• Keine Ergebnisse gefunden

Robert Musil und die Errettung des IchPeter L. Berger

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Robert Musil und die Errettung des IchPeter L. Berger"

Copied!
11
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, H eft 2, April 1988, S. 132-142

Robert Musil und die Errettung des Ich

Peter L. Berger

Boston University, Institute for the Study of Economic Culture, 118 by State Road, Boston Mass. 02215, USA

Über alle historischen und kulturellen Unterschie­

de hinweg gehört es zu den Wesensmerkmalen des Menschen, ein Ich zu haben. Doch jedes Zeitalter, jede Gesellschaft verändert diese anthropologisch konstante Figur; so entsteht einmal der „Helleni­

sche Mensch“, ein anderes Mal die „chinesische Mentalität“, wieder ein anderes Mal der „homo hierarchicus“ usw. In jedem dieser Fälle besteht ein vorrangiges analytisches Problem darin, das allen Menschen seit jeher zugrunde liegende Ich abzugrenzen von dem historisch jeweils besonde­

ren Ich, welches vom jeweiligen Zeitalter und von der jeweiligen Gesellschaft konstruiert wird. Das Problem des „modernen Menschen“ und der Be­

stimmung dieses historisch besonderen Ich liegt im Prinzip nicht anders als bei den gerade erwähnten Beispielen und sollte im Prinzip auch nicht schwie­

riger sein. Man könnte sich sogar vorstellen, daß das Problem in diesem Fall einfacher zu lösen ist, da Zeitgenossen weitaus leichter untersucht wer­

den können als Menschen aus grauer Vorzeit und da sich eine solche Untersuchung auf die Hilfe der zahlreichen neuen Wissenschaften vom Menschen stützen kann. Sicherlich haben diese Wissenschaf­

ten neue und manchmal überraschende Perspekti­

ven auf das überdauernde Phänomen des Ich eröff­

net. Dennoch kann man guten Gewissens behaup­

ten, daß die Frage, worin sich gerade der moderne Mensch von anderen Erscheinungsformen seiner Gattung unterscheidet, bislang noch nicht eindeu­

tig und verbindlich beantwortet wurde. Bei dem Versuch zu erfassen, was eigentlich unter moder­

nem Individualismus zu verstehen ist, zählt zum Beispiel der britische Soziologe Steven Lukes nicht weniger als elf „Grundgedanken“ darüber auf, worin dieses Phänomen besteht - ein Mischmasch aus Definitionen und Bedeutungen, die einen ver­

wirrt und enttäuscht zurücklassen.1 Philip Gleason, ein amerikanischer Historiker, hat vor kurzem eine „Bedeutungsgeschichte“ des Begriffs

„Identität“ vorgestellt - mit ähnlich ärgerlichen Ergebnissen.1 2 Man bedenke: was hier zur Debatte 1 Steven Lukes, Individualism, New York (Harper &

Row) 1973, S. 43ff.

2 Philip Gleason, Identifying Identity: A Semantic Histo­

ry, in: Journal of American History, 69:4 (1983), S. 910ff.

steht, ist noch keine kausale oder erklärende Theorie darüber, aufgrund welcher gegenwärtiger oder vergangener ursächlicher Kräfte die moderne Individualität bzw. die moderne Identität so oder so geartet ist. Im Kern geht es noch immer bloß um das Problem, auf der Ebene der simplen Beschrei­

bung zu klären, worum es sich eigentlich bei die­

sem Phänomen handelt.

Da Historiker und Sozial Wissenschaftler sich so wenig erfolgreich mit dieser Definitionsaufgabe abgemüht haben (und die Psychologen, die sich als militant befehdende Sekten gegenüberstehen, schneiden dabei sicher nicht besser ab), scheint es sinnvoll, die Literatur um Rat zu fragen. Große Schriftsteller sind vielleicht nicht besonders kom­

petent darin, Erklärungen und kausale Theorien anzubieten, aber wenn sie etwas können, dann ist es: sie können sehen. Und Definieren ist letztlich ein Akt des Sehens. Es gibt gute Argumente dafür, daß es die Literatur ist, die den besten Leitfaden zur Bestimmung der modernen Individualität bie­

tet, und zwar besonders die spezifisch moderne Form der Literatur: der Roman. Hier ist sicher nicht der Ort, diese Argumente aufzuführen. Aber ein Beispiel für diese Argumentation kann unter­

sucht werden - ein so wichtiges und überzeugendes Beispiel, daß man dem Ergebnis einer umfassen­

deren Beweisführung mit Optimismus entgegense­

hen kann. Bei diesem Beispiel handelt es sich um den österreichischen Romanschriftsteller Robert Musil (1880-1942), dessen Werk übrigens auch in der angelsächsischen Welt zunehmend Anerken­

nung findet.3 In der Tat ist die Frage nach dem modernen Ich ausdrücklich eines der Hauptthe­

men in Musils bedeutendstem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, an dem er über zwanzig Jahre arbeitete und der bei seinem Tode unabge-

3 Dies ist vor allem den Bemühungen der Übersetzer Eithne Wilkins und Ernst Kaiser zu verdanken. She.

besonders ihre Übersetzung von Musils bedeutendstem Roman: The Man Without Qualities, 3 vols., London 1953,1954 und 1960. Nützliche englische Einführungen in Musils Werk finden sich in: Frederick Peters, Robert Musil: Master of the Hovering Life, New York (Co­

lumbia University Press) 1978, und David Luft, Robert Musil and the Crisis of European Culture, Berkeley (University of California Press) 1980.

(2)

Peter L. Berger: Robert Musil und die Errettung des Ich 133

schlossen war. Bei der Beantwortung dieser Frage nach dem modernen Ich konnte Musil nicht nur auf seine großartigen Fähigkeiten als Schriftsteller, sondern auch auf seine (in der modernen westli­

chen Literatur ungewöhnliche) philosophische Vorbildung zurückgreifen.

Wie Ulrich, die Hauptfigur in „Der Mann ohne Eigenschaften“, war auch Musil in seiner Jugend ein Mann mit unbeständigem Lebenslauf. Aufge­

wachsen in einer Militärschule (die er in seinem ersten Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ verewigt hat), wurde Musil Offizier der österreichisch-ungarischen Armee; doch dies war eine Lebensweise, die ihm so arg widerstrebte (wenigstens was ihn selbst anging - er behielt Zeit seines Lebens eine bleibende Hochachtung für sie bei), daß er sein Offizierspatent zurückgab. Er ging an die Technische Universität nach Brünn, wo sein Vater Professor war, um Ingenieurwissen­

schaften zu studieren. Aber auch das Ingenieurstu­

dium gefiel ihm nicht. Und so ging Musil nach erfolgreichem Abschluß nach Berlin, um Philoso­

phie, Mathematik und Experimentalpsychologie zu studieren. Mit einer Dissertation über den österreichischen Philosophen Ernst Mach erhielt er den Doktortitel. (Mach gilt als einer der Väter der Wiener Schule und allgemein des Neopositivis­

mus - merkwürdigerweise inspirierte Mach Lenin zu seiner einzigen philosophischen Abhandlung).

Erst danach entschloß sich Musil, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Das tat er unter meist ärmli­

chen Verhältnissen bis zu seinem Lebensende als Flüchtling vor den Nazis in Genf, jener Stadt, welche (wie er sich wohl bewußt war) Jean- Jacques Rousseau, den Vater des modernen Subjektivismus, hervorgebracht hatte, und welche schon in den 30er und 40er Jahren geprägt war durch den abstrakten Internationalismus, der sie noch heute auszeichnet - eine Stadt aus Hotels voller Fremder von unbestimmbaren Nationali­

täten.

