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ALCINA - Zauberoper von Georg Friedrich Händel : Dramaturgie der Entmachtung

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Academic year: 2022

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Universität Konstanz

Geisteswissenschaftliche Sektion Fachbereich Literaturwissenschaft Hauptfach: Deutsche Literatur WS 09/10

Datum: 10.10. 2010

BACHELORARBEIT

Alcina

Zauberoper von Georg Friedrich Händel Dramaturgie der Entmachtung

1. Gutachterin: Dr. Juliane Vogel 2. Gutachter: Dr. Peter Braun

Vorgelegt von:

Franziska Bolli-Zwahlen St.-Stephansplatz 5 78462 Konstanz fran@bollimusic.de Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-114561 URL: http://kops.ub.uni-konstanz.de/volltexte/2010/11456/

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3 Inhaltsverzeichnis

Einleitung 5

Hauptteil

1. Das Phänomen ‚Oper’

1.1 Versuch eines Rundumschlags 7

1.2 Fazit 11

1.3 Il ‚recitar cantando’ 13

1.3.1 Monteverdis Orfeo und Händels Alcina 13

1.4 Rezitativ und Arie 15

2. Epos, Oper und Drama 17

2.1 Gegenüberstellung 18

2.2 Zwei grundlegende Äusserungsformen 19

2.3 ‚dramma per musica’ 20

3. Notwendige Informationen

3.1 Ludovico Ariosto 24

3.2 Georg Friedrich Händel 25

4. Die Ariost-Opern Händels 27

4.1 Relevante Aspekte des Orlando Furioso für die Ariost-Opern Händels 32

4.2 Händel und die da capo-Form 35

5. Die Oper Alcina

5.1 Inhaltlicher Überblick 38

5.2 Stoffgeschichte 39

5.3 Von Fanzaglia zu Händel 42

5.4 Ariosts Orlando Furioso und Händels Alcina 47

5.5 Transformation I: Alcina und ihre Insel

OF VII,9–16 –> Alcina I,2 52

5.6 Transformation II: Die Erlösung Ruggieros und der Insel

OF VII,45–80 –> Alcina II,1 56

6. Dramaturgie der Entmachtung

6.1 Händel und der schöne Schein 70

6.2 ‚Rettung’ bei Monteverdi und bei Händel 73

6.3 Die subtile Verabschiedung des Zaubers 74

Schluss 78

Bibliographie 79

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5 Einleitung

Alcina ist eine Oper von Händel, die ich als ausserordentlich empfinde. Die Oper an sich ist eine relativ junge Kunstgattung, die auf Grund ihrer Hybridität von Anfang an Probleme aufwarf. Sie widersetzt sich wissenschaftlichem Zugriff bis heute hartnäckig, da eine befriedigende Untersuchung all ihrer Parameter nur von jemandem geleistet werden könnte, der sich in allen Disziplinen, welche die Oper in sich vereinigt, wirklich auskennt, also in Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Gesang, Kostümdesign, Bühnendesign, Technik, Soziologie und Ökonomie. Die meisten Arbeiten zu Opern kommen aus der musikwissenschaftlichen Ecke. Aus den oben genannten Gründen ist das sehr einseitig. Wenn eher der Text im Vordergrund einer Arbeit steht, wird meistens versucht, ihn gleich wie einen Theatertext anzugehen, was verständlich ist, aber zu kurz greift. Denn gerade die ‚literarischen Mängel’ eines Librettos machen meistens seine Qualität aus.1

Ich komme von der Literaturwissenschaft her und werde mit dieser Arbeit nicht mehr leisten können als all die anderen, die sich an einer Oper versucht haben.

Ich gehe davon aus, dass die Oper Alcina von Georg Friedrich Händel ein Geheimnis besitzt, etwas Besonderes, worauf sich ihre Wirkung gründet. Diese Arbeit stellt den Versuch dar, Alcina verschiedentlich einzukreisen und so etwas über ihr Geheimnis zu erfahren. Es wird um mehrfache Besonderheit gehen, denn, wie oben gezeigt, ist Alcina nur schon dadurch, dass es sich um eine Oper handelt, etwas Besonderes, schwer Einzuordnendes, zwischen die Gattungs-Stühle Fallendes. Darum finde ich es unerlässlich, erst mal auf das Phänomen ‚Oper’ näher einzugehen. Ferner möchte ich versuchen, die Gattungen Epos, Oper und Drama gegeneinander abzugrenzen. Dabei habe ich vor allem Epos und Oper im Visier, da die Alcina-Episode dem Epos Orlando Furioso von Ludovico Ariosto entnommen ist. Das Drama ist trotzdem erwähnenswert, da sich die Oper – das dramma per musica – formal aus dem Drama entwickelt hat. Es wird weiterhin von Interesse sein, wie die Alcina-Episode aus dem Epos zum Operntext mutiert, sowie die Tatsache, dass Episoden aus besagtem Epos immer wieder als Vorlage für Theater- oder Operntexte gewählt worden sind. Händel selbst hat zwischen

1 Hybrides ist bekanntermassen immer stärker als Reines; das bestätigt jeder Hunde- oder Rosenzüchter.

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1733 und 1735 drei Ariost2-Opern geschrieben. Weiters drängt sich eine kleine Stoffgeschichte zumindest der Alcina-Episode auf, um dann bei der Händel-Version nachzufragen, wie und warum er diese Episode bearbeitet hat.

Von diesen Annäherungen aus verschiedenen Blickwinkeln erhoffe ich mir einige Erkenntnisse in Bezug auf die Machart der Oper Alcina. Ich bilde mir nicht ein, das Geheimnis gänzlich lüften zu können, ich möchte lediglich ein Zipfelchen des Vorhangs lüpfen und einen staunenden Blick hinter die Kulissen werfen.

2 Ariost: eingedeutschte Form von ‚Ariosto’

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7 Hauptteil

1. Das Phänomen Oper

Die Oper verdankt ihre Entstehung, wie hinlänglich bekannt ist und ich hier an prominenter Stelle polemisch formuliere, den Kopfgeburten einiger puristischer aristokratischer Stubenhocker, die sich Dichter und Musiker schimpften. Erfüllt von humanistischem Sendungsbewusstsein, setzten sie sich in ihrem Gelehrtenzirkel, der

‚Camerata de’ Bardi’ zu Florenz3, dafür ein, dass die griechische Tragödie wieder originalgetreu aufgeführt werde. Man war auf Grund intensiver Studien zur Überzeugung gelangt, dass in den antiken Tragödien nicht nur die Chöre, sondern auch die Dialoge in irgendeiner Weise gesungen worden waren, und diese „Urform“ wollte man wieder herstellen.

Das war ungefähr um die Jahrhundertwende vom 16. zum 17. Jahrhundert, der Blüte- und Spätzeit der Renaissance in Italien.

Warum gerade die griechische Tragödie? Gab es keine äquivalenten zeitgenössischen Stücke? Was wurde überhaupt literarisch hervorgebracht zu dieser Zeit? Wie sah der Kulturbetrieb in Italien um 1600 aus?

1.1 Versuch eines Rundumschlags

Seit gut zweihundert Jahren befand sich die Welt in einem gewaltigen Umbruch: neue Kontinente wurden entdeckt, Galilei und Kepler hatten bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse vorzuweisen, von emsigen Philologen waren viele alte Schriften, zumal auch griechische Originale, zusammengetragen worden.4 Man hatte sich Griechen ins Land geholt und die Sprache gelernt und war nun in der Lage, die antiken Schriften im Original zu lesen, auch viele, die noch gar nicht übersetzt worden waren.5 Zudem war mit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts für die Verbreitung all des neuen Gedankenguts gesorgt – der mittelalterlichen

3 so genannt nach dem Florentiner Grafen Giovanni de’ Bardi, in dessen Palazzo die Zusammenkünfte

4 Columbus (Entdeckung Amerikas 1492), Vasco da Gama (Entdeckung des Seeweges nach Indien 1497/98, Galilei (1564-1642), Kepler (1571-1630) etc.

5 Leonardo Bruni (1370-1444), Poggio Bracciolini (1380-1459), Leon Battista Alberti (1404-1472), Pietro Bembo (1470-1547) waren die führenden Philologen in Italien.

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geschlossenen Welt wurde der Deckel abgenommen, es entstand Durchzug. Viel Staub und Mief wurde beseitigt, viel Energie freigesetzt.

