Herrn Professor Dr. Hermann Jungraithmayr dankbar gewidmet
Anmerkungen zum Drachenblut
und zu den Namen der Insel Soqotra
Friedrich Ernst Beyhl, Kelkheim
I. Einleitung: 1. Allgemeines. - 2. Bedeutung. - 3. Bewohner.
II. Das Drachenblut: 4. Allgemeines. - 5. Historische Aspekte. - 6. Technologi¬
sche Aspekte. - 7. Chemische Aspekte. - 8. Biologische Aspekte.
III. Die Namen der Insel Soqotra: 9. Allgemeines. - 10. Die antiken Namen Soqo-
tras. - 11. Der arabische Name Soqotras. - 12. Der chinesische Name Soqo-
tras. - 13. Der Name Soqotras auf Kiswaheli. - 14. Der indische Name Soqo¬
tras. - 15. Etymologie des Wortes Soqotra. - 16. Der iranische Name Soqo¬
tras. - 17. Die Herkunft des Wortes Soqutar. - 18. Andere Namen der Insel.
- 19. Die Namen der Nebeninseln. 20. Zusammenfassung / Sommaire / Sum¬
mary.
IV. Nachtrag V. Literatur VI. Tabellen
I. Einleitung
I. Allgemeines
Die Insel Soqotra^, die heutzutage einen Bestandteil der Republik Jemen
bildet, liegt im äußersten Nordwesten des Indischen Ozeans am Golf von
Aden, dem Roten Meer (egvOgä 9äXaaaa, mare erythraeum) der Antike, öst¬
lich vom heutigen Kap Gardafui (bzw. Guardafui), dem antiken Kap der
Wohlgerüche (dgcj/xdrcov äxgcorrjgiov, Promontorium aromatum). Sie ist die
Hauptinsel eines kleinen Archipels (Tab. 2), der aus den Inseln Soqotra
(94,2% der Archipelfläche) und Abd el-Kuri (4,3% der Archipelfläche)
sowie den beiden, zusammen als „Die zwei Brüder" bezeichneten Eilan¬
den Darsa und Samba (zusammen 1,5% der Archipelfläche) besteht. Soqo¬
tra selbst ist mit 3 549 km^ Fläche etwa fast so groß wie die Mittelmeer¬
inseln Euböa oder Mallorca.
' Zu den Schreibweisen siehe Tab. 1. Im vorliegenden Text wird die Schreib¬
weise mit -q- verwendet, weil sie der arabischen am nächsten kommt.
Soqotrinischer Drachenbaum (Dracaena cinnabari Baif. fil.) auf dem Plateau von Mumi (Insel Soqotra/Jemen)
2. Bedeutung
Soqotra ist von jeher durch seine Lage ausgezeichnet: Gleichgültig, von
wo aus man diese Insel betrachtet, von Afrika/Äthiopien, von der medi¬
terran/europäischen Ökumene, der persisch/iranischen Welt, dem ara¬
bisch/islamischen Erdkreis oder dem südasiatisch/indischen Einflußge-
biet aus, stets lag sie an der jeweils äußersten Peripherie dieser Kultur¬
kreise. Andererseits hatte sie stets Bedeutung als an den Schnittpunkten
dieser Kulturbereiche liegender Handels-, Versorgungs- und Flottenstütz¬
punkt.
Hinter dieser eminenten handelspolitischen und vor allem strategi¬
schen Bedeutung trat die Bedeutung der Insel und des gesamten Archi¬
pels als eigenständige Einheit stets zurück. Soqotra war mit seinen Nach¬
barinseln fast immer nur als Außenposten, entweder als Station zur Ver¬
sorgung der Handelsschiffe oder, und das vor allem, als militärisch wert¬
volle Sperre des Schiffahrtsweges durch das heutige Rote Meer (des
antiken sinus arabicus) nach Ostafrika, Südarabien, dem Iran und Indien
wichtig. Hauptsächlich aus diesen militärischen Gründen suchten die
jeweiligen Besitzer Soqotras, zuletzt die Briten und die Sowjets, sie dem
Zugang durch Personen anderer Länder zu sperren, ohne sich selbst allzu-
sehr auf ihr zu engagieren; außer den allernötigsten Dingen unterblieben
alle Investitionen. Soqotra wurde somit im Laufe der Geschichte regel¬
recht zu einer „vergessenen Insel" und ist es im Prinzip auch heute
noch.
Eine eigene, nicht von außen her definierte Bedeutung hatte Soqotra in
früheren Zeiten als eine reichliche Quelle von allerlei Naturprodukten,
nämlich von Weihrauch, Aloe und Drachenblut, wofür sie in der Antike,
im Mittelalter und der frühen Neuzeit berühmt war - von allen Aloe-Sor¬
ten stammte das mit der besten Qualität von Soqotra (s. Abschn. 15). Mit
der zunehmenden Reduktion der Insel auf die alleinige Funktion als Mili¬
tärstützpunkt verlor sie diese Bedeutung allerdings in der Folgezeit.
Wenn wir den spärlichen Literaturquellen Glauben schenken dürfen, so
scheint in alter Zeit der Weihrauch sogar zuerst ausschließlich in
Soqotra gewonnen und von hier in den Hadramaut geschafft worden zu
sein, von wo aus man ihn dann in den Handel brachte; anscheinend muß
die Weihrauchproduktion in Südarabien erst zu einem späteren Zeit¬
punkt eingesetzt, dann aber das soqotrinische Produkt fast vollständig
vom Markt vertrieben haben. Vielleicht hat man auch den Weihrauch
zuerst auf Soqotra „entdeckt", als man Holz der Weihrauchbäume als
Brennmaterial verwandte. Auf Soqotra, das sich durch eine reiche und
eigenständige Flora aus zum großen Teil endemischen, d.h. anderswo
nicht vorkommenden Pflanzenarten von häufig recht merkwürdiger
Gestalt auszeichnet (Balfour 1888; Mies 1994; Mies & Zimmer 1993),
gibt es mehrere Arten von Weihrauchbäumen, nämlich die Arten Boswel-
lia ameero, B. elongata, B. socotrana und B. popoviana, dagegen im
Hadramaut und im Dofar nur die Art B. sacra (Miller & Morris 1988;
Ghazanfar 1994), die aber im Lauf der Zeit die einzige Stammpflanze des
begehrten Mittels geworden ist. Das „Weihrauchland" par excellence ist
eben seit langem der Süden der Arabischen Halbinsel und nicht Soqotra
(vgl. Nebes 1997)! Übrigens bezog man noch in frühbyzantinischer Zeit
Weihrauch auch von der somalischen Südküste, die damals Barbaria
(„Barbarei") hieß; die Stadt Berbera hat diesen Namen noch bewahrt.
Brandl (1973) spricht von ausgesprochenen „Weihrauchterrassen" auf
Soqotra. Nach Mies (mündl. Mittl.) gibt es noch heute an mehreren Stel¬
len auf Soqotra kleine „Plantagen" von Weihrauchbäumen (meist B.
ameero), die z.T. auf terrassierten Berghängen stehen. Sie müssen auch
ausgebeutet werden; denn sporadisch findet man soqotrinischen Weih¬
rauch zu kaufen.
3. Bewohner
Nach den alten Quellen lebten auf der Insel Soqotra in der Antike sowohl
„Araber" als auch „Inder" und „Griechen" (s. bei Pigulewskaja 1969;
Brandl 1973). Wir haben guten Grund dafür anzunehmen, daß es sich bei
diesen Bewohnern nicht um die Ureinwohner, sondern um Händler, Dro¬
gensammler und -aufkäufer und Agenten handelt, die für ihre Auftragge¬
ber aus ihren entsprechenden Mutterländern Handelsposten auf der Insel
besetzt hielten und, im Küstenbereich des Nordens der Insel angesiedelt,
dort eine Art von multikultureller Gesellschaft ausbildeten. Daneben muß
es, von diesen „Ausländern" und zeitgenössischen Chronisten unbeachtet,
im Inselinnern lebende „Ureinwohner" gegeben haben.
Diese Bewohner der Insel Soqotra (Stein & Stein 1992; Naumkin
1993) heißen heute in ihrer eigenen Sprache und auf Arabisch Soqotri;
auch ihre Sprache, ein Idiom aus der Gruppe der sogenannten Südarabi¬
schen Sprachen (Johnstone 1975), trägt diesen Namen (Johnstone 1975;
Simeone-Senelle 1996). Daneben wird stellenweise, wie ich 1996 und
1997 feststellte, Kisuaheli gebraucht, zumindest in formelhaften Rede¬
wendungen (s. Abschn. 13, vgl. dazu Brandl 1997). Über andere Spra¬
chen, die früher auf Soqotra in liturgisahem Gebrauch waren, nämlich
Chaldäisch (?) und „Äthiopisch" (?), berichtet Brandl (1973). Die offizielle
Sprache auf der Insel ist heutzutage natürlich Arabisch.
II. Das Drachenblut
4. Allgemeines
Als Drachenblut {sanguis draconis etc., s. Tab. 3) (Spaich & Koethke
1955; Milburn 1984) bezeichnet man ein dunkelrotes, wasserlösliches
Harz, das aus dem Saft bestimmter tropischer und subtropischer Pflanzen
gewonnen wird. Die wichtigsten Stammpflanzen sind die beiden Drachen¬
baum-Arten Dracaena Draco L., der auf den Kanarischen und den Kap¬
verdischen Inseln sowie auf der Insel Madeira vorkommt (Berthelot
1827; Byström 1960), und Dracaena cinnabari Baif fll., der aufder Insel
Soqotra lebt (Balfour 1883; Beyhl 1995). Beide Arten sind eng mitein¬
ander verwandt (Sunding 1970) und einander sehr ähnlich.
Auf Soqotri heißt das Drachenblut eda (Balfour 1883), auf Arabisch
dam al-akhawein (Nadhib 1991) (s.u. Abschn. 6.); im Iranischen verwen¬
dete man das aus dem Arabischen stammende Wort qätir (s.u. Abschn.
17).
5. Technologische Aspekte
Drachenblut hatte als Arzneimittel, nämlich als Adstringens und zur
Wunddesinfektion (Spaich & Koethke 1955; Nadhib 1991; Ghazanfar
1994), und als roter Farbstoff, den man z.B. dem Violinen-Firnis zusetzte
(HiLLis 1989), eine gewisse Bedeutung; seine Verwendung in der Medizin
ist heute, dank besserer Medikamente, obsolet geworden. Dagegen ver¬
wendet man es auf Soqotra noch als roten Farbstoff zum Bemalen der auf
der Insel hergestellten Keramik (Stein & Stein 1992) und für kosmeti¬
sche Zwecke, nämlich zum Bemalen von Händen und Nägeln bei den
Frauen, analog zum Gebrauch von Hennah.