Um einem Freund, der Experimente über die opti­

sche Wahrnehmung durchführte, behilflich zu sein, erfand Musil während seiner Jahre in Berlin einen Laboratoriumsapparat, den er unter dem Namen „Variationskreisel“ patentieren ließ. (Er war offensichtlich dazu gedacht, mit der Farbwahr- nehmung zu experimentieren, und Musil hoffte vergebens, Geld damit zu verdienen.) Der Name trifft genau die Struktur von Musils bedeutendstem Roman, der ein ständig sich veränderndes Kalei­

doskop sozialer Welten, Rollen und Persönlichkei­

ten, Ideen und Weltanschauungen enthält. Es wur­

de sogar plausibel argumentiert, daß Musil seinen Roman als eine umfassende Kritik an den beste­

henden Ideologien konzipierte.4 Auch der Gegen­

stand seiner Dissertation ist von großer Bedeutung für den Roman. Eine der erfolgreichsten Thesen Machs ging dahin, daß der klassische (vor allem der Cartesianische) Begriff des Ich nicht mehr aufrechterhalten werden kann - die These vom

„unrettbaren Ich“. Daß „Der Mann ohne Eigen­

schaften“ gerade als ein groß angelegter Versuch der Errettung des Ich zu verstehen ist, das soll im folgenden gezeigt werden.5

Die Arbeit an diesem Roman beschäftigte Musil den größten Teil seines Lebens. Auf der Grundla­

ge von Notizen, die noch in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichen, begann Musil in den frühen 20er Jahren ernsthaft daran zu arbei­

ten. In den frühen 30er Jahren wurden zwei Bände veröffentlicht, die bei den Kritikern auf beachtli­

che Zustimmung stießen. In seinem letzten Le­

bensjahrzehnt wuchsen Entwürfe und Notizen für Kapitel zu einem Berg von Manuskripten an; die­

ser Nachlaß wurde zu einer reichhaltigen Quelle für Untersuchungen und (wie nicht anders zu er­

warten) für Auseinandersetzungen über Musils Absichten. Unbestreitbar ist die Tatsache, daß der Roman zum Zeitpunkt von Musils plötzlichem Tod, der ihn im Jahr 1942 inmitten der Ausarbei­

tung eines weiteren Kapitelentwurfs ereilte, unab­

geschlossen zurückblieb. Es spricht viel für die Annahme, daß der Roman nicht fertig wurde, weil der Verfasser sich im unklaren über dessen Ende war. Angesichts des außerordentlich anspruchsvol­

len Vorhabens überrascht dies keineswegs.

„Der Mann ohne Eigenschaften“ stellt einen der reflektiertesten Versuche der modernen Literatur dar, zwei Fragen zu beantworten: Wie kann man den Menschen im Licht der Erfahrung der Moder­

ne verstehen? Und ist es für den so verstandenen Menschen möglich, sich für religiöse Wirklichkei­

ten offenzuhalten? Darüber hinaus erfolgt die Be­

antwortung dieser Fragen nicht in der Weise, daß theoretisch konstruierte Puppen durch den Roman

4 Goetz Müller, Ideologiekritik und Metasprache, Mün­

chen (Fink) 1972.

5 Über Machs Einfluß auf Musil she. Luft, op. cit.; auch:

Gerhart Baumann, Robert Musil, Bern (Francke) 1965, bes. Kap. III über das Ich (S. 64ff.); und Wolf­

gang Düsing, Erinnerung und Identität, München (Fink) 1982. Die letzteren beiden Autoren betonen stark die Bedeutung, die die Frage nach dem Ich in Musils Werk hat.

(3)

134 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, Heft 2, April 1988, S. 132-142

bewegt werden (wie das oft geschieht, wenn sich philosophisch vorbelastete Denker der Literatur zuwenden - wie z. B. Jean-Paul Sartre), sondern indem eine ganze Welt reich ausgestatteter, voll durchgestalteter und ungeheuer lebendiger Figu­

ren erschaffen wird. Musil war ein großer Schrift­

steller, kaum ein großer Philosoph; möglicherwei­

se scheiterte er als Schriftsteller, weil er seine philosophischen Ambitionen nicht abschütteln konnte. Jedenfalls überläßt es „Der Mann ohne Eigenschaften“ dem Leser, der Evidenz, die er präsentiert, Sinn zu verleihen.

Im Roman kommt die religiöse Fragestellung in einem Topos zum Ausdruck, der als „der andere Zustand“ bezeichnet wird: eine gleichsam mysti­

sche Verfassung, die der Protagonist sucht und die zum bestimmendem Thema der späteren Teile des Romans wird (dieses Thema beherrscht im übrigen die Texte im Nachlaß). Es gab viele Auseinander­

setzungen über Musils religiöse Interessen (von Herkunft Katholik wurde er Protestant, um eine geschiedene Frau heiraten zu können, und in sei­

nen letzten Lebensjahren entwickelte er ein reges Interesse an der protestantischen Theologie). Es gab auch zahlreiche Auseinandersetzungen über die genaue Bedeutung „des anderen Zustands“. 6 Dieses Thema kann hier nicht weiterverfolgt wer­

den.7 Ohne Zweifel ist das Verständnis des menschlichen Ich im Licht der Erfahrung der Mo­

derne das andere beherrschende Thema des Ro­

mans (und in der Tat die Voraussetzung für die religiöse Thematik).

Die Handlung des Romans spielt sich im Zeitraum eines Jahres ab, vom August 1913 bis zum August 1914. Sie sollte enden mit dem Ausbruch des Er­

sten Weltkriegs. Ulrich, die Hauptfigur, ist ein Mann Anfang dreißig, ein Mathematiker, der eine erfolgreiche Karriere im Ausland abbricht, um für ein Jahr nach Österreich zurückzukehren. Er möchte, wie er es nennt, ein Jahr „Urlaub vom

6 She. Ulrich Karthaus, Der andere Zustand, Berlin (Schmidt) 1965, und Ingrid Drevermann, Wirklichkeit und Mystik, in: Sybille Bauer/Ingrid Drevermann, Stu­

dien zu Robert Musil, Köln (Böhlau) 1966, S. 123ff.

7 Der Autor hat sich diesem Thema in einem früheren Aufsatz gewidmet. She. Peter Berger, The Problem of Multiple Realities: Alfred Schütz und Robert Musil, in:

Maurice Natanson (ed.), Phenomenology and Social Reality, Den Haag (Nijhoff) 1970, S. 213ff.; dt.: Das Problem der mannigfaltigen Wirklichkeiten: Alfred Schütz und Robert Musil, in: Richard Grathoff/Bem- hard Waldenfels (Hrsg.), Sozialität und Intersubjekti­

vität, München (Fink) 1983, S. 229ff.

Leben“ nehmen, um einem unbestimmten Gefühl der Unzufriedenheit mit seinem Leben auf den Grund zu gehen und um herauszufinden, wie er seine mannigfaltigen Talente am besten einsetzen kann. Mehr oder weniger zufällig wird er in ein patriotisches Projekt verwickelt (das „Parallelak­

tion“ genannt wird, weil es als Antwort auf eine ähnliche Unternehmung in Deutschland ins Leben gerufen wurde). Die Aufgabe dieses Projekts be­

steht darin, die Feierlichkeiten zum siebzigjähri­

gen Jubiläum der Krönung des Kaisers Franz- Joseph vorzubereiten. Zu diesem Anlaß soll der Welt die wahre Bedeutung der österreichisch­

ungarischen Monarchie kundgetan werden, wobei die Arbeit des Projekts sich darauf richtet, heraus­

zufinden, worin diese Bedeutung eigentlich be­

steht. Der Leser ist sich natürlich der Ironie be­

wußt, die in dem Umstand liegt, daß das Jahr 1918 nicht die Proklamation der wahren Bedeutung von Österreich-Ungarn erleben sollte, sondern seinen katastrophalen Zusammenbruch. Später im selben Jahr stirbt Ulrichs Vater (ein Rechtsprofessor an einer Provinzuniversität), und bei dieser Gelegen­

heit kommt Ulrich wieder mit seiner ihm fremd gewordenen Schwester Agathe zusammen. Die beiden Geschwister beschließen, gemeinsam in Wien zu leben, um ihre mystische Suche nach dem

„anderen Zustand“ zu verfolgen, dem sie sich bei­

de verschrieben haben. Die posthum veröffentlich­

ten Schriften lassen keinen sicheren Schluß dar­

über zu, ob Musil beabsichtigt hatte, die Suche gelingen oder scheitern zu lassen.

