". Folgende Bücher hat der Germanist geschrieben: "Rhyth- mus und Figur" (1968), das Erzählstruktu- ren bei Heinrich Böll untetsucht; "Literari- tät und Historismus" (1979), das am Werk Gottfried Kellers den Umgang der schö- nen Literatur mit der historischen Per- spektive darstellt; "Gottfried Keller: Klei- der machen Leute" (1984), das diese Kel- lersche Erzählung unte!r einer Vielzahl von Aspekten ko~mentDiert und deutet;

"Eine Iphig~nie rauchend" (1987), eine Sammlung von Aufsätzen und Feuilletons zur deutschen Tradition; "Der Text und seine Rückseite" (1995), eine Folge von Einzelstudien zur Konstitution und (brü- chigen) Beschaffenheit Ii~erarischer Texte und ihren Raum.. und Flächen-Eigen- schaften. Jeziorkowski beteiligt sich an dem wissenschaftlichen Festival "Durch- geistete Natur" in ~er Sektion ,~Natur und Frelheit" mit einem Vortrag zum Thema

"Der poetisch-philosophische Naturbe- griff Goethes... 1

Natur als Text 11

IM.MS-M

Zwischenkieferknochen in einer menschlichen Oberkiefer-Zeichnung von Goethe.

wir über sie sagen können. Schärfer noch: es geht noch nicht einmal darum, über die N a- tur etwas zu sagen, sondern sie als Sprache erfahrbar zu machen.

Was Goethe mit dem von ihm selbst so hoch eingeschätzten Corpus seiner natur- wissenschaftlichen Schriften hinterlassen, mehr noch: in Gang gesetzt hat, ist nichts Geringeres als die Syntax der Natur. Die

, , Wir sind nur Originale, weil wir nichts wissen. , ,

Prosa der Wahlverwandtschaften mit ihrem den Naturwissenschaften so markant ent- lehnten Konflikt macht durch das Medium des Romans Goethes

Lebensproj ekt ästhe- tisch sichtbar, das Mo- dell einer erzählten N a- tur. Materie und Geist umgreift sie gleicher- maßen. Nicht erzählt, wäre sie nicht lebendig.

Literatur

Jeremy Adler: "Eine fast magische Anziehungs- kraft". Goethes Wahlverwandtschaften und die Che- mie seiner Zeit. In dt. Übers. München 1987 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frank- furt am Main 1981

Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur.

Philosophische Studie zur deutschen Spätaufk:lä- rung. München 1984

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12 Goethes meteorologische Studien

IM.MS·M

"Ein Angehäuftes, flocldg

löst sich' sauf"

Goethe

und die Beobachtung der Woll<en

Die "Formung des Formlosen": Ein Blatt aus Goethes Wolken- zeichnungen.

von Christian-Dietrich Schänwiese

I

m Rahmen seiner naturwissenschaft- lichen Studien beschäftigte sich Jo- hann Wolfgang von Goethe eingehend mit morphologischen Strukturen der Tier- und Pflanzenwelt, bevor er seine Begeiste- rung für die Meteorologie entdeckte. Zu- nächst betrachtete Goethe die Wolke als ein selbständiges Phänomen, das den Prin- zipien der Metarmorphose und der Steige- rung unterliegt. Interessiert hat Goethe bei Beginn seiner Wetterbeobachtungen so-

wohl die Systematik der Wolken als auch die aus einer Urgestalt möglich werdende Formenvielfalt im Sinne einer beschrei- benden Naturgeschichte der Wolken.

Schon auf seiner ersten Italienreise 1786 waren dem Dichter und Naturbeob- achter Unterschiede im Wetter dies- und jenseits der Alpen aufgefallen. Er wollte dieser Beobachtung naturwissenschaftlich durch den Vergleich von WiUerungsdaten nördlich und südlich der Alpen auf den

