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Radikalisierungsphänomene in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen

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Academic year: 2021

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Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern

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Radikalisierungsphänomene in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen

Rita Bley, Bernd Borchard, Cathrin Chevalier, Maria-Luisa Waßmann Jakob Reichelt, Moritz Schlegelmilch, Tobias Schollmaier, Henriette Sohns,

Sven Hunger, Marcus Huhle, René Diebelt, Laura Blum

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Her- ausgeberin unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- setzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dr. Marion Rauchert (Herausgeberin)

Radikalisierungsphänomen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen Band 11

Schriftenreihe der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes M-V

1. Auflage 2020

© Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern

Goldberger Straße 12-13 18273 Güstrow

www.fh-guestrow.de Printed in Germany

Druck und Bindung: Eigendruck

ISBN 978-3-947562-14-5 (Online) ISBN 978-3-947562-15-2 (Printausgabe) ISSN 2568-5775 (Online)

ISSN 2701-1089 (Printausgabe) Digitale Publikationen:

http://www.fh-guestrow.de/hochschule/Publikationen/

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Vorwort

Für die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist es außerordentlich wichtig, den Nachwuchs- kräften für den öffentlichen Dienst das erforderliche Wissen zu vermitteln sowie ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu fördern, sich aktiv für den Schutz unserer Demokratie und für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Gleichzeitig soll damit ihre demokratische Resilienz gestärkt werden. Auch im Rahmen der Fortbil- dung unterbreiten wir Angebote, um den Beschäftigten Wissen über aktuelle Er- scheinungsformen von Radikalisierung sowie über Zusammenhänge, Präventions- möglichkeiten und Interventionsansätze zu vermitteln.

Wie groß die Herausforderungen sind, erleben wir beinahe täglich. Wir sehen uns vermehrt mit Phänomenen von Radikalisierung konfrontiert, ob im Sprachgebrauch, in sozialen Medien, in der Politik oder in der Gesellschaft. Nicht nur die Sicherheits- behörden befassen sich mit diesen Entwicklungen, sondern auch andere staatliche Stellen sowie viele zivilgesellschaftlichen Akteure.

Wir sind alle mehr denn je gefragt, Radikalisierungstendenzen möglichst frühzeitig zu erkennen und diesen entgegen zu treten. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist dabei zwingende Voraussetzung. Als Beitrag hierfür wurde durch die Fachhoch- schule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklen- burg-Vorpommern eine interdisziplinäre Tagung konzipiert – Fachtag: Radikal. Ziel ist es, das Thema aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven zu betrachten und im Diskurs neue Sichtweisen und Ansätze für erfolgreiches Handeln zu gewinnen.

Begleitend zum Fachtag ist auch ein Band in der Schriftenreihe unserer Hochschule entstanden. Sie halten ein Exemplar in den Händen.

Ich danke allen beteiligten Hochschulangehörigen sowie den weiteren Akteuren für die engagierte Arbeit und die interessanten und hilfreichen Beiträge aus Sicht der Kriminalpsychologie, der Politikwissenschaft sowie der Kriminologie. Sie basieren ganz überwiegend auf Bachelorarbeiten von Studierenden am Fachbereich Polizei.

Die Fachhochschule wird sich auch weiterhin intensiv mit der Thematik auseinander- setzen und lädt Sie ein, sich auf unserem nächsten Fachtag: Radikal erneut einzu- bringen, denn die Wahrung und Stärkung unserer Demokratie geht uns alle an.

Dr. Marion Rauchert

Direktorin der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern

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Inhalt

Kommunikation und psychologische Phänomene im

Radikalisierungsprozess …...…………...………...….... 8 Bernd Borchard, Cathrin Chevalier, Maria-Luisa Waßmann

Abstrakt zur Bachelor-Arbeit: Die Entwicklung des BKA hinsichtlich

personeller und konzeptioneller Parallelen zum Dritten Reich .…..….… 27 Jakob Reichelt, Maria-Luisa Waßmann

Phänomen der Radikalisierung im Fußball ..……….………..….…. 38 Moritz Schlegelmilch, Cathrin Chevalier

Phänomen Reichsbürger – Im polizeilichen Kontext .…….…………...…. 54 Tobias Schollmaier, Maria-Luisa Waßmann

Politischer Extremismus in Mecklenburg-Vorpommern –

Herausforderung von Prävention und die Rolle der Polizei ……...…. 71 Henriette Sohns, Maria-Luisa Waßmann

Reichsbürger – eine phänomenologische Betrachtung .……….….….…. 92 Sven Hunger, Rita Bley

Rockerkriminalität ...………...…………...……….…...…….. 118 Marcus Huhle, Rita Bley

Tätertypen bei rechtsextremistischen Straftaten .………..…...……. 132 Rita Bley

Völkische Siedler – Mecklenburg-Vorpommern als Wiege einer „Blut und Boden“-Ideologie ...…………...………...…...…. 148 René Diebelt, Maria-Luisa Waßmann

Zur Motivation gewaltbereiter Subkulturen im Fußball - ein Vergleich von Hooligans und Ultras ...…………...………....….…. 163 Laura Blum, Cathrin Chevalier

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Kommunikation und psychologische Phänomene im Radikalisierungsprozess Bernd Borchard, Cathrin Chevalier, Maria-Luisa Waßmann