6. Historische Aspekte
Drachenblut war bereits in der Antike unter diesem Namen bekannt
(Gicklhorn & al. 1980); Plinius gibt seinen Namen als cinnabaris (xivvdßa-
QLg) an (Plinius 1984). Dieses Wort ist das gleiche wie das für Zinnober,
ein dunkelrotes Mineral, das aus Quecksilbersulfid (HgS), und zwar dessen
ß-Form^ (HoLLEMAN 1920; Hofmann & Rüdorff I95I), besteht. Zinnober
und Drachenblut ähneln sich in der äußeren Erscheinung, nämlich in der
Farbe, sehr; in ihren chemischen Eigenschaften sind die beiden Substan¬
zen natürlich voneinander vollständig verschieden. Auch ftir ein weiteres
Mineral, die Mennige (chemisch Bleioxid, Pb304), wurde dieser Name ver¬
wandt (neben dem Wort minium), wohl wegen dessen ebenfalls roter
Farbe. Auch die rote Tinte, welche die byzantinischen Kaiser in Fortset¬
zung der Tradition, daß die Verwendung edler roter Farben (wie Purpur)
nur dem obersten Herrscher zustand, zum Schreiben verwendeten, trug
den Namen cinnabaris oder cinnabari (xivvdßagi)'^. Dieses nichtgriechi¬
sche Wort, auf Griechisch auch als riyydßagi überliefert, geht auf eine
Quelle zurück, der auch das arabische zinjafr und zunjufr (Wehr 1985),
das (neu-)iranische zinjafr (Prellwitz 1905) und das zangefuri des Kisua¬
heli (Madan 1902), alle mit der Bedeutung „Zinnober", zu entstammen
scheinen. Inwieweit dieses mit dem Toponym ar. Zenjabar und kiswah.
2 Diese Form ist die Hochtemperatur-Modifikation. Die a-Form, welche die
Tieftemperatur-Modifikation der gleichen Substanz darstellt, ist hingegen
schwarz. Aus der a-Form kann man die ß-Form darstellen und damit Zinnober
künstlich gewinnen (Holleman 1920; Hofmann & Rüdorff 1951).
3 Der damalige Gebrauch roter Tinte anstelle der „gewöhnlichen" schwarzen
durch den obersten Machthaber zum Korrigieren von Texten oder Anbringen von
Anmerkungen hat sich bis in heutige Zeiten erhalten bei der Korrektur mit roter
Tinte durch eine übergeordnete Instanz.
Zanzibar und überhaupt mit der Landschaft Zenj zusammenhängt, soll
hier nicht erörtert werden. Es sei hier auch an lat. sulfur „Schwefel" erin¬
nert, ein Lehnwort aus einer unbekannten Sprache (Haas & v. Kienle
1952), das möglicherweise mit in diesen Bereich („gelb bis rot gefärbtes
Mineral") gehört (vgl. ar. 'asfar 'gelb').
In seiner Beschreibung des cinnabaris berichtet Plinius auch über
einen alten Mythos, wonach die als Drachenblut bezeichnete Substanz
aus dem Blut eines Drachen herrührt, welcher von einem von ihm im
Kampf tödlich verwundeten Elefanten erdrückt wird, und spielt damit auf
eine uralte Sage vom Kampf zwischen dem Elefanten (der Verkörperung
des Guten) und dem Drachen (der Verkörperung des Bösen) an (Plinius
1984). Dieser Mythos, der angeblich aus Indien stammt, hat in der christ¬
lichen Hagiographie sein Äquivalent im Kampf zwischen dem Heiligen
Georg und dem Untier (gr. öigpLov). Offensichtlich steht der Heilige, zusam¬
men mit seinem Reitpferd, an Stelle des Elefanten; sovt'ohl dieses Tier als
auch der Heilige mit dem Pferd verkörpern das Gute. Mensch, Pferd und
Elefant zählen biologisch zu den Säugetieren, und man schreibt ihnen seit
Altem Bewußtsein, intelligentes Handeln und Mitgefühl zu. Dagegen rea¬
giert der Drache, biologisch ein Reptil, nur instinktmäßig, keinesfalls als
ein mitfühlendes Wesen. Dieses sehr alte credo über Unterschiede zwi¬
schen Reptilien und den sozialen Säugetieren ist von der modernen Tier¬
verhaltensforschung glänzend bestätigt worden, wie Eibl-Eibesfeld an
den Leguanen der Galäpagos-Inseln erforscht hat (Eibl-Eibesfeld, per¬
sönl. Mittl.). Das Vorbild des Drachens in den alten Sagen ist vielleicht
der Komodo-Waran (yaranus komodoensis), ein riesiges, gefährliches und
sogar menschenfressendes Reptil, das heute nur noch auf der indo¬
nesischen Insel Komodo überlebt hat, vielleicht aber früher in Süd- und
Südostasien weiter verbreitet war. Interessanterweise wird in der
Beschreibung Soqotras im Periplus maris Erythraei ausdrücklich auf die
Anwesenheit großer Reptilien auf dieser Insel hingewiesen (Müllerus
1965; Pigulewskaja 1969).
In der Antike wurde das Drachenblut weithin medizinisch oder als
roter Farbstoff verwendet; schon Dioscurides (Mazai> 1981) kannte es
(Gicklhorn & al. 1980). Angesichts des Brauches der römischen Gladia¬
toren, sich vor ihren Kämpfen mit Drachenblut-Präparationen einzurei¬
ben, um sich ein blutiges, schreckenerregendes Aussehen zu verleihen
und sich vor eventuellen Wundinfektionen zu schützen, gewinnt übrigens
die Sage von dem durch Baden in Drachenblut unverwundbar gewordenen
Siegfried neuartige und recht reale Aspekte: Wir haben hier nämlich eine
weit nach Norden gewanderte, dort mißverstandene und ins Sagenhafte
verkehrte Überlieferung vom Gebrauch des „Drachenbluts" in der vor¬
beugenden Wundmedizin der Antike vor uns. Die angeblich beim Baden
des Helden in Drachenblut durch ein Lindenblatt „abgedeckte" Stelle
zwischen seinen Schulterblättern, an der er beim Trinken hinterrücks
von seinem Todfeind Hagen erstochen wird, ist genau die Stelle am Rük-
ken, die man beim Einreiben (und auch beim Waschen und Abtrocknen)
mit den Händen nicht oder nur schwer erreicht.
Auch das arabische Wort für Drachenblut, dam al-akhawein („Blut der
beiden Brüder") und die entsprechende Bezeichnung in Kiswaheli,
maziwa ya watu wawili (Johnson I960), das die Übersetzung aus dem
Arabischen darstellt, scheinen auf einen antiken Mythos zurückzugehen;
sie spielen offensichtlich auf die antiken Helden Castor (Kckrtcog) und Pol¬
lux (TIoXvÖEvxriQ) an, die sogenannten Dioskuren (dioscuri, diög xovgoi,
„Söhne des Zeus") bzw. Tyndariden (Tvvöagi'öai, wörtlich „Söhne des
Königs Tyndareus" , gemeint ist wahrscheinlich aber „Söhne von Tinia":
Tinia ist der etruskisch-westkleinasiatische Name des obersten Himmels¬
gottes). Die beiden, gemeinsam aus einem Ei gekrochen, das ihre Mutter,
die Königin Leda nach dem Besuch des Göttervaters gelegt hatte, waren
somit „eineiige Zwillinge" in der vollen Bedeutung des Wortes, wobei der
eine unsterblich und der andere sterblich war (Farnell I92I). Nach dem
Tod des einen wurden sie an den Himmel entrückt, wo sie das Sternbild
der Zwillinge bilden; dessen zwei Hauptsterne tragen noch heute ihre
Namen. An diese Zwillinge, die in der Antike weite Verehrung genossen,
zum Beispiel als Retter von Seeleuten aus Seenot (Farnell 1921), er¬
innert vielleicht auch die Bezeichnung „die zwei Brüder" für die beiden
zum Soqotrinischen Archipel gehörenden Eilande Darsa und Semha (s.
Abschn. 19).
Auf Soqotri lautet der Name des Drachenbaumes karya; auf Arabisch
dagegen, dem arabischen Namen des Drachenblutes entsprechend, shaja-
rat dam al-akhawein 'Baum des Blutes der beiden Brüder'.
Nach der Entdeckung und Eroberung Madeiras, der Kanaren und der
Kapverden im fünfzehnten Jahrhundert bezog man in Europa Drachen¬
blut von den dortigen Drachenbäumen {Dracaena draco L.), zumal für
europäische Händler der direkte Weg zu den „Schätzen Indiens" durch
die Reiche Vorderasiens und Nordafrikas versperrt war. Auf den Kanaren
war Drachenblut schon von den Ureinwohnern gewonnen worden, die es
zusammen mit anderen Harzen zum Einbalsamieren und Mumifizieren
der Leichen verwendet zu haben scheinen (Cutak 1940; Tejera Gaspar
1992; DE Arco Aguilar o. J.). Vielleicht ist jener kanarische, Gomero
genannte Baum von heute unbekannter Artzugehörigkeit, mit dessen
Harz die Frauen Gran Canarias damals Gesicht und Hände zur Verschö¬
nerung bemalten (Castejon Gonzalez 1991), der Drachenbaum. Aller¬
dings scheint gomero kein kanarisches Wort, sondern eher eine spanische
Bildung mit der Bedeutung „Gummibaum" (d.h. „Harzbaum") zu sein.
Vielleicht stammt der Name La Gomera für eine der Kanaren-Inseln von
diesem Baumnamen her.
Drachenblut wurde auch aus anderen pflanzlichen Quellen gewonnen
(Spaich & Koethke 1955; Milburn 1984), vor allem aus der Drachen¬
blutpalme [Daemonorops draco BL), einer mit der Rotang-Palme (dem Lie¬
feranten des Materials für Rotang- oder Rattan-Möbel), verwandten
Liane der Wälder Ostindiens (Weiner & Seehann 1996). Das meiste Dra¬
chenblut, das sich zurzeit im Handel befindet, stammt von dieser Palme,
was bei den Chemikern, die sich über die Herkunft des von ihnen unter¬
suchten Drachenblutes oft keine Gedanken machten, zu einiger Verwir¬
rung geführt hat.