Die Begeisterung für die Antike, die schon zu Dantes Zeiten (Ende 13. Jh.) durch die lateinischen Übersetzungen griechischer Klassiker wie zum Beispiel Homers und Ovids geschürt worden war, bekam neuen Aufschwung, besonders in den gebildeten Kreisen, die sich immer noch aus der höfischen (konservativen) Gesellschaftsschicht rekrutierten.

Parallel zu diesen Ereignissen hatte Pietro Bembo um 1500 herum die italienische – oder genauer, die toskanische – Sprache endgültig zur Literatur- und Kultursprache geadelt, indem er Francesco Petrarca (1304-1374) für die Lyrik und Giovanni Boccaccio (1313-1375) für die Prosa als Vorbilder nahm und daraus eine die italienische Literatur für lange Zeit bestimmende Poetik formulierte.6 Petrarca und Boccaccio wurden in den Kanon der antiken Klassiker eingereiht, die Errungenschaften der Antike sollten gleichsam in italienischer Form erhalten und weitergeführt werden. Jeder ambitionierte Dichter befleissigte sich, diese Richtlinien zu befolgen. Die Petrarkisten7 schossen nur so aus dem Boden, jeder Höfling hatte seinen ‚petrarchino’, ein Lyrikbüchlein mit Petrarca-Gedichten, allzeit dabei.

Eine Anleitung anderer Art verfasste Niccolò Macchiavelli (1469-1527): Il Principe (1513, gedr. 1532), ein Traktat, das die Herrscher zu praktischer Realpolitik anleiten wollte.

Macchiavelli war ein grosser Skeptiker, und er legte dar, dass angesichts der Doppelnatur des Menschen Ideale nicht viel bringen, sondern dass im Zweifelsfall immer das Wohl des Staates im Auge behalten werden muss, infolgedessen der Zweck mehr oder minder die Mittel heiligt.

Auch Baldassare Castiglione (1478-1529) schrieb einen Ratgeber, den Libro del Cortigiano (1528), ein Benimmbuch für Höflinge, deren höchstes Ziel es sein sollte, sich in allem perfekt auszubilden und sich dann so zu präsentieren, als ob einem alles ganz leicht und natürlich von der Hand ginge.8 Dieses Modell finden wir in Frankreich am

6 Bembo, P.: Prose della volgar lingua. Venedig: 1525.

7 Dichtende im Stile Petrarcas (d.i. Besingen der ästhetisierten Frau und Liebe mit typischen Versatzstücken, z.Bsp. Blondhaar, schwarze Augen, Erdbeermund, Porzellanglieder, kleine Füsse); auch Anti-Petrarkisten, Parodien

8 Die wahre Kunst ist das Verbergen der Kunst: „ars est celare artem“ (Quintilian, röm. Rhetoriker).

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Hofe von Louis XIV verwirklicht. Das Stichwort heisst ‚sprezzatura’9 und ist für den frühen Darstellungsstil der Oper, das ‚recitar cantando’10, nicht ohne Bedeutung.11

Ludovico Ariosto (1474-1533) hingegen, Hofdichter in Ferrara, wandelte auf ganz anderen Spuren. In seinem Lebenswerk, dem Orlando Furioso (1516-1532) stützte er sich, wie übrigens auch seine Vorläufer Luigi Pulci (1432-1482) und Matteo Maria Boiardo (1441-1494), auf die ‚cantari’ und ‚giullari’, toskanische Geschichtenerzähler und Spielleute, die vor allem aus zwei Stoffkreisen schöpften: der französischen Heldenepik um Karl den Grossen und aus den Artusromanen. Diese epische Erzähltradition scherte sich nicht gross um humanistische Ideale, war denn auch sehr kraftvoll und fantastisch und wurde in Oktaven12 vorgetragen oder niedergeschrieben.

Nach Ariosto führte Torquato Tasso (1544-1595) mit der Gerusalemme liberata (1574 beendet) den Epikstrang weiter und verknüpfte ihn sogar noch mit der Kreuzzugsthematik. Er bemühte sich vor allem, die freien Strukturen des Ritterromans und die von Bembo geforderten aristotelischen Gesetze13 zusammenzubringen. Das gelang ihm auch weitgehend, Sprach- und Strukturgestaltung der Gerusalemme liberata sind äusserst kunstvoll und regelgerecht. Gelahrte Leute aller Zeiten werden ihre Freude daran haben, aber die Ariostlektüre ist viel unterhaltsamer.

An den Höfen übte man sich indessen nicht nur im Petrarkisieren, sondern vergnügte sich ab ca. 1450 auch mit Theaterspielen. Jeder Hof hatte einen Prunksaal, an dessen einem Ende eine kleine Bühne hergerichtet werden konnte. Als Prospekt dienten oft kostbare Wandteppiche mit Innen- oder Aussenansichten der höfischen Umgebung.

Nebst der Interpretation von Stücken des Plautus oder Terenz (in italienischer oder lateinischer Sprache) wurden auch viele neue Stücke in Auftrag gegeben. 1480 schrieb Angelo Poliziano (1454-1494), Erzieher der Söhne Lorenzo de’ Medicis (1449-1492), seine Fabula d’Orfeo, ein Theaterstück, in welchem sich pastorale und mythologische Welt vermischten. Der Halbgott Orpheus, der Ur-Dichter, der mit seinen Versen, die er musikalisch mit der Lyra untermalt, nebst allen Menschen und Tieren sogar den Herrn der Unterwelt betört, wird zum Helden in einem Schäferstück umfunktioniert. Das passt

9 ‚Verachtung’, ‚Nichtbeachtung’ (etwa: der Schwierigkeit nicht achtend)

10 ‚singendes Reden’ oder ‚beredter Gesang’

11 C. Monteverdi (1567-1643) sprach von der „nobile sprezzatura di canto“ im Sinne einer ungezwungenen, entspannten Leichtigkeit beim Singen – so, wie wenn man sprechen würde.

12 Achtzeilige Strophen von gereimten Elfsilblern (endecasillabi), entweder abababab oder abababcc, auch ‚Ottava rima’

13 Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung, Forderung nach Wahrscheinlichkeit

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ausgezeichnet, denn das ideale Leben arkadischer Hirten war ausgefüllt mit Musik und Liebe. Dieses Arkadien wollte der Hof auch für sich beanspruchen, und wenn die Höflinge Theater spielten, feierten sie sich selbst und ihren wunderbaren, nahezu perfekten, Cortigiano-imprägnierten Lebensstil. Das höfische Publikum begriff sich selbst als inszeniert, als ‚wie auf der Bühne’.

Wichtige Stücke entstanden an allen Höfen und massgebenden Zentren Italiens:

Mandragola 1518 in Florenz (Macchiavelli), La Calandria 1523 in Urbino (B.D. da Bibbiena), La Cortegiana14 1526 in Rom (Pietro Aretino), Aminta und Il Pastor Fido 1573 und 1585 in Ferrara (Tasso und Guarini15). Auch Ariosto musste für den Hof in Ferrara Stücke liefern. Er versuchte, eine eigene Form von Theater zu erarbeiten, experimentierte mit Prosaformen und Versformen und war sich der Neuheit durchaus bewusst. Im Prolog des Karnevalsstücks Cassaria (1508) schreibt er: „Nova comedia v’appresento, piena di vari giochi, che né mai latine né greche lingue recitarno in scena.“16 Er kam dann wieder ab von den Prosaformen, denn er wollte eine gehobene, aber trotzdem nicht allzu verstiegene ‚Bühnensprache’. So fand er in Lena (1528) zu seinen geläufigen Versen, indem er auf die ungereimten Elfsilbler (versi sciolti) zurückgriff, die in etwa den jambischen Blankversen entsprechen.

In den Schäferspielen eines Poliziano, Tasso oder Guarini gab es gesungene Partien, denn „wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“ (Luther17), und wenn ein Gefühl so stark wird, dass es nicht mehr mit Worten auszudrücken ist, muss man es aus sich heraussingen. Singende Menschen hinwiederum waren eigentlich undenkbar auf der Bühne, wollte man das Wahrscheinlichkeitsgebot Aristoteles’ befolgen.18 Gerade darum bot sich die Schäferwelt für den Gesang an, denn dort lebten keine normalen Menschen, sondern Götter, Halbgötter, Nymphen, Faune und idealische Hirten, die mit Menschen nichts gemein hatten, sondern reine Kunstprodukte waren.19

14 eine ironische Antwort auf den Cortigiano

15 Giovanni Battista Guarini (1538-1612)

16 Eine neue Komödie präsentiere ich euch, voll verschiedener Spässe, die weder in griechischer noch in lateinischer Sprache gegeben werden [sondern in ‚volgare’ sprich italienisch!].

