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Gender Studies

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Melanie Grütter (Dr. phil.) promovierte am Zentrum Gender Studies der Universi- tät Basel. Sie lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK und wurde mit dem Posterpreis für wissenschaftliche Grafik der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften SGGMN ausgezeichnet.

Für ihre Forschung erhielt sie ein MHV-Stipendium vom Schweizerischen Na- tionalfonds SNF und eine Förderung der Freien Akademischen Gesellschaft FAG. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Devianz, Macht und Geschlecht sowie Körperwissen in Tanz und Performance.

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Geschlecht als Kategorie des Wissens vor dem Strafgericht

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nem Abschlussstipendium der FAG Basel und der Stiftung Böniger Ris unter- stützt.

Dieses Werk ist lizenziert unter der

Creative Commons Attribution 3.0 (BY-NC-ND).

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© 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages ur- heberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Überset- zungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Sys- temen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildungen: Aktenbestände des Berliner Landesarchivs Satz: Justine Buri, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4058-8

PDF-ISBN 978-3-8394-4058-2

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

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Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter:

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Dank | 9

I. Einleitendes

Gewaltmord: Faszination – Sensation – Mythos | 11 I.1 Alle sprechen über Mord. Und wie! | 11 I.2 Noch ein Engel mit eiskalten Augen | 15

I.3 ›The look into a dark, shocking world‹ – die (Gewalt-)Mörderin als Figuration der Angst vor dem weiblichen Bösen | 18

II. Rahmenbedingungen —

Theoretisches und Methodisches | 21 II.1 Diskurs, Analyse und Methode | 21 II.2 Der theoretische Rahmen:

Die Begriffe Geschlecht und Gewalt | 30 II.3 Stand der allgemeinen Forschung | 34 II.4 Im Archiv | 36

II.5 Geschichte: Über den Nutzen einer Verwechslung der Zeiten | 45 II.6 Kriminologische Positionen 1900-1933 –

Territoriale Zerrissenheiten auf Kurssuche | 49 II.7 Die Macht, das Wissen, das Verbrechen | 57

II.8 Es ist eine Frau! Geschlecht als ordnungsbildende Einheit des Verbrechensdiskurses | 60

II.9 Aspekte des Ordnens im Kriminalitätsdiskurs um das verbrecherische Weib | 69

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III.1 »Im Namen des Volkes!

In der Strafsache gegen die Haustochter Käthe Hagedorn …« | 79 III.2 Gutachter und Expertise | 102

III.3 Experten vor dem Strafgericht | 103

III.4 Männer mit Profession, Disziplin und der Macht des wissenden Wortes | 104

III.5 Das Wissen der Künste. Die Poetik des Verbrechens | 113 III.6 Witnessing gender. Zeugenschaft und (Re-)produktion

von Geschlechterwissen | 124

III.7 Zeugenpositionen – Geschlecht und Wissen als Voraussetzung für die Wertigkeit von Zeugnissen | 125

III.8 Verworfene Frauenzimmer | 132 III.9 Entartung und Minderwertigkeit | 155

III.10 Constructing the other. Das Produzieren von Fremdheit | 157 III.11 Der ›Geschlechtscharakter des Weibes‹,

das ›verbrecherische Weib‹ und die heteronormative Matrix | 159 III.12 Mörderinnen: Technologien der Typologisierung | 165

III.13 Johanna Ullmann: ein Mannweib unter der Maske der guten Zeit | 171

III.14 Anna Sonnenberg:

Die ›auf Abwege geratene‹ Frau und Mutter | 175 III.15 Die Wirksamkeit des heteronormativen Erzählens

und die Moral des Geschlechts | 184 III.16 Hotelratte in schwarzem Trikot | 191 III.17 Technologien des Urteils | 206

III.18 Wissen im Blick: Verbrecherfotografie und Physiognomik | 214 III.19 Die schwache Frau – eine Normalierungstaktik | 232

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IV.II Über die Wirkungsmacht der Definition von Abweichung in Diskursen des Wissen und ihre Bedeutung

für die Konstruktion von Geschlecht | 257 V. Abbildungsverzeichnis | 261

VI. Literatur | 263

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Mein Dank gilt Andrea Maihofer, die mich durch diese Arbeit unterstüt- zend begleitet, fachlich inspiriert, gefordert und gleichwohl stets ermutigt hat, diesen Weg zu Ende zu gehen. Ebenso danke ich Regina Wecker für ihr Interesse, ihre hilfreichen Anregungen und die resonante Lektüre.

Ein besonderer Dank geht an Marion Schulze und Ute Frings-Merck für viele Stunden gemeinsamen Denkens, Schreibens, kontroverse Dis- kussionen und geteilter Freude an guten Gedanken.

Ein fachlicher und freundschaftlicher Dank gilt Almut Koesling, Achim Saupe und Jan-Marco Sawilla.

Darüber hinaus danke ich Max Grütter für die familiäre Unterstüt- zung, Ursina und Björn Grob-Hartmann und allen Kolleginnen, Kolle- gen, Freunden und Freundinnen, die meine Begeisterung und mein Inte- resse geteilt und mich in den buchstaben- und schlaflosen Zeiten immer wieder auch mit Geduld unterstützt haben.

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Gewaltmord: Faszination – Sensation – Mythos

Ein vorsätzlich verübter Gewaltmord ist ein Verbrechen, das sowohl ent- setzt als auch fasziniert und vor allem eines, über das gern berichtet wird.

In allen literarischen Genres, auf der Bühne, in den Medien und in den Künsten ist das Gewaltverbrechen Gegenstand und Motiv; in unzäh- ligen Kriminalromanen, in der Oper und auf den Brettern des Theaters wird gemordet, in Zeitungen wird darüber berichtet, Experten werden in Talkshows zur Beurteilung von Täter*innen und zu den möglichen Tat- motiven befragt. Der Gewaltmord ist ein Sensationsverbrechen, welches weite diskursive Kreise zieht. Dass das Verbrechen fasziniert, ist eine alt- bekannte Tatsache und lässt sich quer durch die Kulturgeschichte(n) ver- folgen.

Noch sensationeller und faszinierender allerdings scheint das Ge- schehen, wenn eine Frau ein Gewaltverbrechen verübt. Frauen werden seltener straffällig als Männer und üben dabei selten Gewalt aus, so ein Grundsatz zur Frauengewalt in der kriminologischen Diskussion (vgl.

z.B. Schmölzer, 2003: 1).

Seit Mitte der 1990er Jahre lässt sich der Beginn einer verstärkten öf- fentlichen Debatte um gewalttätige, weibliche Jugendliche und das An- wachsen der weiblichen Gewaltkriminalität in Amerika und im deutsch- sprachigen Raum ausmachen.

Es wird ein Anstieg der Anzahl von registrierten weiblichen, insbe- sondere jugendlichen Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten in den letzten Jahren verzeichnet. Im Bereich des Kindesmissbrauchs wird seit mehr als einem Jahrzehnt eine verstärkt täterinnenorientierte Debatte geführt.

Die kriminologischen Wissenschaften tun sich schwer mit brauchbaren Erklärungsansätzen zur Frauenkriminalität:

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»Der Überblick über die Erklärung zur Frauenkriminalität zeigt, dass dieser krimi- nologische Forschungszweig noch in den Kinderschuhen steckt. Die historische Entwicklung der Kriminalitätstheorien und die Skizzierung der favorisierten Erklä- rungsansätze verdeutlichen die zeitbedingten und klischeehaften Versuche, das Phänomen ›Frauenkriminalität‹ erklären zu wollen.« (Ebd.)

Ob und weshalb Frauen weniger gewalttätig handeln als Männer, steht immer wieder in der Diskussion, nicht nur in der Kriminologie und Kri- minalitätsforschung. Auch in den Gender Studies, der Soziologie und ihren angrenzenden Disziplinen werden Erklärungsansätze entwickelt (vgl. bspw. Dackweiler/Schäfer, 2002; Hilbig/Kajatin/Miethe, 2003;

Pühl/Kohler, 2003). Dass Frauen, denen die gewalttätige Handlung qua Geschlechtscharakter abgesprochen wird, einen Gewaltmord verüben, er- scheint in mehrfacher Hinsicht unvorstellbar und es regt die öffentlichen Debatten um solche Geschehnisse umso mehr an, das wird bei Ansicht insbesondere der Presseartikel zu weiblichen Gewaltverbrecherinnen deutlich.

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Ein ganzes Bestiarium wird eröffnet im Sprechen über Menschen, die ge- walttätig gemordet haben. Durch die Lektüre dieser Untersuchung geis- tern Monster, Bestien, Teufel und Engel, aber auch Täubchen und Rehe.

Auffällig ist, dass im Sprechen über Frauen, denen naturgemäß ge- walttätiges und aggressives Handeln nicht zugesprochen wird, die immer gleichen Begrifflichkeiten und Topoi verwendet werden. Der wissenschaft- liche Diskurs um weibliches Gewalthandeln, der sich aus verschiedenen Diskursfeldern wie Medizin, Biologie, Psychiatrie, den Sozial- und den Kriminalwissenschaften speist, ist durchsetzt mit stereotypen Konstruk- tionen von Geschlecht.

Würde man beispielsweise ein Lexikon oder Verzeichnis verfassen, welches Fallstudien von Gewaltmörderinnen versammelt, fiele ins Auge, dass vor allem in den Presseberichten ein Wortschatz bedient wird, der mit Bezeichnungen arbeitet, die dem Bereich des Mythologischen ent- lehnt sind. Würde man weiterhin nun in diesem »Fallverzeichnis weib- lichen Gewaltmords« blättern, würde in vielen Zusammenhängen von

»Hexen«, und ganz bestimmt von »eiskalten Augen« zu lesen sein.