Grund gehen, doch bis dahin vergingen noch fast 30 Jahre. Die Gründung einer Sternwarte in Jena 1811 und einer meteo- rologischen Station in Schöndorf auf dem Ettersberg bei Weimar 1815 veranlaßten Goethe in seiner Funktion als Leiter der Anstalten für Kunst und Wissenschaft im Herzogtum Weimar zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der damals be- kannten Fachliteratur. In diesem Zusam- menhang wurde er 1815 aufmerksam auf die Wolkenlehre Luke Howards (1772- 1864), der im Jahr 1803 seine Abhand- lung über die Erscheinungsformen der Wolken veröffentlichte und darin drei Grundtypen unterschied, auf die sich alle Wolken zurückführen ließen:

• Cirrus, die Federwolke

• Curnulus, die Haufenwolke

• Stratus, die Schichtwolke

Diese ordnete der englische Naturfor- scher jeweils unterschiedlichen Höhenbe- reichen der Atmosphäre zu (Abb. 2, S. 14).

Ein weiterer Grundtypus, nämlich "Nim- bus", die Regenwolke, folgte. Howard hatte gezeigt, daß die verschiedenen Wol- kenformen das Ergebnis physikalischer Gegebenheiten sind, auf Grund derer sie in den verschiedenen Schichten der At- mo sphäre eine unterschiedliche Gestalt annehmen. Goethe, der diese Abhandlung in einer deutschen Zusammenfassung um 1815/16 und das Original mit den illu- strierenden Kupferstichen 1818 kennen- lernte, war davon so beeindruckt, daß er

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in Howards Ehrengedächtnis unter ande- rem reimte:

Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn;

Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt, Er faßt es an, er hält zuerst es fest;

Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein, Benennt es treffend! - Sei die Ehre dein! - Wie Streife steigt, sich ballt, zerflattert, fällt, Erinnere dankbar deiner sich die Welt.

Inspiriert von Howard begann Goethe, sich systematisch mit der Meteorologie zu beschäftigen und veranlaßte im Herzog- tum Sachsen-Weimar die Einrichtung mehrerer Wetterbeobachtungsstationen.

Auf seine Amegung hin realisierte der Physikalische Verein die Gründung einer Wetterbeobachtungsstation in der Region Frankfurt. Damit war nach der Einrich- tung des ersten internationalen meteorolo- gischen Meßnetzes durch die Societas Meteorologica Palatina im Jahr 1780/81, das leider nach dem Tod seines Initiators, des Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz, wieder weitgehend zerfiel, der Weg zu den nationalen Wetterdiensten - zuerst 1863 in Frankreich - und zur Internatio- nalen Meteorologischen Organisation [IMO, 1872] vorgezeichnet.

Goethe interessierte sich nicht nur für Howards Wolkenlehre, sondern auch für dessen Biographie und versuchte daher, über seinen Londoner Korrespondenten Johann Christian Hüttner Kontakt zu Ho- ward aufzunehmen. 1822 antwortete der

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umworbene Wissenschaftler dem ge- rühmten Schriftsteller und berichtete aus- führlich über sein Leben. Goethe würdig- te Howard biographisch noch im gleichen Jahr und verfaßte mehrere Gedichte zu dessen Lehre.

Einflüsse auf die Malerei

Im ersten Band des dritten Heftes Schriften zur Naturwissenschaft veröffent- lichte Goethe 1820 einen Aufsatz Wolken- gestalt nach Howard, der neben Ausfüh- rungen zu Howards Typologie auch Witte- rungsaufzeichnungen von einer Reise nach Marienbad enthielt. Dort ist auch Goethes Federzeichnung (mit Tusche laviert) von 1817/20 einzuordnen, in der er Howards Wolkenschema in eine Landschaft einfügte

Goethes meteorologische Studien 13

i·.*SM@i

Abb. 1: Howards Wol- kenformen integriert der Maler Goethe. in sei- ne Landschaft mit See und Gebirgsstock [vgl.

Abb. 2, S. 14].

bekannt, daß Goethe verschiedene Künst- ler zu Wolkendarstellungen nach Howards Typologie amegte. Ein Beispiel dafür ist der Münchener Landschaftsmaler Johann Georg von Dillis (1759-1841), der - ver- mutlicli von Goethes meteorologischen Schriften inspiriert - etwa 150 Wolken- skizzen (Abb. 3) hinterließ, wobei er auch häufig im Sinn einer Dokumentation Da- tum, Uhrzeit, Wettersituation und Farbge- gebenheiten vermerkte. Die häufige und vielfältige Verbindung zwischen Meteoro- logie und Malerei hat übrigens die Deut- sche Meteorologische Gesellschaft [DMG, 1997] erst kürzlich in einem T<:1xt - und Bildband eindrucksvoll belegt.