Ulrich ist (wie Musil) der Überzeugung, daß man nicht die Perspektive der modernen Wissenschaft einnehmen und die Welt dann noch mit denselben Augen wie zuvor betrachten kann. Außerdem ist keine Lösung der (politischen, moralischen, selbst religiösen) Probleme des menschlichen Lebens haltbar, die die wissenschaftliche Betrachtungswei­

se ignoriert. Der erste Abschnitt des Romans lie­

fert den exakten Wetterbericht für Europa in der sterilen Sprache der Meteorologie und schließt ironischerweise mit dem Resümee, daß es ein schöner Augusttag des Jahres 1913 war.8 Die Spannung zwischen der wissenschaftlichen Genau-

Gesammelte Werke, Reinbek (Rowohlt) 1978, Bd. I, S. 9. Die Bände I—III dieser Standardausgabe enthalten die veröffentlichten Teile des Romans, die Bände IV und V den Nachlaß. Für diesen Aufsatz sind die (äu­

ßerst kontroversen) posthum veröffentlichten Materia­

lien nicht verwendet worden. Alle nachfolgenden Ver­

weise beziehen sich auf die obige Ausgabe.

(4)

Peter L. Berger: Robert Musil und die Errettung des Ich 135

igkeit und dem Reichtum der gefühlsgeladenen subjektiven Bedeutungen, die in dem letzten Satz mitschwingen, könnte nicht deutlicher zum Aus­

druck gebracht werden. Im Text wird der letzte Satz halb-apologetisch mit der Äußerung eingelei­

tet, er sei „etwas altmodisch“. Doch kann eigent­

lich alles, was im menschlichen Leben von subjek­

tivem Wert ist, auf diese Art beschrieben werden;

tatsächlich ist auch das Ich, oder besser die Vor­

stellung, die wir von ihm haben, „etwas altmo­

disch“. Ohne Musils Absicht Gewalt anzutun, könnte man die Frage stellen, ob denn ein guter Meteorologe überhaupt ein Ich haben kann.

Der Kern der wissenschaftlichen Methode (die Ulrich nicht müde wird, Agathe und verschiede­

nen anderen Gesprächspartnern zu erläutern) be­

steht darin, daß man die Wirklichkeit in Bestand­

teile zerlegt, die dann als in Kausalketten inter­

agierend wahrgenommen werden. Mit anderen Worten: das, was einmal als Ganzes wahrgenom­

men wurde, wird jetzt als ein System von Varia­

blen aufgefaßt. Demselben Vorgang der Aufsplit­

terung unterliegt auch das Ich. Es wird, anders ausgedrückt, immer schwieriger, das Ich als den Mittelpunkt der Handlungen des einzelnen anzuse­

hen. Stattdessen werden diese Handlungen nun­

mehr als Ereignisse aufgefaßt, die dem Individuum ohne sein Zutun zustoßen und die sowohl mit äußeren (sozialen) als auch inneren (organischen und psychischen) Ursachen erklärbar sind. Das Cartesianische Ich, das noch in der Lage war, sein

„Cogito ergo sum“ zu verkünden, hat sich in einen Mach’schen Strom von Dinghaftigkeiten aufgelöst.

Die moderne Subjektivität höhlt sich gleichsam selbst aus.

Diese Auffassung wird im Roman in Verbindung mit zwei Figuren prägnant entwickelt; die eine irrsinnig von Beginn an, die andere gerade dabei, irrsinnig zu werden. Die erste Figur ist Moosbrug- ger, ein verrückter Einfaltspinsel, der wegen des offensichtlich sinnlosen Mordes an einer Prostitu­

ierten vor Gericht steht und für dessen Schicksal Ulrich ein zeitweiliges Interesse entwickelt. (Man sollte anfügen, daß Musils ausführliche Beschrei­

bung der Art und Weise, wie Moosbrugger sich und die Welt wahrnimmt, ein Meisterwerk der klinischen Vorstellungskraft ist, mit dem sich viel­

leicht nur William Faulkners vergleichbare Versu­

che messen können.) Moosbrugger ist ein einfa­

cher freundlicher Mann, bei allen beliebt (ein­

schließlich den Gefängniswärtern), der aus heite­

rem Himmel in mörderische Raserei ausbricht.

Wer ist der wahre Moosbrugger, und was bewegt

ihn? Die Juristen bei Gericht, die beigezogenen Psychiater und auch Ulrich müssen sich diese Fra­

ge stellen. Bei der Verhandlung ist das Gericht sehr bemüht, ihn als eine handelnde Person zu verstehen.9 Das Gericht hat keine andere Wahl, denn es muß entscheiden, ob Moosbrugger im Sinn des Gesetzes für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann (zufällig schrieb Ulrichs Va­

ter sein ,opus magnum4 über den Begriff der Zu­

rechnungsfähigkeit in der Rechtslehre von Pufen- dorf). Aber diese Bemühungen, Moosbrugger als eine handelnde Person zu verstehen, stehen in völligem Widerspruch zu Moosbruggers Selbster­

fahrung, dergemäß ihm alles, einschließlich seiner eigenen Handlungen, einfach zustößt und in der er

„ewig unschuldig“ bleibt. Der Hauptgrund für Ul­

richs Interesse an diesem Fall ist sein starker Ver­

dacht, daß vermeintlich normale Menschen in be­

zug auf diese Selbsterfahrung sich in Wirklichkeit nicht von Moosbrugger unterscheiden. Vielleicht gibt es gar keinen „wahren“ Moosbrugger - und auch keinen „wahren“ Ulrich.

Die andere Figur ist Clarisse, die Frau eines alten Freundes von Ulrich, eine glänzend begabte Musi­

kerin, die sich ebenfalls stark von Moosbrugger angezogen fühlt (sie möchte ihn aus dem Gefäng­

nis befreien, weil sie spürt, daß er musikalisch ist) und die am Ende selbst dem Wahnsinn anheim­

fällt. Einmal besucht Clarisse eine Irrenanstalt, in der Moosbrugger untersucht wird.10 Der Erzähler beobachtet, daß viele Menschen sich vor dem Wahnsinn fürchten, weil wahnsinnig zu werden bedeutet, sich selbst zu verlieren - d. h., der Wahnsinn gemahnt selbst normale Menschen an die Gefährdung dessen, was sie als ihr Ich behaup­

ten. Einer der Patienten begrüßt Clarisse als den siebten Sohn des Kaisers und weigert sich stur, ihre abschlägige Reaktion zu akzeptieren. Mit zuneh­

mender Bestürzung bemerkt sie, daß sie durchaus bereit ist, ihm zu glauben, und so verlassen sie und ihre Begleiter die Anstalt, ohne Moosbrugger ge­

sehen zu haben. Die Frage, die sich hier stellt, ist eine Variante der vorherigen: wer ist die wahre Clarisse, und warum wird sie irrsinnig?