Der Begriff Radikalisierung

Das Problem einer Begriffsbestimmung im Rahmen dieser Thematik ist, dass Radi- kalisierung in sehr unterschiedlichen Kontexten und mit sehr vielschichtigen Be- schreibungen in der Literatur vorliegt. Für Jost (2017) ist die Radikalisierungsfor- schung sogar ein Sammelbecken für Analysen aus soziologischer, psychologischer, kriminologischer, kultur-, politik-, religions- oder militärwissenschaftlicher Perspek- tive. Die nachfolgenden Definitionen und Erläuterungen werden dies eindrücklich dokumentieren. Neben dieser Vielschichtigkeit entsteht ein weiteres Problemfeld durch verwandte Synonyme, die mitunter wiederum in verschiedenen Zusammen- hängen mit eigenen Konstrukten unterlegt sind. Eine Begrifflichkeit, die mit Radika- lisierung oft synonym verwandt und gleichzeitig mit einer abgrenzenden Definition genutzt wird, ist Extremismus. Das Bundesamt für Verfassungsschutz z.B. differen- ziert wie nachfolgend. „Bei „Radikalismus“ handelt es sich zwar auch um eine über- spitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise, die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits „von der Wurzel (lat. radix) her“ anpacken will. Im Unterschied zum „Extremismus“ sollen jedoch weder der demokratische Verfas- sungsstaat noch die damit verbundenen Grundprinzipien unserer Verfassungsord- nung beseitigt werden.“ Aus diesen Definitionen heraus stellt Extremismus die Zu- spitzung von Radikalisierung und die explizite Gefahr für einen demokratischen Staat dar. Mithin ist der Begriff des Extremismus dazu geeignet, die Grenzüberschrei- tung des demokratisch zulässigen und damit die fundamentale Gegnerschaft zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufzuzeigen.

Auch Neumann lässt den einen Begriff in den anderen aufgehen. Dieser versteht Radikalisierung nämlich als Prozess, in dem Individuen oder Gruppen extremistisch werden (in Quendt, 2016: S 27). McCauley und Moskalenko zielen ebenso in ihrer Betrachtung auf diesen Prozess ab. Sie sehen in Radikalisierung die Veränderungen eines Individuums auf dessen Verhaltensebenen (Gedanken/Einstellungen, Gefühl und Reaktion), die letztendlich dazu dienen, Gewalt zwischen Gruppen zu legitimie- rem und Opfer für die Gruppe einzufordern (ebd.: S.27).

Zick und Böckler (2015) bezeichnen das Konzept der Radikalisierung sogar als sper- rig. Sie selbst stellen dabei auf die gesamtgesellschaftliche Perspektive ab. Die Au-

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toren wollen Radikalisierung immer in Relation zum vorherrschenden Gesellschafts- system verstanden wissen, in dem sie untersucht wird. Demnach bezeichne Radika- lisierung eher einen Prozess als einen Zustand.

Maurer (2017) geht von einem ideologisierenden Prozess einer Person aus und sieht Radikalisierung als progressive Veränderung der Einstellungen und des Verhaltens, so dass Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele gerechtfertigt und im äußersten Fall auch ausgeübt wird. Dem Autor zufolge geht es dabei um eine kontinuierliche Progression des Denkens und/oder Handelns, die im Ergebnis zu Extremismus führt, d.h. bei dem sich ein Individuum prozesshaft immer weiter von dem allgemeinen Grundkonsens der Gesellschaft hin zu extremistischen Ideologien und Verhaltens- weisen entfernt. Es bestehe dahingehend ein akademischer Konsens, dass sich der Prozess grundsätzlich aus dem Zusammenspiel von Persönlichkeitsfaktoren, Sozia- lisierungseffekten und Gelegenheitsstrukturen sowie weiteren äußeren Einflüssen ergeben kann. Nachvollziehbar verweist Maurer (2017) für die Erklärung extremisti- scher Gewalt dabei auf individualistische Erklärungsansätze, die grundsätzlich auf die psychologischen Prädispositionen, Merkmale und Eigenschaften des Individu- ums fokussieren.

Fischer und Pfundmair (2019) betonen ebenfalls ein Kontinuum, anhand dem die Begriffe Radikalisierung und auch Terrorismus definiert werden können. Radikalisie- rung stelle demnach den Weg zum Terrorismus dar und Terrorismus beschreibe die Ausübung von Gewalt zur Erreichung ideologischer Ziele. Warum sich ein Einzelner aber radikalisiert, sei aus ihrer Sicht noch nicht hinreichend empirisch geklärt. Sehr allgemein formuliert gehen sie von zu berücksichtigenden Faktoren wie Alter, Ge- schlecht und sozioökonomischer Status aus, wobei sich (mit Ausnahme von linkster- roristischen Vereinigungen) meist junge Männer aus niedrigeren sozialen Schichten radikalisieren.

Della Porta/LaFree (nach Quent, 2016: S.41) sehen ebenfalls den Prozesscharakter, verzichten aber eher auf die individualisierte Perspektive. Aus ihrer Sicht entsteht Radikalisierung durch die Interaktion zwischen gewalttätigen Gruppen und ihres so- zialen Milieus oder zwischen verschiedenen verfeindeten Akteuren. Gewalt ist dabei nicht individuell oder gruppenspezifisch zu betrachten, sondern als Ergebnis größe- rer Konflikte oder gesamtgesellschaftlicher Bedingungen zu analysieren. Diese In- teraktion führe im Fortlauf zu einem wechselseitigen Prozess der „Innovation und Adaption“ (ebd.: S.41). Verfeindete Akteure oder Gruppen, die wechselseitig auf sich reagieren, einen Anpassungsprozess durchlaufen und sich darauf aufbauend weiter- entwickeln.