17 Martin Luther (1483-1546): theoretischer Urheber und Lehrer der Reformation.

18 siehe auch Abschnitt 2.2

19 Darum eigneten sie sich auch zur Selbstdarstellung für den Adel, denn dieser stand über den anderen Menschen und verstand sich als Kunstprodukt.

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Als Letztes seien noch die Commedia dell’arte-Truppen erwähnt, die europaweit in Erscheinung traten. Sie setzten sich aus hauptberuflichen Schauspielern zusammen, und sie traten sowohl am Hof wie auch auf öffentlichen Plätzen auf. Personen und Handlungen ihrer Stücke waren stark typisiert, niedere Personen trugen Masken. Das Gewicht lag auf dem virtuosen Spiel mit der Sprache, das zu grossen Teilen aus Improvisation bestand und alle Schichten erfreute.20

I.2 Fazit:

1. Abgesehen von den Vademecums für Kunst und Leben lässt sich feststellen, dass die Renaissance-Zeit stark lyrisch geprägt war. Wie auch schon in der Antike wurden nicht nur die eigentliche Lyrik, sondern auch Theaterstücke und Heldenepen in Versen geschrieben, wobei allerdings zum Teil ein prosaischer, wirklichkeitsnäherer Ton angeschlagen wird (gerade bei Ariosto im Orlando Furioso).

2. Als gemeinsamen Tenor der verschiedenen literarischen Erscheinungen könnte man weiter angeben: Es ist nichts so, wie es scheint. Oder auch: Es soll nichts so scheinen, wie es ist. Oder auch: Wichtig ist einzig die Form, auf den Inhalt kann man sich eh nicht verlassen.

Und damit ist ein wichtiger Aspekt des Barockzeitalters genannt: Das Feiern der äusseren Form, des Dekors, das Sich-Berauschen am schönen Schein, um den wechselhaften Inhalt, den schwer in den Griff zu kriegenden Alltag, zu vergessen oder mindestens aufzuwerten.21

Des weiteren fällt auf:

3. Das Tragische an und für sich, die Verstrickungen des Menschen – wie sie zum Beispiel von Sophokles im Ödipus vorgeführt werden – finden wir selten.

Man forderte zwar die Aristotelischen Gesetze und versuchte, sich daran zu halten, aber die Schauplätze wurden in andere Welten verlegt – nach Arkadien, in die Ritterzeit, in die Kreuzfahrerzeit. Das ist natürlich heute noch ein beliebtes Stilmittel, es erlaubt eine gewisse Narrenfreiheit. Trotzdem glaube ich, dass bewusst vermieden wurde, den Finger direkt auf wunde Punkte zu legen. Die Kultur der Renaissance war zu artifiziell, auch die Umgangskultur. Tasso soll

20 Die Kunst der Commedia dell’arte hat sich bis heute erhalten und wird noch genauso geschätzt.

21 Im Grunde erinnert das sehr an die heutige Spassgesellschaft.

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„wegen seiner sehr offenen Art zu sprechen und seinem gewohnheitsmässigen Mangel an Takt“22 mit seinem Arbeitgeber, Kardinal Luigi d’Este, in Streit geraten sein, was dann zu seiner Entlassung führte.

In ihrer Dissertation weist Renate Döring23 ausdrücklich darauf hin, dass die Italiener sich damals bewusst von der klassisch-fatalen ‚tragodìa’ abwandten. Sowohl Ottavio Rinuccini (1562-1621), Mitglied der Camerata de’ Bardi und Textdichter der ersten

‚Opern’ (La Dafne/Euridice), als auch Fulvio Testi (1593-1646), einer der Bearbeiter der Alcina-Episode, betonen in ihren Prologen, dass sie die italienische Bühne vor blutigen Schreckensszenarien verschonen wollen:

Non sangue sparso d’innocenti vene, Ich singe nicht vom Blut, das Unschuldige vergossen, non ciglia spente di tiranno insano, nicht von durch kranke Tirannen Ausgelöschten, nicht spettacolo infelice al guardo umano, von dem menschlichen Blick unerfreulichen Szenen, canto su meste e lagrimose scene. nicht von düsteren und tränenreichen Bildern.

(Rinuccini, Euridice, 1600)

Ma d’ogni sangue immacolate, e puro Sondern unbefleckt von jeglichem Blute und rein Sian l’Italiche scene; e bastin solo seien die italienischen Bühnen; und um für den Per destare in altrui pietate, e duolo, Nächsten Mitgefühl zu wecken, mögen die nicht D’amante cor le non mortal sciagure. tödlichen Verletzungen eines liebenden Herzens (Testi, L’Isola D’Alcina, 1626) genügen.24

Ferner lesen wir bei Renate Döring:

Unglücklich endende Tragödien sind selten; noch seltener qualitativ hochstehende ernste Dramen überhaupt. Als grosse tragische Autoren gelten nur Federico Della Valle mit seiner „Reina di Scozia“ (1591 gedruckt), der „Judit“ und der „Ester“, auf die Croce aufmerksam gemacht hat, und Carlo de’Dottori mit seinem „Aristodemo“ (1657 gedruckt).25

Vielleicht war dieses Fehlen tatsächlicher Tragödien mit ein Grund für die beabsichtigte Wiederbelebung der griechischen Tragödie. Vielleicht erhofften sich die Camerata- Mitglieder eine Rückkehr zu mehr Ernsthaftigkeit. Jede Generation ist doch der Meinung, die nächste denke nur an ihr Vergnügen und verliere die ‚wahren Werte’ aus den Augen. Seltsam nur, dass dann die ersten Opern nicht einen Ödipus oder eine Antigone zum Inhalt hatten, sondern eine Dafne, Euridice, einen Orfeo. Aber, wie oben schon angedeutet, ergaben sich für den auf der Bühne singenden Menschen noch

22 http://de.wikipedia.org/wiki/Torquato_Tasso, abgerufen am 18.09.2009

23 Döring, Renate: Ariostos „Orlando Furioso“ im italienischen Theater des Seicento und Settecento.

Hamburg: 1973. vgl. S. 53

24 Wenn nicht anders vermerkt, stammen sämtliche Übersetzungen von der Autorin (F. Bolli)

25 Döring: S. 54.

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andere Probleme, zu deren Lösung es ratsam war, erst mal klein anzufangen und jene Figuren singen zu lassen, die durch diese ungewöhnliche Ausdrucksweise nicht an Glaubwürdigkeit verloren: Nymphen, Geister, Göttergestalten.

1.3 Il ‚recitar cantando’26

Der andere Gedanke, den singenden Menschen glaubwürdiger erscheinen zu lassen, war der, eine Singweise zu entwickeln, die dem natürlichen Sprechen möglichst nahe kam. Der Held auf der Bühne sollte zwar singen, weil man sich die antiken Tragödiendarsteller eben singend vorstellte, aber die Wirkung sollte so sein, als ob er sprechen würde. So ist das Rezitativ entstanden, das wir bis heute kennen. Man wählte eine Verskombination27, die dem Librettisten grösstmögliche Freiheiten gestattete, die

‚versi sciolti’, ungereimte Endecasillabi und Settenari (Elfsilbler und Siebensilbler), die sich frei abwechselten. Abgesehen von den Chören bestanden die ersten Opern von Anfang bis Ende aus solchen Rezitativen. Dieser Singsang wirkte bald einmal monoton, darum wurden instrumentale Musikteile zur Auflockerung eingestreut. Mit der Zeit wurde das Rezitativ stärker strukturiert und es mutierte zu vorwärts drängenden handlungstragenden Rezitativteilen einerseits und zu prägnanten retardierenden Sentenzen andererseits, woraus sich dann die Arien entwickelten.

1.3.1 Monteverdis Orfeo und Händels Alcina

Der grosse Claudio Monteverdi (1567-1643) spürte von Anfang an die Schwächen und Stärken der neuen Gattung ‚Oper’, experimentierte ohne Hemmungen, indem er frei über alle vorhandenen musikalischen Elemente verfügte und sie auf geniale Art neu zusammenwürfelte. So war schon sein Orfeo (1607) wesentlich abwechslungsreicher als alle Opernversuche davor, und seine letzte Oper, L’Incoronazione di Poppea (1642), liess die pastoralen Gefilde bereits hinter sich und befasste sich mit hautnah menschlich-allzumenschlichen Verwirrungen, wenn auch auf Herrscherebene.