Aus diesem Blickwinkel erscheint der Irrsinn als eine befreiende Vereinfachung, denn, so paradox es klingt, der Irrsinnige weiß viel besser, wer er ist, als der scheinbar Gesunde. Die Suche nach dem wahren Wesen der Dinge reproduziert sich im gesamten ersten Teil des Romans in dem bereits

9 I, S. 67ff.

10 III, S. 977ff.

(5)

136 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, H eft 2, April 1988, S. 132-142

erwähnten patriotischen Projekt. Hier lautet die Frage natürlich: Was ist das wahre Österreich?

Der Leiter des Projekts, Graf Leinsdorf, ein von Grund auf frommer und gleichzeitig zutiefst skep­

tischer Aristokrat, ist überzeugt, daß alles und jeder ein wahres Wesen hat; er ist ebenfalls davon überzeugt, daß er intuitiv weiß, worin diese wah­

ren Wesenheiten bestehen. Dadurch, daß er auf dieser (sicherlich sehr „altmodischen“) Überzeu­

gung beharrt, kann er es sich leisten, einem Aus­

schuß vorzustehen, der sich aus streitsüchtigen In­

tellektuellen zusammensetzt, von denen jeder eine eigene Weitsicht hat. Er erwartet auch gar nicht, aus diesem ideologischen Pandämonium irgend­

welche interessanten Einsichten zu gewinnen; sei­

ne Herangehensweise an das Unternehmen ist rein taktisch und politisch. Selbst wenn seine Überzeu­

gung letztlich auf einer Illusion beruht, vermittelt Musil den Eindruck, als sei Leinsdorf ein glückli­

cher Mann. (Das gilt auch, nebenbei bemerkt, für den Vertreter des Kriegsministeriums, General Stumm von Bordwehr, eine von Musil mit großer Sympathie gezeichnete Figur.) Aber die staatliche Ordnung ist gerade dabei, sich aufzulösen, so, wie sich die Ordnung des Ich in Moosbrugger und Clarisse aufgelöst hat. Der heraufziehende Krieg wird ein kollektiver Wahnsinn sein - ungleich mör­

derischer als der Wahnsinn Moosbruggers - und doch wird er, zumindest anfänglich, als eine große Befreiung erfahren. (Einer der Pläne für den Ro­

man war, ihn enden zu lassen mit einer Beschrei­

bung der gewaltigen Begeisterung, mit der der Ausbruch des Krieges in Österreich wie in den anderen kriegführenden Ländern beider Seiten be­

grüßt worden war.)

Die Vorstellung, daß das Ich eine Art zentrale Ganzheit ist und daß deshalb jedes Individuum ein

„wahres“ Ich hat, ist ein Trugbild. Vielleicht kann ein Individuum durch große Anstrengungen einen solchen Mittelpunkt erreichen; aber er existiert nicht als eine Gegebenheit der menschlichen Na­

tur. Das Ich ist vielmehr ein „Loch“, das von einem selbst wie auch von anderen ohnehin auf irgendeine Weise „gefüllt“ werden muß. Dieses wechselseitige Unternehmen, Individuen mit be­

stimmbaren Identitäten auszustatten, wird beson­

ders in der Beziehung zwischen Ulrich und Agathe beschrieben (wieder mit großer psychologischer Genauigkeit, die stark an George Herbert Meads Beschreibung der sozialen Entwicklung des Ich erinnert). Praktisch besteht die beste Art, dieses

„Loch zu füllen“, für die meisten Leute im Han­

deln. (Der einzelne spielt - in Meads Begriffen - seine ihm sozial zugeschriebenen Rollen, und das

Aggregat dieser Rollen konstituiert dann das, was er „ist“). Für diejenigen Menschen, die sich etwas darauf einbilden, eine „Seele“ zu haben (Intellek­

tuelle, Dichter und solche mit einem Sinn für

„Höheres“), gibt es eine andere Methode. Mit den Worten einer Kapitelüberschrift: „Ideale und Mo­

ral sind das beste Mittel, um das große Loch zu füllen, das man Seele nennt“. 11 Das impliziert freilich, daß es kaum von Bedeutung ist, welche Ideale oder welche Moral zu diesem Zweck einge­

setzt werden.

In seiner Mitarbeit am patriotischen Projekt schlägt Ulrich schon früh vor, ein „Generalsekre­

tariat der Genauigkeit und Seele“ einzurichten, um den Menschen Beistand zu leisten in der ver­

zwickten Situation, diese beiden Ideen miteinan­

der zu kombinieren. Man kann vermuten, daß dieser Vorschlag für eine Art Ministerium für all­

gemeine Psychotherapie nur zur Hälfte im Spaß gemacht wurde. Die im Projekt vereinigten Intel­

lektuellen erörtern die marxistischen und psycho­

analytischen Theorien über die wahren Grundla­

gen menschlichen Handels, jenen Unterbau, der, wüßte man nur, woraus er besteht, alles erklären würde. Aber natürlich hat jeder eine andere Mei­

nung, was Leinsdorf dazu führt, sich über die Unzuverlässigkeit der Leute im Überbau zu bekla­

gen - eine Aussage, die seine Verachtung für die Intellektuellen, sein Unverständnis ihrer vorgetra­

genen Theorien und seinen unerschütterlichen Glauben an die Verläßlichkeit der alten Ordnung wunderbar zusammenfaßt.11 12 * Sicherlich wäre es nicht einfach, Ulrichs Vorschlag in die Tat umzu­

setzen.

Im Roman wird ständig das Problem der Ordnung hin und her gewendet - oder genauer: das Problem des Ordnens. Das patriotische Projekt soll die staatliche Ordnung legitimieren. Moosbrugger ver­

steht seine Gewaltakte als verzweifelte Versuche, seine Welt wieder in Ordnung zu bringen (an einer Stelle wird er selbst als ein „entsprungenes Gleich­

nis der Ordnung“ beschrieben). Die einzige Ord­

nung, die Clarisse kennt, ist die der Musik, und Ulrich findet Trost in der kühlen Ordnung der Mathematik. Nur mit halber Ironie erklärt Ulrich General Stumm in einem Gespräch, daß die Ar­

mee die am meisten vergeistigte aller Institutionen ist, denn Geist ist Ordnung, und wer könnte ab­

streiten, daß die Armee bis hinunter zu den ge­

11 I, S. 185.

12 III, S. 1019 - „Warum sind die Leut im Überbau so unzuverlässig?!“

(6)

Peter L. Berger: Robert Musil und die Errettung des Ich 137

nauen Abständen zwischen den Knöpfen einer Offiziersuniform die geordnetste aller Institutio­

nen ist? Ebenso stehen dem Versuch, das Ich zu ordnen, es irgendwie auf eine sinnvolle Weise zu festigen, verschiedene Wege offen. Das Recht (dem Ulrichs Vater sein Leben gewidmet hat) ist die wichtigste „offizielle“ Einrichtung für die Auf­

gabe, das Ich zu ordnen. In einer Episode wird Ulrich auf der Straße in ein politisches Wortge­

fecht verwickelt und kurzerhand festgenommen.