7. Chemische Aspekte
Die ersten Untersuchungen des soqotrinischen Drachenblutes wurden
von DoBBiE & Henderson (1883) durchgeführt, die seine Löslichkeit in
verschiedenen organischen Lösemitteln und in alkalischen Flüssigkeiten
testeten. Sie fanden heraus, daß Drachenblut eine sauer reagierende Sub¬
stanz der Formel Ci8H[804 enthielt, klärten aber deren Struktur nicht auf
Sie zeigten auch, daß die chemische Zusammensetzung des soqotrinischen
Drachenblutes von der anderer Quellen verschieden ist. Im Drachenblut
aus der Palme hat man einen roten Farbstoff isoliert, das Dracorubin
(Robertson & al. 1950), während man im kanarischen Drachenblut eine
Reihe von Saponinen nachgewiesen hat (Gonzalez Gonzalez & al. 1971;
Camarida & al. 1983).
Meine Untersuchungen des soqotrinischen Drachenblutes (Beyhl, un¬
veröffentlicht) zeigten, daß das Harz aus mehreren Bestandteilen besteht,
die sich leicht in Methanol und in sauren und alkalischen Lösungen auf¬
lösen. Saure Lösungen sind gelb gefärbt, alkalische oder methanolische
dagegen rot. Die alkalisch-wäßrige Lösung von Drachenblut ist sauerstoff¬
empfindlich und nicht lange an der Luft haltbar: Ausgehend von der der
Luft ausgesetzten Flüssigkeitsoberfläche, färbt sich die Lösung langsam
dunkelbraun und flockt aus. Dieser Prozeß ist eine oxidative Polymerisie-
rung der wasserlöslichen, phenolartigen Harzbestandteile, die wahr¬
scheinlich über die intermediäre Bildung reaktiver Radikale verläuft und
zu hochmolekularen, gerbstoffahnlichen Endprodukten führt.
8. Biologische Aspekte
Diese Beobachtung ergibt auch eine plausible Erklärung fur die biologi¬
sche Bedeutung des Drachenblutes für die Pflanze, nämlich die eines
natürlichen Desinfektions- und Wundverschlußmittels. Es wird an ver¬
letzten Stellen des Pflanzenkörpers ausgeschieden, überdeckt die Wunde
und verdickt und verfestigt sich dort durch die genannte oxidative Poly-
merisierung nach einiger Zeit, so daß es die Wunde fest verschließt, ähn¬
lich wie bei Mensch und Tier das aus den Wunden austretende und durch
Polymerisationsvorgänge gerinnende Blut. Zusätzlich töten die saponin-
und phenolartigen Substanzen und die reaktiven Radikale eventuell auf
der Wunde befindliche Infektionserreger ab.
III. Die Namen der Insel Soqotra
9. Allgemeines
Daß eine Insel, die im Schnittpunkt der verschiedensten Kulturbereiche
liegt, verschiedene Namen tragen muß, und daß diese auch von einem auf
den andern Kulturkreis übertragen werden oder im Lauf der Zeit wech¬
seln können, erscheint fast selbstverständlich.
10. Die antiken Namen Soqotras
Bei den Griechen und Römern hieß die Insel Dioscoride, Dioscoridu,
Dioscorida oder Dioscurida - siehe die geographischen Angaben bei Pto¬
lemäus (Ptolemaeus 1990), dem Autor des Periplus Maris Erythraei (Mül¬
lerus 1965) und der Topographia Christiana des Kosmas Indikopleustes
(Winstedt 1909). Plinius gibt den Namen der Insel als Diodore an
(Doresse I97I). Er scheint mit den Dioskuren und dem arabischen
Namen des Drachenblutes verbunden zu sein (s. o. Abschn. 6).
Allerdings sind gegen diese Namensverknüpfung gewisse Einwände zu
erheben. An diesen Namen fällt nämlich auf, daß nur die erste Worthälfte
eine fixierte Form hat, nämlich diosc- [öioax-), wogegen im zweiten Wort¬
teil eine auffällige Unbeständigkeit des Vokalismus auffällt, nämlich
-coridu, -coride, -corida und -curida. Die Variation -o-/-u- kann aus dem
Griechischen erklärt werden, wo sie öfters auftritt: So steht neben dem
männlichen hovqoq die weibliche xdigri. Dagegen variiert der Vokal der
Endsilbe zwischen -u, -e, -i und -a, ohne daß wir einen Grund dafür erken¬
nen können. Diese Variabilität der zweiten Worthälfte und vor allem die
plinianische Form Diodore geben Anlaß zu der Vermutung, daß der antike
Lj**
^Zacatatera inf: ol
"-^UDißfcumdß .
JcUlit, '"'^r^^öH
^ Zoj'eti^
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.^.s^^rPatt .5^^^.
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- .<^«,^jS«C'ü-Wir
>WAc;/DA,:J^'*'5^ \
Ausehnitt aus der Karte Afrieae tabvla nova
tTELius, Theatrum, orbis terrarum, Antwerpen 1570
IV, I OßQ\
^»^««wJ
aus Ortelius, Theatrum <
(Klemp 1968)1
Inselname nicht vom Griechischen öiög xovgoi abzuleiten ist, sondern die
Verballhornung und „volksetymologische" Umgestaltung eines andern
Wortes ist, nämlich des Inselnamens in einer nichtgriechischen Sprache.
Nach dem oben Gesagten, daß sich auf der Insel Handelsposten verschie¬
dener Nationen befunden haben (s.o. Abschn. 2), erscheint ein solcher
Vorgang durchaus verständlich zu sein.
Dagegen sieht es so aus, als sei der antike Name der heutigen Stadt
Suchumi am Schwarzen Meer, Dioscurias {Aioaxovgiä;), einer milesischen
Kolonie, tatsächlich von dem Wort öiog xovgoi abzuleiten, zumal der Kult
der beiden Heroen im Pontusbereich tatsächlich verbreitet war (Farnell
I92I).
11 . Der arabische Name Soqotras
Der arabische Inselname, Soqotra, fmdet sich bereits auf Idrisis berühm¬
ter Weltkarte von 1 154, nämlich als gezira soqotra und gezira qatroba al-
gharbi (Klemp 1989). Er tauchte in Europa, das die Insel bis dahin nur
unter ihrem antiken Namen kannte, kurz nach der portugiesischen
Eroberung der Insel im Jahre 1507 A. D. auf
Es erscheint interessant zu verfolgen, wie sich in den Reiseberichten
und Karten der Geographen, die anfangs nach alter Tradition den antiken
Namen verwendet hatten, im Laufe der Neuzeit der arabische Name nach
und nach durchsetzt, und zwar in verschiedenen Orthographien, bis er
schließlich der allein verwendete wird (Tab. 4). Dieser Ersatz eines anti¬
ken geographischen Toponyms durch das entsprechende orientalische in
der Renaissance und später hat weniger mit der Insel Soqotra zu tun; viel¬
mehr ist er ein Phänomen der europäischen Geistesgeschichte.
In einer anonymen Ptolemäus-Ausgabe aus Ulm vom Jahre 1482
erscheint die Insel noch unter dem Namen Dioscori (Zögner 1984), wäh¬
rend sie in einer anderen anonymen Ptolemäus-Ausgabe aus Straßburg
vom Jahre I5I2 sogar ganz fehlt (Kupcik 1980), ebenso übrigens auch in
einer viel früheren, undatierten, insgesamt noch völlig mittelalterlichen
Karte, die auf die Aufzeichnungen von Beatus aus dem achten Jahrhun¬
dert zurückgeht und immerhin Ceylon/Sumatra unter dem Namen Takro-
dane (verschrieben anstelle des richtigen Namens Taprobane) zeigt
(Gilmartin 1984). Der Kartograph Waldseemüller benutzt in seiner
Karte von 1507 noch den alten Namen (in der Version Discoridis), Mer-
cator dagegen 1569 die Signaturen Zacotra olim Dioscuriada 'Zacotra,
früher Dioscuriada' (Randles 1956), aber den alten Namen, Dioscorida,
in der Weltkarte seiner Ptolemäus-Edition von 1584, wogegen die Insel
in der Basler Ptolemäus-Ausgabe von Sebastian Münster von 1552 fehlt
(Zögner 1984). Jacopo Gastaldi führt in seiner Karte von 1559-1561
(Anonymus 1985) den Inselnamen als Zocotora an, wogegen Tomaso Por-
cacehi, ein anderer italienischer Kartograph, 1676 Soqotra überhaupt
nicht erwähnt, sondern an ihrer Stelle zwei Inseln, Isole di Compagni,
einzeichnet (Anonymus 1985). Der Franzose Andre Thevet (Andreas The-
vetius) nennt Soqotra auf seiner Karte von 1586 isle de Zacotera (Karrow
Jr 1993). Der Italiener Livio Sanuto benutzt 1588 den Namen Zacotora
(Zögner 1984). Je nach Auflage seines Kartenwerks Theatrum orbis ter¬
rarum verwendet Abraham Ortelius verschiedene Namen oder Schreib¬
weisen: in der von 1570 schreibt er Zocototera und Dioscuriada, 1573
schreibt er Zocotora und Dioscorida (Klemp 1968), 1577 Zacatora und
1587 Zaccotora (Blakemore & Harley 1980). Der holländische Karto¬
graph Blaeu verwendet 1608 das Wort Zacotra (Anonymus 1985). Aufder
Karte von Joäo Teixeira von 1649 finden wir Socatora (Boxer 1980). Der
französische Kartograph Jean Baptiste d'Anville zeigt 1751 Soqotra als
Socotora (Anonymus 1985). Tabelle 4 gibt einen Überblick über die von
den verschiedenen Kartographen verwendeten Namen für die Insel Soqo¬
tra.
Clusius (1576) benutzt in seinem Arzneibuch die Fassung Socotora. In
einer Beschreibung Afrikas aus dem 18. Jahrhundert, der Introduzione
alla geografia aus dem Staatsarchiv von Florenz, heißt Soqotra schon
Socotra, ausdrücklich wird aber ihr antiker Name als Dioscoridi zitiert
(Finazzo I97I). Le Quien (1740) nennt die Insel auf Lateinisch Socotra,
zitiert ihren antiken Namen aber als Dioscoris und ihren arabischen als
Zocotra.