Monteverdis Opern bestehen, wie oft bemerkt wurde, aus weitgehend heterogenen Formen, von denen viele auf zwei Jahrhunderte musikalischer und musikdramatischer Entwicklung zurückblicken können, „so ist Orfeo auch weit weniger ein >erstes Werk< einer neuen Gattung als die genial unbekümmerte Mischung verschiedenster musikalischer Elemente: zwar ist das Stück [...] eine >favola pastorale< wie Peris inhaltsverwandte >Euridice<, aber anders als der Florentiner, der sich im monodischen Prinzip verrannte, verwendet Monteverdi die

26 das ‚singende Sprechen’

27 Fazit 1

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unterschiedlichsten musikalischen Formen und Genres. Neben der rezitativischen Monodie in den berichtenden und dialogischen Partien finden sich Madrigale für die Hirtenchöre, instrumentale Vorspiele und Ritornelle, die nach dem Muster der Balletti gestaltet sind, und schliesslich gross angelegte, ausgezierte Arien.“ 28

L’Orfeo ist im Übrigen gerade mit Blick auf Händels Alcina nicht uninteressant, können wir doch bei Gerhard Scheit Folgendes lesen:

Die Götter stellen Orfeo vor eine Prüfung, als wären sie selbst an einer allzu engen Liebe zwischen Mann und Frau nicht interessiert. Die Schuld, die Orpheus trägt, ist denn auch der von Corneilles und Shakespeares Liebhabern geradezu entgegengesetzt: „Così per troppo amor dunque mi perdi“ (So verlierst du mich aus übergrosser Liebe), singt Eurydike (Akt IV). Orpheus besit zt zu wenig Tugend, um auf ihren Anblick auch nur eine Zeitlang zu verzichten. „Ciò che vieta Pluton, comanda Amore. / A nume più possente, / Che vince uomini e dei, / Ben ubbidir vorrei [...] S’arman forse a’ miei danni / Con tal furor le Furie innamorate / Per rapirmi il mio ben? Ed io l consento?“ (Was Pluto verbietet, befiehlt die Liebe / Einem so mächtigen Gott, / der Menschen und Götter besiegt, / muss auch ich gehorchen [...] Rüsten vielleicht die liebestollen Furien / gegen mich und versuchen voll Wut / mir meinen Schatz zu rauben? Und ich dulde es?)

[...]

„È la virtute un raggio / Di celeste bellezza, / Pregio dell’alma ond’ella sol s’apprezza. / Questa di temp’oltraggio / Non teme, anzi maggiore / Nell’uom rendono gli anni il suo splendore. / Orfeo vinse l’Inferno e vinto poi / Fu dagl’affetti suoi.“ (Die Tugend ist ein Strahl / von himmlischer Schönheit; / sie ist die Zierde der Seele und nur ihr eigen; / sie fürchtet die Zerstörung der Zeit nicht, / vielmehr machen die Jahre ihren Glanz im Menschen heller. / Orpheus besiegte die Hölle und wurde dann von seiner Leidenschaft besiegt.) Man könnte meinen, die Oper sei zur Selbstkritik der Liebe geschaffen worden. Orfeo t reibt einen hybriden Gefühlskult – und die Wurzel dieser Masslosigkeit ist seine Liebe zu Euridice: ihr ist er bedingungslos verfallen; sie stellt für ihn einen Wert von solch exzeptioneller Bedeutung dar, dass er sein ganzes Sein durch sie definiert.29

Es geht hier, wie auch in Händels Alcina (und expliziter noch in Ariosts Orlando Furioso), um das Ungleichgewicht zwischen Tugend und Liebe. Ganz eindeutig gilt das in Alcina für Ruggiero, aber auch für Alcina: dass sie sich bedingungslos in Ruggiero verliebt, bedeutet ihren Untergang. Ihre Zauberwelt funktioniert nicht mehr, wenn zuviel Gefühl aufkommt.

In der Oper wird mehrmals betont, dass sowohl Ruggiero als auch Alcina es keinen Augenblick ohne einander aushalten:

„Dove fisso ne’ miei rai, sospirando al sospir mio, mi dicesti con un sguardo: peno, ed ardo al par di te.“

(Wo du, an meinen Augen hängend, mit Seufzern auf meine Seufzer antwortetest, mir mit einem Blick sagtest: ich leide und ich glühe, wenn ich dich anschaue. – I,3: Arie Alcina Di’ cor mio, 2.

Strophe)

„Il caro bene, che m’innamora, a me non viene? Non torna ancora? Che fa? Dov’è?“

(Mein lieber Schatz, in den ich so verliebt bin, kommt nicht zu mir? Was macht sie? Wo ist sie? – I,4: Arie Ruggiero Di te mi rido, 2. Strophe)

28 Scheit, Gerhard: Dramaturgie der Geschlechter. Über die gemeinsame Geschichte von Drama und Oper. Frankfurt/Main: Clausen & Bosse, 1995. Seite 61

29 ebd: S. 62. [Hervorhebung durch die Autorin]

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„La cerco invano, e la crudel non torna.“

(Ich such sie vergeblich, und die Grausame kehrt nicht zurück. – I,8: Rez. Rugggiero)

„Vanne; ma sia per poco: ma pensa al mio martiro. Temo; partir ti lascio, e ne sospiro. „

(Geh; aber bleib nicht lange weg: denk an meine Qualen. Ich habe Angst: ich lass dich fortgehen und verzehre mich. – II,6: Rez. Alcina)

„T’amo tanto; puoi lasciarmi sola in pianto, oh dèi! Perché?“

(Ich liebe dich über alles; und du bringst es über dich, mich allein zu lassen mit meinem Weinen, Oh Götter! Warum? – II,8: Arie Alcina Ah! mio cor!, 1. Strophe)

„Secondate i miei voti, perché Ruggiero amato non fugga da me ingrato.“

(Unterstützt meine Beschwörungen, damit der undankbare Ruggiero, den ich so liebe, nicht von mir flieht. – II,13: Rez.Accomp. Alcina Ah! Ruggiero crudel.)

„Ahimè! Ruggiero, è ver, che m’abbandoni? – E non pensi, mio caro, al mio dolore? – E scordar tu mi puoi, mia cara speme? – (O weh! Ruggiero, ist es wahr, dass du mich verlässt? Und du denkst nicht, Lieber, an meinen Schmerz? – Und du kannst mich vergessen, du meine Hoffnung? – III,2: Rez. Rugg.–Alc.)

Monteverdis Orfeo, eine der ersten Opern überhaupt und ein Meisterwerk, ist in vieler Hinsicht wegweisend für alle folgenden Opern. Es wäre aber falsch zu behaupten, Händel hätte sich bei der Konzeption von Alcina an Monteverdi orientiert. Händel übernahm die Alcina-Episode dem Vorläufer-Libretto von Antonio Fanzaglia, das Riccardo Broschi, Bruder des berühmten Farinelli, komponiert hatte30, und dieser hatte sie von anderen Vorläufern übernommen, und alle diese Vorläufer hatten sie dem Orlando Furioso von Ariosto entnommen.31 Der Konflikt zwischen Tugend und Liebe ist der Grundkonflikt des ganzen Epos. Dass im Verlaufe von rund 200 Jahren viele Opernkomponisten einen Stoff mit dieser Problematik zur Vertonung wählten, auch so herausragende wie Monteverdi und Händel, beweist nur, dass sie ein sicheres Gespür für operngerechte Stoffe hatten und dass solche im Orlando Furioso zu finden sind.

1.4 Rezitativ und Arie

Die Makroform der Oper richtete sich nach der klassischen Dramenform: es gab fünf, später drei Akte, aufgeteilt in unterschiedlich viele Szenen, mit dem Auftritt einer neuen Person beginnt eine neue Szene.

Die charakteristische Mikroform der Oper bestand aus regelmässig abwechselnden Rezitativen und Arien. Wie schon erwähnt, packte man die Handlung in die Rezitative

30 A. Fanzaglia / R. Broschi: L’Isola d’Alcina. Rom: 1726.

31 siehe auch Abschnitt 5.2

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und kommentierte diese dann in einer Arie. Während der Dauer der Arie stand also die Zeit sozusagen still, und der Sänger gab über sein Befinden Auskunft, seine Gefühle, seine Sicht der Dinge. Mit der Zeit setzte man die Arien vor allem an den Schluss einer Szene.32 Dann konnte danach ausgiebig geklatscht werden und der Fluss des Stückes wurde nicht dauernd noch zusätzlich durch Zwischenapplaus aufgehalten. Die Arien bestanden meist aus zwei Vierzeilern und waren gereimt, wobei kürzere Versformen bevorzugt wurden.