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Auffällig wäre zudem, dass die Sprache der Berichterstattung und eine Verwendung von Begriffen aus dem Mythologischen und Monströ- sen in der Beschreibung der Täterinnen und Ereignisse sich über die letz- ten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, nicht grundlegend verändert hat.1 Eine besondere Rolle spielen hierbei natürlich – und insbesondere, wenn man von der postmodernen (Wissens-)Gesellschaft spricht – die Massenmedien.

Die sensationslüsterne Berichterstattung bei Mordfällen, an denen Frauen beteiligt sind, hat Tradition, ebenso Wortwahl, Motive, Begriffe, Bilder, Symbole, die verwendet werden, sobald die Angeklagten in den Blick der medialen Beobachtung geraten.

So spielten die erwähnten »eiskalten Augen«, die Benennung der Tä- terin als »Hexe« oder »Schönheit« und die sexuelle Komponente bei der Berichterstattung zu weiblichen Gewalttaten oftmals eine Rolle.

Ein bekanntes Beispiel findet sich im Fall Monika Weimar.2 Sie wurde 1988 in einem Indizienprozess schuldig gesprochen, ihre zwei Kinder er- mordet zu haben. Weimar wurde zuletzt, nach zweifacher Revision im Dezember 1999, schuldig gesprochen und zu lebenslänglicher Freiheits- strafe verurteilt. Auch im Fall Weimar gab es ein übergroßes mediales In- teresse am Verhandlungsgeschehen, eine mediale Vorverurteilung – die Angeklagte führte eine außereheliche Liebesbeziehung mit einem ame- rikanischen Soldaten, auf die sich während der Berichterstattung sehr oft bezogen wurde. An einem Freitagabend, dem 8. Januar 1988, »sahen Mil- lionen auf dem Bildschirm [ihres Fernsehapparats] eine entfesselte Men- ge, die hasserfüllt mit den Fäusten auf das Dach des Autos trommelte, in dem die Verurteilte in Handschellen abtransportiert wurde. ›Ami-Hure‹

brüllte es ihr nach und: ›Eiskalte Mörderin‹« (Die Zeit, 15.12.1995).

1 | Diese Art Register oder Verzeichnis findet sich im Bereich des – vor allem populärwissenschaftlichen – Sachbuchs. So zum Beispiel das Lexikon der Serien- mörder. 450 Fallstudien einer pathologischen Tötungsart (Murakami/Murakami, 1998) oder der Band Menschliche Monster (Kopczinski, 1993).

2 | Zwar fällt der Fall Weimar als Kindsmord aus dem Raster der vorliegenden Untersuchung. Die starke Öffentlichkeitswirksamkeit und die nachfolgend er- wähnte Medienanalyse lassen allerdings einen Verweis auf den Fall fast als un- abdingbar erscheinen. So ist auch eine Dokumentation des Falles 2007 im öf- fentlich-rechten Fernsehen (ARD) in der Reihe »Große Deutsche Kriminalfälle«

erschienen.

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Ganz geklärt werden konnten die Umstände des Verbrechens nie, ver- dächtigt werden der inzwischen in psychiatrischer Behandlung stehende, aber wohl schon vor dem Tatzeitpunkt erkrankte Ehemann der Verurteil- ten, der sich in seinen Aussagen mehrfach selbst widersprach und eben Monika Weimar, wegen belastender Aussagen verschiedener Nachbarn, Faserspuren auf den Kinderkleidern, deren Herkunft nicht klar ist, und widersprüchlicher Aussagen, welche die Verurteilte unter Einfluss star- ker Beruhigungsmittel machte.

Monika Weimar stand insbesondere während des ersten Prozesses unter genauester Beobachtung der Öffentlichkeit, die Boulevard-Presse füllte Titelblätter mit den »Lügen einer Mutter« (BILD-Zeitung). Weimars Auftreten, ihre maskenhaften Züge unter Einwirkung stärkster Beruhi- gungsmittel, ihre Kleidung, ob gedeckt oder farbig, alles wurde einer ge- nausten Analyse unterzogen.

Verfolgt man die Berichterstattung und die Geschehnisse rund um die Gerichtsverhandlungen im Fall Weimar, wird deutlich, wie Prozesse medialer und öffentlicher Vorverurteilung, Kriminalisierung und Aus- grenzung in Gang kommen und welche Rolle das Geschlecht und die Sexualität der angeklagten Frauen in der medialen Berichterstattung, wie auch vor Gericht und in der juridischen Praxis spielt.3

Zu untersuchen ist hierzu, wer im Diskurs um die gewalttätige Frau mitspricht und auf welche Weise, welche Art von Expertenkultur herbei- zitiert wird für den Blick in die ›dunkle schockierende Welt‹ und welche Effekte in Bezug auf eine öffentlichkeitswirksame Angstpolitik sich aus- machen lassen.

Mit Erstaunen nimmt man im Fall Weimar das breitgestreute Interes- se, die Heftigkeit der Reaktionen und die Abläufe einer Vorverurteilung und eines Prozesses der Kriminalisierung, der Psychiatrisierung und der

3 | Beispielhaft haben das Carmen Gransee und Ulla Stammermann in ihrer Medienanalyse zum Weimar-Fall aufgezeigt: »Die hegemonialen Funktionen von Strafrecht sind bereits mehrfach Gegenstand kritischer Analysen gewesen. Die […] Medienanalyse zum Fall Monika Weimar hingegen nimmt eine geschlechts- spezifische Perspektive auf öffentlich inszenierte Ausgrenzungsprozesse ein und zeigt, dass Kriminalisierungsprozesse – und insbesondere die Medienbericht- erstattung darüber – ein Forum patriarchaler Deutungsmacht darstellen und der ideologischen Reproduktion des asymmetrischen Geschlechterverhältnisses die- nen.« (Gransee/Stammermann, 1991: 4)

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Konstruktion einer sexuellen Abweichung wahr. Dieses Erstaunen legt somit eine genauere Betrachtung des Verhältnisses von Geschlecht und (Gewalt-)Kriminalität nahe. Der Fall Amanda Knox zeigt die Aktualität – der Fall Weimar liegt mehr als zwanzig Jahre zurück – der genannten Punkte und wirft die Frage nach Wandel und Persistenz von Geschlech- terverhältnissen in den Diskursen über kriminelle Abweichung in der Gegenwart auf.

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In der Nacht vom 01. November 2007 wird die britische Studentin Me- redith Kercher in ihrem Zimmer in einer studentischen Wohngemein- schaft in der italienischen Kleinstadt Perugia ermordet aufgefunden. Der Tat verdächtigt wird ihre Mitbewohnerin und Freundin Amanda Knox, eine amerikanische Austauschstudentin, und ihr damaliger italienischer Freund Raffaele Sollecito. Sie sollen Meredith Kercher ermordet haben, weil diese sich nicht an einem ihrer sexuellen Exzesse beteiligen wollte.

Des Weiteren wird zunächst ein Barbesitzer und Arbeitgeber Kerchers der Tat verdächtigt, dann Rudy Guede, ein junger Mann aus der Nach- barschaft der Studentinnen, der schließlich zu 30, in der Revision dann zu 16 Jahren Haft als Haupttäter wegen Mordes an Meredith Kercher ver- urteilt wird. Die Verhandlungen zur Verurteilung von Knox und Sollecito als Mittäter dauerten lange an. Knox wurde im Dezember 2009 zu 26 Jahren Haft verurteilt und nach mehrfacher Revision 2015 endgültig frei- gesprochen.

Um den Fall und insbesondere die Person Amanda Knox entbrannte eine große langanhaltende Debatte in der internationalen Presse. Zu den Gerichtsterminen wurde der Verhandlungsschauplatz Perugia von Jour- nalisten belagert und die Schlagzeilen füllten die Titelseiten europäischer wie amerikanischer Tageszeitungen. So schreiben die Journalisten Katie Kahle und Hanns-Jochen Kaffsack in der Süddeutschen Zeitung:

»Bis zuletzt drehte sich alles um die Amerikanerin. Während die in der umbrischen Metropole Perugia versammelten amerikanischen Medien den wahren Schuldigen in der Mordaffäre Meredith schon lange ausgemacht hatten [nämlich Guede] – die italienischen Ermittler, die Spurensicherung und wohl auch die Justiz selbst – sym-

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bolisierte Amanda Knox für die Italiener von Anfang an die verdächtige Kombina- tion von Schönheit und Bösem.« (Süddeutsche Zeitung, 05.12.2009)

Der britische Journalist Tom Kington schreibt in The Guardian am 21.

September 2009 über den Fall der zum Tatzeitpunkt 21-Jährigen und von den Medien als äußerst attraktiv beschriebenen Amerikanerin: »Her be- haviour after her arrest was described by witnesses as naturally calm and indifferent, leading to the Italian media dubbing her ›the angel-faced kil- ler with ice cold eyes‹.« (Kington, The Guardian, 21.09.2009)

Das »engelsgleiche Gesicht mit den eiskalten Augen« dient wie ande- re, ähnliche Beschreibungen,4 nicht als mot propre oder als Symbol für den Einzelfall, sondern steht quasi als Leitmotiv für die Konstruktion der ge- fühlskalten, brutalen Gewaltmörderin oder auch für einen feminisierten männlichen Täter. Dies zeigt ein Blick auf die vielfältige Pressebericht- erstattung über Angeklagte in anderen – sowohl historischen, als auch aktuellen – »Fallgeschichten«.