In Goethes Dichtung spielen Wolken und andere atmosphärische Erscheinun- gen eine wichtige Rolle - am bekannte-

"Die Wolken, eine dem Menschen von Jugend auf so merkwürdige

Lufterscheinung, ist man in dem platten Lande doch nur als etwas Fremdes, Überirdisches anzusehen gewohnt. Man betrachtet sie nur als Gäste, als Streichvögel, die, unter einem anderen Himmel geboren, von dieser oder jener Gegend bei uns augenblicklich vorbeigezogen kommen; als prächtige Teppiche womit die Götter ihre Herrlichkeit vor unsern Augen verschließen. , ,

(Abb. 1) und noch etwas in Richtung der heutigen Klassifikation erweiterte. Insge- samt schlug sich Goethes Studium der Wolkenformationen nach Howard in zahl- reichen Zeichnungen und Aquarellen nie- der. Wolkenstudien wurden von da an klas- sische Studienmotive in der Malerei. So ist

sten sind dabei sicherlich seine auf die Howardsche Klassifikation zurückgehen- den Gedichte Stratus, Cumulus, Cirrus und Nimbus; atmosphärische Phänomene werden auch im Sinn einer Untermalung oder Verstärkung der dramatischen Hand- lung benützt. So wendete Goethe in Faust

(16)

14 Goethes meteorologische Studien i • • •

i-PM

Abb. 2: Kupferstiche von Lowry nach Ho- ward: Cirrus-, Cumulus- und Stratuswolken (von oben nach unten).

Abb. 3: Cumuluswolken - eine Kreidezeichnung des Münchner Landschaftsmalers Johann Georg von Dillis, der etwa 150 Wolkenskizzen entwarf und offensichtlich durch Goethes meteorologische Schriften angeregt wurde.

II (Abb. 4) seine meteorologische Symbo- lik an, indem er Helena mit einer majestä- tischen Cumuluswolke und Gretchen mit einer ätherischen Cirruswolke assoziiert.

Heutige Wolkenklassifikation

Die heutige Wolkenklassifikation (Wol- kengattungen; verbindlich von der Weltme- teorologischen Organisation, WMO, fest- gelegt) unterscheidet wie Howard drei

"Stockwerke" in der unteren Atmosphäre (Troposphäre), allerdings nun nach

~ Eiswolken: Grundtyp Cirrus (Ci), zu- sätzlich Cirrocumulus (Cc) und Cirro- stratus (Cs), oberes "Stockwerk";

~ Eis-fWasserwolken: Altocumulus (Ac) und Altostratus (As), wobei "alto" rela- tiv hohe Cumulus- bzw. Stratuswolke bedeutet; fehlt bei Howard sowie Goe- the, mittleres "Stockwerk";

~ Wasserwolken: Cumulus (Cu), Stratus (St) sowie die Mischform Stratocumu- lus (Sc), unteres "Stockwerk", dies ex- akt wie bei Goethe.

Diese Wolken-Stockwerke" sind in den Temperaturbereichen unter -35°C (Eiswolken), über -12°C (Wasserwolken) bzw. dazwischen (Eis-fWasserwolken) zu finden. Cumulus ist damals wie heute der Grundtyp der Haufenwolke mit einer vor- wiegend vertikalen Ausdehnung, Stratus die horizontale Schichtwolke (Abb. 5, S.

16). Hinzu kommen noch zwei Wolken- gattungen, die sich über mehrere "Stock- werke" erstrecken, nämlich Cumulonim- bus (Cb), die Schauer- bzw. Gewitterwol- ke (alle drei "Stockwerke"), und Nimbo- stratus (Ns), die "Landregenwolke" (unte- re zwei "Stockwerke"). Nimbus bedeutet hier Niederschlag. Selbstverständlich hat Goethe auch diese markanten Wolkenfor- mationen wahrgenommen und in Zeich- nungen festgehalten, zum Beispiel in zu Abbildung 2 alternativen Wolkenschemen (als "Schlechtwetterwolke") oder in sepa- raten Zeichnungen als "Böengewölk"

(Abb. 6), womit die heutige Cumulonim- bus-Wolke gemeint ist.