Während die Rezitative musikalisch sehr sparsam begleitet wurden, da sie möglichst verständlich sein sollten, regierte in den Arien die Musik.33

Weil das italienische Publikum schönen Gesang überaus liebte und nach einer besonders gelungenen Arie ein ‚da capo’ zu verlangen pflegte, entstand daraus mit der Zeit die Verpflichtung, im da capo-Teil den A-Teil (die erste Strophe) der Arie möglichst kunstvoll zu variieren. Die verschiedenen und improvisatorisch verschieden begabten Sänger wetteiferten in ihren ‚da capos’ um die Gunst des Publikums bis zum Gehtnichtmehr, sodass erst die Qualität und schliesslich der Ruf der Oper darunter sehr litten.34

Zumal in England. Dort war es die gebildete und informierte Oberschicht gewesen, die an ihren Theatern unbedingt auch die hochgejubelte ‚italienische Oper’ sehen wollte, und im Zusammenhang mit der in England früh einsetzenden Demokratisierung war schon allein die Tatsache, dass auf englischen Bühnen ausschliesslich italienisch gesungenen wurde, nicht unproblematisch.

32 sog. ‚Abgangsarien’

33 Apostolo Zeno (1668-1750) und Pietro Metastasio (1698-1782), beide Mitglieder des 1690 in Rom zur Bekämpfung der Künstlichkeit der Poesie gegründeten Dichterzirkels ‚Accademia dell’Arcadia’, räumten endgültig auf im vorher chaotischen Opernlibretto und gaben für die nächsten Jahrzehnte die für die

‚opera seria’ gültige Form an. Wichtigste Bestandteile waren die rigide, auch optisch erkennbare Trennung von Rezitativ- und Arienstrophen, eine sehr einfache Sprache mit sogenannten Schlagwörtern und das ‚lieto fine’, insgesamt ein verpflichtendes Angebot an die Komponisten, eine ganz bestimmte Art von Musik zu schreiben, die vor allem auch der Virtuosität der Kastraten entgegenkam.

34 Dieser Unsitte kamen sodann die ‚Pasticci’ entgegen, eine auf die Spitze getriebene Form der Nummernoper, wo kaum mehr eine Handlung existierte, sondern beliebte Arien von zum Teil verschiedenen Komponisten aneinandergereiht wurden, ‚Opernmedleys’ oder Opernrevuen würde man heute sagen.

(17)
(18)

18 2.1 Epos, Oper und Drama

Wir stellen fest, dass es Gemeinsamkeiten gibt zwischen 1. Epos und Oper

2. Epos und Drama 3. Oper und Drama

4. Epos, Oper und Drama.

Das fett oder kursiv Gedruckte bezeichnet die Gemeinsamkeiten zwischen zwei Gattungen, das fett und kursiv Gedruckte diejenigen zwischen drei Gattungen.

Oper und Drama übernehmen die Stoffkreise aus der Epik und führen deren Mündlichkeit in gewisser Weise fort: die Darstellung auf einer Bühne ist eine gesprochene oder gesungene, jedenfalls mündliche Vermittlung, unterstützt durch mannigfaltige aussersprachliche Elemente.

Der gravierende Unterschied zwischen Epos und Oper besteht darin, dass im Epos die Sprache das Wichtigste ist und gar nicht ausführlich und glanzvoll genug sein kann, wogegen sie in der Oper einfach, schlagwortartig und möglichst knapp sein muss. Sie bleibt dadurch weit unter ihren Möglichkeiten. Das Drama steht bezüglich der Sprachgewichtung etwa dazwischen. Es ist nicht so ausufernd wie ein Epos, weil ein Theaterstück zeitlich begrenzt ist, aber es ist sprachlich viel reicher als ein Operntext.

Dieser bietet für das Gesamtkunstwerk Oper nur das sprachliche Gerüst, voller Lücken und Nischen, in welchen sich die Musik breit machen und einen Grossteil der fehlenden oder zusätzlichen Informationen liefern soll.

Die Gattung der Oper ist viel jünger als die beiden anderen Gattungen, entstanden, wie wir wissen, aus dem berühmten ‚Missverständnis’ um 1600 in Florenz. Sie stellt eine völlig neue Form der Kulturvermittlung dar, obwohl sie eigentlich die antike Tragödie hätte wiederaufleben lassen sollen. Es fällt indessen auf, wie viel die drei Gattungen gemeinsam haben. Es scheint, als ob die kulturellen Grundbedürfnisse des Menschen sich in einem frühen Stadium in zwei Formen geäussert hätten, nämlich in der erzählenden und der darstellenden Form, im Epos und im Schauspiel oder Drama.40 In der Oper haben sich die zwei Formen vermengt, und dies funktionierte unter anderem, weil die Musik dramaturgische Aufgaben übernahm.

40 ‚stile narrativo’und ‚stile rappresentativo’

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19 2.2 Zwei grundlegende Äusserungsformen

Von der Musik haben wir bisher noch gar nicht gesprochen, so wenig wie von der Lyrik im Besonderen, obwohl sowohl Epos als auch Oper und Drama lyrisch geprägt sind.

Musik und Lyrik gehören zusammen, und zwar in dem Sinne, als das aus dem Griechischen entlehnte Wort „Lyrik“ soviel heisst wie ‚Dichtung, dargeboten mit Untermalung der Lyra’. Singen und (Auf-) Sagen waren in den Anfängen nicht getrennt.

Man streitet sich bis heute, ob Singen oder Sprechen die erste Äusserungsform des Menschen war.

Cantare e parlare, nel rispettivo senso primigenio di articolare suoni vocali non necessariamente significanti e di pronunciare parole dotate di significato preciso, rimangono comunque due atti di natura profondamente diversa, che rispondono a due ben diverse esigenze espressive dell’uomo. Eppure è altrettanto vero che nel corso della storia, [...] le due sfere non sono mai riuscite davvero a rimanere separate, tendendo semmai a convergere l’una nell’altra e ad interagire in ogni maniera possibile e immaginabile. È forse proprio da questa reciproca attrazione magnetica, dall’inevitabile unione delle due primordiali necessità espressive, che è sorta una terza esigenza, magari più sofisticata ma non meno radicata nella natura umana: quella di „cantare le parole“, ovvero di pronunciare le parole in modo da rivelarne-amplificarne-svilupparne ulteriormente le „intrinseche proprietà musicali“. 41

Singen und Sprechen, im ursprünglichen Sinn einerseits das Artikulieren von stimmlichen Lauten, die nicht notwendigerweise eine Bedeutung haben, und andererseits das Aussprechen von Wörtern mit einer präzisen Bedeutung, bleiben in jedem Fall zwei Akte grundsätzlich verschiedener Natur, die zwei sehr verschiedenen Ausdrucksbedürfnissen des Menschen entsprechen. Und doch ist es ebenso wahr, dass im Laufe der Geschichte [...] die beiden Sphären sich nie wirklich auseinanderhalten liessen, da sie tendenziell aufeinander zuliefen und in allen möglichen und unvorstellbaren Arten interagierten. Und vielleicht hat sich gerade aus dieser gegenseitigen magnetischen Anziehung, aus der unvermeidlichen Vereinigung der zwei Grundbedürfnisse des Sich-Äusserns, ein drittes, vielleicht ausgeklügelteres, aber nicht weniger in der menschlichen Natur verwurzeltes Bedürfnis entwickelt: jenes „Singen der Worte“, oder auch: die Worte so ‚auszusprechen’, dass die „ihnen innewohnende Musikalität“ enthüllt- offengelegt-weiterentwickelt wird.

Von daher ist eigentlich nicht zu verstehen, dass ein singender Mensch auf der Bühne in den Anfängen der Oper erst mal ein Problem darstellte. Aber man hat sich noch selten nach der Natur gerichtet, wenn es darum ging, Kunst zu definieren. Nur im allerursprünglichsten Sinn von ‚mimesis’ schwingt mit, dass es dem Menschen angeboren ist, die Natur nachzuahmen. Schon Aristoteles meinte in seiner Poetik mit

‚mimesis’ nicht das Kopieren von Natur, sondern etwas schaffen, dass so wahrscheinlich ist wie die Natur (oder das Wirkliche).