Die Beschreibungen von Amanda Knox stehen somit exemplarisch für die Konstruktion der weiblichen Gewalttäterin in Presseberichten.

Hier wird eine archaische Ikonografie geschaffen, eine Mythologie des weiblichen Bösen, die sich über Diskurs-, Zeit- und Nationengrenzen hin- wegsetzt und die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischt.

Aber nicht nur die verschiedenen Bezeichnungen in Presseartikeln über mordende Frauen gleichen sich und folgen einem ähnlichen Muster.

Nach einer Propagierung der Gefühlskälte der Täterin folgt oft eine Ana- lyse ihrer sexuellen Verhaltensweisen. So auch bei Knox: Es werden ver- schiedene Hinweise auf eine sexuelle Auffälligkeit genauestens erörtert und jedes Detail wird als Hinweisträger betrachtet: »Prosecutor Giuliano Mignini said at the weekend that Kercher had told friends Knox left a bag in their shared bathroom containing condoms and a vibrator.« (Ebd.) Die durch den Besitz der besagten Gegenstände implizierte sexuelle Anders- artigkeit, die hier vermutet wird, soll zum Beweis einer Täterinnenschaft beitragen. Kington illustriert die mediale Konstruktion einer promiskui- tiven Angeklagten:

»Prison authorities told Knox that she had tested positive for HIV and that she should make a list of every man she had ever slept with. After she scribbled the list 4 | Vgl. im Folgenden: die Hexe/Weimar, das Monster/Wuornos etc. pp.

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in her diary, it was confiscated and leaked to the press, presumably by officials. It was dubbed a ›sex diary‹ and headlines announced that she had slept with seven guys during her two months in Italy. What a hussy.« (Ebd.)

Die Beweisführung und öffentliche Darlegung der nach behördlichem Maßstab offensichtlichen Promiskuität der Angeklagten zeigt sich als eine Taktik zur Konstruktion der belastenden sexuellen Andersartigkeit der jungen Frau. Der Beweisführung dient maßgeblich eben die »von An- fang an […] verdächtige Kombination von Schönheit und Bösem«. Kington schreibt dazu: »There is, however, one verdict I can easily come to on my own: The media has made Knox into a sex symbol. A man-eating mur- derous sex symbol, but a sex symbol, nonetheless. Sex, so to say, serves as proof of the theory.« (Ebd.)

Zwar werden, so beschreibt Kington, von kriminalistischer Seite An- nahmen und Indizien angeführt, die eine Täterschaft Knox‹ nahelegen,5 dennoch leugnet Knox die Täterschaft bis zu ihrer Verurteilung im De- zember 2009. Als »Engel mit Eisaugen« hat sie nicht nur in Italien Be- rühmtheit erlangt.

Tom Kington kommentiert in seinem Artikel die mediale Sensations- mache um die Person Amanda Knox abschließend folgendermaßen:

»The media simply has far too much fun publicy defiling young women who are vir- ginal in appearance but not in fact; and, perhaps, some take a sexual thrill in van- dalizing the character of beautiful and seemingly unattainable young women whom they desire (or desire to be). But, mostly, I can’t help thinking that the demonizing of Knox – not as a coldblooded murderer but as a sexual huntress – is an expression of deep-seated fears about female sexual aggressiveness and power.« (Ebd.)

Dieser Schluss, den Kington aus den Geschehnissen in Perugia und ihren Folgen zieht, zielt auf einen Grundgedanken, der vorliegenden Untersu- chung zugrunde liegt.

5 | Ebd.: »Kercher’s killer covered her semi-naked corpse with a duvet, a gesture Mignini said was typical of a female killer.«

Daneben verwickelten sich die Angeklagten u.a. in widersprüchliche Aussagen bezüglich ihres Aufenthaltes zur Tatzeit, in Sollecitos Wohnung fand sich Bleich- mittel, welches möglicherweise zur Reinigung eines Lakens in Kerchers Zimmer benutzt wurde.

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Die Dämonisierung von gewalttätigen Frauen als sexuelle Monster, Vampirinnen und Hexen bedient in tiefe gesellschaftliche Schichten ein- gelagerte, kollektive Ängste vor weiblicher Sexualität, Aggression und Kraft.

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Figurationen und Stereotypien des weiblichen Bösen greifen kulturhisto- risch auf eine lange Tradition zurück. Sie sind als mythologisierte Symbo- le der Angst tief in das kollektive Unbewusste der modernen westlichen Gesellschaften eingeprägt und zeigen sich unabhängig von ihrer histori- schen Verortung persistent.

Bei diesen Figurationen der Angst handelt es sich um einen Versuch, ein spezifisch weibliches Böses zu fassen, welches stets anders, meist grausamer, hinterlistiger, unsichtbarer, dunkler ist als sein männliches Pendant. Es ist die Rede von Figuren wie der ›Hexe‹, dem ›Monster‹ und dem ›Vamp‹, der Vampirin.

Die gewalttätig agierende Frau ist zudem vielfältiges Motiv in Litera- tur und Kunst und als solches stereotyp und klischeehaft in die symboli- sche Ordnung der Gesellschaft eingeschrieben. So findet man beispiels- weise um 1900 das Bild der Vampirin, welches als mythologische Figur des weiblichen Bösen eine hohe Konjunktur hat. Der ›Vamp‹, so auch zum geflügelten Wort geworden, ist ein machtvolles sexuelles Raubtier.

Das destruktive Potenzial der Vampirin wird zum Standardrepertoire der Ikonografie des 20. Jahrhunderts.

Die Philosophin und Historikerin Hanna Hacker schreibt dazu:

»Es gibt sie als Archetypen: die grausame Frau, die femme fatale, das Bild des feminin evil. Es gibt sie als postfeministische Ikonen: rebellische WahnsinnsFrau- en, Xanthippen, Bad Girls, Wild Women. Es gibt sie als polit-historische Projektio- nen: Flintenweib, Rote Schwester. Um 1900 hatten Geschlechtsmetaphysik und Sexualwissenschaft einen weitgefassten Begriff für sie: zur großen Familie des Dritten Geschlechts gehörten die Hosenrollenspielerinnen und die unglücklich liebenden Selbstmörderinnen, die Unteroffizierinnen, und die Bankiersfrauen, die

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Studentinnen und die Revolutionärinnen, die Betrügerinnen, die Mannweiber und die Rächerinnen aus Leidenschaft.« (Hacker, 1998: 17)

Die voranstehenden Beispiele verweisen auf die Aktualität und Persistenz der von Hacker genannten Archetypen in einem kollektiven Unterbe- wussten der modernen westlichen Gesellschaft.

Geschlecht ist in den Diskursen um die (kriminelle) Abweichung und um weibliche Gewalt eine basale, aber durch die strenge Binarität des Dis- kurses und die Nichtexistenz der kriminellen Frau auch eine schwer fass- bare Kategorie. Die Frau bildet stets das Andere der kriminellen Diskurse, aber dieses Andere bleibt bis auf ein paar schemenhafte Konstrukte eine nicht konkret fassbare Größe.

Mir geht es um die Betrachtung von Geschlecht als ordnungsbildende Einheit in Diskursen um Gewalt und Kriminalität und deren Bedeutung.

Der Produktion und Reproduktion von wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen in Bezug auf Weiblichkeit und Kriminalität kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.

Mit den Mitteln der historischen Diskursanalyse wird eine diskursi- ve Ordnung durchleuchtet, die Rückschlüsse auf einen zeitgenössischen Umgang mit dem Phänomen ›Geschlecht und Gewalt‹ bietet und die Repräsentanz der Kategorie ›Geschlecht‹ in der Kriminalitätsforschung und den angrenzenden Wissensbereichen kritisch hinterfragbar werden lässt. Hier scheint zudem die Idee einer ›Genealogie der weiblichen Ab- weichung‹ auf, die am Beispiel der Frau als Täterin zeigen will, wie die Vorstellungen vom ›schwachen Geschlecht‹ auf die gesellschaftliche Be- wertung der machtvoll-aggressiv agierenden Frau einwirkt.

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Theoretisches und Methodisches

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In seinem Buch Die Wahrheit und die juristischen Formen schreibt Michel Foucault:

»Insbesondere möchte ich […] zeigen, wie im 19. Jahrhundert ein bestimmtes Wissen über den Menschen, die Individualität, das normale oder anormale Indi- viduum innerhalb oder außerhalb der Regel entstehen konnte, ein Wissen, das in Wirklichkeit aus den Praktiken der sozialen Kontrolle und Überwachung hervor- gegangen ist.« (Foucault, 2003: 10)

Dieser Satz leitet Michel Foucaults gleichnamige Vorlesungsreihe ein.

Die vorliegende Arbeit hat das Anliegen, die (machtvolle) Wirkung von Wissen im psychiatrisch-kriminologischen Diskurs im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts und die Entstehung einer Kategorie des Wissens in Bezug auf Aggression, Gewalt und Geschlecht zu untersuchen. In Verbin- dung mit Ansätzen aus der Wissenssoziologie werden die Machtwirkung der Diskurse um das verbrecherische Weib und das Verhältnis Macht/

Wissen in diesen Diskursen unter die Lupe genommen.