Während seines Verhörs auf dem Polizeirevier, bei dem er über sein Alter, seinen Beruf und ähnliches ausgefragt wird, wobei die vermeintlich tiefgründi­

geren Seiten seiner Existenz unberücksichtigt blei­

ben, erfährt er eine „statistische Entzauberung seiner Person“ - eine Erfahrung, die ihm merk­

würdigerweise (aus Musils Sicht ist das nicht so merkwürdig) eine gewisse Befriedigung bereitet.13 Obwohl die Psychiatrie andere, zum Teil dem Recht widersprechende Kategorien verwendet, versucht auch sie, dem Ich eine gewisse Ordnung aufzuerlegen. All diese Bemühungen sind jedoch letzten Endes trügerisch; sie sind, in Musils Wor­

ten, „utopisch“ - wortwörtlich: nirgendwo. Das Ich ist und bleibt ein nicht zu füllendes „Loch“. Es bleibt indes der unstillbare Drang und vielleicht auch die Möglichkeit, ein Ich zu finden, das (eben gerade) „verläßlich“ ist. Aus welchen religiösen oder metaphysischen Komponenten sich „der an­

dere Zustand“ jeweils zusammensetzen mag, die Suche nach ihm ist immer auch die Suche nach einem kohärenten, ontologisch wirklichen Ich.

Musil mag sich am Ende im ungewissen darüber befunden haben, ob nicht auch diese Suche „uto­

pisch“ ist, aber er war sichtlich nicht willens, die­

sen Schluß zu ziehen. Wäre jedenfalls ein solches

„wahres“ Ich möglich, dann wäre es keine Gege­

benheit, kein „Datum“, sondern eher etwas, das als das Ergebnis eines ungeheuer schwierigen Un­

ternehmens angestrebt und hervorgebracht wer­

den müßte.14

Möglicherweise war das Ich schon immer ein Loch, nur daß die Menschen früherer Zeiten sich dessen

13 I, S. 159f.

14 An dieser Stelle können einige auffallende Parallelen zwischen der Psychologie und der halb-skeptischen Soteriologie in „Der Mann ohne Eigenschaften“ einer­

seits und dem Buddhismus andererseits beobachtet werden. She. z. B. Keiji Nishitani, Religion and No­

thingness, Berkeley (University of California Press) 1982. Es ist angesichts des Umfangs seiner Lektüre immerhin möglich, daß sich Musil dieser Parallelen bewußt war.

weniger bewußt waren; vielleicht ist aber die Spe­

zies des Lochmenschen (homo lacuna?) auch eine anthropologische Neuentwicklung der Moderne.

Wie dem auch sei, der Titel des Romans verweist überlegt und präzise auf das, was Musil als ein wesentliches Merkmal des modernen Menschen ansah. Der erste, der Ulrich als „Mann ohne Ei­

genschaften“ charakterisiert, ist Walter, Clarissens Ehemann, der dieser Seite seines alten Freundes sehr kritisch gegenübersteht.15 Walter meint, daß dies ein von unserem Zeitalter geschaffener neuer Menschentypus sei, der nun in Millionen von Ex­

emplaren in Erscheinung tritt. Walter behauptet ferner, daß (mit Ausnahme des katholischen Kle­

rus) heutzutage niemandem mehr anzusehen sei, was er ist. Ulrich wird für einen Mathematiker gehalten. Aber wie sieht ein Mathematiker aus? Er läßt allenfalls eine allgemeine Intelligenz erken­

nen, aber darin drückt sich noch kein besonderer Inhalt aus. Ulrich scheint viele Eigenschaften zu haben, in Wirklichkeit hat er gar keine. „Er hält kein Ding für fest“, alles kann sich wieder ändern, und er hat keine Vorstellung von sich als einem Ganzen. (Zu Walters Ärger antwortet Clarisse auf diese Beschreibung, daß sie genau das an Ulrich mag). Daraus folgt, daß, mit den Worten Musils, der Mann ohne Eigenschaften ipso facto der Mann aller Möglichkeiten ist. Das moderne Ich zeichnet sich, mit anderen Worten, durch seine Unabge­

schlossenheit, seine Wandelbarkeit oder, wenn man so weit gehen möchte, durch ein hohes Maß an Freiheit aus. Diese Freiheit (wenn dieser Be­

griff hier zutrifft) wird im täglichen Leben nicht unbedingt als angenehm erfahren; im Gegenteil, sie kann als Last empfunden werden - und wird von Ulrich so empfunden.

In einer späteren Passage wird der Mann ohne Eigenschaften als ein Mensch beschrieben, dessen Eigenschaften in gewisser Weise unabhängig von ihm geworden sind.16 Tatsächlich hat es den An­

schein, als stünden diese Eigenschaften zueinander in engerer Beziehung als zu Ulrich selbst. Die Ereignisse folgen einfach aufeinander, so wie B auf A folgt; sie überraschen den vermeintlich Han­

delnden ebenso, vielleicht sogar mehr, wie diejeni­

gen, die ihn beobachten. Das war nicht immer so.

In früheren Zeiten war sich ein Mensch seiner selbst sehr viel sicherer.17 Gewiß, die äußeren

15 I, S. 64f.

16 I, S. 148ff.

17 „Man ist früher mit besserem Gewissen Person gewe­

sen als heute“ (I, S. 150).

(7)

138 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, Heft 2, April 1988, S. 132-142

Gefahren mögen größer gewesen sein: Naturkata­

strophen, Krankheit und Krieg, doch der einzelne gehörte in einem sehr viel deutlicheren Maße sich selbst. Diese Bemerkungen könnten unter die These Arnold Gehlens gebracht werden, derzufol- ge der Mensch im Altertum einen „Charakter“

hatte, während der Mensch in der Moderne eine

„Persönlichkeit“ hat.18 Der Unterschied besteht paradoxerweise darin, daß der soziologische Theo­

retiker Gehlen diesen Wandel beklagte, während der zum Dichter gewordene Philosoph Musil ihn als einen Fortschritt des menschlichen Selbst­

bewußtseins begrüßte, aller damit einhergehenden Schwierigkeiten zum Trotz.

So wie Ulrich ein Mann ohne Eigenschaften ist, so kann Österreich-Ungarn (oder Kakanien, wie Mu­

sil es nennt) als ein Staat ohne Eigenschaften be­

zeichnet werden.19 Die Sprachverwirrung, die den österreichisch-ungarischen Institutionen zugrunde liegt, spiegelt die Unsicherheit über das wahre Wesen der Monarchie wider. Musil erläutert das in einem langen satirischen Exkurs, einem Kapitel, das den passenden Titel trägt: „Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist“.20 Die ungarische Hälfte der Monarchie besaß eine klare nationale Identität, auch wenn sie den verschiedenen unterworfenen slawischen Völkern von den Magyaren durch Zwang auferlegt werden mußte (natürlich scheiterte letztendlich auch diese Zwangsauferlegung). Aber die österreichische Hälfte hatte nicht einmal einen eigenen Namen.

Der offizielle Name lautete: „Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“. Wie konnte sich irgend jemand mit einer solchen Bezeichnung identifizieren? Dennoch gab es so etwas wie einen österreichischen Patriotismus, wie Leinsdorf und General Stumm sehr wohl wußten - eine eigenarti­

ge Mischung aus Archaischem (dieses Kaiserreich existierte schließlich seit nahezu einem Jahrtau­

send) und Hypermodernem (ein Nationalstaat oh­

18 She. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn (Athenäum) 1956.

19 Kakanien ist abgeleitet von den Initialen „k. k.“ für

„kaiserlich-königlich“. Die Initialen bezogen sich auf alle staatlichen Institutionen in der österreichischen Hälfte der Monarchie. Institutionen, die zur gesamten Monarchie gehörten, wurden mit „k. u. k.“ abgekürzt.

Die andere Hälfte der Monarchie wachte eifersüchtig über ihre „königlich-ungarischen“ Institutionen. Musil hätte sicher zugestimmt, daß diese barocken Absurdi­

täten weit davon entfernt sind, das Resultat eines Zufalls zu sein.