41 La Via, Stefano: Poesia per musica e musica per poesia. Dai trovatori a Paolo Conte. Carocci ed.

Roma, 2007. Seite 25

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20 Ich rekapituliere:

Anfänglich sind Singen und Sagen ganz nahe beieinander. Das Baby gibt sowohl Laute von sich, um seiner Missstimmung oder seiner Lust Ausdruck zu verleihen, und es gibt auch Laute von sich, die etwas ganz Bestimmtes bezeichnen sollen. Es verfügt demnach über Lautbildungen für Emotionales und über Lautbildungen für Rationales, die dann im weiteren Verlauf des Lebens getrennt bleiben, aber, so La Via, immer irgendwie zusammenarbeiten. Denn ein Sprechen ohne Klang ist nicht möglich, und so bedient sich die Sprache auch der Möglichkeiten, welche die Klanglichkeit anbietet.42, Auch wenn man die Oper ausklammert, kann man in der Musikgeschichte verfolgen, wie sich die Liaison von Wort und Ton bis zum heutigen Tage immer wieder verändert und weiterentwickelt. Im Falle der Oper hat sie sich zusätzlich noch mit den Besonderheiten der Bühne zusammengetan, mit dem ‚Dramatischen’, der Ausstattung, den Kostümen, dem Tanz und dem Orchesterapparat. Dass daraus etwas völlig Neues, Eigenes entstanden ist, ist kein Wunder.

2.3 ‚dramma per musica’

Die neue Gattung Oper hatte von Anfang an einen schwierigen Stand. Da sie aus der Idee der Wiederbelebung der griechischen Tragödie hervorging, wurde sie folgerichtig

‚dramma per musica’ genannt und auch an den aristotelischen Forderungen an die Tragödie (das Drama) gemessen43.

Das Musikdrama wurde in den verschiedenen europäischen Nationen nachhaltig durch die jeweilige Position des gesprochenen Dramas beeinflusst und geprägt. In Italien gab es während der Entwicklungs- und Frühphase der Oper keine bedeutende zeitgenössische Dichtung für die Sprechbühne, die mit Libretti konkurrieren – oder ihnen gar zum Vorbild dienen konnte. Der Zeitraum zwischen den Schaffensjahren Tassos und Goldonis war in Italien durch eine weitgehende Stagnation der Entwicklung im Bereich des Sprechdramas gekennzeichnet. Dieser Einbruch wurde durch das Erblühen der Musiktragödie teilweise ausgeglichen: Libretti waren zwar keine selbständigen Werke, da sie nicht von der Musik losgelöst, sondern immer mit ihr zusammen aufgeführt wurden, aber als literarische Beurteilungskriterien galten für sie wie für das gesprochene Drama bindende Grundsätze der antiken Tragödientheorie.44

Libretti durften zwar keine Dramen sein, mussten sich aber an die Regeln des Dramas halten.

42 Man denke nur an all die klangmalerischen Wörter

43 Einheit von Ort, Zeit, Handlung / Wahrscheinlichkeitsforderung

44 Bittmann, Anne-Rose: Die Kategorie der Unwahrscheinlichkeit im opernästhetischen Schrifttum des 18.

Jh. Frankfurt: Verlag Peter Lang, 1992. Seite 179

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Einerseits wurde der Versuch, die Stagnation im Bereich des Sprechdramas durch die Pflege der Oper auszugleichen und aufzuwiegen, von Kritikern, die allein das gesprochene Drama anerkannten, verworfen; andererseits bildete sich eine avantgardistisch orientierte Gegenpartei in Literaturkreisen, die dem Musikdrama eigene Regeln und Massstäbe zubilligte. Grundlegende Merkmale, die das gesprochene vom gesungenen Drama unterschieden, waren Elemente des Wunderbaren und Unwahrscheinlichen, idyllische und bukolische Motive, der Vorrang von Liebesromanzen vor Haupt- und Staatsangelegenheiten und das „lieto fine“.45

Gerade die Merkmale des Operntextes, die für einen Dramentext nicht zulässig waren, bestimmen ihn nun.46 Das macht durchaus Sinn, weil eben Wunderbares, Unwahrscheinliches, idyllische und bukolische Motive sowie Gefühlsverwirrungen mit musikalischen Mitteln bestens zu vermitteln sind. Pastorale Motive waren immer schon in der Nachbarschaft von Musik angesiedelt (der musizierende Hirte etc.), Wunderbares und Unwahrscheinliches ist oft nicht mehr sagbar, also dialogisch schlecht auszudrücken, jedoch sehr wohl durch Musik. Musik übernimmt demnach dort eine dramatische Funktion, wo die Sprache versagt. Also kann man nicht sagen, die Musik werde nachträglich als Zugabe über einen Dramentext gestülpt, der unabhängig von ihr bereits existiere, sondern die Musik bringt das Drama – eine besondere Art von Drama – erst hervor, indem sie für Unsagbares neue, der Sprache nicht zugängliche Möglichkeiten eröffnet.47

Bedenkt man aber, dass die Seccorezitative nur in geringem Masse Musik sind, jedoch durch und durch ‚dramatisch’, „kann man bei der opera seria von einem Drama, das durch Musik konstituiert wird, erst sprechen, wenn es gelingt, die Arien, statt sie als isolierte lyrische Momente aufzufassen, aufeinander zu beziehen und zwischen ihnen einen Zusammenhang zu entdecken, den man – ohne dem Wortsinn Gewalt anzutun – dramatisch nennen kann“.48

Nach P. Szondi49 bildet der Dialog als Medium zwischenmenschlicher Auseinandersetzung die Grundstruktur des europäischen Dramas. Für die Konstituierung des musikalischen Dramas des 17. und 18. Jahrhunderts ist der Dialog jedoch nicht ausschlaggebend. Er ist auf ein Minimum beschränkt und hat eher Krückenfunktion als statische Bedeutung. Also muss es in der Oper ein anderes tragendes Prinzip geben.

45 ebd: S. 182

46 „Die sogenannte ‚Unvernunft’ der Oper ist die besondere ‚Vernunft’ des Genres, schade wärs, hätte sie sie nicht und kopierte stattdessen schale Realitätsnähe.“ (E. Kröplin, zitiert in: Sauerzapf, Dörte:

Untersuchungen zur Dramaturgie und Wirkungsweise der Opern Georg Friedrich Händels zwischen 1733 und 1735, dargestellt an „Ariodante“ und „Alcina“. Halle: Dissertation 1991. S.17)

47 vgl. Dahlhaus, C.: Vom Musikdrama zur Literaturoper. Aufsätze zur neueren Operngeschichte.

München: Katzbichler, 1983. ab S. 467

48 Dahlhaus: S. 546

49 Peter Szondi (1929-1971): herausragender Lit.wissenschaftler, Kritiker, Übersetzer und Essayist

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Es liegt nahe, statt der Form des Dialogs die Konfiguration der Personen, zwischen denen sich ein Drama ereignet, als für die Oper wichtig zu erachten. In meinem Referat zum Händel-Seminar hatte ich gezeigt, wie in Alcina am Anfang die Personen eingeführt werden: Bradamante und Melisso, die beiden ‚Erlöser’, verlassen die Bühne nicht eher, als bis alle Protagonisten vor ihnen erschienen sind und sich mit einer Arie – nicht in einem Dialog – vorgestellt haben. Es ging im Referat um die Organisation von Opern in Einzelszenen oder in Szenensequenzen. Bei beiden Formen fällt auf, dass sich die Charakterisierung der Protagonisten nicht im Dialog herausschält, sondern durch ihre jeweiligen ‚Monologe’, denn die Arien sind nichts anderes als Monologe. Wobei es höchst bestrickend ist, dass ein Monolog ja auch eine Art Dialog ist, nämlich ein Dialog mit sich selbst, genauer, mit den sich widerstreitenden Gefühlen in sich selbst.

Die Dialoge, die in der Oper in den Rezitativen stattfinden, bleiben musikalisch blass und die Monologe oder Arien sind musikalisch übergewichtig, der Akzent verlagert sich demnach vom Dialog auf „eine Konfiguration von Monologen, in denen Affekte als Tiefenstruktur des Dramas, das sich zwischen den Personen ereignet, musikalisch manifest werden und gewissermassen tönend zu Tage treten.“50

Das klassische Drama steht für die Überzeugung, dass sich alles Wesentliche durch Worte ausdrücken lässt, in der Oper wird ein tiefgreifender Zweifel an der Sprache spürbar.