Interessant ist auch der mit C anlautende Inselname Cacotora, wie bei
Portolan 1 und 2 von B. Agnese aus dem Jahr 1553 (auf einer Karte von
1554 zeichnet er die Insel zwar ein, gibt aber keinen Namen an)
(Anonymus 1986), ebenso bei Waldseemüller & Fries in ihrer Karte
„Tabv(la) moder(na) Indiae", die zu einer Ptolemäus-Ausgabe von 1535
gehört, und H. F. van Langren auf seiner Karte „Asiae novae descriptio"
um 1598 (Klemp 1989). Diese Form des Inselnamens geht aufdie ältere
portugiesische Orthographie (C fiir Q) zurück.
Die Soqotri selbst nennen ihre Insel auf Soqotri, ihrer Muttersprache,
Squtra/Sqotra, wobei dieses Wort außerdem auch noch soviel wie
„Umwelt, Weltall, Welt" bedeutet (Naumkin 1993).
12. Der chinesische Name Soqotras
Doresse (I97I) gibt an, daß nach den Berichten Marco Polos die Chine¬
sen Soqotra unter dem Namen Chung-Li kannten, was hier ohne Kom¬
mentar vermerkt sei.
13. Der Name Soqotras in Kiswaheli
Der Name der Insel lautet in dieser Sprache Umaheri (Tolmacheva
1995); er bedeutet „Mehra-Land" und spielt aufdie langjährige politische
Zugehörigkeit Soqotras zu diesem östlich vom Hadramaut und westlich
von Dofar gelegenen Land an, dessen Regierungssitz auf Soqotra, an der
Nordkliste nahe bei der Stadt Hadibu (früher Tamarida) lag - dort ist
noch heute der ehemalige Palast zu sehen, und dort wohnen noch Ange¬
hörige der Herrscherfamilie. Im Zusammenhang damit steht natürlich die
Tatsache, daß zumindest in einigen Teilen Soqotras die Kenntnis des Ki¬
swaheli bekannt war (s. o. Abschn. 3).
14. Der indische Name Soqotras
Für diesen Namen haben wir das Dilemma, daß er nicht aus der Primär-,
sondern nur aus der Sekundärliteratur bekannt ist und ihn fast alle Auto¬
ren, die über Soqotra schreiben, zwar stets zitieren (und sogar als San¬
skrit-Ausdruck ausgeben), aber niemals die Originalquelle anführen, aus
der sie ihr Wissen darüber geschöpft haben; zudem wird er in unter¬
schiedlichen Transkriptionen kolportiert, nämlich als Dvipa sukhatara
(Glaser 1890), Dvipa sukhadhara (Botting 1958), Dvipa sukaderis
(Brandl 1973) und Dvipa sukhadara (McGrindle 1897; Winstedt 1909;
Botting 1958; Wranik 1986; Doe 1992; Naumkin 1993), was man als
„Insel der Glückseligkeit" („isiand of happiness", „isiand of blyth") über¬
setzt. Dieses Verhalten ist wohl eine gute Illustration des Satzes von
Gardner: "History consists of recognized fictions" (zitiert bei Sykes
1963, S. 306).
Unter der Bedingung, daß diese Etymologie wahr ist, haben wir das¬
selbe Phänomen wie bei den Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean:
Sowohl diese als auch die Insel Soqotra liegen am äußersten, und zwar
dem westlichen Rand der jeweiligen Ökumene, dort wo, vom jeweiligen
Zentrum aus gesehen, „die Sonne untergeht". Soqotra ist im fernsten
Westen der Indischen Welt gelegen, und die Kanaren bilden den äußer¬
sten Westen der Alten Welt der Phönizier, Griechen und Römer - nicht
umsonst verlegte Ptolemäus* den Nullmeridian in das Gebiet der „Insulae
* Neuerdings spricht man Ptolemäus in einigen amerikanischen Veröffent-
Fortunatae"/„Maxap(,oL Ny^ctoi", d. h. der Inseln der Seligen (siehe bei Pto¬
lemaeus 1990). Soqotra ist nur zu bestimmten Jahreszeiten mit dem
Segelschiff zugänglich, nämlich wenn die entsprechenden Monsunwinde
wehen. Dies gilt auch heute noch: Selbst mit dem Flugzeug kann man
Soqotra nur bedingt erreichen; in der Zeit des Sommermonsuns wird der
zivile Luftverkehr zwischen Insel und Festland fiir mehrere Monate sogar
ganz eingestellt! Wegen ihrer Lage in der Passatzone mit vom Festland
wegwehenden Winden sind die Kanaren als regelrechte „Inseln ohne Wie¬
derkehr" anzusehen, also sogar noch schwerer zugänglich. Strenggenom¬
men waren sie für Segelschiffe zwar leicht zu erreichen, aber es war
schwer, wenn nicht unmöglich, von dort wieder zurückzukehren, als
man es noch nicht verstand, gegen den Wind zu kreuzen.
Solche schwer zugängliche Inseln waren dementsprechend nur wenig
und äußerst ungenau bekannt; und so konnte sich aus falsch verstandenen
Berichten wagemutiger Seefahrer, Seemannsgarn und alten Menschheits¬
sagen ein regelrechtes Fabel- und Mythengewebe über diese Inseln span¬
nen.
Es ist bemerkenswert, daß die verschiedensten Kulturen die Stätte des
Weiterlebens der Toten in den Westen, in den Bereich jenseits des Son¬
nenuntergangs, verlegt haben. So ist in japanischen Gärten und Parks der
westlichste Teil der Erinnerung der Verstorbenen gewidmet. Schon bei
den alten Griechen, die sich die Toten als im Hades {ädrjg) und im Elysium
(rjXvaiov) lebend vorstellten (wo sie über Wiesen von Asphodelos-Vi\&nmn
schritten^), lagen diese beiden Plätze im Westen des Landes. Nur aus¬
gewählten, mit übernatürlichen Kräften begabten Personen war es vor-
lichungen die griechische Nationalität (falls es zu jener Zeit eine solche überhaupt gegeben haben sollte) regelrecht ab: "... it seems somehow pointless to belabour
the putative Greekness of Ptolemy because he wrote in Greek (as who today does
not write in English?) ..." (Wood 1987). Dies erscheint nichts weiter als ein Teil
der neuerlichen anti-eurozentrischen intellektuellen Kampagnen zu sein, die teil¬
weise von Amerika (vgl. Bernal 1993), teilweise von Afrika (Lam 1994) oder Ara¬
bien (Khella 1994) ausgehen und die zum Teil natüriieh sogar berechtigt sind;
eine einseitige eurozentrische Einstellung ist selbstverständlich etwas, was
kein ernsthafter Orientalist jemals einnehmen würde.
5 Da Massenvorkommen dieser Pflanzenart wegen ihrer Unbekömmlichkeit für
Weidevieh als Anzeiger für Überweidung gelten, zeigt übrigens der altgrieehische
Mythos an, daß schon zu seiner Zeit auf griechischem Boden Umweltschädigun¬
gen durch Überweiden stattgefunden haben müssen! Die Tradition, daß weißblü¬
hende Liliengewächse wie Asphodelon mit dem Totenkult in Verbindung gebracht
werden, hat sich bis in unsere Zeit fortgesetzt mit dem Brauch, weiße Lilien und
weiße Calla als Trauerblumen zu verwenden.
behalten und bestimmt, in diese Stätten des Todes einzudringen und
auch wieder unbeschädigt zu den Lebenden zurückzukehren; es sei nur
an Orpheus und Hercules I 'HgayXfjg erinnert. Einige antike Gottheiten
wie Osiris, Adonis und Proserpina und der thrakische Gott Zalmo-
xisIZamolxis wechselten sogar in einer regelmäßigen, „transhumance-
artigen" Weise ständig zwischen dem Leben in der Unterwelt und aufder
Erde hin und her. Die Idee, daß eine Person von übermenschlichem oder
göttlichem Charakter sein eigenes Leben für das anderer Menschen
opfert, in die Unterwelt hinabsteigt, mit deren Herrscher kämpft und
siegreich zur Oberwelt zurückkehrt, ist übrigens zur zentralen Aussage
des Christentums geworden.
Auch in anderen Kulturen wurden die Inseln der Seligen, die at fiaxdgioi
vrjaoi, ai evdac/uwveQ v^aoi, oder al zcöv /uaxagi'cov vfjaoi der Griechen, die insu¬
lae fortunatae oder insulae beatorum der Römer, die Insel hy breazail der
Iren und die geza'ir as-sa'adati der Araber (alle diese Namen bedeuten
dasselbe) im äußersten Westen angesiedelt.
Interessanterweise verlegte Ptolemäus eine Insel namens Maxagi'a vfjaog
auch in das Arabische Meer (das heutige Rote Meer), nämlich in die
Region, wo die Dahlak-Inseln liegen, und eine andere Insel namens
insula bonae fortunae in den Indischen Ozean (Ptolemaeus 1990), die
auch aufder in Florenz erschienenen anonymen Ausgabe von 1478 auf¬
taucht (Robinson 1992). In diesem Zusammenhang sollte auch die Benen¬
nung des südwestlichen Teils der Arabischen Halbinsel als 'Agaßi'a
Evdai'/ucov, Arabia Felix, Blessed Arabia, l'Heureuse Arabie, Glückliches
Arabien usw. und die traditionelle Lokalisation des Paradieses im heuti¬
gen Persischen Golf oder (in Form des Fußabdrucks von Adam) auf der
Insel Ceylon nicht unerwähnt bleiben.
Daß Soqotra und die Kanaren als Inseln der Glückseligkeit bezeichnet
wurden, hat wohl mit dem milden Klima dieser Inseln zu tun, die zwar in
der trockenen Wüstenzone liegen, aber auf Grund ihres geographischen
Aufbaus ständig fließendes Süßwasser und auf ihren Berghängen dichte
Wälder (Mies & al. 1995, Kunkel 1980) besitzen, wiewohl die Küsten¬
zonen heiß und trocken sind. Außerdem bleibt zumindest Soqotra von
Erdbeben verschont, weil sie zwar, im Bereich des Roten Meeres und des
Golfs von Aden gelegen, von Gebieten hoher Seismizität umgeben ist, aber
als „Mikrokontinent" von diesen Ereignissen nicht betroffen wird
(Ambrasseys & al., 1994); die Kanaren sind dagegen als Inseln vulkani¬
scher Herkunft nicht vor Erdbeben und Vulkanausbrüchen sicher.