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Dieser Ausschnitt zur Begriffsbestimmung macht bereits deutlich, wie vielfältig die Ansätze sind, in denen Radikalisierung verortet wird. Gemeinsam ist dabei allen der Prozesscharakter. In der Analyse der Entwicklung sollte daher immer die individuelle, gruppendynamische und gesamtgesellschaftliche Perspektive Berücksichtigung fin- den. Zudem muss der Fokus oder die Gewichtung verdeutlicht werden, wobei den Gruppen nochmal eine besondere Bedeutung zukommt. Nach Quent (2016) sind diese dabei eher als Vermittler zwischen Gesellschaft und Individuum anzusehen. In dieser Schriftenreihe wird Radikalisierung in unterschiedlichen Kontexten beleuchtet und meist dem Vermittler – also der dazugehörigen Gruppe - die größere Aufmerk- samkeit geschenkt. Der nachfolgende Leitartikel stellt zunächst aber insbesondere psychologische und forensisch psychologische Aspekte in den Fokus.

Modelle zur Erklärung von Radikalisierung

Neumann (2016) betont, dass Radikalisierung nicht durch ein allgemeingültiges Mo- dell oder eine für alle Fälle verbindliche Risikofaktoren-Formel erklärt oder sogar prognostiziert werden kann. Wie und aus welchen Gründen ein Individuum den ra- dikalen Weg einschlägt, sehen auch Fischer und Pfundmair (2019) nicht durch eine umfassende Theorie verdeutlicht. Gleichwohl betrachten einige Konstrukte oder Stufenmodelle die Radikalisierungsprozesse als Ablaufsequenzen mit verschiedenen zu durchlaufenden Stationen. (vgl. zur Übersicht Borum 2011).

Fischer und Pfundmair (2019) sehen zwei zentrale Ursachenkomplexe für Radikali- sierungsprozesse: Einerseits scheine eine mangelhafte Befriedigung wichtiger Grundbedürfnisse Menschen zu radikalen Ansichten zu bewegen, andererseits bil- deten intensive Gruppenphänomene und die subjektive Wahrnehmung, dass man selbst ungerecht behandelt wird, die Basis für einen Radikalisierungsprozess (Mo- ghaddam, 2005). Zudem nehme das Streben nach Kontrolle einen wichtigen Aspekt ein. Der Anschluss an eine radikale Vereinigung biete eine einfache Möglichkeit, ei- gene Unsicherheiten zu reduzieren (vgl. auch Lantermann, 2016). Der Wunsch res- pektiert zu werden und „jemand zu sein“, also eine wichtige Funktion im Leben zu haben, bilde eine weitere grundlegende Motivation für Radikalisierung (Kruglanski et al., 2014). Die Gruppenzugehörigkeit als gelebte soziale und kollektive Identität und eine wahrgenommene Gruppenbedrohung seien häufige Katalysatoren im wei- teren Radikalisierungsprozess. Dennoch sind sich viele Autoren darin einig, dass es zudem für den letzten Schritt zur Gewaltanwendung enthemmende Prozesse benö- tigt. Zu nennen sind hier Gewöhnungsprozesse, die bei Moghaddam (2005) psycho- logisches Training oder Desensibilisierung heißen. Damit ist gemeint, dass eigentlich vorhandene und hemmende emotionale und physiologische Reaktionen auf Gewalt

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durch die graduelle Ausübung dieser reduziert werden. Dieses Abbauen innerer Hür- den kann auch über Bilder, Filme oder Gewaltspiele im Internet geschehen und wird von Neumann (2016) als Online-Enthemmung bezeichnet.

Für Jost (2017) stehen die Taten von Radikalisierten jedoch am Ende einer Reihe von Entscheidungen, die getroffen wurden, weil sie mit (emotionalen, identitätsnahen oder materiellen) Zugewinnen verknüpft waren und dadurch Handlungen steuerten.

Er führt in diesem Zusammenhang Modelle an, die im Kern ein entfremdetes Indivi- duum, eine unterstützende Gemeinschaft und eine legitimierende Ideologie im Ra- dikalisierungsprozess sehen. Der Faktor der relativen Deprivation könne als Binde- glied zwischen makroökonomischen Umständen und individueller Gewalt, welche auf Basis der Frustrations-Aggressions-Hypothese erklärt werden, fungieren. Frust- ration führt aber nicht zwangsläufig und immer zu aggressiven Einstellungen oder Verhaltensweisen. Zudem verläuft ein Radikalisierungsprozess nach Maurer (2017) vorwiegend unabhängig von sozioökonomischen Bedingungsfaktoren sowie direk- ten soziopolitischen Wirkgrößen.

Das gesicherte Wissen lässt sich für Jost (2017) in sieben Punkten in Anlehnung an Schmid zusammenfassen. Die Grundannahmen werden dabei aber nur auf die Radi- kalisierung abgestellt:

1. Obwohl ihre Taten gemeinhin als unnormal im moralischen Sinne gelten, sind die meisten Terroristen im klinischen Sinne normal. Auch Die meisten Radi- kalisierten sind nicht psychisch krank (vgl. Maurer, 2017).