Im Folgenden möchte ich zunächst kurz auf das meiner Forschung zugrunde liegende Verständnis des Diskursbegriffs und meinen diskurs- analytischen Zugriff auf die Thematik eingehen. Dies ist notwendig, da sich in den historischen, aber auch in den sozialwissenschaftlichen Dis- ziplinen einerseits zwar eine lebendige methodologische Debatte zur Dis- kursanalyse entwickelt hat und sich zeigt, dass Diskurspolemiken lang- sam in den Hintergrund treten, andererseits jedoch immer noch relativ beliebig erscheinende Auffassungen des diskursanalytischen Arbeitens zur Anwendung gelangen.

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Mit Sicherheit lässt sich seit den Nullerjahren von einem etablierten Forschungsfeld diskursanalytischen Arbeitens sprechen (vgl. frühere Be- mühungen etwa von Angermüller, 2001; Bublitz, 1999; Diaz-Bone, 1999;

Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver, 2001, Keller/Hirseland/Schneider/

Viehöver, 2003; Stäheli/Tellmann, 2001). Dennoch kann auch aktuell im- mer noch nicht – weder in den Geschichtswissenschaften noch in den Sozialwissenschaften – die Rede von einem etablierten Methodenkanon sein.

II.1.1 Was ist Diskurs? Wer spricht? Und zu wem?

I will kiss thy mouth, Jokanaan, I will kiss thy mouth

Oscar Wilde, salOmé

Foucault wirft in seiner Archäologie des Wissens mit Nietzsche die »Erste Frage« der Diskursanalyse auf, die da lautet: »Wer spricht?«, und weiter- hin: »Wer in der Menge aller sprechenden Individuen verfügt begründet über diese Art von Sprache? Wer ist ihr Inhaber? Wer erhält von ihr seine Einzigartigkeit, sein Prestige und umgekehrt: von wem erhält sie, wenn nicht ihre Garantie, so wenigstens ihren Wahrheitsanspruch?« (Foucault, 1981: 75) In dieser Untersuchung frage ich danach, wer in welcher Art und mit welcher Legitimation über die gewalttätig agierende Frau spricht.

Wessen Sprechen über Gewalt, wessen Rede über Geschlecht wird legiti- miert und wessen Urteil für wahr befunden?

Sprache wirkt konstruierend, in ihr findet sich die Produktivität des Diskurses, sie wirkt epistemisch generativ.

Diskurs ist nach meiner Auffassung nicht nur die systematische Er- fassung von Rede und Korpus von Texten, nicht nur institutionell ver- festigte Redeweise. Vielmehr verstehe ich Diskurs als »Gesamtheit von Aussageereignissen, die im Hinblick auf institutionell stabilisierte ge- meinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Be- deutungserzeugung untersucht werden« (Keller, 2005:11).

Was bedeutet es also, so ist zu fragen, dass Salomé spricht? Ihr Schöp- fer (Wilde) lässt sie sprechen, verleiht ihr eine Stimme. Die Figur spricht aus den diskursiven Umständen heraus, in denen ihr Schöpfer, der Autor, sich befindet, in denen er denkt und in denen seine Arbeit entsteht, aber auch in den diskursiven Zusammenhängen, aus denen heraus der Text und seine Figur ›gewachsen‹ sind.

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Mein Diskursverständnis bezieht institutionelle Praktiken in die Be- trachtung mit ein. Im Fall der vorliegenden Untersuchung sind dies die Gerichtspraxis und juridische Praxen, die sich in den Schriften der sich etablierenden kriminologischen Wissenschaft abbilden, die Praxis der Be- gutachtung durch psychiatrische Experten und die mediale Verarbeitung der Fallgeschichten.

Keller fragt: »Wissen oder Sprache?« und plädiert damit für eine wis- sensanalytische Profilierung der Diskursforschung (ebd.). Siegfried Jäger hat das sehr bildhaft formuliert: Diskurs (sei) »als (ein) Fluss von Wissen und Wissensvorräten durch die Zeit« zu begreifen (Jäger, 2001: 82). Diese Formulierung trifft genau das, was in der vorliegenden Untersuchung im Mittelpunkt des Interesses steht.

Ich möchte mit dem diskursanalytischen Blick die Aufmerksam- keit darauf lenken, wie sich durch die Zeitläufte hinweg und durch das Material hindurch beobachtbar machen lässt, in welcher Weise sich (Ge- schlechter-)Verhältnisse wandeln oder Bestand haben.

Die Erfassung und Vermessung des Anormalen, die Konstruktion eines ›Verbrechermenschen‹ beginnt mit der Begründung der Positiven Kriminologischen Schule durch Cesare Lombroso und führt hin zu einer Etablierung der kriminologischen und psychiatrischen Wissenschaften an europäischen Universitäten und zum Einbezug wissenschaftlichen Wissens in die juridischen Praxen.

Wissenschaftliches Wissen hat, das lässt sich klar zeigen, einen gro- ßen Stellenwert in der Manifestation dieser Praxen. So ist es der Fokus auf die Analyse von Wandel und Persistenz von Macht- und Wissensver- hältnissen, der für die vorliegende Arbeit wegweisend ist. Welche Art von Wissen wird von wem über Geschlecht und Gewalt produziert und in wel- chen Zusammenhängen geschieht dies? Wie institutionalisiert und ver- festigt sich Wissen um die verbrecherische Frau?

Ich stelle der Abbildung der juridischen Praxis, der Analyse der Be- dingungen der wissenschaftlichen Wissensproduktion und der Presse- berichterstattung, die nach meinem Verständnis immer wieder eine Übersetzerfunktion im weitesten Sinne (wissenschaftliches bzw. institu- tionalisiertes Wissen in Alltagswissen) übernimmt, Verweise und Zitate aus der Literatur im Sinne eines crossreading gegenüber. Dieses Vorgehen folgt einer Idee Vladimir Nabokovs: »There is no science without fancy and no art without facts.« (Nabokov, 2012: 78f.) Die Verweise dienen als assoziative Marker und Querverweise im Sinne ›diskursiven Denkens‹.

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Literarisches Schaffen wird diskursiv kontextualisiert und dient als Verweis auf die Diskursivität aller Dinge und der Sprache an sich. Dies macht plastisch, wie sich der Fluss von Wissen nicht nur durch die Zeit, sondern quer durch die sich disziplinär verortenden Wissensbestände zeigt.

Diskurse definieren sich, so schlägt Franz Xaver Eder vor, als »Prak- tiken […], die Aussagen zu einem bestimmten Thema systematisch or- ganisieren und regulieren und damit die Möglichkeitsbedingungen des (von einer sozialen Gruppe in einem Zeitraum) Denk- und Sagbaren [zu]

bestimmen« (Eder, 2005: 6).

In der vorliegenden Analyse wird die Frage danach gestellt, wie es kommt, dass Umgangsweisen mit und Redeweisen von der aggressiven, gewalttätigen Frau sich im Laufe der Zeit scheinbar so wenig ändern und sich in vieler Hinsicht und quer durch eine ganze Reihe von Themen- feldern und Disziplinen so ähnlich sind. So wird ›the first female serial killer‹ Aileen Wuornos genauso wie die an einem Raubüberfall beteiligte Gertrud Nägler als lesbische Frau mit ›Vorliebe zu männlicher Kleidung‹

klassifiziert (vgl. Fallmaterial Nägler und die Darstellung Wuornos’ im Kinofilm Monster).

Die Historische Diskursanalyse fragt danach, wieso ›die einen Din- ge‹ diskursiv in Erscheinung treten und ›die anderen‹ nicht. Es geht mir somit nicht darum, zu sagen, dass es eine unendliche Anzahl von mög- lichen Fragen an ein historisches Ereignis zu stellen gibt, sondern mit der Einnahme einer diskursanalytischen Perspektive danach zu fragen: »Wie kommt es, dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?« (Foucault, 1981: 42) So lässt sich fragen: Wie kommt es, dass die Verbrecherin als vermännlichte Lesbe oder – wie die eingangs erwähnte Amanda Knox – als ›Engel mit Eisaugen‹ gezeichnet wird? Wie kommt es, dass die schöne Mörderin zur ›femme fatale‹ wird und die hässliche zum Monster, das Mädchen aus gutem Hause als ›verirrt‹ und besserungsfähig beurteilt, die Frau aus schlechtem sozialen Umfeld mit einer ›Lust am brutalen Töten‹ zum Tode verurteilt wird und nicht um- gekehrt?

»Diskursanalyse zielt darauf, was faktisch gesagt wurde und dann gleichsam zu stabilen Aussagemustern kristallisierte, die nach einiger Zeit wieder zerfallen.« (Ebd.) Diese faktischen Aussagen und die Muster, zu denen sich Wissen um die gewalttätige Frau bildet, stabilisiert, in Zeit- läuften und den spezifischen Umständen einer Gesellschaft verschwin-

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det und an einem anderen historischen Ort wieder erscheint, werde ich im Folgenden nachzeichnen.

Ich verstehe die Historische Diskursanalyse somit als eine For- schungsperspektive, die eine Möglichkeit bietet, das Auf- und Abtauchen von Wissensbeständen über große Zeitperioden hinweg zu betrachten, und die es erlaubt, einen breiten historischen Forschungshorizont zu er- öffnen und verschiedene Diskursfelder miteinander zu verbinden. Das Denken in historischen Dimensionen in Bezug auf das Wissen über die machtvoll agierende Frau, die Haltbarkeit von Wissensvorräten über Weiblichkeit und Ohnmacht und ihre Bewegungen, deren Fluss durch die Zeit also – um Jägers Bild anzuwenden –, das ist es, was ich nachfol- gend untersuche.