Mangels geeigneter Häfen können Schiffe an Soqotras Küsten nur mit
äußerster Schwierigkeit landen. Sogar noch heute müssen Schiffe, welche
Soqotra besuchen, draußen im Ozean vor Anker gehen; Fracht und Perso¬
nen müssen ausgebootet und an Land transportiert werden (ein Hafen ist
erst seit 1996 an der Nordküste in Bau). Dies machte und macht die
Inseln für Fremde recht unzugänglich, vor allem in den Monsunzeiten,
wenn heftige Stürme die Schiffe daran hindern, sich der Insel zu nähern,
und ein Ausbringen von Booten unmöglich machen. Andererseits gibt es
in den Bergen von Soqotra viele Höhlen und Felsüberhänge {abris), die
den Einwohnern als Wohnstätten dienen, übrigens auch heute noch
(Wellsted 1835, 1840; Müller 1907; Stein & Stein 1992); so sind
unsere Expeditionen im gebirgigen Landesinneren in den Jahren 1994,
1996 und 1997 auf solche noch bewohnte Höhlen gestoßen. Deren Bewoh¬
ner konnten früher und können noch heute ein relativ „glückliches" und
von außen ungestörtes Leben als troglodytae {rgcoyXodvrai 'Höhlenbewoh¬
ner') führen - selbst das Finanzamt hatte zu ihnen keinen rechten Zugriff!
Erst in allerjüngster Zeit werden die in solchen Höhlen wohnenden „Berg¬
nomaden" Soqotras (vgl. dazu Simeone-Senelle 1996) überhaupt von
Steuerbeamten katastermäßig erfaßt, wovon ich 1994 bei meinem Besuch
der Insel Zeuge wurde. Troglodyten waren in Antike und Mittelalter eines
der „Wunder Indiens"; in historischen Karten findet man die Wörter tro¬
glodytae, trogloditae u.ä. in das Horn von Afrika hineingeschrieben, z.B.
in der Weltkarte der Basler Ptolemäus-Ausgabe von Sebastian Münster
(Zögner 1984) und als Magadazo olim Troglodytica Regio 'Mogadischu
ehemals Troglodytengebiet' im sog. „Miller-Atlas" von P. und J. Reinel
von I5I9 (Klemp 1989); und noch heute kann man dort Höhlenwohnun¬
gen antreffen; so habe ich sie 1995 in Eritrea gefunden.
Allerdings findet sich im Sanskrit-Wörterbuch von Mylius (1992) nir¬
gendwo das als namengebend proklamierte Wort dvipa sukhad(h)aralsu¬
khatara, sondern nur die Einträge dvipa 'Insel', sukha 'Wohlbehagen' und
sukhakara 'Wohlbehagen mit sich bringend'. Es liegt daher nahe anzu¬
nehmen, der Ausdruck dvipa sukhad{k)aralsukhatara sei aus der Fügung
dvipa sukhakara durch Austausch des Konsonanten -k- durch -t-, -d- bzw.
-dk- entstanden. Eine phonetische oder psychologische Motivierung dafür
läßt sich allerdings nicht finden.
Dagegen gibt es im Sanskrit-Wörterbuch von Monier-Williams (1956)
noch zusätzlich die Einträge sukhada 'giving pleasure or delight' (z.B.
vom Fluß Ganges und einer besonderen Sorte von Verstorbenen) und
sukhadhara 'pleasure seat, Indra's heaven, paradise', aber auch diese
Wörter vermögen nicht als Vorbilder für Dioskurida bzw. fiir eine „Insel
des Glücks" zu überzeugen.
Eine weitere Schwierigkeit ist die folgende: Beim Übergang von dvipa
sukhakara, sukhadara (o.ä.) zu dioskurida (o.ä.) darf man natürlich an¬
nehmen, daß sich der Wortbestandteil -skurida (o.ä.) aus dem zweiten
Bestandteil des Sanskrit-Wortes sukhakaralsukhadara (o.ä.), d.h. -kha-
karal-khadara (o. ä.), entwickelt hat, mit einer Metathese -dara < -rada,
von der übrigens auch schon Brandl (1973) spricht. Außerdem müßte
sich der Wortbestandteil dios- aus der Fügung dvipa su- gebildet haben.
Solche Zusammensetzungen eines Wortes oder Wortbestandteiles aus
zwei ursprünglich getrennten Wörtern sind in der Sprachgeschichte
durchaus üblich, vor allem bei Ortsnamen: Man denke an den Übergang
Forum Julii > Frejus oder an 'ad sanctos > Xanten. Im zweiten Fall
haben wir sogar ebenfalls eine Metathese, nämlich ad-sanc- > ac-sand- zur
Erklärung anzunehmen. Dennoch erscheint uns diese ganze Hypothese
des Übergangs {dvipa sukhakara >) dvipa sukhadara (o.ä.) > dioskurida
ein wenig an den Haaren herbeigezogen.
So müssen wir bis zum direkten Erweis des Gegenteils, vor allem in der
indischen Originalliteratur, davon ausgehen, daß ein Sanskrit-Ausdruck
dvipa sukhataralsukhadharalsukhadaralsukaderis mit der Bedeutung
„Insel des Glücks, des Wohlbehagens oder der Seligen" als Bezeichnung
einer konkreten Insel nicht real existiert.
15. Etymologie des Wortes Soqotra
Es gibt eine populäre arabische Volksetymologie des Wortes Soqotra als
süq kathir 'Markt von Drachenblut' (s. bei Wranik 1986), die besser als
süq qätir wiederzugeben ist. Da das -u- in süq lang und der erste Vokal in
Soqotra aber kurz ist, ja sogar fehlen kann, und da das -q- nicht, wie bei
dieser Ableitung zu erwarten wäre, geminiert ist {-qq-), kann diese Wort¬
erklärung nicht stichhaltig sein. Im Arabischen müßte aus -üqq- entweder
-üq- oder -uqq- geworden sein, was beides bei Soqotra/Sqotra nicht
zutrifft.
Im allgemeinen gehen die diversen Autoren davon aus, daß das Wort
Soqotra von dem „griechischen" Dioskoridu etc. abgeleitet sei (so z.B.
Naumkin 1993), von dem es eine Art Verballhornung sei.
Dabei muß man zunächst annehmen, daß der vordere Teil des Namens
(Dio-) abgeworfen worden ist, so daß wir zu einer intermediären Wert¬
form 'Skorida gelangen. Auf den ersten Blick erscheint dies außergewöhn¬
lich, ist es aber in Wahrheit keineswegs:«Viele alte Ortsnamen im Vorde¬
ren Orient haben bei der Umwandlung in die heutige Namensform der¬
artige, zum Teil sogar recht krasse Silbenverluste durchgemacht, so beim
Übergang aus dem Griechischen ins Arabische und aus diesem (oder auch
direkt aus dem Griechischen) ins Türkische (Tab. 5); Analoges ist oft auch
bei Ortsnamen in Europa geschehen (Tab. 6).
Außer der Abstoßung der ersten Silbe muß eine Metathese mit -rid- >
-dir- (in umgekehrter Richtung wie die in Abschn. 14 beschriebene) und
nachfolgend ein Ausstoß des Vokals -dir- > -dr- stattgefunden haben, so
daß wir eine Reihenfolge 'dioskorida > 'skorida > 'skodira > 'skodra
annehmen müssen. Der Wechsel -c- (= -k-) > -q- tritt in vielen Sprachen
häufig in der Nähe der Vokale -o- und -u- ein. Wir hätten also dann 'sko¬
dra > 'sqodra zu erwarten. Das heutige -o- zwischen s- und -q- mag ein
epenthetischer Vokal sein, der übrigens im Soqotri selbst nicht auftritt:
dort heißt die Insel ja Sqotra (s. o. Abschn. 11).
Leider stehen dieser Ableitung bei näherer Betrachtung erhebliche
Hindernisse entgegen:
1. Wie ist es möglich, daß ausgerechnet der Vokal der betonten Silbe
-rida des (mutmaßlichen) Ausgangswortes verschwunden ist, wenn im
allgemeinen gerade betonte Vokale bei derartigen Wortveränderungen
beibehalten werden (Tab. 5)?
2. Wie läßt sich die Umwandlung des -d- in dem antiken Namen, das in
spät- und postantiker Zeit spirantisch als -d- (also relativ „weich") aus¬
gesprochen wurde, in das emphatische (also relativ „hart" ausgespro¬
chene) im modernen Namen erklären? Es ist vielmehr anzunehmen,
daß ein Übergang eher in der umgekehrten Richtung, also -t- > -d- statt¬
finden würde (nämlich durch Lenition, d.h. einen lautlichen „Erwei¬
chungsprozeß").
Eine mögliche Erklärung dafür, nämlich daß auf der Insel infolge eines
Bevölkerungswechsels ein Sprachwechsel stattgefunden hat, der einen
solch radikalen Lautwechsel bewirkte**, müssen wir aus Mangel an Kennt¬
nissen zumindest vorderhand ausschließen.
Diese Ableitung des arabischen Worts aus dem Griechischen ist also
wenig plausibel; sie erscheint im übrigen als „eurozentrisch" im Sinn von
Wood (1987), Bernal (1993), Khella (1994) und Lam (1994), weil sie
etwas Orientalisches „aufdie alten Griechen zurückfuhrt". Allerdings ist
dies natürlich kein Argument dafür, sie abzulehnen - viel Antikes ist in
den Orient übernommen worden.
* Vgl. gr. aiyuTTTo? zu arab. qoht mit „Verhärtung" von -g- > q-. Aus der Form
'gibt dieses arabischen Wortes stammt wiederum die neugriechische Bezeichnung
yiftis (yv(prr}i;, wörtl. „Ägypter") für „Zigeuner", und daraus wohl das englische gipsy.
Natürlich kan man sich das Wort Soqotra auch als direkt aus dem Sans¬
krit-Ausdruck, ohne den Umweg über das Griechische, abgeleitet vorstel¬
len. Dazu braucht man nur dvipa wegzulassen, kann dann auf eine
Metathese verzichten, muß dann aber auch einen unerklärbaren Über¬
gang {-k- >) -t-/-d-/-dh- > -t- in Kauf nehmen. Die Entstehung des Wortes
Dioskorida wäre dabei nur ein Nebenweg des Lautüberganges. Da wir
aber den vielzitierten Sanskrit-Ausdruck nicht als eine überlieferte geo¬
graphische Bezeichnung, sondern nur als ein aus Wörterbüchern heraus¬
gelesenes willkürliches Konstrukt akzeptieren (s.o. Abschn. 14), ist kon¬
sequenterweise auch die Herkunft des Wortes Soqotra von einem solchen
abzulehnen.