2. Es gibt viele Pfade der Radikalisierung und kein universal gültiges Profil.

3. Radikalisierung ist im Allgemeinen ein gradueller Prozess.

4. Armut alleine ist keine Erklärung für Radikalisierung, allerdings könnte Ar- beitslosigkeit von Bedeutung sein.

5. Soziale Missstände spielen eine Rolle, allerdings oft eher als ein Ansatzpunkt und „Hilfsmittel“ zur Mobilisierung denn als persönliche Erfahrung.

6. Die soziale Umgebung und soziale Beziehungsnetzwerke haben eine sehr hohe Bedeutung für den Einstieg in die Szene.

7. Ideologie spielt insofern eine Rolle, als dass sie für den Radikalisierten das

„Freund-Feind-Schema“, also eine In-Group („die Guten“) und eine Out- Group („die Bösen“) definiert und Gewalt rechtfertigt.

Einen besonderen Stellenwert nehme in der Radikalisierungsforschung das Kon- strukt der Identität ein. Der Fokus auf den Faktor Identität habe den Vorteil, dass er nahezu per definitionem das Problem der Spezifität berücksichtigte, da die Iden- titätsbildung letztlich ein Prozess auf der individuellen menschlichen Ebene sei.

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Ergänzt werden könnten die von Jost zusammengefassten Grundannahmen aus Sicht der Autoren noch durch folgende Aspekte:

8. Die Befriedigung des grundlegenden Bedürfnisses des Individuums nach Si- cherheit scheint in Gefahr und der Anschluss an eine (radikale) Gruppe führt zur Kontrolle über die Lebenssituation.

9. Die gewählte Gruppe stellt einen Vermittler zwischen dem Individuum und den problematisch erlebten gesellschaftlichen Prozessen dar.

10. Durch kommunikative und interaktionelle Prozesse wird Gewalt als Mittel zur Wahrung nicht nur für die Gruppe legitimiert, sondern auch beim Einzelnen enthemmt.

Es zeigt sich, dass dem Radikalisierungsprozess ein individueller Entscheidungspro- zess zugrunde liegt, der ein individuelles Erleben als problematisch bewertet. Das Bewältigungsmuster, sich einer radikalen Gruppe anzuschließen, sich mit ihr zu iden- tifizieren und für sie zu agieren, wurde aus der Vielzahl von möglichen Reaktionen ausgewählt. Daher ist es aus Sicht der Autoren unerlässlich, sich mit Risikofaktoren auseinanderzusetzen.

Risikofaktoren für Radikalisierung

Neumann (2016, S. 21) nennt die folgenden Risikofaktoren für Radikalisierung Bau- steine, ohne die es nicht zu einem Radikalisierungsprozess komme, deren Zusam- menspiel je nach Kontext und Ideologie unterschiedlich ausfalle. Zudem seien die Risikofaktoren für sich genommen nicht spezifisch für Radikalisierung und Extremis- mus.

 Frustration (öffnet die Betroffenen für neue, radikale Entwürfe)

 Drang (Verknüpfung der radikalen Ideen und Handlungen mit individuellen und sozialen Bedürfnissen)

 Ideen (geben den Inhalt der Radikalisierung vor)

 Leute (Radikalisierungsprozesse sind meist Gruppenprozesse)

 Gewalt (weil Gewalt sich meist als Reaktion auf die Gewalt anderer rechtfer- tigt)

Unter Frustration fasst der Autor den Unmut und die Unzufriedenheiten mit der ei- genen Situation, eine signifikante Diskrepanz zwischen Erwartungen und Erreichtem.

Soll der aversive Zustand geändert werden, brauche es weiterhin eine Entfremdung vom bestehenden Status Quo. Mit Bezug auf Wiktorowicz (2005) sieht Neumann (2016) meist ein (ökonomisches, soziokulturelles, politisches oder sehr persönliches)

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Krisenerlebnis als kognitiv entfremdendes und damit das Individuum öffnendes Er- eignis für radikale Ideen.

Beim Drang geht es um emotionale unterlegte Bedürfnisse wie der Suche nach Iden- tität, Gemeinschaft, Bedeutung, Ruhm oder Abenteuer.

Der Risikofaktor Ideen bzw. Ideologien umfasst Grundannahmen und Zielvorstellun- gen, die das eigene Handeln beeinflussen. Politische Ideensysteme liefern in der Re- gel eine Diagnose (Was ist das Problem und wer ist daran schuld?), eine Prognose (Worin besteht die Lösung?) und Motivation (Warum soll ich mitmachen und was ist meine Rolle?). Für Radikalisierungsprozesse relevante Ideologien «… reduzieren Komplexität, kanalisieren Frust, lenken diesen in eine politische Richtung, artikulie- ren eine Vision und liefern eine Handlungsanleitung» (Neumann, 2016, S. 85).

Leute als Risikofaktor meint im Rahmen der Radikalisierung, dass sich bereits ein Großteil der radikalisierten Personen vor der kognitiven und/oder gewaltorientierten Zuspitzung kannten oder sehr in gruppendynamische Prozesse eingebunden waren.

Sageman (2004) spricht in diesem Zusammenhang von Loyalität, Hingabe, Aufopfe- rung und Intimität unter Freunden.

Schließlich geht es nach Neumann (2016) beim Baustein Gewalt um den Prozess der Gewöhnung, durch den Gewalt normalisiert wird, um staatliche Repression, die zur Rechtfertigung terroristischer Gewalt dienen kann und auch um organisierte, groß- flächige Konflikte wie z.B. Bürgerkriege, die Gewalt kulturell verankern können.