II.1.2 Das Dispositiv als Hintergrundfolie der analytischen Lesart

Foucault versteht unter einem Dispositiv

»ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekto- nische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder phil- anthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes wie Ungesagtes, umfasst. Soweit die Ele- mente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist« (Foucault, 1976 119f.).

Dreyfus/Rabinow bezeichnen das Dispositiv – und diese Definition er- scheint mir als eine sinnvolle Konkretisierung der Foucaultschen Vorgabe auf der Ebene der Anwendung – als ein vom Historiker konstruiertes, gleichzeitig aber auch in den Praktiken enthaltenes »Analyseraster« (vgl.

Klemm/Glasze, 2005: 7).

Mit »Dispositiven« werden meist in der Nachfolge Foucaults

»institutionalisierte infrastrukturelle Momente und Massnahmebündel – wie Zu- ständigkeitsbereiche, formale Vorgehensweise, Objekte, Technologien, Sank- tionsinstanzen, Ausbildungsgänge usw. – bezeichnet, die einerseits zur (Re)Pro- duktion eines Diskurses beitragen, und durch die andererseits ein Diskurs in der Welt interveniere, also Machteffekte realisieren kann« (Keller, 2004: 63).

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So geht es denn bei der Darlegung des methodischen Vorgehens vor allem darum, die Grundlagen des Denkens als einen Wegweiser vorzustellen, der die vorliegende diskursanalytische Untersuchung gedanklich anleiten soll. Der Grundgedanke ist denn auch hier ein genealogischer: beobachtet und analysiert werden die »Wahrheitsspiele« (ebd.), die Verwicklungen von Wissen und Macht, die Auseinandersetzungen, Debatten, Ausschlie- ßungsprozesse bei der Produktion von Wissen über das verbrecherische Weib, über den Geschlechtscharakter des Weibes und das »schwache Ge- schlecht«.

II.1.3 Methodologische Nebenwege:

Methode, Programm oder ›Kunstwerk‹?

Mit Philip Sarasin gesprochen handelt es sich bei der Historischen Dis- kursanalyse weniger um eine fassbare Methode, keine »Methode, die man lernen könnte, sondern eher um eine theoretische, vielleicht sogar philo- sophische Haltung« (Sarasin, 2003: 8). Mit dieser Einstellung steht Sa- rasin nicht allein; vielfach wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der Diskursanalyse und Diskurstheorie nicht um eine Methode handle. So ist denn zum Beispiel von Diskursanalyse als »Untersuchungsprogramm«

die Rede (vgl. Keller, 1997: 325) oder von einer Forschungsperspektive (vgl. Eder, 2005: 6ff.), die eine bestimmte Art und Weise der Wissens- zirkulation untersucht.

Welcher Begriff also auch konstatiert wird – die Perspektive, das Untersuchungsprogramm oder die philosophisch-theoretische Haltung –, mit dem linearen Vorgehen einer empirischen Herangehensweise hat die ›Methode Diskursanalyse‹ nicht viel gemein, dies ist hinreichend be- kannt. Und doch sind die Bestrebungen, die diskursanalytischen Werk- zeuge zu schärfen, in den methodologischen Debatten der historischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen seit den 2000er Jahren deut- lich bemühter.

So fordert beispielsweise Reiner Keller, der – wie voranstehend schon erwähnt – für eine wissensanalytische Ausrichtung der diskursanalyti- schen Arbeit plädiert, in Abgrenzung zum sprachwissenschaftlich orien- tierten methodischen Instrumentarium insbesondere von Sarasin eine Konkretisierung des diskursanalytischen Vorgehens. Es lassen sich dem- nach auch hier typisierende Konzepte der Herstellung von Zusammen- hängen (Keller, 2005: 16) finden. Dies wiederum »suggeriert« (ebd.), dass

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es die Kunst des Historikers am Gegenstand sei, die die diskursanalyti- sche Arbeit ausmache und die es nicht zu erlernen gelte. Gegen eine sol- che Konstruktion argumentiert Keller zu Recht. Im Folgenden konkreti- siere ich, wie sich meine diskursanalytische Herangehensweise gestaltet.

II.1.4 Fallauswahl und Material

Bei der Fallauswahl für die Betrachtung des Diskurses um die Gewalt- verbrecherin habe ich das Findbuch des Berliner Kriminalkommissariats herangezogen und nach entsprechenden Fallakten durchforstet, hier insbesondere Fallmaterial aus der »Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung«. Im Findbuch sind Fallbeschreibungen von in der Regel einer bis fünf Zeilen in Form von Kurztexten in einem Register einzusehen.

Zunächst habe ich alle Kurztexte zu Mordfällen, die im Zeitrahmen von 1900 bis 1936 zur ›Akte‹ gemacht und archiviert wurden, gelesen und dann diejenigen Akten zu den Fallbeschreibungen im Archiv zur Ansicht bestellt, bei denen eine Frau Täterin oder Mittäterin war. Bei einer un- konkreten Beschreibung im Kurztext habe ich die entsprechenden Akten ebenfalls zur Ansicht bestellt.

Die von mir ausgewählten Tatumstände fallen nicht unter die Katego- rie Kinds- oder Gattenmord. Diese als ›typisch weiblich‹ markierten Ver- brechen sind in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten ausführlich untersucht worden. Mein Erkenntnisinteresse ist daher auf einen anderen Punkt gerichtet: Die gewalttätig handelnde Frau weicht doppelt ab und bildet so ex negativo die Folie für ›normales oder erlaubtes‹ weibliches Handeln. Frauen, die gewalttätig handeln und dies noch dazu außer- halb des ihnen zugeschriebenen Handlungskontextes, überschreiten die Grenzen der etablierten Geschlechterverhältnisse und werden zum nicht fassbaren Anderen ihres Geschlechts.

Mit dem beschriebenen Auswahlraster hatte ich nach ausführlicher Lektüre des Findbuches einen Aktenfundus von 11 Mordfällen, begangen von Frauen im benannten Zeitraum, zur Lektüre vor mir, wie er in seiner Beschaffenheit heterogener nicht sein konnte: Es lagen mir Akten vor, wie diejenige zum Fall Hagedorn, die die gesamte Presseberichterstattung zu beiden verhandelten Gerichtsverfahren inklusive der Gutachten der gela- denen Experten –Sexualwissenschaftler, Gerichtsmediziner und Psychia- ter – enthielten, dazu die vollständigen Verhörprotokolle, Fotografien der

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Täterin und beider Opfer; zusätzlich konnte ich die gesammelte Bericht- erstattung Theodor Lessings über den Verhandlungsverlauf nachlesen.

Daneben steht zum Vergleich der Fall Klara Koh, die ihr Dienstmäd- chen misshandelt, sexuell traktierte und »in grenzenloser Wolllustexta- se« (vgl. Eintrag Findbuch) grausam ermordete. Zu diesem Fall fand ich in der Akte nur Fotografien des Tatorts und der Täterin vor; außerdem gab es den Kurztext aus dem Findbuch, der die Tatumstände skizzierte. Die Akte Koh ist so für die vorliegende Untersuchung nur marginal verwert- bar und kaum aufschlussreich.

Neben der Akteneinsicht habe ich den kriminologischen Diskurs die- ser Zeit mit Blick auf seine Positionen und Protagonisten unter die Lupe genommen, habe Belletristik und Trivialliteratur als Spiegel der wissen- schaftlichen Erkenntnisse und eines ›common sense‹ auf ihre Wissens- gehalte über die gewalttätig mordende Frau ausgewertet und den einen oder anderen Blick auf die Wissensgehalte von Malerei, Theatertexten und Bildender Kunst als Reflektionen der wissenschaftlichen Theorieentwick- lung zu weiblicher Kriminalität und Aggression geworfen. Im Material- korpus finden sich somit auch belletristische Texte von Robert Walser, Vladimir Nabokov, Oscar Wilde, Theodor Lessing und Annie Hruschka, aber auch populärwissenschaftliches Material wie das Lexikon der Serien- mörder. Darüber hinaus habe ich Filme wie Fritz Langs M – eine Stadt sucht einen Mörder (1931) oder die Hollywood-Produktion Monster (2003) von Patty Jenkins, außerdem die Dokumentarfilme Tödliche Beziehungen (2004) von Franziska Lamott und Michael Appel sowie »Aileen – Leben und Tod einer Serienmörderin« (2003) und Aileen Wuornos – The Selling of a serial killer (1992) von Nick Broomfield gesichtet.

Reiner Keller weist mit seinem Konzept der wissenssoziologischen Diskursanalyse darauf hin, dass

»Äußerungen wie Zeitungsmeldungen, Flugblätter, Vorträge u.a. […] an zeit-räum- lich und sozial sehr weit auseinander liegenden Orten erscheinen (können), von unterschiedlichsten sozialen Akteuren für diverse Publika hergestellt werden und dennoch einen typisierbaren Kerngehalt, eine typische ›Aussage‹ im Sinne Fou- caults enthalten, also Teil ein und desselben Diskurses« seien (Keller, 2005: 20).

Neben dem historischen Material habe ich pointiert den zeitgenössischen Diskurs um die gewalttätig mordende Frau anhand von Zeitungsmeldun- gen zu den Fällen Monika Weimar, Aileen Wuornos, Amanda Knox und

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dem zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Arbeit verhandelten Fall der deutschen Rechtsterroristin Beate Zschäpe in den Blick genommen.