16. Der iranische Name Soqotras
Wir müssen aber diese ganze Ableitung von Soqotra aus Dioscurida, die
sich aus den eben angeführten Gründen ohnehin als unwahrscheinlich
erwiesen hat, und auch die direkt aus dem Sanskrit-Ausdruck, der ebenso
zweifelhaft erscheint, vollkommen verwerfen, wenn wir die iranische
Namensform, Suqüträ, betrachten, die bislang noch nie in Erwägung
gezogen wurde. Überraschenderweise liegt gerade hier der Schlüssel fiir
die Etymologie des Inselnamens; denn Suqüträ leitet sich von dem Wort
suqütar, soqütar oder saqütar ab, welches die Aloe-Droge (das sog. Aloe¬
harz oder Aloes) bedeutet; davon kommt suqüträ als Name für die diese
Droge liefernde Stammpflanze Aloe. Diese Droge bzw. die zugehörige
Pflanze heißt auf Arabisch sabor - inwieweit dieses Wort etymologisch
mit arab. sabor 'Geduld' zusammenhängt, ist nicht geklärt^ (vgl. Täck-
HOLM & Drar 1954); er taucht auch in äthiopischen Sprachen (Schwein¬
furth 1893) auf und kommt an vielen Stellen der islamischen oder ehe¬
mals islamischen Ökumene vor, so im Hausa als zabo und zabuwa (Neu-
wiNGER 1994), im Kiswaheli als mshubiri (Madan 1902) und im Spani¬
schen als agabar; im sizilianischen Dialekt des Italienischen heißt die
Agave zabara. Im Soqotri selbst bezeichnet säbra das giftige, aufder Insel
' In einer sehr schlecht recherchierten und äußerst angreifbaren Arbeit leitet
Chaouat (1990) dieses Wort hingegen von frz. (wörtlich bei ihm: „Latin or
french"!) sabre 'Säbel' ab und behauptet gleichzeitig, daß die sumerische Wort¬
form siharu geheißen habe; demnach sollte das sumerische Wort aus dem Franzö¬
sischen stammen! Von diesem Wort ist das Ivrit-Wort sahra für den aus Amerika
stammenden und im Mittelmeergebiet verwilderten Feigenkaktus (Opuntia spec.)
und davon wiederum für die im Staat Israel geborenen Juden abzuleiten.
endemische Wolfsmilchgewächs latropha unicostata. Auch der unserem
Wort Aloe zu Grunde liegende Wortstamm findet sich im Persischen,
meint u.U. aber auch andere, ebenfalls Bitterstoffe enthaltende Pflanzen,
so alwa, Hwa 'Aloe-Harz', aluwa 'Aloe-Holz', alu 'Schlehe', alwa 'Kal-
muswurzel' (vgl. Steingass 1957; Vullers 1962).
An dieser Stelle seien einige botanische Anmerkungen zur Pflanzengat¬
tung Aloe, zu der man ursprünglich auch die neuweltliche Agave (als Aloe
americana) gerechnet hatte, gemacht. Diese altweltliche Gattung ist sehr
artenreich und vielgestaltig (vgl. Täckholm & Drar 1954): Die meisten
Vertreter sind krautförmig, einige auch strauch- oder baumartig; so hat
der südwestafrikanische Kokerboom (Köcherbaum, Aloe dichotoma) im
ausgewachsenen Zustand interessanterweise die Gestalt eines Drachen¬
baumes. Auf Soqotra gibt es zwei verschiedene Aloe-Arten, nämlich A.
perryi und A. squarrosa (Mies 1994; vgl. Nadhib 1991), die auf Soqotri
tayif heißen. Lavranos und Mies vermuten noch eine dritte Aloe-Art auf
der Insel, die aber bisher noch nicht einwandfrei nachgewiesen worden
ist (Mies, pers. Mittl.). Auch in der dem Soqotri verwandten Mehri-Spra¬
che heißt die Aloe tayf oder tuf (Johnstone 1987), ebenso im Harsusi;
dort gibt es auch das möglicherweise dazugehörige Verb ndtteb, antob
'tropfen' und das Wort netefet 'Tropfen' (Johnstone 1977).
Die wegen ihres Gehaltes an Anthrachinon-Glucosiden (Bruneton
1991) selbst in kleinsten Mengen äußerst bitter schmeckende Droge** wird
aus mehreren Arten gewonnen, so von Aloe vera (= A. barbadensis), A.
ferox und A. succotrina. Der Artname der letztgenannten Art, die nicht
auf Soqotra, sondern in Südafrika lebt, enthält sogar das Wort Socotra,
ohne daß dies bislang besonders aufgefallen wäre; man hat es vielmehr als
eine Verballhornung vom lateinischen succo citrino oder succi citrini
(grammatisch in der Ablativ- oder Genetivform 'mit zitronengelbem Saft')
zu erklären versucht (Täckholm & Drar 1954); an den Namen der Insel
hat hierbei augenscheinlich niemand gedacht.
Wie bereits erwähnt (s.o. Abschn. 2), war gerade Soqotra als derjenige
Platz bekannt, wo die beste Qualität der Aloe-Droge herstammte (s. bei
Steingass 1957; Vullers 1962). Noch in den Karten der frühen Neuzeit
rühmte man fast stets in der Legende zur Insel Soqotra, daß auf ihr die
* Interessanterweise gibt es in manchen Sprachen ähnlich klingende Wortpaare
oder solche mit ähnlichem Anlaut, von denen jeweils das eine Wort etwas süß, das
andere etwas unangenehm Schmeckendes bezeichnet: dt. süß - sauer, lat. mel
'Honig' - fei 'Galle', arab. hatu 'süß' - alu 'Aloe', sem. tayb, tob 'süß' - tayf, tuf 'Aloe'!
beste Aloe-Sorte produziert werde. So schreibt Martin Waldseemüller in
seiner I5I6 in Straßburg erschienenen „Carta marina-navigatorie Portu¬
galien navigationes" (Klemp 1968):
„Cacotora siue Sacotora insula ...
dives populosa et fecunda ...
aloe socotrinum ... pfert."^
In seinem Drogenbuch von 1567, einer Bearbeitung eines ähnlichen
Werkes des Portugiesen Garcia da Orta, schreibt Clusius (1567) im Kapi¬
tel über Aloe:
„... Ceterum laudatißima est in Socotora, quse inde ad/
Arabes, Persas, Turcos, denique vniuersam Euro-/
pam defertur, eamq(ue) ob causam Aloen Socotorina ap-/
pellant. Distat autem haec insula ä freto [maris Ery-/
thraei] 128. leucis, qua de re no Arabica quam/
Aethiopica dici potest, quod altera parte freti Arabise/
termineretur, altera Aethiopia./
... Socotora nullas vrbes habet..."'O
Daneben macht er nähere Angaben über die Gewinnung und den
anschließenden Handelsweg der Droge, die damals auch aus Indien (!)
bezogen wurde.
Auch Ortelius schreibt in seinem 1573 in Antwerpen erschienenen Kar¬
tenwerk Theatrum orbis terrarum (s.o. Abschn. II) als Legende zu Soqo¬
tra:
Zocotora insula; que olim Dioscurida/
Hine optima aloe, qui inde Zocotri-/
na appellatur, ad nos vehitur. Incole/
eam Catecomar vocant, Turci, Perse et/
Arabes Gebar, Hispani Acabar, et Lu-/
9 „Die Insel Qacotora oder Socotora .../ reich, stark besiedelt und fruchtbar .../
soqotrinisches Aloe Der Text ist aufder Reproduktion der Karte nicht voll¬
ständig zu entziffern.
„Übrigens ist die berühmteste (Aloe-Sorte) in Socotora, welche von dort zu /
den Arabern, Persern und Türken, schließlich gesamt Europa / gebracht wird, aus
welchem Grund sie sie ,Aloe Socotorina' / nennen. Diese Insel ist vom Ausgang
des Roten / Meeres (gemeint ist der Golf von 'Aden. - B.) 128 Leuci entfernt und
kann deshalb / als arabisch und äthiopisch bezeichnet werden, weil sie auf der
einen Seite der Meerenge von Arabien / begrenzt wird, aufder andern von Äthio¬
pien. / ... Socotora besitzt keinerlei Städte ...
sitani Azeure nominant; vti author/
es Garcias ab Horto in sua aro/
matum historia."
Der Kartograph H. Hondius schreibt 1631 als Legende zu Soqotra in
seine Karte (Klemp 1968)
I. Zocotora olim Dioscorida./
optima hic producitur Aloe'^
und ähnlich der Kartograph Blaeu 1635 (Anonymus 1986) und 1642
(Klemp 1968)i3. Nur Cornu (1985) gibt für Soqotra (das er auch in der
Form Usquträ anfuhrt) an: „Ile celebre par sa myrrhe", also eine ganz
andere Droge! Tatsächlich kommen auf Soqotra mehrere Myrrhenarten
(Gattung Commiphora) vor (Mies 1994).
Die bereits genannte (s.o. Abschn. 11) üorentinische Introduzione alla
geographia aus dem 18. Jahrhundert gibt, ganz am Ende der Beschreibung
Afrikas, über Soqotra das Folgende an (Finazzo 1971):
L'isola di Socotra ... in faccia del Mare Rosso, piccola ma/
celebre per la copia dell'Aloe. Questa e l'anticha Dioscoride,/
alla quale terminiamo il nostro discorso dell'Africa.'*
Heute wird das eingedickte Aloe-Harz auf Soqotra in Ziegenbälge
gefüllt in den Handel gebracht; dies dürfte auch in früheren Zeiten der
Fall gewesen sein.