Die Funktionen, Rollen und Abläufe, die mit diesen Bausteinen bzw. Risikofaktoren verbunden sind, folgen nicht linear einem Modell oder Algorithmus.

Auch nach Ostwaldt und Coquelin (2018) gehen einer Vereinnahmung durch eine radikale Gruppierung und der damit einhergehenden Ideologisierung komplexe Prozesse voraus, die die Vulnerabilität eines meist jungen Menschen für entspre- chende Gruppierungen begründen können. Ein zentraler Ausgangspunkt ist für die Autoren dabei eine relative Deprivation. Gemeint sind damit einschränkende Fakto- ren, wie z. B. Diskriminierungserfahrungen, Schicksalsschläge oder auch der Gesund- heitszustand, woraus sich die Wahrnehmung ergebe, dass man selbst im Vergleich zu anderen benachteiligt ist. Wird diese frustrierende relative Deprivation nicht durch das Umfeld oder eigene Ressourcen kompensiert, kann eine kognitive Öff- nung folgen (s.o.).

Zick und Böckler (2015) betonen in vier Thesen sowohl individuelle Risikofaktoren als auch den sozial-interaktionellen Faktor im Rahmen von Radikalisierungsprozes- sen.

1. Es handle sich grundsätzlich um einen sozialen Prozess, der zu einer extremen Polarisierung von Gefühlen, Überzeugungen und Verhaltensweisen führe, die

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mit der gesellschaftlichen Norm inkonsistent ist sowie zu Extremismus und letztendlich zu Gewalt führt.

2. Dieser Prozess sei als Inszenierung verschiedener Elemente der Radikalisie- rung zu bestimmen, die zur Symmetrie drängten. Radikalisierung treibe zur Gewalt und sie liegt nahe, wenn die Inszenierung der Ideologie, die die Ge- walt notwendig macht und zugleich legitimiert, zu den Personen, Gruppen und ihren Handlungen passt. Gewalt wird darüber hinaus vor allem dann wahrscheinlich, wenn Gewaltbarrieren fehlen und Ideologien sich in einer ul- timativen Identität verankert haben.

3. Welche ideologischen Elemente angeeignet werden, hänge von individuellen Präferenzen, sozialen Motiven und Gelegenheitsstrukturen ab.

4. Die Inszenierungen hoch expressiver Gewalt gegen andere, die der Ideologie der Ingroup nicht entsprechen, die Radikalisierung aufhalten oder zur Be- schaffung von Vorteilen für die Ingroup angegriffen werden, sei ein individu- elles Phänomen, das aber nur kollektiv verstanden werden könne.

Die Ausübung extremistischer Gewalt, zu der die Radikalisierung drängt, ist nach Zick und Böckler (2015) letztendlich ein Prozess der Erzeugung von Beziehung durch und von Gewalt. Mit welchen konkreten inter- und intrapersonelle Prozessen und kommunikative Techniken dieser Prozess in Verbindung gebracht werden kann, spielt im Nachfolgenden eine Rolle.

Kommunikative und psychologische Phänomene im Radikalisierungsprozess Waldmann (2005, S.14-15) geht explizit davon aus, dass z.B. Terrorismus primär eine Kommunikationsstrategie ist. Das terroristische Handeln ist demnach nicht auf den Wert der Zerstörung gerichtet, sondern darauf, möglichst vielen Menschen etwas mitzuteilen. Die Gewalt, die aus seiner Sicht durch „Willkür, Unmenschlichkeit und Brutalität“ geprägt ist, braucht ein geschocktes Publikum. Somit sind Opfer und Pub- likum nicht identisch. Mithin geht es um die Verkündung einer Botschaft und nicht primär um das Besiegen eines Feindes.

Der Fokus bei der Erklärung und Erforschung des Phänomens Radikalisierung sollte auch nach Zick und Böckler (2015) auf die Frage der Botschaft ausgerichtet sein, die die Radikalisierung von Einzelnen wie Gruppen durch Emotionen, Ideologien und Taten explizit wie implizit zum Ausdruck bringt. Es gehe darum, das „expressive Herzstück“ zu identifizieren. Die Autoren weisen auf kommunikative Aspekte wie Szenarien hin, die in Handlungsmanualen festgehalten und für Anhänger, Sympa- thisanten und Interessierte unter anderem im Internet leicht verfügbar gemacht wer- den (Zick und Böckler, 2015). Propagiert würde meist eine Heilswelt, die am Ende der Radikalisierung erreicht werden könne. Zudem gehe es um die Rahmung, also Deutung und Interpretation, des Prozesses als Revolution, Kampf etc., um dadurch

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ein sicheres und stabiles Selbstkonzept zu erlangen. In der Radikalisierungskommu- nikation gehe es um die Interpretation und Darstellung von Gewalt als purer Emo- tion, um die Depersonalisation individueller Identitäten sowie um eine extreme Selbstpräsentation (gelegentlich mit dem Ziel, berühmt zu werden). Letztlich könne es im Radikalisierungsprozess zum Ausbilden und Definieren einer „ultimativen Identität“, d. h. einer Selbstkonzeptualisierung bzw. einer Identität, die sich vollständig nach der Botschaft der Bezugsgruppe ausrichtet und zur Durchsetzung der Ideologie trachtet, gehen. Die Autoren betonen ebenfalls, dass analysiert werden sollte, welche psychischen Prozesse Radikalisierungen vorantreiben, anheizen oder auch blockieren.