II.1.5 Das methodische Vokabular und das diskursive Archiv

Das dieser Untersuchung zugrunde liegende Verständnis der diskursana- lytischen (Arbeits-)Begriffe hier darzulegen, hat für mich die Funktion eines Wegweisers, der es ermöglicht, den Lesenden einen gedanklichen Leitfaden durch die Untersuchung anzubieten. Damit folge ich dem Grundsatz: »Jede von Foucault inspirierte Diskursanalyse (muss) immer wieder neu […] einen methodischen Apparat für die Analyse entwerfen.«

(Klemm/Glasze, 2005: 4)

Das Instrumentarium für die Diskursanalyse kann erst am Gegen- stand selbst entwickelt werden, wie sich auch hier zeigt und im Verlauf der Untersuchung immer wieder deutlich werden wird, da zum Beispiel die Materialien sich eben von diesem zu jenem Fall unterscheiden. Der Foucaultsche ›Werkzeugkasten‹ ist – so wird vielfach kritisiert (vgl. u.a.

Eder, 2005; Sarasin, 2003) – methodisch-technischen Begrenzungen unterworfen, immer wieder stellen sich Widersprüche und Unschärfen in der eigenen Arbeit ein.

Mit vielfältigen Erweiterungen des Foucaultschen Konzeptes haben sich die verschiedensten Ansätze nutzbringend um Begriffsschärfung be- müht. Die diversen Erscheinungen des diskursanalytischen Verfahrens sind außerdem von der disziplinären Herkunft ihrer Verfasserinnen und Verfasser nicht zu trennen.

»Mal sind die ProduzentInnen und RezipientInnen samt ›Dispositiven‹ und sozialen Institutionen Teil des Diskurses, mal werden sie als außerhalb, als Struktur, ›Ma- rionette‹, Effekte und Antriebskraft des Diskurses bzw. von Diskursen betrachtet.

Je nach disziplinärer Herkunft scheinen in den Definitionen die jeweils dominie- renden Forschungsperspektiven einer Disziplin bzw. eines Ansatzes zwischen Phi- losophie, Sprachwissenschaft und Soziologie durch.« (Eder, 2005: 1)

Dementsprechend greife ich in dieser Arbeit sowohl auf Ansätze aus der Wissenssoziologie, als auch aus der Geschlechterforschung, der feminis- tischen Erkenntnistheorie, den Kulturwissenschaften und aus der Litera- turwissenschaft zurück.

(31)

II.2 d

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Die Bestandteile des theoretischen Rahmens, die ich hier in kurzer Form einleitend abbilde, sind dadurch gekennzeichnet, dass die Begriffe Wis- sen, Geschlecht und Gewalt in theoretische Klammern gefasst werden, wie sie sich in Bezug auf meine Untersuchung als relevant gezeigt ha- ben. Zunächst stelle ich nachfolgend den theoretischen Rahmen meines Gegenstandsfeldes im Überblick vor; in den folgenden Kapiteln werde ich die einzelnen Aspekte meines Erkenntnisinteresses und meiner Frage- stellung weiter theoretisch konkretisieren und in einem zweiten Schritt anhand des Datenmaterials empirisch untersuchen.

Die meiner Analyse zugrunde liegende Kategorie ist ›Geschlecht‹. Dies bedeutet, dass ich nicht die Frage nach dem Verhältnis von Frauen und Männern in einem bestimmten Wissensdiskurs (im juridischen, im me- dialen, im wissenschaftlichen Verbrechensdiskurs) stelle, sondern ich frage danach, wie Geschlecht diskursiv hergestellt wird, was es bedeutet, dass Individuen sich über ›Geschlecht‹ definieren und welche wesentli- chen Folgen dies hat.

Geschlecht und Zweigeschlechtlichkeit sind nach meinem Verständ- nis Ergebnisse sozialer Konstituierungen von Geschlecht in normativen Diskursen und in institutionellen Prozessen.

Das dieser Untersuchung zugrunde liegende Verständnis von Ge- schlecht folgt dem von Andrea Maihofer vorgeschlagenen Konzept ›Ge- schlecht als Existenzweise‹ (Maihofer, 1995).

Maihofer hebt die Bedeutung der Historizität der Geschlechterdif- ferenz und des Geschlechtskörpers hervor und verweist auf Laqueur, Duden und Honegger, die maßgebend aufgezeigt haben, dass selbst ein vormals als ›natürlich‹ verstandener Geschlechtskörper »historisch erklä- rungsbedürftig« geworden ist (vgl. Maihofer, 1995: 17, 21).

Den natürlichen Körper, der ›männlich‹ oder ›weiblich‹ ist, ihn gab und gibt es nicht. Ebenso wenig kann von einem ahistorischen, überzeit- lich gültigen ›natürlichen‹ So-Sein von Frau oder Mann die Rede sein. Die Differenz der Geschlechter als Selbstverständlichkeit hat so nie bestan- den und Dichotomie entwickelte sich entlang einer hegemonialen Denk- weise in Bezug auf Geschlecht und Geschlechtskörper.

Der historische Blick lässt die Unhaltbarkeit der Behauptung eines

»ahistorischen natürlichen Geschlechtskörpers und einer darauf basie-

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renden, scheinbar biologisch-anatomisch evidenten Geschlechterdiffe- renz deutlich werden«1 (ebd.: 22), wenn man sich mit der historischen Säftelehre und dem Ein-Geschlecht-Modell (vgl. Laqueur, 1992) – um nur zwei Beispiele zu nennen – beschäftigt. Der geschlechtliche Körper hat (s)eine Geschichte und ist im Laufe dieser den unterschiedlichsten Inter- pretationen, Ausformungen und auch Wandlungen unterworfen.

Das bedeutet, so zeigt Maihofer auf, dass der

»moderne Geschlechterdiskurs, wie er seit dem 18. Jahrhundert entstanden ist, […] jedoch nicht nur die gegenwärtig hegemoniale Art und Weise, ›Geschlecht‹,

›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit›[…] materiell körperlich zu leben oder anders aus- gedrückt: körperlich ›männlich‹ oder ›weiblich‹ zu sein, [konstituiert], er konstitu- iert darüber hinaus überhaupt die hegemoniale Art und Weise, wie wir gegenwärtig zu ›Frauen‹ und ›Männern‹ gemacht werden und als solche existieren« (ebd.: 98).

Und für diese Untersuchung wird im Folgenden noch mitzudenken sein, wie abweichende Individuen zu »Nicht-Frauen« und »Nicht-Männern«

gemacht werden. Maihofer weist an anderer Stelle darauf hin, dass je nach Fokus einer Untersuchung ganz unterschiedliche Fragestellungen erscheinen können:

»Alle Aspekte von Gesellschaft (soziale Situationen, gesellschaftliche Strukturen, Institutionen, Architektur, Wissensformen, Subjektivität, Körper) kommen nun als mögliche Momente der gesellschaftlichen Konstruktion und Organisation von Ge- schlecht in den Blick, als vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Elemen- te der jeweiligen Geschlechterarrangements.« (Maihofer, 2004: 141)

Auch Joan W. Scott weist darauf hin, dass das biologische Geschlecht historisch gelesen werden muss, obgleich vielfach (mehr oder weniger implizit) behauptet wird, dass »die Biologie […] etwas [sei], das keine Ge-

1 | Aus ganz unterschiedlichen analytischen Perspektiven, wie Maihofer zusam- menfasst. Honegger beschäftigt sich mit einem sich verändernden Verständnis des Geschlechtskörpers und zeigt auf, wie sich eine weibliche Sonderanthropolo- gie entwickelt, Laqueur befasst sich in seinen Studien mit sich wandelnden Wahr- nehmungen des geschlechtlichen Körpers in den medizinischen Wissenschaften und Barbara Duden untersucht die Historisierung der weiblichen Körpererfahrung früher (17. Jhdt.) und heute.

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schichte hat« (Scott, 2001: 46). Während, so Scott – auch verfestigt durch die theoretische Debatte um das Problem sex/gender – dem sozialen Ge- schlecht/gender lange eine Geschichte zugesprochen wurde, galt das bio- logische Geschlecht als ahistorisch und stabil.

Mit einer Infragestellung des biologischen Wissens und einer Aus- einandersetzung mit einer empirischen Autorität der Biologie selbst lässt sich dem etwas entgegensetzen.

Auch Maihofers Konzept lässt den Geschlechtskörper als soziale Konstruktion lesbar werden. Beide Kategorien erscheinen als Speicher von Wissen um eine ›richtige Weiblichkeit/Männlichkeit‹, die auszubilden eine unumgängliche Anforderung an Individuen darstellt.

»Der hegemoniale bürgerliche Geschlechtskörper (mit seiner Konzeption biolo- gisch distinkter Geschlechter) umfasst eine sehr komplexe historisch spezifische Verbindung von wissenschaftlichen und alltäglichen Wissensformen, Wahrneh- mungs- und Erfahrungsweisen des Körpers sowie eine Vielzahl ›weiblicher‹ und

›männlicher‹ Denk-, Gefühls- und Handlungsweisen, Körperformen, Habitus und Sensibilitäten. Die Materialität des hegemonialen Geschlechtskörpers besteht in dieser historisch entstandenen, spezifischen Art und Weise, in der wir als ge- schlechtliche Körper konstituiert werden.« (Maihofer, 1995: 92f.)

Mit Hannelore Bublitz und Stefan Hirschauer betrachte ich das System der Zweigeschlechtlichkeit als ein Wissenssystem, welches Technologien entwirft, um eine Normierung der Kategorie Mann/Frau zu bewerkstel- ligen und festzuschreiben (vgl. etwa Bublitz/Hanke/Seier, 2000; Hirsch- auer, 2004).