Somit ist der Name Soqotra, der ja in der Nisbe-Form, also einer Her¬
kunftsbezeichnung, geschrieben wird, zunächst nur die geographische
Quelle der Aloe-Droge bzw. die ihrer Stammpflanze. Auffälligerweise wird
hierbei die Nisbe-Form nicht dazu gebraucht, die Herkunft eines Pro¬
duktes o. ä. von einer Lokalität zu kennzeichen („die Aloe, die von der
" „Die Insel Zocotora; welche einst Dioscorida (hieß) / Von hier wird die beste
Aloe, welche hiernach Zocotori-/na ('Soqotrinisch') genannt wird, zu uns
gebracht. Die Einwohner / nennen sie Catecomar(,) die Türken, Perser und / Ara¬
ber Gebar, die Spanier Acabar, und die Lusi-/taner (= Portugiesen) Azeure; wie
die Auto/ren Garcia de Horta in ihrer Aro-Imatum Historia (schreiben)."
'2 „Insel Zocotora ehemals Dioscorida. / Hier wird die beste Aloe produziert."
'3 In der zweiten Karte: „... optimum hic producitur Aloe."
i* „Die Insel Socotra ... direkt am Roten Meer, klein, aber / berühmt wegen der
Menge an Aloe. Diese ist die antike Dioscoride, / mit welcher wir unsere
Beschreibung Afrikas beenden wollen."
Insel Soqotra stammt"), sondern umgekehrt den Herkunftsort eines
solchen zu kennzeichnen („die Insel, von der die Aloe stammt"). Soqotra
ist demnach ganz einfach als „Aloe-Insel" zu übersetzen (w^obei man
natürlich das Wort für Insel stillschweigend ergänzen muß), und auch das
vielkolportierte indische Wort (s.o. Abschn. 14) findet, wenn man es rich¬
tig schreibt, nämlich als dvipa suqatara, dieselbe Übersetzung, was alle
Anspielungen auf die „Inseln der Seligen" ins Reich der Spekulation ver¬
weist (s. Abschn. 17). Dazu sind aber noch einige weitergehende Anmer¬
kungen zu machen.
Es ist bekannt, daß schon im Altertum rege Wechselbeziehungen zwi¬
schen Indien und dem Iran bestanden; Herodot berichtet beispielsweise,
daß 400 V. Chr. indische Könige dem Perserkönig tributpflichtig waren
(Le Bon 1974). Wir wissen zudem, daß die ehemals auf Soqotra vorhan¬
dene christliche Gemeinde, ein Bistum, zur nestorianischen Kirche ge¬
hörte und dem Erzbischof von Babylon unterstand (Le Quien 1740), das
zum neupersischen Sassanidenreich gehörte. Somit müssen kirchliche
(und wohl auch politische) Verwaltungsbeziehungen zwischen dem Iran
und der Insel bestanden haben; nicht nur das, es muß auch noch weiter¬
gehende Handels- und Verkehrsbeziehungen gegeben haben, die zu dieser
Benennung als „Aloe-Insel" führten. Es ist bekanntlich nicht unüblich,
ein bestimmtes Gebiet nach dem von dort bezogenen Handelsartikel zu
benennen; man denke an Wörter wie Holzinsel (Beyhl 1983), Goldküste,
Elfenbeinküste, Sklavenküste, Kabeljauland, Gewürzinseln, Kap der
Wohlgerüche. Persien war auch im Golf von Aden durchaus politisch
aktiv; so wird um 576 ein himyaritischer Prinz mit persischer Hilfe
„König" (in Wirklichkeit nur persischer Statthalter) im Jemen, das zu
Beginn jenes Jahrhunderts abessinisch geworden war (Sykes 1963),
indem es 525 der Negus von Äthiopien auf Ersuchen des römischen Kai¬
sers Justinian okkupiert hatte (Bosworth 1983). Lavranos (1994)
schreibt, daß Soqotra "appears to have been settled by the Persians, some
time before the advent of Islam", ohne allerdings seine Quelle zu nen¬
nen.
17. Die Herkunft des Wortes Soqutar
Das iranische Wort soqütar etc. für Aloe und Aloe-Harz ist allem
Anschein nach aber gar kein Wort aus dem Iranischen, sondern findet
selbst wieder seine Erklärung im Arabischen: Wir treffen dort auf den
Stamm q-t-r 'tröpfeln', mit dem Wörter der Bedeutungen „filtrieren, raffi¬
nieren, destillieren, durch Destillation extrahieren, tropfen lassen" gebil-
det werden (Freytag 1835; Wehr 1985). Auch Wörter wie qatr, pl. qitar
'Tr.opfen, Regen, eingedickter Zuckersaft', qatara 'Tropfen, Medizintrop¬
fen', taqtir 'Harninkontinenz', muqattar 'Destilliergerät', miqtar 'Räu¬
cherfaß', qiträn, qaträn 'Teer' und (!) qutr 'Aloeholz zum Räuchern' gehen
darauf zurück. Ganz offensichtlich wird auf den harzartigen Charakter
der Droge angespielt. Es sei im übrigen daran erinnert, daß lat. destillare,
distillare ebenfalls 'zum Tropfen bringen, tropfen lassen' bedeutet.
Diese Wurzel q-t-r gibt es dann auch im Berberischen, so qittar, tqittir
'versickern' (Renisio 1932), qaträn 'Teer' (Beguinot 1942); dieses letz¬
tere Wort, das wohl aus dem Arabischen qiträn, qaträn übernommen wor¬
den ist, fand als Lehnwort Eingang auch in einige europäische Sprachen,
so ital. catrame, span, elcadrän, port, alcaträo, frz. goudron, slow, katrän,
ung. kätrdny, ngr. xargdjui. und türk. katran, wie die einschlägigen Wörter¬
bücher erweisen.
Das lange -u- im iranischen Wort erklärt sich wohl aus der iranischen
Angewohnheit, ein ursprüngliches langes -a- als offenes (und in diesem
Fall auch als geschlossenes -o- und schließlich sogar als langes -u-) auszu¬
sprechen (NÄSHiR, mündl. Mittl.), ein Lautwandel, den wir in ähnlicher
Weise auch im Hebräischen und Phönizischen finden (hebr. salöm,
samöni, lö gegen arab. saläm, tamäni, lä 'Friede, acht, nein') und der
auch in vielen andern Sprachen vorkommt, so in den hessischen Dialek¬
ten (hess. sdrös, sdrüs < Straße, hös, küs < Hase, bröre, brüre < Braten).
Auch im Altenglischen wurde ursprüngliches -a- zu -o- umgewandelt, so
daß die Rune f^, die ursprünglich a bedeutete, für o stand und eine neue
Rune I* mit der Bedeutung a durch Variation dieses Zeichens in das angel¬
sächsische Runenalphabet eingeführt werden mußte (Weber 1941). Es sei
auch daran erinnert, daß das lange -o- im Germanischen aus dem langen
-a- des Indogermanischen entstanden ist. Diesen Übergang -ä- > -ö-l-ü-
findet man auch in einigen Dialekten des alten Arabisch; er ist unter der
Bezeichnung tafkim in die arabische Grammatik eingegangen. Somit
könnte die persische Wortform auch direkt aus einem solchen arabischen
Dialekt stammen. Dies sei nicht weiter diskutiert.
Auch das iranische qätir 'Drachenblut' (s.o. Abschn. 4) ist direkt auf
diesen arabischen Wortstamm zurückzuführen : Im Arabischen (Freytag
1835) bedeutet es „tropfend, harninkontinent (bei Kamelen), Harz,
Drachenblutharz". Hier haben wir keine <a/ÄCm-Erscheinung, also eine
Entlehnung aus jüngerer Zeit.
Hinsichtlich der Bedeutung der Wurzel q-t-r müssen wir uns aber noch
weiter umsehen: In anderen semitischen Sprachen findet sich diese Wur¬
zel nämlich mit der alleinigen Bedeutung „räuchern, duften, ein Rauch-
opfer darbringen", so schon im Ugaritischen als (unvokalisiertes) qtr
'Rauch, Weihrauch' (Gordon 1955; Leslau 1991), im Sabäischen als
(ebenfalls unvokalisiertes) qtr 'Weihrauch abbrennen, ein Weihrauch¬
opfer darbringen' (Copeland Biella 1982), im Ge'ez als qatara, qattara
'räuchern, duften', qettare, qettar 'Weihrauch, Räucherung, Duftstoff'
(Leslau I99I), im Amharisehen als qättärä 'Weihrauch in der Kirche
abbrennen" (Leslau 1991), im Tigre als qetare 'Wohlgeruch, Gevi^ürz'
(Leslau I99I) und schließlich im Hebräischen als qetoret 'Weihrauch'
(Copeland Biella 1982). Außerdem taucht sie auch im Afar auf, nämlich
als qätri, pl. qütur, 'Duft, Wohlgeruch, Parfüm' (Parker & Hayward
1985) und im Bedawye, nämlich als keträn, pl. kUran, 'zähfließendes
Harz' (Reinisch 1895), wobei es sich in beiden Fällen um Entlehnungen
aus dem Arabischen handeln könnte, und im Altägyptischen findet sich
Qdrt in der Bedeutung „Weihrauch" (Hannig 1995); es mag ebenfalls
etwas mit der Wurzel q-t-r zu tun haben.
Wir können wohl davon ausgehen, daß die ältere Bedeutung von q-t-r,
nämlich „tropfen usw.", sich noch im Arabischen erhalten hat, während
alle andern Sprachen damit das „durch Tropfen (und Eindicken) gewon¬
nene edle Produkt, das als Duftstoff oder Räuchermittel verwendet wird",
und den Vorgang des Räucherns bezeichnen, ein bemerkenswertes Bei¬
spiel von Bedeutungsverengung (eine andere Bedeutungsverengung ist die
auf „Teer", s.o.). Eine Bedeutungsverschiebung in umgekehrter Richtung
ist hingegen weniger plausibel, zumal es noch ein drittes Bedeutungsfeld
der Wurzel q-t-r gibt: „aneinanderbinden, aneinanderreihen (z.B. Kamele
in einer Karawane), in einer Reihe angeordnet sein", etc. (Freytag 1835).
Auf diese Bedeutung geht das moderne arabische Wort qitär „Eisenbahn¬
zug" (Wehr 1985) zurück, dessen Wagen hintereinander angeordnet sind,
ferner amharisch q>" t r 'Zahl' und aramäisch qtr 'binden' (Leslau 1987).
Diese Bedeutung scheint sogar die ursprüngliche zu sein; denn „tröpfeln"
heißt ja gerade, daß die Tropfen hintereinander bzw. nacheinander ent¬
stehen!