Nach Zick und Böckler (2015) bilden sich sukzessiv radikale Strukturen und Interak- tionssysteme heraus, die unabhängig von allen individuellen Erfahrungen und Mo- tiven die Subjekte prägen. Damit wäre ein Grundmodell skizziert, welches die sozi- alpsychologische Dynamik begreift. Sie sehen den Prozess der Radikalisierung als Inszenierung. Es komme zu einer emotionalen Aufladung von Gruppenaktivitäten, wobei die Ingroup-Outgroup-Abgrenzung verschiedene Funktionen habe: Sie bin- det die Mitglieder an die Gruppe, erhöht Kohäsion in dieser und dient der Selbst- vergewisserung. Sie erzeugt Misstrauen gegenüber den „Feinden“ und Wissen über die Notwendigkeit der Radikalisierung. Insbesondere junge Menschen seien empfänglich für neue und zumeist radikale Weltdeutungen und die Tendenz, eine gute und eine böse Seite zu definieren, sei aus psychologsicher Perspektive zutiefst menschlich. Bereits 1995 betonte della Porta nach eigenen Analysen von Radikali- sierungsprozessen die Wichtigkeit des Umfelds und der jeweiligen Gruppenzugehö- rigkeit. Es gehe den Radikalisierten entscheidend um Ansehen, Anerkennung und Belohnung. Gerade junge Menschen suchten Abenteuer, Action, Utopismus, Ener- gie, Autonomie, Experimente und Antworten auf der Suche nach Identität und Treue (vgl. auch Maurer, 2017). Diese interpersonellen Mechanismen erklärten häufig den Beitritt zu einer radikalen Gruppe und die weitere kognitive und behaviorale, verhal- tensgesteuerte Radikalisierung.

Maurer (2017) weist in diesem Zusammenhang auf die essentielle und emotional deutlich unterlegte Rolle des menschlichen Wunsches nach Identität hin. Unter Iden- tität würden die normierten Vorstellungen und gedanklichen Modelle eines Indivi- duums über sich selbst in typischen sozialen Situationen und über seine Beziehun- gen zu anderen verstanden. Nach Neumann (2016) ist soziale Identität die Frage nach dem Wer bin ich und dem Wo gehöre ich hin. Der Wunsch nach Identität sei ein bedeutender motivationaler Auslösefaktor für Radikalisierung. Negativ formu- liert führen Status- und Orientierungsverluste, Weltbild- und Sinnkrisen, emotionale Einsamkeit und soziale Ausgrenzung, Diskriminierungserfahrungen und Demüti- gungsgefühle sowie soziale und politische Unzufriedenheit und Frustration mit

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empfundener Machtlosigkeit zu fundamentalen Identitätskonflikten eines Individu- ums. Diese könnten durch subkulturelle Ideen, extremistische / politische Ideen im Sinn einer alternativen Identitätsbildung kompensiert werden.

Aus einer vor allem psychologischen Perspektive weisen Srowig et al. (2018) darauf hin, dass ein Radikalisierungsprozess häufig eine (sozio-)biografische Funktion habe.

Dabei gehe es um die Bewältigung kritischer Lebensereignisse, der Lösung von Ent- wicklungsaufgaben oder der Überwindung einer entwicklungspsychologischen Sta- tuspassage. Häufig spielten sowohl die Reduktion von Unsicherheiten und Iden- titätskonflikten als auch die Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse wie Zugehörigkeit und Anerkennung wichtige Rollen.

Die Autoren verweisen auf Studien, die sich zwar auf Persönlichkeitsdispositionen, soziale Umfeldfaktoren oder gesellschaftliche Ungerechtigkeitsstrukturen als primäre Ursache für Radikalisierungsprozesse beziehen aber damit trotzdem nicht der Komplexität von Radikalisierungsprozessen gerecht würden. Mehr Bedeutung hätten aus ihrer Sicht radikalen Mindsets, dessen kognitive Schemata und affektive Zustände Individuen für extremistische Überzeugungen anfällig machten. Ansprech- bar für extremistische Deutungen und Lösungen seien insbesondere unsichere Men- schen mit einer instabilen Identität und unzureichenden kognitiven Bewältigungs- möglichkeiten von Irritationen oder Krisen. Besonders extremistische Gruppen mit ihrem autoritären Führungsstil und ihrer Hierarchie seien geeignet in unsicheren Zei- ten und Phasen eine sichernde und umfassende soziale Identität anzubieten. Dabei bietet ein radikales Umfeld alternative und vor allem einfache Deutungsmuster, die schlicht mit Gut und Böse arbeiten. Schuld am Bösen und an Ungerechtigkeiten sind die Anderen der Außengruppe und alle Probleme lassen sich durch Herabsetzung und Angriff dieser bösen Anderen lösen. Gewaltanwendung ist dabei nur eine Op- tion, gelegentlich bleibt es bei einer kognitiven Radikalisierung.

Jost (2017) zufolge müssten wiederkehrende Muster identifiziert werden, welche die Radikalisierung von Individuen oder Gruppen erklären können. Es müssten Untersu- chungen zu individuellen Radikalisierungsprozessen, insbesondere auf der intra- personalen und inter-personalen Ebene durchgeführt werden. Dabei stehen das In- dividuum und seine kognitiven Denkmuster sowie dessen Interaktion in Kleingrup- pen im Vordergrund

Srowig et al. (2018) weisen darauf hin, dass sich die phänomenologische Beschrei- bung einer psychologisch-differenziellen und klinisch-psychologischen Terminolo- gie unterhalb einer diagnostisch relevanten Schwelle bedient und psychologische Vulnerabilitäten identifizieren will, die einen Radikalisierungsprozess begünstigen.