Gewalt wird heute in verschiedenen Zusammenhängen unterschied- lich definiert (vgl. z.B. Dackweiler/Schäfer, 2002; Hacker, 1998; Kohler/

Pühl, 2003). Ich habe für die vorliegende Untersuchung das physisch wirksame, aggressive Handeln von Frauen am Beispiel des Ausnahme- verbrechens Mord untersucht. Wenn hier also von Gewalt die Rede ist, ist konkret die »Dimension der körperlichen Gewalt durch konkrete Akteu- re« (Dackweiler/Schäfer, 2002: 11) gemeint.

Mein Ziel ist es nicht, an dieser Stelle einen detaillierten deskriptiven Überblick über Persistenz und Wandel der Beurteilung von weiblichem Gewaltmord in den vergangenen 120 Jahren vorzulegen. Vielmehr zeigt diese Arbeit, deren Forschungsrahmen um 1900 ansetzt, anhand von pointiert gewählten Beispielen und bisher unbeforschtem Fallmaterial

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auf, wie weit die Persistenz von Geschlechterbildern der gewalttätigen Frau geht und wie wirksam sie ist.

Ich folge damit einer Vorgehensweise, wie sie Lüdtke/Lindenberger im Rahmen einer historischen Gewaltforschung vorschlagen, die sich weniger an statistischen Häufigkeiten abarbeitet und demgegenüber der Einzelfallbetrachtung, die den Erklärungsansätzen einer Zivilisations- und Modernisierungstheorie trotzt und Gewalt als kontinuierlichen Be- standteil moderner Gesellschaften versteht (vgl. hierzu auch Gay, 1996;

Heitmeyer, 2002; Schumann, 2001; Trotha, 1997 u. A.), Priorität ein- räumt. Angewendet wurde sie u.a. von Brückweh in ihrer Untersuchung zu Serienmorden, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert (vgl. Brück- weh, 2006).

II.2.1 Wissen

Ich möchte nochmal auf den schon eingangs zitierten und so plastisch- anschaulichen Satz von Siegfried Jäger zurückgreifen, der besagt, Dis- kurs (sei) »als (ein) Fluss von Wissen und Wissensvorräten durch die Zeit«

(Jäger, 2001: 84) zu begreifen. In der vorliegenden Untersuchung stehen vor allem Aspekte von Wissen im Zentrum der Überlegung – im Sinne einer Analyse wissenschaftlicher Diskurse (Kriminologie, Psychiatrie), juridischer Diskurse und Rechtsprechung, sowie deren ›Übersetzung‹

und Vermischung mit Jedermanns- oder Alltagswissen durch ihre me- diale Aufbereitung und auch eine Verarbeitung in literarisches Wissen.

Anhand der Schwerpunkte Verbrechen und Geschlecht (über den kriminologischen Diskurs), knowledge in the making (über polizeiliche Arbeit und kriminalistische Ermittlungspraxis sowie Wissensproduktion in der juridischen Praxis), über die Wissensvermittlung in Hinblick auf die Verbrecherin durch Experten vor Gericht und in der Presse (Expertise vor dem Strafgericht) werde ich die Prozesse der Wissenspopularisierung erläutern. Sie werden hier ebenso in den Blick genommen wie Transfor- mationsprozesse des Gegenstandes.

Die Figur des menschlichen Monsters wird dabei zum Vehikel der Konstitution des ›Anderen‹, des ›Fremden‹. An diesem wird durch von Experten vertretene Fachkunde exemplarisch vorgeführt, durch den Auf- tritt vor Gericht publik und durch die Verarbeitung in Massenmedien all- gemein gemacht, was die ›normale Frau‹ sein soll und/oder eben nicht ist.

(35)

II.3 s

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Ist Gewalt und Gewalthandeln per se männlich konnotiert, so schlägt sich diese Auslegung auch in der Forschung nieder. Weibliche Abwei- chung ist in den zuständigen Wissenschaften ein Feld, welches eher am Rande denn explizit Beachtung findet.

Zum allgemeinen Stand der Forschung lässt sich daher zunächst ge- nerell feststellen, dass weibliche (Gewalt-)Kriminalität bisher verhältnis- mäßig wenig erforscht ist. Während in früheren Studien die Frau meist als Opfer von Gewalt und Gewaltkriminalität erscheint, lässt sich aller- dings seit Mitte der 1990er Jahre und insbesondere in den letzten zehn Jahren eine vermehrte Beschäftigung mit Täterinnen finden.

Es liegen hierzu vor allem Arbeiten aus dem Bereich der Sozialwis- senschaften und den angewandten Sozialwissenschaften sowie der So- zialarbeit vor (und hier vor allem im Bereich Jugendkriminalität, Gangs, Rechtsextremismus; vgl. hierzu z.B. Bereswill, 2006; Birsl, 2011; Bruhns/

Wittmann, 2002; Kompisch, 2008; Silkenbeumer, 2007).

In den für meine Forschung relevanten Disziplinen – Historische Kriminalitätsforschung, Kriminologie – ist das Schreiben über die von einer Frau begangene Gewalttat nach wie vor eine Randerscheinung. In der Historischen Kriminalitätsforschung gibt es nur wenige Arbeiten, die Geschlecht in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. So legt der His- toriker Karsten Uhl 2003 erstmals für den deutschen Sprachraum eine Monografie zur Untersuchung des »verbrecherischen Weibes« vor, in der er sich mit der Genese dieses Begriffes beschäftigt.

Die meisten Arbeiten der Historischen Kriminalitätsforschung the- matisieren Kriminalität, ohne geschlechterdifferent zu analysieren, oder sie tun dies nur punktuell und am Rande; die kriminelle Frau kommt nicht oder kaum explizit vor (vgl. Becker/Wetzell, 2006; Greve, 2004, Galassi, 2004; Horn, 2003; Kailer, 2003; Schauz/Freitag, 2007). Die ältere Forschung konzentriert sich auf die sozialhistorische Erfassung von Kriminalität, ohne die Wissenschaft vom kriminellen Menschen zu beachten; neuere Arbeiten nehmen die Interdependenz von Wissen- schaftsproduktion, Kriminalitätsvorstellungen und Strafverfolgung in den Blick. Sie begreifen diese Interdependenz als Ausdruck historisch variabler Ordnungsmuster von Normalität und Abweichung, ohne einer

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geschlechtsspezifischen Differenz Aufmerksamkeit zu schenken.2 Hier wird Verbrechen und Kriminalität als Ergebnis narrativer Zuschreibungs- prozesse gesehen und somit wird diese Forschung sehr anschlussfähig an die kultur- und literaturwissenschaftliche Forschung.

In der wissenschaftlichen Diskussion zur historischen Kriminalitäts- forschung fehlt also die Kategorie Geschlecht als Instrumentarium in vielen Arbeiten ganz oder sie spielt eine marginale Rolle. In einigen weni- gen Arbeiten werden Diskursstrukturen, die Kriminalisierungsprozesse aufzeigen, durchleuchtet. Hier bieten sich für meine Arbeit verschiedene Anschlussmöglichkeiten.

Auch in der zeitgenössischen Kriminologie ist die Kategorie Geschlecht nur für ein Minimum der Untersuchungen von Relevanz. Abgesehen von wenigen Ausnahmen aus dem Bereich der feministischen Rechtswissen- schaft (vgl. etwa Schmölzer, 2003) ist hier ein Großteil der Arbeiten im Bereich der Kritischen Kriminologie der 1990er Jahre (vgl. Althoff, 1995;

Althoff/Leppelt, 1995; Gransee/Stammermann, 1991; Legnaro/Aengen- heister, 1999; Löpscher/Smaus, 1999) vorzufinden.

Als weiteres Feld, in dem über weibliche Gewaltverbrechen und insbe- sondere über weiblichen Gewalt- oder Serienmord publiziert wird, ist der Bereich des (Semi-)Populärwissenschaftlichen zu nennen. Hier finden sich Monografien, die als »Enzyklopädie« oder »Lexikon« Nachschlagewerke zu Fallgeschichten bilden und nicht selten – sowohl in der Aufmachung wie im Inhalt – den Bereich des Dokumentarischen überschreiten (vgl.

u.a. Murakami/Murakami, 2001; Newton, 2009).

Nicht zuletzt sind auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften und in der Geschlechterforschung Anschlussmöglichkeiten zu finden.

Nach Claßen und Höcker verfolgt die neuere deutsche literatur-, bzw.

kulturwissenschaftliche Forschung zu Literatur und Kriminalität eine interdisziplinäre Forschungsperspektive, die semiotische, narratologi- sche, diskursanalytische und medienspezifische Ansätze verknüpft und sprach- und bildästhetische Inszenierungen von Kriminalität in ihrer Wechselwirkung mit wissenschaftlichen Verbrechenserzählungen er- fasst. Im deutschsprachigen Raum haben hierzu Schönert und Linder Arbeiten vorgelegt. Sie untersuchen die Trias Verbrechen, Justiz, Medien,

2 | Vgl. Hacker/Uhl/Siebenpfeiffer im Anschluss an, auf der anderen Seite exis- tiert neben der Wissenschaftsgeschichte eine kulturwissenschaftliche Perspekti- ve, zu nennen wären Inge Weiler, Martin Lindner, Marie Tatar, Barbara Hales.

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sind allerdings jeweils nicht spezifisch auf Geschlecht als Gegenstand fo- kussiert.