20 II, S. 445ff.

ne Nation, ein treues Spiegelbild der „löchernen“

Eigenschaft des modernen Menschen). Das patrio­

tische Projekt war dazu gedacht, den „Sprachfeh­

ler“ durch die Schaffung der „Idee des wahren Österreich“ zu beheben. Leinsdorf steht einem solchen Plan recht mißtrauisch gegenüber, obwohl er daraus politisches Kapital schlagen möchte. Er befürchtet, daß zuviel Nachdenken über das We­

sen des Staates nichts hilft, sondern seine selbst­

verständlich gegebene Ordnung unterhöhlt. Er hat natürlich recht; politische Loyalität, die sich auf das Nachdenken über eine Idee stützt, ist notwendi­

gerweise zerbrechlich und unbeständig (Edmund Burke hätte bestimmt starke Sympathien für Leinsdorf empfunden).

Wie alle wahren Konservativen verläßt sich Leins­

dorf eher auf intuitive Gewißheiten als auf reflek­

tierte Schlüsse. Seine Tragödie (und die Öster­

reich-Ungarns) ist, daß der moderne Mensch nicht so leicht zu intuitiven Gewißheiten kommt; ge­

nauer gesagt: indem er reflektiert, entblößt er fortwährend jene Gewißheiten, von denen er aus­

gehen mußte. Helmut Schelsky hat das die moder­

ne Neigung zur Dauerreflektion genannt; sie wirkt auf die politische Ordnung ebenso zerstörend („ge­

fährliche Bewußtseinserweiterung“) wie sie sich in der Form der modernen Psychologie auf die Ord­

nung des Ich zerstörend auswirkt. So ist das patrio­

tische Projekt in einem weiteren Sinn ein Parallel­

aktion: ihre ideologische Selbstauslöschung läuft parallel zu Ulrichs mathematisch-wissenschaftli­

cher Zersetzung des Cartesianischen Ich. Aus der Meadschen Sozialpsychologie wissen wir, daß ein Individuum für andere wirklicher ist als für sich selbst - wirklich zumindest in dem Sinn, daß es in einer kohärenten, faßbaren Ganzheit wahrgenom­

men wird. Ironischerweise ist es ein Fremder, der preußische Industriebaron und Möchtegern-Den­

ker Arnheim, der die „Idee Österreich“ besser begreift als die einheimischen Intellektuellen.

Das politische Problem der modernen Welt be­

steht darin, daß alle Ordnungssysteme in Frage gestellt werden. Das geometrisch parallel laufende Problem der modernen Persönlichkeit besteht dar­

in, daß all ihre Ordnungssysteme gleichermaßen fraglich werden. Für dieses doppelte Problem gibt es eine umfassende Lösung, den Kollektivismus.

Im Roman wird dieser vor allem durch die *Figur des Hans Sepp repräsentiert, eine Art Proto-Nazi (ironischerweise ist er der Freund des jüdischen Mädchens Gerda, mit der auch Ulrich eine kurze und unbefriedigende Affäre hat). Sepp und seine Gruppe deutscher Nationalisten verachten Öster-

(8)

Peter L. Berger: Robert Musil und die Errettung des Ich 139

reich-Ungarn (später versuchen sie das patrioti­

sche Projekt zu sprengen, das sie als eine slawische Verschwörung betrachten); sie sind antisemitisch wegen des den Juden unterstellten Intellektualis­

mus; und Sepp hat eine besondere Abneigung gegen Ulrich wegen dessen Infragestellung jeder

„nützlichen“ Idee. Sepp und seine Gruppe finden eine anscheinend glaubwürdige kollektive Identi­

tät in dem, was sie „nationales Gefühl“ nennen;

Musil beschreibt es verächtlich als „diese Ver­

schmelzung ihrer Ichs, die sich immerzu stritten, in eine erträumte Einigkeit“.21 Aber sie sind nicht die einzigen, die illusorischen Trost in einer „erträum­

ten Einigkeit“ kollektiver Solidarität finden. Im posthum veröffentlichten Material tritt in einer kleineren Rolle der militante Sozialist Schmeißer auf (ein Mensch als Maschinenpistole), den Musil mit gleicher Verachtung beschreibt. Ulrich und Agathe sprechen in abfälligen Tönen über die fal­

sche kollektive Identität, die von der institutionali­

sierten Religion vermittelt wird. Am wichtigsten aber ist, daß der ganze Roman auf den grandiosen Ausbruch der „erträumten Einigkeit“ zusteuert, den letzten kollektiven Wahnsinn, der den Kriegs­

ausbruch willkommen heißt.

Das Gegenstück zu Ulrich als Persönlichkeitstyp ist Arnheim, der bereits erwähnte preußische Ge­

schäftsmann. Angeblich diente Walter Rathenau (den Musil während seines Berlin-Aufenthalts ge­

troffen hatte) als Vorlage, eine Figur, die Musil offensichtlich nicht mochte und die er in mehreren langen Passagen mit peinlicher Genauigkeit be­

schrieb.22 An einer Stelle wird Arnheim als eine Person beschrieben, die in sich alle Eigenschaften vereint, die bei anderen getrennt Vorkommen. Er ist nicht nur Geschäftsmann, sondern auch Politi­

ker, Schriftsteller, Kunstmäzen, ein gewandter Er­

zähler und eine Art Casanova. Es überrascht nicht, daß Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, diesem überqualifizierten Herrn mißtraut. Er verdächtigt Arnheim im besonderen, all diese Eigenschaften nicht wirklich zu besitzen; es sind bloß Rollen, Fassaden, die er aufbaut, um ein leichtgläubiges Publikum zu beeindrucken (wie etwa die sehr schöne und sehr einfältige Gesellschaftsdame Dio- tima Tuzzi, in deren Salon die meisten Treffen des patriotischen Projekts stattfinden). Diotima, so wird uns erzählt, ist eine Frau auf der Suche nach der Seele; Arnheim, auf der anderen Seite, ist eine Mischung aus Seele und Kohlepreisen; kein Wun­

21 II, S. 479.

22 Für eine solche Passage she. I, S. 190f.

der, daß die beiden sich gegenseitig sofort stark angezogen fühlen.

Arnheim (der nicht unter übertriebener Beschei­

denheit leidet) betrachtet sich als eine „ganze“

Person. Er redet gern und endlos über „das Ge­

heimnis des Ganzen“. Aber er ist keineswegs die einzige „ganze“ Figur des Romans; tatsächlich scheint Musil (wie auch Ulrich) dieses Attribut lieber anderen zuschreiben zu wollen, zumal Arn­

heims „Ganzheit“ als unechte dargestellt wird. Oh­

ne Zweifel sind Leinsdorf und Stumm „ganze“

Personen, beide sind fest im traditionellen Welt- und Selbstverständnis verwurzelt. Sie werden von Musil in sehr wohlwollenden Worten geschildert, als beneidete Musil (und Ulrich) sie um ihre onto­

logische Verwurzelung. Tuzzi ist eine bürgerliche Version der „Ganzheit“, und Fischei (Gerdas Va­

ter) eine jüdische Variante derselben bürgerlichen Lebensform. Bei all diesen Figuren ist die „Ganz­

heit“ selbstverständlich. Andere Figuren versu­

chen mit unterschiedlichem Erfolg ihre Ganzheit mit Hilfe ideologischer Konstruktionen aufzubau­

en: Lindner, ein gläubiger Christ; Meingast, ein Psychologe (wahrscheinlich angelehnt an Ludwig Klages); Feuermaul, ein Dichter (vermutlich ein Pseudonym für Rilke); und noch andere. Und daneben gibt es natürlich noch die verrückten Ich- Konstruktionen von Clarisse und Moosbrugger, die Definitionen des Ich durch die Raserei orgiasti- scher Musik (expressis verbis im Sinn von Nietz­

sches „Geist der Musik“) beziehungsweise des the­

rapeutischen Mordes. Letztlich ist deutlich, daß Musil keiner dieser vermeintlichen Lösungen für das Problem des eigenschaftslosen Ich traut.