Diesem Ansatz sich im Folgenden bedient.

Eine Persönlichkeitseigenschaft, die per Definition eine gewisse Radikalität beinhal- tet, wird mit dem Borderline-Persönlichkeitsstil in Verbindung gebracht. Dieser zeichnet sich durch extrem ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken und eine damit ein- hergehende eingeengte Weltsicht aus.

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Auch die narzisstische Persönlichkeitsproblematik mit einem übersteigerten Selbst, Grandiositätserleben, Empathiedefiziten und leichter Kränkbarkeit zähle zu den psy- chologischen Vulnerabilitäten.

Ebenso gehörten in diese Gruppe der Auffälligen und Ansprechbaren für Radikali- sierung die dissozial geprägten Menschen, die sich eher von gesellschaftlichen Nor- men und Werten distanzieren oder abweichende Norm- und Wertvorstellungen auf- weisen. Hinzu käme bei Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstilen eine feh- lende Verankerung sozialer Werte und Normen, sowie ein ausgeprägtes Sensation Seeking Behavior, mit dem Drang nach ständig neuem Erleben und Aufregung, Dro- genmissbrauch, Impulsivität und Gewaltbereitschaft.

Die autoritäre Persönlichkeit sei ein weiteres Konstrukt, das bei Radikalisierungspro- zessen eine Rolle spielen könne. Sie zeichne sich durch rigide Denkstile, Unterwürfig- keit und narzisstische Identifikation mit autoritären Führungspersonen und einer ausgeprägten Bedrohungssensitivität aus. Letzteres Phänomen kann sich bis zu ei- nem paranoiden Misstrauen mit subjektiv erlebten Feinden und feindlichen Hand- lungen im gesamten Umfeld des Betroffenen steigern. Ein ausgeprägtes Bedro- hungserleben hat in der Regel Emotionen wie Angst, Wut oder Aggression zur Folge.

Ist das Bedeutungserleben der eigenen Person Teil der Bedrohungssituation, kämen Mechanismen zur Wiedererlangung dieser durch Aneignung extremistischer Denk- inhalte nach der Quest for Significance Model zum Tragen (Kruglanski et al. 2014).

Dieses Modell geht davon aus, dass Individuen grundsätzlich auf der Suche nach und mit dem Erhalt dessen beschäftigt sind, was nach ihren – oftmals kulturell de- terminierten – Werten für sie wichtig ist, wozu auch ihre eigene Stellung und Bedeu- tung in der Gesellschaft gehört. Wird die gesellschaftliche Bedeutung als bedroht erlebt, führe dies zu einem Deprivationserleben und einer beeinträchtigten Rea- litätsprüfung. Daran schließe sich eine nahezu wahnhafte Suche nach einer Gelegen- heit für einen Bedeutungsgewinn an. Eine polarisierte Weltsicht könne einen solchen Bedeutungsgewinn symbolisieren, so die Lücke der wahrgenommenen Bedeutungs- losigkeit schließen und damit das sogenannte Need for Closure, d. h. ein Bedürfnis nach klaren, abgeschlossenen und scheinbar bedeutungsvollen Antworten bedie- nen.

Anknüpfend an die o.g. Überlegungen zur Rolle von Gruppenzugehörigkeit und Ge- meinschaftserleben finden sich bei Maurer (2017) zentrale Aspekte zur Kommunika- tion und (Sozial-) Psychologie der Gruppe im Radikalisierungsprozess. (Es gibt zwar Fälle von individueller Selbstradikalisierung, jedoch ist Radikalisierung maßgeblich ein Gruppenphänomen).

In der Gruppe wird demnach im Rahmen eines sogenannten Framings, ein bestimm- ter Inhalt durch bestimmte Deutungs- bzw. Interpretationsschemata selektiv betont und akzentuiert. Framing sei damit eine Vorstufe der Indoktrination, der vehemen- ten manipulativen Ideologisierung und gezielten Radikalisierung des Individuums

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(Neumann 2016). Es komme zu einer starken Interdependenz der Mitglieder mit ho- her gegenseitiger Kontrolle und gleichzeitiger sozialen Abschottung. Die Gruppe wird sukzessive zur einzigen Quelle der sozialen Identität. Dadurch fallen auch ge- mäßigte Einflüsse von außen weg, die den Radikalisierungsprozess aufhalten könnten (Sageman, 2004). Kommunikativ falle zudem eine zunehmende argumen- tative Verdichtung auf. Kein Gruppenmitglied möchte dauerhaft unter der durch- schnittlichen Gruppenmeinung liegen (dies wäre schlecht für den Gruppenstatus).

Um das zu vermeiden und um von der Gruppe gemocht zu werden, ist eine erprobte Strategie, immer mal wieder eine Meinung, die der Gruppenmeinung ähnelt zu äu- ßern, die etwas extremer ausfällt. So werden der Gruppenkonsens und die Gruppen- kohäsion stabilisiert und es kann eine den Status verbessernde Vorreiterrolle einge- nommen werden. Gemeinschaftserleben und Statusverbesserung sind somit gut wahrnehmbare Belohnungen; die Gruppenidentität ersetzt immer mehr die ur- sprüngliche (unsicher) Identität. Somit kann die verwendete kommunikative Strate- gie dazu führen, dass die Gruppe zu immer extremeren Positionen neigt.