Eine Personenkonfiguration als Drama von Affekten erscheinen zu lassen, ist das Stilisierungsprinzip, das die Oper der dargestellten Handlung auferlegt, ebenso wie die Dialogisierung menschlicher Konflikte das Stilisierungsprinzip des Schauspiels ist.51

Begreift man aber die musikalisch-szenisch vergegenwärtigten Affekte und Affektkonflikte, die sich in Arien, Duetten und Ensembles ausdrücken, als das „eigentliche“ musikalische Drama, so sollte die dramaturgische Analyse einer Oper nicht davon ausgehen, wie eine erzählbare Handlung sich in Musik reflektiert, sondern gerade umgekehrt zu zeigen versuchen, wie eine primär musikalisch, als Drama der Affekte konstituierte Handlung sich auf eine Fabel oder Intrige stützt, um szenische Gestalt anzunehmen.52

Eine Oper kann man eigentlich nicht erzählen, indem man den Inhalt des Librettos zusammenfasst. Der Inhalt wird von der Form des Textes in die musikalisch begründete

50 Dahlhaus, S. 547

51 ebd: S. 548

52 ebd: S. 467

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Form der Oper transformiert, „ohne dass er für sich, als reiner Inhalt in irgendeiner Weise greifbar und erzählbar wäre.“53

Die Fabel, die einer Oper zugrundeliegt, existiert nicht unabhängig von der Musik: Als Fabel des Librettos für sich ist sie nicht die der Oper als eines musikalischen Dramas.54

Die Originalfabel ist normalerweise chronologisch organisiert, die Oper ist durch und durch gegenwärtig, da Musik ortgebunden und augenblicksbezogen ist. Vorgeschichte oder verdeckte Handlung müssen ‚irgendwie anders’ vermittelt werden. Sucht ein Librettist einen operngerechten Stoff, achtet er auf szenisch ergiebige Situationen in der Originalfabel, die dann auf der Bühne grosse Präsenz erhalten können und an denen alles andere ‚aufgehängt’ oder beigemischt werden kann. Jede dieser Szenen wird von einer Arie beherrscht werden, und die Zusammenstellung dieser Arien ist von grösster Wichtigkeit, da durch einen geschickten Ablauf die Spannung beeinflusst wird.55 Es geht ferner um die Auswahl der genau richtigen Wörter, die in die knappen Rezitative aufgenommen werden. Das fertige Libretto ist jedoch noch kein Drama, sondern soll erst durch die Musik dazu werden. Aber auch mit Text und Musik haben wir noch keine Oper, sondern nur die Vorlage für eine Oper. Erst durch die Verwirklichung auf der Bühne – die In-szenierung – entsteht die Oper tatsächlich. Und nur für die Dauer der Aufführung ist sie wahrnehmbar.

Kommen wir nach all diesen Überlegungen auf Händels Alcina zurück:

In den Transformationen I56 und II57 werde ich von diesen Mechanismen sprechen. Was Ariost dialogisch aufgefächert erzählt hat, haben Händel und sein Librettist in

‚monologische’ Arien umgesetzt, haben einen klugen, äusserst knappen Rezitativtext geschaffen und sich genaueste Bühnenanweisungen überlegt, die einen nicht unerheblichen Anteil zum Verständnis der Vorgänge leisten.

53 ebd: S. 553

54 ebd: S. 554

55 Sauerzapf: „Der Komponist ist mit der Wahl und der Vertonung eines Stoffes der erste Interpret der Dichtung. Das Verhältnis zwischen Dichtung und Musik ist das Grundproblem der Oper überhaupt.“

(S. 15)

56 Abschnitt 5.5

57 Abschnitt 5.6

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24 3. Notwendige Informationen

3.1 Ludovico Ariosto

Ludovico Ariosto wurde 1474 in Reggio nell’Emilia als Sohn eines Hofbeamten der Familie Este geboren und starb 1533 in Ferrara, nachdem er – eher widerwillig – verschiedenen Estes als Diplomat, Berater und Hofdichter gedient hatte. Wann immer er eine Möglichkeit fand, widmete er sich dem Schreiben. Er schrieb Lyrik, Satiren und Komödien, sein Hauptwerk aber war das umfangreiche Epos Orlando Furioso, dem er sich von 1505 bis 1532 widmete.58 Dieses Werk ist nicht mehr eine Hofdichtung im engeren Sinne, sondern ein erstes Beispiel eines literarischen Werkes, das für den Druck bestimmt war, das heisst, es wurde eine möglichst grosse Verbreitung angestrebt. Mit der ersten Niederschrift begann Ariost zwischen 1504 und 1506, eine erste Ausgabe erschien 1516, eine zweite 1521 und eine dritte 1532, wobei der Autor selbst sein Werk dauernd überarbeitete. Der Erfolg war überwältigend. Noch im gleichen Jahrhundert und auch in den folgenden wurde es in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im deutschen Sprachraum wurde das Werk jedoch weniger rezipiert, eine erste Teilübersetzung von Diederich von dem Werder erschien genau ein Jahrhundert nach dem Original (1632–36). Lange Zeit wurde es als ‚Märchen’ gelesen, um dem Alltag zu entfliehen. Im 19. Jahrhundert interpretierte Hegel es als ein Werk, das bewusst eine historische Epoche verabschiedete – das Mittelalter mit seinem Rittertum.

Im 20. Jahrhundert hat es Benedetto Croce59 so verstanden, dass es eine vergangene Epoche in neuer Frische vergegenwärtigt und dabei sowohl die positiven wie die negativen Aspekte aufleuchten lässt. Ariost selbst hatte damals seinem Verleger in Venedig geschrieben, dass die einzige Absicht des Werkes darin bestünde, die Herrschaften, die sich damit befassten, zu erfreuen.

58 Siehe auch Abschnitt 1.1

59 Benedetto Croce (1866–1952): Italienischer Philosoph, Humanist, Historiker, Politiker, Kunsthistoriker und Kritiker

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25 3.2 Georg Friedrich Händel

Georg Friedrich Händel wurde 1685 in Halle im Herzogtum Magdeburg geboren und starb nach einem arbeits- und erfolgreichen Musikerleben 1759 als englischer Staatsbürger in London. Sein Vater war Hofchirurg und hatte für seinen Sohn die Laufbahn eines Juristen im Sinn. Doch der Herzog erkannte schon früh das ausserordentliche Talent des Jungen und überzeugte den Vater, ihn musikalisch ausbilden zu lassen. Bis 1702 blieb Händel in Halle, 1703 ging er erst als Geiger und später auch als Cembalist nach Hamburg an die florierende erste deutsche Oper am Gänsemarkt und arbeitete mit wichtigen Leuten wie Reinhard Keiser60 und Johann Mattheson61 zusammen. In Hamburg wurde 1705 seine erste Oper Almira mit grossem Erfolg uraufgeführt, und zwar in einem Gemisch aus deutscher und italienischer Sprache, wie es in deutschen Landen damals üblich war. 1706 begab er sich zu Bildungszwecken auf eine erste Italienreise, traf viele wichtige Musiker und wurde überall auch als solcher wahrgenommen. In Florenz und Venedig brachte er eigene Opern zur Uraufführung (Rodrigo und Agrippina), in Rom ein erstes Oratorium (Il Trionfo del Tempo i del Disinganno), das er später noch zweimal überarbeiten wird, ein letztes Mal 1757. 1709 wurde er Kapellmeister mit Spezialbedingungen am Hannoverschen Hof, das heisst, er erlaubte sich, gerne und oft zu verreisen. 1710 ging er nach London, wo er 1711 mit Rinaldo reüssierte. Im Juni 1712 kehrte er nach Hannover zurück, um im Oktober wieder nach London zu entwischen.62 Abgesehen von verschiedenen Reisen blieb er dort bis zu seinem Lebensende.

Für den Realisten Händel war der Wechsel vom Kontinent nach England so etwas wie der Sprung vom Mittelalter in die Neuzeit. In London, wo er sich im Herbst 1712 niederliess [...], war gerade die Pressezensur abgeschafft worden, wichtige Staatsverträge stärkten die Errungenschaften der parlamentarischen Demokratie, und die anglikanische Staatskirche widersetzte sich kaum den Prinzipien des aufklärerischen Rationalismus; sie sah das Fortkommen des Bürgers im Geschäftsleben mit Wohlgefallen – und Händel stürzte sich als Operndirektor ins Geschäftsgetümmel. Dreimal scheiterte er dabei, aus den verschiedensten Gründen, ohne jedoch – wie es die Legende will – jemals Bankrott zu machen. Einer der Gründe für sein geschäftliches Scheitern ist in der Kehrseite anglikanischer Staatskirchen-Liberalität zu sehen: dem Puritanismus in Fragen der Moral. So wurden die italienischen Opernkastraten immer wieder moralisch attackiert, aber getroffen wurde damit die >Opera seria< selbst. Nach seinem dritten Scheitern und dem ersten Schlaganfall im Jahre 1737 versuchte Händel noch vier Jahre

60 Reinhard Keiser (1674-1739): Deutscher Komponist und Opernproduzent in Hamburg.

61 Johann Mattheson (1681-1764): Deutscher Komponist, Sänger und Musikschriftsteller in Hamburg.

62 Sein Arbeitgeber Georg Ludwig von Hannover folgte ihm nach London, weil er dort 1714 als König Georg I. den englischen Thron bestieg.