Das zerstückelte moderne Ich ist ein plurales Ich, in der Tat ein Variationskreisel! Die Eigenschaften der Person lösen sich von ihr und werden bloße Anhängsel von beliebig wandelbaren sozialen Rol­

len. Früh im Roman wird festgestellt, daß heute jeder einzelne, nicht nur Ulrich, mindestens neun Charaktere besitzt - jeweils verbunden mit Beruf, Nation, Staat, Klasse, geographischem Umfeld, Geschlecht, Bewußtsein, unbewußtem Geist und vielleicht seinem Privatleben (was immer das als zusätzliche Kategorie bedeuten mag), und irgend­

wie muß er mit diesen Charakteren jeden Tag herumjonglieren.23 So kann ein Individuum ein Professor sein, ein Tscheche, ein Untertan der österreichisch-ungarischen Monarchie, eine Per­

son kleinbürgerlicher Herkunft, ein Wüstling, ein Moralist mit unmoralischer Libido und zu allem

23 I, S. 34.

(9)

140 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, Heft 2, April 1988, S. 132-142

vielleicht noch jemand mit einem tiefen Verständ­

nis für Kunst. Es fällt nicht immer leicht, mit dieser Menagerie einzelner Ichs zurechtzukommen. Aber es gibt ja noch einen zehnten Charakter, den Musil als die „passive Phantasie unausgefüllter Räume“

beschreibt. Das ist die menschliche Fähigkeit zu

„utopischen“ Träumen; was immer auch ihr Vor- stellungs- oder normativer Gehalt sein mag, all diese Träume sind letzten Endes Träume von ei­

nem Ich, das zur Einheit, zur „Ganzheit“ wieder­

hergestellt wurde.

Man fragt sich, wie Musil über diese Fragen ge­

dacht hätte, wäre er nicht mit Mach groß gewor­

den, sondern mit der Meadschen Sozialpsycholo­

gie und ihren wissenssoziologischen Verzweigun­

gen vertraut gewesen. Wie dem auch sei, Musil ist sich - obwohl das Problem nicht besonders ausge­

arbeitet ist - im klaren darüber, daß das plurale Ich einer pluralen sozialen Welt entspricht. Eine sol­

che Welt bedeutet für den einzelnen, daß er wäh­

len muß. Anders ausgedrückt, die Welt bietet sich dem einzelnen nicht als selbstverständlich hinge­

nommenes Schicksal dar (wie das für den größten Teil der Geschichte der prototypische Fall ist), sondern als eine Vielfalt von gebündelten Wahl­

möglichkeiten. Das beginnt bei den banalsten Be­

reichen des Alltagslebens. Als Ulrich ein Haus in Wien erwirbt (das später zum Schauplatz seiner mystischen Experimente mit Agathe wird), steht er vor dem Problem, wie es eingerichtet werden soll.24 Er kann sich für keinen Stil entscheiden. So beschließt er, die Wahl seinem Möbelausstatter zu überlassen, mit dem Ergebnis, daß das Haus eine zufällig zusammengewürfelte Sammlung unter­

schiedlicher Stilrichtungen beherbergt. Auch hier, im Fall banaler Verbraucherentscheidungen, schwankt der einzelne zwischen einer schier unendlichen Zahl an Möglichkeiten.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß diese alltäglichen Wahlmöglichkeiten in Wirklich­

keit gar nicht so trivial sind. Ernst Bloch verdan­

ken wir den philosophischen Begriff „sich in der Welt einrichten“ (wobei ja „sich einrichten“’ zu­

gleich auch bedeutet, Möbel zu erwerben). Der einzelne richtet sein Leben ein wie sein Haus, und oftmals symbolisiert die Einrichtung im Haus die Einrichtung im Leben. In Ulrichs Fall ist die Unordnung seiner Wohnung ein sichtbares Zei­

chen für die unsichtbare Unordnung seines Gei­

stes. Natürlich gibt es auch Individuen, die sich einen „Stil“ zu eigen machen. Sie geben dann vor,

einen überlegenen guten Geschmack zu haben, immer den richtigen Gegenstand für den richtigen Platz und die richtige Geste zur rechten Zeit zu kennen. Diese Muster der „Ganzheit“ sind jedoch soziale und ideologische Artefakte. Sie sind prinzi­

piell beliebig und können deshalb ständig revidiert werden. Wir haben es hier, in der Sprache von Alfred Schütz, mit Stilen „bis auf weiteres“ zu tun.

Aus dem selben Grund können solche Stile als

„utopisch“ bezeichnet werden.

Die Intellektuellen im patriotischen Projekt erwer­

ben Ideen wie Ulrich seine Möbel. Auch hier gibt es eine verwirrende Vielfalt. Nichts ist mehr ge­

wiß, nichts mehr selbstverständlich. An einer der lustigsten Stellen des Romans erzählt General Stumm in großer Ausführlichkeit, wie er Ordnung in dieses ideologische Chaos zu bringen versuch­

te .25 Als guter Stabsoffizier schart er einen kleinen Trupp Untergebener um sich, um einen Schlacht­

plan der Ideen aufzuzeichnen. Dominante Ideen werden als vorrückende Armeen dargestellt, es gibt strategische Begriffshügel, zwischen Katego­

rienregimentern werden Scharmützel ausgefoch- ten. Trotz dieser Bemühungen, die mit mehrfarbi­

gen Stiften in den Plan eingetragen wurden (so wie Stumm es auf der Offiziersschule gelernt hatte), stellt sich keine sichtbare Ordnung her. Die Fron­

ten der Gedankenarmeen verschieben sich unauf­

hörlich, die Ideenbefehlshaber fahren fort, Waffen ihrer Gegner zu stehlen und damit ihren eigenen Armeen in den Rücken zu fallen, wichtige Katego­

rien verschwinden plötzlich usw. Der General hat großen Respekt vor dem Geistesleben, aber er kann den aufkommenden Verdacht nicht unter­

drücken, daß vielleicht das ganze Schlachtfeld ein Trug ist. Ihn stört es gar nicht so sehr, daß ihm in Diotimas Salon jeder etwas anderes erzählt. Aber er ist, wie er Ulrich erklärt (der Offizier war und demnach hinreichend Ordnungssinn besitzen muß), beunruhigt, weil es ihm so vorkommt, als würden die Intellektuellen, je länger er ihnen zu­

hört, alle das gleiche sagen. Daraus folgt schließ­

lich, daß die Wahl zwischen Ideen so zufällig ist wie die zwischen Einrichtungsstilen.