An den Weihrauchbäumen (BoswelUa ameero) Soqotras kann man beob¬
achten, daß die aus durch Platzen oder Verwunden der Rinde entstande¬
nen Ritzen oder Löchern herausquellenden Harztropfen auf dem betref¬
fenden Baumstamm in der Tat buchstäblich in einer Reihe hintereinander
angeordnet sind, wobei sie teilweise zu langgestreckten, eiszapfen- oder
tropfsteinartigen Gebilden verschmelzen. Diese frappierende Erschei¬
nung begründet die Benennung des Weihrauchs mit einem Wort der Wur¬
zel q-t-r aufs Beste.
Die Vorsilbe so-, su- in dem iranischen Wort erklärt sich als die
bekannte hamitosemitische Verbalextension s- (Vycichl 1994) bzw. s,-
(Tropper 1995) mit kausativer Bedeutung, die im Arabischen als 'a- (der
sog. Stamm IV) erhalten ist (Vycichl 1994); sie scheint also in unserem
Wort aus einer andern semitischen Sprache als dem Arabischen zu kom¬
men. Dafür würde auch sprechen, daß das überlieferte iranische Wort
nicht einer klassisch-arabischen Partizipialform (mit der Bedeutung „das
Destillat, das zum Tropfen Gebrachte" o. ä.) des Stammes IV entspricht.
Auch das Soqotri kennt übrigens die Verbalextension mit s- (mit wech¬
selndem Folgevokal), die nach Simeone-Senelle (mündl. Mittl.) aber dem
arabischen {i)st- entspricht.
So linden letztlich alle bisherigen Hypothesen über die Namen Soqotras
(und auch seiner Produkte) eine recht einfache, fast triviale Lösung: Alles
läßt sich auf die Wurzel q-t-r 'tropfen, in Tropfenform existieren' (bzw.
auch: 'in Tropfenform bringen' bzw. 'räuchern') zurückführen: In der Tat
sind alle die Produkte, für die Soqotra jemals berühmt war, nämlich
Weihrauch, Drachenblut und Aloe, pflanzlicher Herkunft und werden aus
ihren Stammpflanzen als heraustropfende Flüssigkeiten gewonnen, die
später entweder von selbst zu einer harz-, teer- oder bernsteinartigen
Masse erstarren oder durch Eintrocknen oder Kochen zu einer solchen
eingeengt werden. Anschließend werden sie in den Handel gebracht und
entweder als Medizin, Räucherwerk oder Duftstoff verwendet.
Soqotra bedeutet also nichts weiteres als (allgemein) „die Insel der Dro¬
gen", speziell „der Aloe", aber auch „des Drachenbluts" oder (vielleicht
ursprünglich) „des Weihrauchs"! Damit ist ganz klar, daß mit dem Wort
„Weihrauchinsel" der Alten Soqotra, und nur Soqotra, gemeint ist. Aller¬
dings ist das Wort für „Insel" nicht im Wort Soqotra mit enthalten und
muß in der jeweiligen Sprache ergänzt werden; so sagt man auf Arabisch
^ezirat Soqotra, ohne sich allerdings noch der Zusammenhänge bewußt zu
sein.
An dieser Stelle tauchen somit neue Fragen auf, die zunächst, ohne wei¬
tere Untersuchungen, schwer zu beantworten sind: Wieso können
uralte Wörter, die durch den alten Orient gewandert sind, sich vom
Arabischen herleiten, das ja (im Vergleich zu Sanskrit, Altgriechisch und
Lateinisch) als eine relativ „moderne" Sprache gilt? Sollten sie nicht
besser von dessen Vor- oder Frühformen abstammen, welche noch die
kausative Verbalextension sa- enthalten und u.U. auch noch den -ä- > -ö-
Wandel (tafhim) durchführen? Oder hat man, wenn schon die Produkte,
die hier gemeint sind, nicht aus Arabien, sondern einer ostafrikanischen
Insel in der Nähe des Horns von Afrika kommen und von Südarabien aus
gehandelt werden, nicht überhaupt an ganz andere alte semitische
Sprachen zu denken, die den Gruppen der südarabischen (wie auch das
Soqotri selbst) oder der äthiosemitischen Sprachen angehören? Wieso
gelangen Wörter angeblich aus dem (Neu-)Iranischen ins Sanskrit? Diese
letztere Annahme ist natürlich genau so absurd wie die Unterstellung
Chaouats (1990), das sumerische Wort für Aloe stamme aus dem Franzö¬
sischen. Bedeutet das aber nicht dann, daß einerseits die im Neuirani¬
schen gefundenen Wörter auch schon in dessen älteren Sprachstufen
existiert haben müssen? Ist der „Umweg" über das Iranische aber über¬
haupt nötig, um das Wort Soqotra zu erklären? Geht es andererseits hier
wirklich um das Sanskrit, oder nicht viel eher um eine andere indische
Handels- und Verkehrssprache aus späterer Zeit, insbesondere als die
Namen Soqotras als Dioskurida etc. erst für die Spätantike bezeugt
sind?
Wahrscheinlich handelt es sich um eine in der Spätantike zeitgenössi¬
sche indische Sprache, in die das semitische (südsemitische?) Wort
soqätar für Aloe über iranische (oder südarabische bzw. dialektisch-arabi¬
sche) Vermittlung in der Form soqütar Eingang gefunden hat, wohl in
einer Form Diva S{o)qutara 'Aloeinsel'; dies ist in den Einzelheiten noch
genauer zu untersuchen. In Pali fmden wir für „Insel" die Form dipa; im
heutigen Hindi lautet das Wort dib, so daß wir gut und gerne eine damals
zeitgenössische Zwischenform div(a) annehmen können. Ein ausgedehn¬
ter Handel über alle Plätze des Indischen Ozeans hinweg (s. o. Abschn. 16)
hat sicher die Verbreitung dieser Ware und deren Bezeichnung sowie die
Benennung Soqotras als „Aloeinsel" (bzw. „Weihrauchinsel") begünstigt.
Die spätantiken Namensformen Dioscorida usw. könnte man sich als
aus einer solchen indischen Form *Diva Soqutara o. ä. hervorgegangen
denken über *Diva Squtara > *Diva Squrata > *Divsqurata > *Diosqurata
> *Dioskurida, d. h. über eine Metathese von -t- und -r- , eine Elision des
-o- in der ersten Silbe von soqütara (die ja wohl schon im Ausgangswort
tendenziell vorgebildet war), eine Verschmelzung des Wortes Diva mit
dem s- zu *Divs- und weiter zu *Dios- , so daß der erste Wortbestandteil
*Diosqur- > * Dioskur- entstehen konnte. Durch „Erweichung" des -t- zu
-d- bzw. -6- (s.o. Abschn. 15) zu *Dioskurad- und durch Angleichungsver¬
suche an ein „Wort mit griechischer Bedeutung" muß es dann zu den
bekannten Formen mit dem wechselnden Vokalismus (und vielleicht auch
Konsonantismus) in den Folgesilben (s.o. Abschn. 10) gekommen sein
(vielleicht über intermediäres *Dioskuriad-). Es ist eine offene Frage, ob
nicht ein in der Mythologie des indoiranisch-südarabisch-ostafrikani¬
schen Raumes vorhandenes Brüderpaar diese Wortveränderung den grie¬
chischen und römischen Händlern plausibel gemacht hat.
Tatsächlich existierte im vedischen Indien ein Zwillingsbrüderpaar, die
Asvins, welche als Divas napata 'Söhne des Himmelsgottes' kultische
Verehrung genossen und als Pendant zu den Dioskuren angesehen werden
(Farnell 1921). So mag die damals vielleicht auf Soqotra vorhandene
Verehrung dieser indischen Heroen bzw. die ihrer postvedischen Nach¬
fahren die Griechen dazu bewogen haben, ihrerseits dort die Dioskuren zu
verehren und den Inselnamen als „Dioskuren-Insel" zu interpretieren. Es
sei nochmals daran erinnert, daß die Dioskuren als Helfer aus Seenot
angesehen wurden und daß Stürme, die das Erreichen Soqotras erschwe¬
ren oder verhindern oder sogar zu Schiffbruch führen, im Bereich um
Soqotra recht häufig sind, so daß ein solcher Adaptationsprozeß durchaus
verständlich erscheint. Hinzu kommt, daß beide indische Wörter {Divas
napata und *Diva Soqutara) mit den gleichen Lauten divas- (mit jeweils
natürlich verschiedener Bedeutung) beginnen, die das gr. öioa- (bei glei¬
cher Bedeutung von Aoq xovgoi und Divas napata) nahelegen.
Ein solcher Übernahme- und Namensgebungsvorgang muß selbstver¬
ständlich noch vor der Einführung des Christentums in die griechisch-
römische Ökumene stattgefunden haben; denn in der christlichen Ära gab
es die Dioskuren natürlich nicht mehr, obwohl auch bestimmte Heilige
oder Missionare paarweise auftreten, wie die Heiligen Abdon & Sennen
und Kosmas & Damian, die Apostel Peter & Paul oder die Missionare
Kyrill & Method und Kliment & Naum, auch Paulus & Barnabas. Die hier
angewandte Schreibweise mit dem Zeichen & anstatt mit dem Wort und
soll die enge Zusammengehörigkeit der jeweils beiden Personen andeu¬
ten.
An die historische Forschung sind somit einige Fragen zu stellen: Wann
haben Griechen oder Römer zum ersten Mal auf Soqotra Fuß gefaßt? Auf
welche Weise ist das geschehen? Was hat man unter „Arabern" zu verste¬
hen, die dort wohnen sollen? Welche Beziehungen bestanden zwischen
Soqotra und dem benachbarten östlichen Afrika, vor, während und nach
der politischen Verbindung zwischen Äthiopien und dem Jemen? Wie
stellt sich Soqotra von Indien aus gesehen dar? Welche Verbindungen
bestanden zu Ostafrika? Welche archäologischen Funde aufder Insel bele¬
gen die Anwesenheit jener nichtindigenen Völker (Araber, Inder, Grie¬
chen, Äthiopier, Iraner)? Die Angaben von Shinnie (I960) und Doe (1992)
über archäologische Grabungen sind leider nicht sehr aussagekräftig.
Das Wort Suqüträ hat im Laufe der Zeit eine Reihe von Veränderun¬
gen durchgemacht, so daß es zu den verschiedenen Schreibweisen kam.
Vor allem hat eine generelle Vokalkürzung aus suqüträ die Form
s(u)qutra werden lassen, mit Akzentverlegung s(u)quträ' (analog zu For-