(26)

26

lang, der italienischen Oper in London ein Heimatrecht zu erwirken: vergebens. Dann wandte er sich endgültig dem Oratorium zu.63

Von Händel sind 38 Opern überliefert. Der englische Musikwissenschaftler Winton Dean (*1916) unterteilt sie in drei „typologische“ Gruppen:

Die grösste umfasst die heroischen Opern (23), dann folgt die Gruppe der antiheroischen (insgesamt zehn, davon zwei Pastoralen), und die fünf Zauberopern machen den Beschluss.64

Mehr als die Hälfte seiner Opern hat Händel in den Jahren mit seinem Impresario John James Heidegger65 geschrieben.

In den Jahren seiner festen Verbindung mit dem Finanzmann Heidegger, zwischen 1720 und 1734, herrscht in seinem Schaffen der Typus der [von Metastasio durchgesetzten] heroischen Oper vor.66

Händel blieb der Nachwelt nicht als Opernkomponist, sondern als Schöpfer grosser Oratorien in Erinnerung, die auch immer wieder aufgeführt wurden. Die Opern hingegen gerieten für 200 Jahre in Vergessenheit, bis sie im letzten Jahrhundert allmählich wieder ausgegraben wurden. Heute kann man von einer eigentlichen Händel-Renaissance sprechen.

63 Schreiber, Ulrich: Opernführer für Fortgeschrittene. Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution. Kassel: Bärenreiter, 1988. S. 211

64 ebd: S. 222. Die 5 Zauberopern sind: Rinaldo (1711), Teseo (1713), Amadigi (1715), Orlando (1733) und Alcina (1735).

65 John James Heidegger (1659-1749): Impresario am King’s Theatre in London.

66 Schreiber: S. 222

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27 4. Die Ariost-Opern Händels

In diesem Kapitel werde ich mich weitgehend an den entsprechenden Abschnitt in Gary Schmidgalls Buch Literature as Opera halten.67

Händels literarische Zeitgenossen in England – Swift, Pope, Steel, Addison, Johnson, um einige zu nennen – lehnten Händels Opern weitgehend ab. Italienische Sprache, absurde, extrem verwickelte Geschichten, Sängerwettbewerbe auf der Bühne und vieles mehr zählten sie als Gründe auf.68

Aber Händel hatte auch seine Fans, die sich vor allem aus der gebildeten Oberschicht rekrutierten, was natürlich nicht sehr zeitgemäss war, da gerade in England der Prozess der Demokratisierung sehr früh begann. Dies war wiederum ein Grund dafür, dass Händels Oratorien grossen Erfolg hatten, da sie dadurch, dass die Chöre zur Hauptsache wurden, quasi die Massen auf die Bühne brachten. Überdies wurde dort englisch gesungen. Die italienischen Opern69, die er nach den ersten Oratorienerfolgen noch schrieb, waren eine Angelegenheit für Kenner und Liebhaber, für eine Minderheit.

Im 17. und 18. Jh. entdeckte man die Ratio. Die Aufklärung nahm ihren Lauf. Man liebte das Klare, Einfache, Vernünftige. Die Opernstoffe der drei Ariost-Opern Händels (1733- 35) kamen da gar nicht gelegen mit ihrer Fantastik, ihren mythologischen und wunderbaren Anteilen.70 50 Jahre früher oder 50 Jahre später hätten sie mehr Sinn gemacht, da sie eher dem barocken Geist oder der empfindsamen, schon fast sentimentalischen Reaktion auf die Aufklärung entsprachen. Man könnte etwa kühn sagen, Händel habe mit seinen späten Opern eine emotionale Brücke geschlagen von einer vorrationalen zu einer nachrationalen Zeit.71

Ariost ist bunt, weit ausholend, im besten Sinne des Wortes „narrativ“, episch. Seine Geschichten, die sich endlos verzweigen und zu neuen Teilgeschichten führen, können auch wunderbar mündlich weitergegeben werden, seine Verse gehörten noch im 20.

Jahrhundert zum Grundwissen vieler Italiener. Besseres Material für eine Oper ist

67 Schmidgall, Gary: Literature as Opera. New York: Oxford Press. 1979. Ab Seite 30

68 Reaktion Newtons auf Händels Radamisto: „The first act he heard with pleasure, the 2d stretch’d his patience, at the 3d he ran away.“ (Schmidgall: S. 32)

69 darunter Alcina

70 Bezeichnenderweise wurde Ariost im 18. Jahrhundert kaum gelesen und eher abgelehnt, aus denselben Gründen, wie man Händels Opern nicht unbedingt schätzte.

71 J. Addison (1672–1719), britischer Schriftsteller und Politiker: ...“its [the operas] absurdity....shows itself at the first sight.[...].nothing ist capable of being well set to music, that is not nonsense.“ (ebd.)

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28

schwerlich aufzutreiben, denken wir nur an die Überlegungen bezüglich der Erfordernisse des Dramas und des dramma per musica.72

Trotz alledem war Händel ein Mann seiner Zeit. In seinen Opern finden sich viele zeitgenössische philosophische und ästhetische Anlagen. Am Beispiel der Ästhetik des englischen Gartens lässt sich das sehr schön zeigen. Die Theoretiker der Landschaftsgestaltung des 18. Jahrhunderts kehrten der Symmetrie des Barockgartens, wie sie beispielsweise in Versailles in Erscheinung tritt, den Rücken. Sie wollten die Natur nicht mehr vergewaltigen, sondern gestalten, d.h. sie versuchten die Wildheit der Natur in ihre Zähmung der Natur zu übernehmen, einen perfekten Übergang hinzukriegen zwischen einem Garten und der anschliessenden Landschaft:

„The living landscape was chastened or polished, not transformed“73. Der Gang durch einen Garten sollte wie ein Gang durch eine Galerie sein, die Erfahrung einer Bilderabfolge, sozusagen ein Lorrain74 nach dem anderen. Gartengestaltung war Landschaftsmalerei.75 Pope76 führte alle Regeln der Gartengestaltung auf drei Hauptprinzipien zurück: die Kontraste, das Prinzip der Überraschung und das Verwischen der Übergänge.

Übertragen auf Händels Opern heisst das etwa: Wir sehen den Kampf zwischen traditionellen Formeln (neapolitanische ‚opera seria’) und der Notwendigkeit natürlichen, wahrhaft dramatischen Ausdrucks – mit anderen Worten, der Kampf zwischen künstlicher „Ordentlichkeit“ (neatness) und einschneidender, direkter „Rüdheit“

(rudeness).

We see the relinquishment of the da capo aria where it would be painfully redundant, the development of differing emotions in duets and trios, a new simplicity of utterance (which looked forward to the artistic Rococo), and we see more refinement of the flexible arioso and even more flexible accompanied recitative. We frequently see Handel abandon what Walpole called the

„prim regularity“ of tradition.77

Der Fortschritt in der Landschaftsgestaltung ging von formalen zu bildnerischen Effekten, in der Musik ging er von rituellen und formalen zu dramatischen Effekten.

72 siehe auch Abschnitt 2.3

73 ebd: S. 44: Zitat Robert Walpoles, des ersten britischen Premierministers (1676-1745)

74 C. Lorrain (1600-1682): Frz. Landschaftsmaler des Barock

75 ebd: S. 44: „For Handel’s century all gardening [...] was landscape painting.“

76 A. Pope (1688-1744): englischer Dichter, Übersetzer und Schriftsteller

77 ebd: S. 45: Wir sehen den Verzicht auf die da capo-Arie, wo sie störend redundant wäre, die Entwicklung der Unterscheidung von Emotionen in Duetten und Trios, eine neue Einfachheit der Ausdrucksweise, und wir sehen mehr Raffinement beim beweglichen Arioso und beim noch anpassungsfähigeren Accompagnato. Wir sehen, wie Händel oft von der „strikten Korrektheit“ der Tradition, wie Walpole es nennt, abweicht.

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