Die plurale soziale Welt erlaubt dem einzelnen, verschiedene Karrieren zu wählen. So ist Ulrich der Reihe nach Offizier, Mathematiker und reli­

giös-psychologischer Experimentator.26 Mit jeder Karriere sind bestimmte Rollen verbunden - und

25 II, S. 370ff.

26 I, S. 35ff.

24 I, S. 19ff.

(10)

Peter L. Berger: Robert Musil und die Errettung des Ich 141

natürlich auch bestimmte Ideen und Moralauffas­

sungen. Überflüssig zu sagen, daß diese Musilsche Einsicht mittels der aus der Sozialpsychologie und der Wissenssoziologie abgeleiteten Kategorien enorm ausgebaut werden könnte. Ein Musterbei­

spiel für eine solche Analyse pluraler sozialer Rol­

len mit ihrem gesamten gedanklichen und morali­

schen Beiwerk wäre der Fall Bonadea, mit der Ulrich am Anfang des Romans eine Affäre hat.27 Bonadea ist sowohl „une brave bourgeoise“, eine tüchtige Ehefrau und Mutter, als auch eine wild umherstreifende Nymphomanin. Irgendwie gelingt es ihr, diese beiden eigenständigen sozialen Wel­

ten getrennt voneinander am Laufen zu halten. Sie fühlt ein wenig Unbehagen dabei (das sich, jedes­

mal wenn sie mit Ulrich im Bett war, in bohrenden Selbstanklagen manifestiert), und sie hat die „uto­

pische“ Phantasie, daß sie irgendwann, irgendwie die widersprüchlichen Seiten ihres Daseins in ir­

gendeine Art „Ganzes“ zusammenbringt. Sie glaubt (wie sich herausstellt: fälschlicherweise), daß Diotima über dieses „Geheimnis der Ganz­

heit“ verfügt. Bei dem Versuch, sich vor sich selbst zu retten, schleicht sie sich in das patriotische Projekt ein. Dann aber entdeckt sie zu ihrem großen Entsetzen, daß Diotima eine Affäre mit Arnheim hat. Der hohe Kult der „Ganzheit“ und der Seele entpuppt sich als gar nicht so verschieden von den kleinen verstohlenen Ehebruchspiele­

reien, die Bonadea nur zu gut kennt. Eine weitere

„Utopie“ stürzt in sich zusammen.

Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ bietet au­

ßerordentlich viele Einblicke in das Problem des modernen Ich. Diese Einblicke sind nicht gerade beruhigend. Das Ich, so wie es in der abendländi­

schen Kultur (wenigstens seit Descartes) definiert wird und wie es im Alltag sowie in den erhabenen Vorstellungen des Rechts immer noch als selbst­

verständlich gilt, wird als Trugbild entlarvt. In seinem Zentrum ist eine gewisse Leere (die stark an die klassische buddhistische Vorstellung der ,shunyatäk erinnert). Das ist es, was die wissen­

schaftliche Analyse zutage fördert, doch die beun­

ruhigende Neuigkeit verbreitet sich jenseits der kleinen Welt der Wissenschaftler. Immer mehr Menschen sind sich unsicher darüber, wer sie sind, was ihre Motive sind oder sein sollten, und sie sind sich auch unsicher über die wahren Identitäten und Motive selbst ihrer nächsten Mitmenschen. Infol­

gedessen gibt es eine verbreitete „Utopie des moti­

vierten Lebens“, wie Musil es nennt, d. h. den

I, S. 4Iff.

Traum einer wiederhergestellten Einheit von Ich, Handeln und Wirklichkeit. Alle individuellen oder kollektiven Vorhaben, diese Einheit herzustellen, sind jedoch gleichermaßen unsicher; um Graf Leinsdorfs bissige Bemerkung zu wiederholen: alle Leute im Überbau sind unzuverlässig, seien sie Philosophen, Psychologen, politische Ideologen (welcher Couleur auch immer), Dichter oder was sonst noch alles. In der modernen Gesellschaft leben noch immer einige Menschen, die eine ältere Lebensform, eine traditionale „Ganzheit“ reprä­

sentieren. Vielleicht sind sie glücklich, und viel­

leicht sollten wir sie beneiden. Aber für diejeni­

gen, die aus der Quelle des modernen Relativis­

mus getrunken haben, scheint es kein Zurück mehr zu geben. Reaktionäre Restaurationen sind ebenso illusionär wie erneuernde, „progressive“

Konstruktionen der „Ganzheit“ ; der Ultra-Natio­

nalist Sepp und der Sozialist Schmeißer sind Spie­

gelbilder. Und die Konstruktionen der „Ganzheit“

auf der Grundlage individueller Exzentrizität, wie bei Clarisse, enden zumeist in Wahnsinn oder Ver­

brechen.

Doch Musil ist nicht bereit, diese „Utopie“ der Selbstverwirklichung aufzugeben. Die Logik des Romans läßt zwei Wege offen. Der eine ist die skeptische, wissenschaftlich-reflektierende und dennoch leidenschaftliche Parteinahme für die mo­

derne Freiheit. Der andere besteht in der religiö­

sen Suche nach dem wahren Ich, wie es sich in der Transzendenz offenbart. Es gibt einen säkularen und einen mystischen Ulrich, und Musil läßt uns im ungewissen darüber, welcher sich am Ende des Romans durchsetzen wird. Die posthum veröffent­

lichten Kapitel können auf verschiedene Weisen angeordnet werden. Adolf Frise, der Herausgeber der Standardausgabe, ordnet sie so, daß Ulrichs Experiment mit „dem anderen Zustand“ scheitert (nach einer dramatischen Reise nach Italien, in deren Verlauf er mit Agathe Inzest begeht); nach seinem Scheitern kehrt Ulrich, stark ernüchtert, aber ungebrochen, zu den partiellen und unsiche­

ren Selbstverwirklichungen des gewöhnlichen Le­

bens zurück. Die englischen Übersetzer des Ro­

mans haben diese Anordnung des Nachlasses kriti­

siert; sie glauben, Musil wollte den Roman mit den sogenannten „heiligen Gesprächen“ zwischen Bru­

der und Schwester beenden, was bedeuten würde, daß das religiös-mystische Experiment gelungen wäre. Der Nichtexperte in den wohl labyrinthi- schen Tiefen der Musil-Archive neigt zu der An­

sicht, daß Musil selbst nicht wußte, welches Ende er wählen sollte. Aber er war sich über eines im klaren: Für das „Geheimnis der Ganzheit“ gibt es

27

(11)

142 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, Heft 2, April 1988, S. 132-142

keine weltliche Lösung. Wenn es ein wahres Ich gibt, dann kann es sich nur in einem transzenden­

ten Bezugsrahmen als wahres offenbaren. Die Ge­

genposition dazu lautet, um Dostojewski zu para- phrasieren: Wenn es keinen Gott gibt, ist jedes Ich möglich. Das Dilemma des modernen Menschen,

aber auch die ihn herausfordernde Chance besteht darin, daß diese Alternative heute sehr scharf defi­

niert ist.

Übersetzung: Hubert Knoblauch, Ska Wiltschek, Jörg R. Bergmann

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Ich möchte dafür plädieren, daß der Titel des Dramas nicht negativ im Sinne einer lexikalisierten Metapher als Bezeichnung für Fanatiker oder für Menschen mit zu viel Enthusiasmus

.– So fl üchtig er seine Verfasserangaben macht, erinnert sich Blei jedoch gut an diese acht Texte, nicht aber an andere (wie etwa »Die Wahlpa- role«) als von Musil stammend,

Indirekt weist Musil dann noch zweimal auf seinen im letzten Heft der Zeitschrift (310–314) er- schienenen Essay »Der mathematische Mensch« hin: 1923 durch eine

Die Frage, welche Funktion Dinge in literarischen Texten haben können, wird hier nicht in Form einer motivgeschichtlichen Sammlung von Beispielen erörtert werden; vielmehr geht

Die Eigenschaften der Dinge sind nicht Akzidentien einer Substanz; in den Ketten der Signifikanten zirkuliert kein Signifikat; in den Rollen stellt sich keine Identität dar;

Wenn es auch heute schwer verst¨andlich ist, warum die Behaup- tung des Primats der Materie ¨uber den Geist politisch so brisant sein soll, und abgesehen von gelegentlich

3 Man ist verleitet zu ent- gegnen, Musil habe ja auch noch nichts ahnen können von den Möglichkeiten des Per- sonal Computers; davon, dass das Konvolut von insgesamt rund

(Offenbar fuhrt nicht nur der Versuch, Musils in mehr als einer Hinsicht bildgesättigte Tex- te zu beschreiben, zum neuerlichen Einsatz von Bildern - siehe Gunia -, sondern