Obwohl die heutige Meteorologie die Wolkenklassifikation wesentlich verfei- nert, die Wolkenphysik sich erheblich weiter entwickelt hat und computerge- stützte Wetteranalysen und -vorhersagen durchgeführt werden, lassen sich die so überaus vielfältigen Wolkenerscheinun- gen, wie sie sich am Himmel zeigen, auch weiterhin nur anschaulich-deskriptiv fas- sen. Von Goethe sind Witterungsaufzeich- nungen erhalten, in denen er Wolken und Wetter beschreibend zu erfassen versucht.

Auch hatte er mehrere Anläufe unternom- men, meteorologische Tagebücher zu füh- ren, doch fehlte ihm dazu die Geduld, wie seine Aufzeichnungen zeigen: Er hielt ge-

(17)

21utcten~ 12iebe reidJten edJt1.mng~ beöeidJnet's mit, ben fdJneUempfunbnen, etften, laum ~etftanbnen c.Blid, ber, feftge~alten, übetglän3te jeben E5dJatJ.

qßie E5eerenfdJön~eit fteigert ftdJ bie ~o(be <Jotm, (öft ftdJ nidJt auf, et~ebt ftdJ in ben Qit~et ~in unb öie9t ba' c.Befte meine' Snnern mit ftdJ fort.

Abb. 4: Federzeichnung von Franz Stassen aus dem Jahr 1919 zu Faust 11, 4. Akt "Hochgebirg".

Abb. 6: "Böengewölk" - diese Tuschzeichnung (Ausschnitt) mit einem Aprilschauer fertigte Goethe bereits vor seiner Beschäftigung mit Howard an. Was Goethe damals "Böengewölk" nannte, bezeichnet man heute als Cumulonimbus-Wolke.

Atmosphäre

Goethes meteorologische Studien 15

iM.MS'M@

, , Die Welt sie ist so groß und breit, Der Himmel auch so hehr und weit, Ich muß das alles mit Augen fassen, Will sich aber nicht so recht denken lassen.

"

Stratus

"Wenn von dem stillen Wasserspiegel-Plan Ein Nebel hebt den flachen Teppich an, Der Mond, dem Wallen des Erscheins vereint, Als ein Gespenst Gespenster bildend scheint, Dann sind wir alle, das gestehn wir nur, Erquickt', erfreute Kinder, 0 Natur!

Dann hebt sich's wohl am Berge, sammelnd breit An Streife Streifen, so umdüstert's weit,

Die Mittelhöhe, beidem gleich geneigt, Ob 's fallend wässert oder luftig steigt. , ,

Cumulus

, , Und wenn darauf zu höhrer Atmosphäre Der tüchtige Gehalt berufen wäre,

Steht Wolke hoch, zum herrlichsten geballt, Verkündet, festgebildet, Machtgewalt, Und was ihr fürchtet und wohl auch erlebt, Wie's oben drohet, so es unten bebt."

Cirrus

"Doch immer höher steigt der edle Drang!

Erlöset ist ein himmlisch leichter Zwang.

Ein Aufgehäuftes, flockig löst sich' sauf, Wie Schatten tripplend, leichtgekämmt zu Hauf, So fließt zuletzt, was unten leicht entstand, Dem Vater oben still in Schoß und Hand. , ,

Nimbus

, , Nun laßt auch niederwärts, durch Erdgewalt, Herabgezogen, was sich hoch geballt, In Donnerwettern wütend sich ergehn, Heerscharen gleich entrollen und verwehn! - Der Erde tätig-leidendes Geschick! - Doch mit dem Bilde hebet euren Blick:

Die Rede geht herab, denn sie beschreibt;

Der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt. , ,

(18)

16 Goethes meteorologische Studien

iM.MS·pM

Goethes Irrtum:

Die Witterung ist nicht nur terrestrisch gesteuert

W

ährend Goethe seine Spuren in der modemen Wolken- und Wet- terbeobachtung hinterlassen hat, spielt seine Witterungslehre heute nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Viel- leicht hat er die Fragwürdigkeit einiger seiner Überlegungen dazu auch selbst empfunden, da er ausdrücklich vorn Versuch einer Witterungs lehre (1825) spricht.