II.4 I

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»Das einzige, was der Diskursanalytiker tun kann, ist, das Auftreten von Aussagen festzuhalten und die Bedingungen zu untersuchen, die dieses diskursive Ereig- nis möglich gemacht haben. Dazu registriert er, in welchen Serien es auftritt und welche möglichen alternativen Aussagen es dabei verdrängt hat.« (Sarasin, 2005:

108)

Der erste Schritt zur Erstellung meines Datenkorpus, das Festhalten der Aussagen, wie Sarasin es nennt, entspricht also der Lektüre der histori- schen wissenschaftlichen Texte über das verbrecherische Weib und dem vorab geschilderten Verfahren der Findbuch-Recherche zum Zweck des Anlegens eines Datenkorpus als Grundlage für diese Untersuchung.

Nach einer ersten Übersicht erfolgte dann eine Fallauswahl nach Ab- gleich mit dem zuvor geschaffenen Raster: Untersucht werden Fälle von Gewaltmord, in denen Frauen als Täterin oder aktiv-selbstständig han- delnde Mittäterin auftreten. Ausgeschlossen werden die »klassischen«

Beispiele weiblicher Kriminalität wie Kinds- oder Gattenmord.

Dem assoziativ erregten Interesse am Gegenstand folgt also das Su- chen, das Auffinden, Registrieren und Festhalten, das Archivieren der Aussagen zu einem Datenkorpus. Die Summe der Aussagen, die be- trachtet werden, bildet das diskursive Archiv: »(d)er gleichsam virtuelle Speicher aller Möglichkeiten, in einem bestimmten historischen Moment und im beschränkten Kommunikationsraum« (Foucault, 1981: 183) eines Diskurses etwas zu sagen.

Diesem ersten Arbeitsschritt schließt sich die Analyse des aus der Akteneinsicht und der Lektüre von Pressematerial, wissenschaftlichen, juridischen und literarischen Texten gewonnenen Datenkorpus und der Bedingungen des diskursiven Ereignisses an.

Die Summe der zur Untersuchung gesammelten Aussagen, das Set- ting der Untersuchung, ist – so nennt es Foucault – das Archiv. Es ist nicht die »Summe des real Gesagten, sondern das Gesetz dessen, was ausgesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht, das System ihres Funktionierens« (Sara-

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sin, 2003: 110). Es sind Regeln, die die Aussagen nach einem bestimmten Verteilungsmuster konfigurieren und anordnen. Dies sind Ein- und Aus- schlüsse des Diskurses: Wer darf wann wie und mit welchen Folgen Aus- sagen treffen – oder am konkreten Beispiel:

• Welche Expertise zu weiblichem Gewaltmord wird anerkannt?

• Wo bildet sie sich aus?

• In der Gerichtspraxis?

• Weiterhin lässt sich hierzu fragen:

• Welche Ereignisse sind diskursiv haltbar, überleben, welche sind blei- bend, welche verschwinden oder werden nicht geäußert, erscheinen nicht?

• Wer hat wie welche Aussagen aufbewahrt?

Diese Fragen kamen schon bei der Einführung ins Archivmaterial durch die Archivarin auf; sie berichtete mir, wie das Findbuch angelegt worden war, und welche Akten in welchem Bestand des Landesarchivs wie zu- sammengestellt worden sind.

Weiterführendes hierzu wird deutlich, wenn es um das Berliner Kri- minalkommissariat mit seinem leitenden Kommissar Ernst Gennat geht, der weitgehend für die Aktensammlung und Archivierung verantwort- lich zeichnet und um dessen Funktion, sowie die von ihm geleitete In- stitution des Berliner Kriminalkommissariats, es im zweiten Kapitel in Zusammenhang mit der Beschreibung der Eckdaten zur vorliegenden Untersuchung geht.

II.4.1 Notizen zur Technik des Papiers

Ein wichtiger Teil meiner Daten entstammt Zeitungsausschnitten, die in den Fallakten zu den Verhandlungen gesammelt wurden. Das Find- buch besteht in der Hauptsache entweder aus Kurztexten, die die Akten beschreiben oder aus einer kurzen Zeitungsmeldung zum Fall. Aus den Verhörprotokollen ließ sich zu meiner Überraschung relativ wenig Rele- vantes extrahieren, auch in den Gerichtsprotokollen fand ich en gros we- nig Hinweisgebendes, was ich für meine Forschung verwenden konnte.

In den Urteilsschriften und vor allem in den Zeitungsausschnitten fand ich verwertbares Material.

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Die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen hat sich in ihrer Mono- grafie Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne (2006) der Be- deutung und Entstehung des Zeitungsausschnitts als epistemologisches Objekt der Moderne gewidmet. te Heesen zeigt, wie der Zeitungsaus- schnitt von Beginn der Verbreitung des Massenmediums Zeitung an bis in die heutige Zeit ein Objekt der Sammlung und Archivierung und auch (Re)produktion von Wissen darstellt. Wenngleich te Heesen vor allem auf Beispiele aus der Physik, Kunst und Ökonomie rekurriert, so verwundert es nicht, dass sie mit einem Beispiel aus der Kriminalistik in ihre Unter- suchung einführt. Sie weist auf den von Arthur Conan Doyle erfundenen Meisterdetektiv Holmes hin: »Die Hinwendung zu den unscheinbaren Geschehensdetails bedeutet einen epistemischen Zugang, bei dem das Indiz nicht mehr einfach nur als Teil eines Ereignisses, sondern als Be- standteil auftritt, der das ganze Geschehen in nuce enthält und repräsen- tiert.« (te Heesen, 2006: 8)

Weiter führt die Autorin aus:

»Aber auch der Zeitungsausschnitt selbst wurde in den kriminalistischen Dienst genommen. Man kultivierte eine regelrechte Schnittkultur, die die Meldung, also das Informationsdetail, aus dem Gesamtzusammenhang aussonderte und in einen neuen Kontext einfügte. Dabei ging es vor allem um eine Sammlung von Ein- zelinformationen die sich – so die Hoffnung der Zeit – irgendwann zu einem großen Ganzen zusammenfügen würde.« (Ebd.: 8f.)

Nachdem im Jahr 1879 das erste Zeitungsausschnittbüro in Paris und im Jahr 1908 das Welt-Wirtschaftsarchiv gegründet wurde, begann die, so te Heesen »Verwissenschaftlichung durch eine systematische, an den Prin- zipien der Organisationskunde entwickelte Struktur« (ebd.: 15).

Dem Zeitungsausschnitt, das ist auch mit einem Blick in den poli- zeilichen Karteikasten gut erkennbar, hat in dem Prozess der Verwissen- schaftlichung und Disziplinierung kriminologischen Wissens eine große Bedeutung – und er ist eine weitere wichtige Schnittstelle zu einem All- tags- und Jedermannswissen. Der gesammelte, gebündelte und zusam- mengeklebte Zeitungsausschnitt ist das Monument einer Systematisie- rung des Wissens. »Das Verfertigen und Einfügen des Ausschnitts kann als Signifikationsprozess bezeichnet werden, der Inhalt wie Form betraf […].« (Ebd.: 47)

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Und auch erst die Zeitung erreichte als Medium ein Massenpubli- kum. Mit dem Ausschneiden und Archivieren, Festhalten einzelner Arti- kel entstand neben der ›Zeitungswirklichkeit‹, der nacherzählten zweiten Realität, die ›Wirklichkeit des Archivs‹, in der die ausgeschnittenen und unter einem Schlagwort gesammelten Artikel aufbewahrt wurden.

»Die Zeitungsausschnittsammlung führte eine dritte Wirklichkeitsordnung ein, in- dem die Zeitung als Realität zweiter Ordnung in eine neue Realität dritter Ordnung überführt wurde, in der sich der Massenmensch Leser und das Massenorgan Zei- tung in der neuen Privatheit der Sammlungen trafen.« (Ebd.: 300)

Wenn Zeitungen Geschichten erzählen, indem sie ihre Gegenstände erst erzeugen, so müssen die gesammelten Ausschnitte, in denen über die Verbrecherinnen, Fälle also, die diese Arbeit untersucht, als Exzerpte, als Umschreibungen gelesen werden. Diese wiederum erschaffen ihren Gegenstand, reproduzieren ihn und zwar auf eine ganz spezifische Wei- se. Darüber hinaus wirft dies wiederum ein spezifisches Licht darauf, wie Wissenschaft Geschichten produziert, wiedererzählt. Und mit einem Blick auf das, was ich die Haptik der Akten nenne, wird sichtbar, dass all dies auch ganz anders hätte erzählt werden können.

»Der rote Faden eines Indexbegriffs, der durch die Zeit und die verschiedenen Ausgaben der Zeitungen hindurch verfolgt wurde, erzeugte die Information. Das Schlagwort führte verschiedene Tage und verschiedene Regionen […] zusammen und machte aus einer verstreuten Meldung innerhalb der Ausschnittsammlung einen Teil eines zusammengesetzten vermeintlichen Ganzen.« (Ebd.: 95)

So wurde, wie te Heesen es ausdrückt, »archivalische Ewigkeit« (ebd.) hergestellt, deren Ausstattung, also die Verschlagwortung, die Indizes etc., ganz eigene Formen der Ausprägungen und Bedeutsamkeit schuf.

Und noch ein wichtiger Aspekt kann als ›Effekt‹ dieser Vorgänge angese- hen werden: »Die Indexlisten der Ausschnittbüros schufen ein Paradox, indem sie ein transzendentes Medium in eine ihm bisher nicht eigene Beständigkeit und Stabilität überführten.« (Ebd.)

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