Dennoch enthält dieser Versuch gleich am Anfang einige sehr bemerkenswerte Gedanken zu einem Phänomen viel all- gemeinerer Bedeutsamkeit, das wir heu- te als Wechselwirkung bezeichnen:

Hier ist nun vor allen Dingen der Hauptpunkt zu beachten: daß alles, was ist oder erscheint, dauert oder vorübergeht, nicht ganz isoliert, nicht

Witterungsaufzeich- nungen Goethes aus dem November 1829.

ganz nackt gedacht werden dürfe;

eines wird immer noch von einem anderen durchdrungen, begleitet, umkleidet, umhüllt; es verursacht und erleidet Einwirkungen, und wenn so viele Wesen durcheinander arbeiten, wo soll am Ende die Einsicht, die Entscheidung herkommen, was das Herrschende, was das Dienende sei, was voranzugehen bestimmt, was zu folgen genötigt werde?

E

in hochaktuelles Beispiel solcher Wechselwirkungen ist das EI-Ni- fio-Southern-Oscillation-Phänomen, bei dem tatsächlich unbestimmt ist, ob nun Erwärmungen des tropischen Pazi- fIks (EI Nifio) oder aber die damit ge- koppelten Luftdruckschwankungen der Südhemisphäre (Southern Oscillation)

Ursache oder Wirkung sind. Die mo- deme Meteorologie sieht dies als einen Zyklus ozeanisch-atmosphärischer Ef- fekte, ohne Anfang und Ende, und so- mit auch, ohne Ursache und Wirkung definitv auseinanderhalten zu können, ganz im Goetheschen Sinn.

I

m Gegensatz zu diesem klimatologi- schen Beispiel sehen wir heute aber gerade in der Witterung sehr wohl defi- nierbare Ursachen und Wirkungen.

Außerdem unterliegt Goethe nach sei- nen bemerkenswerten und zukunfts- weisenden Einsichten am Beginn sei- ner Witterungs lehre aber der auch heu- te nicht selten anzutreffenden Versu- chung, sich zu einer bestimmten Schu- le bekennen zu müssen. Auf einen ein- fachen Nenner gebracht ist das bei Goethes Witterungslehre die Frage: Ist die Witterung nun kosmisch (extrater- restrisch) oder aber tellurisch (terre- strisch) gesteuert? Goethe meint, sich definitiv und mit allem Nachdruck für die tellurische Sichtweise entscheiden zu müssen:

... der Mensch ... unterläßt nicht, sich mit dem Wahne zu schmeicheln, ...

daß, wo nicht die Fixsterne, doch die Planeten, wo nicht die Planeten, doch der Mond die Witterung bedinge, bestimme und auf dieselbe einen regelmäßigen Einfluß ausübe. Alle dergleichen Einwirkungen aber lehnen wir ab; die Witterungserscheinungen auf der Erde halten wir weder für kosmisch noch planetarisch [gemeint sind andere Planeten als die Erde], sondern wir müssen sie nach unseren Prämissen für rein tellurisch erklären.

D

as ist aus heutiger Sicht nur zum Teil richtig; denn während Ein- flüsse fremder Planeten oder des Mon- des auf die Witterung auch heute als nicht existent oder höchstens spekula- tiv angesehen werden, so ist doch die zeitlich und räumlich variierende Son- neneinstrahlung als wichtigster (wenn man so will, kosmischer) Einflußfaktor aufzufassen, auf den dann Wirkungen beispielsweise in Form sogenannter thermischer Tief-oder Hochdruckge- biete -je nach Eigenart der Erdoberflä- che (und somit tellurisch bedingt) - folgen; das heißt die Sonne verursacht, die Erde modifiziert. Zwar listet Goe- the den Fixstern Sonne bei den von ihm abgelehnten kosmischen Einflüs- sen korrekterweise nicht explizit auf;

bei seiner konsequenten und daher in diesem Fall auch einseitigen Auffas-

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