Maurer (2017) verweist in diesem Zusammenhang auch auf den internen und exter- nen Konkurrenzkampf. Im gruppeninternen Wettstreit um die radikalsten Positionen biete der Vorschlag zur Gewaltanwendung dem Einzelnen die Möglichkeit, sich mit extremsten Handlungsmuster nachhaltig zu positionieren und zu profilieren.

Dadurch könnten innerhalb der Gruppe starke Konflikte entstehen, die sich zu einem Konkurrenzkampf entwickeln. Dies führe gelegentlich zu einer Aufspaltung der Gruppe oder im schlimmsten Falle zu einer dynamischen Steigerung der Gewaltbe- reitschaft aller Gruppenmitglieder, einem eskalierenden Kampf um Extreme. Extre- mistische Gruppen stünden oft mit anderen Gruppen, die sich auf eine ähnliche Ide- ologie stützen, in direkter Konkurrenz. Dieser Konkurrenzkampf speise sich aus dem Statusstreben der Gruppe innerhalb eines radikalen Umfeldes, dem damit verbun- denen Rekrutierungspotential sowie dem Wettbewerb um Unterstützer, Sympathi- santen und Ressourcen (Maurer, 2017). Diese Wechselbeziehungen und Interaktio- nen mit dem politischen Gegner und Eskalationseffekte der Gruppe würden insbe- sondere gegen Ende des Radikalisierungsprozesses wirken.

In allen analysierten Interaktions- und Kommunikationsprozessen kommt insbeson- dere den Führungspersonen eine besondere Rolle zu. Die Führungspersonen der Gruppe, die die beschriebene Strategie intensiv einsetzen, nutzen ihre soziale At- traktivität und Autorität, um gewalttätige Aktionen ideologisch zu legitimieren (Neumann 2016). Häufig gehe es im letzten Schritt der Gewaltanwendung eher um Liebe zur Gruppe und nicht um Hass auf andere (Sageman 2004).

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Forensisch-psychologisches Zusammenspiel der individuellen Risikofaktoren

Was es schwierig macht, Radikalisierung zu erkennen und zu bekämpfen, ist, dass keiner der Bausteine so außergewöhnlich ist wie ihr Ergebnis (Neumann, 2016, S.

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Es sollte deutlich geworden sein, dass es kein einheitliches Merkmal oder klares Pro- fil gibt, nach dem extremistische oder gewaltbereite Personen ausgemacht werden könnten (s.a. Neumann, 2016). Auch wenn Ähnlichkeiten und gemeinsame Elemente in vielen Radikalisierungsprozessen zu erkennen seien, lassen sich doch sehr indivi- duell unterschiedliche (Typen-)Muster und Verläufe abbilden. Es gilt, das jeweilige Zusammenspiel der vorliegenden Risikofaktoren zu beschrieben, statt schlicht ein Prognoseinstrument einzusetzen oder eine umfassende Theorie für alle Betroffenen bereit zu halten. Die meisten Autoren sind sich einig darin, dass Risikofaktoren, die auf den unterschiedlichen Ebenen eine Rolle spielen, in einer dynamischen Wech- selwirkung zueinander stehen. Erfahrungen wie z. B. individuelle Missachtungs- und Desintegrationserfahrungen führten zu einer Nähe zu anderen Personen, die über ähnliche Erfahrungen verfügen und ihre Überzeugungen teilen (Zick & Böckler, 2015). Das Zusammenspiel identifizierter oder bekannter Risikofaktoren ist weder streng kausal noch statisch. Mithin zeigt sich (auch) im Feld der Radikalisiserungs- forschung ein Spezifitätsproblem. Maurer (2017) weist ebenfalls darauf hin, dass sich Individuen und Gruppen durch das Zusammenspiel multipler Bausteine, die in un- terschiedlichster Weise in komplexer Weise zusammenwirken, bis hin zur Anwen- dung von Gewalt radikalisieren.

Nach Neumann (2016) ist Radikalisierung ein fragiler Prozess, der von einer Vielzahl von Faktoren, Einflüssen und Ereignissen abhängt, die von keinem Algorithmus und keiner Theorie systematisch erfasst werden können. Um trotzdem eine gewisse Strukturierung und eine nachvollziehbare Operationalisierung herzuleiten, wird für die Psychologie dieses Prozesses der forensisch-psychologische Ansatz von Kropp und Hart (2019) vorgestellt. Möglicherweise kann damit ein Beitrag zur von Neumann (2016) geforderten Typenmusteranalyse geleistet werden.

Kropp und Hart (2019) betonen, dass Risikofaktoren im psychologischen Entschei- dungsprozess verschiedene kausale Rollen spielen können. Sie können motivieren, enthemmen oder destabilisieren. Motivatoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Gedanken an Gewalt entstehen oder die wahrgenommenen Vorteile von Ge- walt stärker fokussiert werden. Disinhibitoren (Enthemmer) verringern die Wahr- scheinlichkeit, dass Gedanken an Gewalt verdrängt werden oder reduzieren die

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wahrgenommenen negativen Folgen von Gewalt. Destabilisatoren stören oder des- organisieren die Fähigkeit von Menschen, ihre Entscheidungen aufmerksam zu re- flektieren und zu kontrollieren.

Zu Motivatoren führen die Autoren weiter aus, dass damit Risikofaktoren gemeint sind, die im Einzelfall folgende Fragen beantworten sollen:

Welche Faktoren haben die Denkprozesse der Person so verzerrt, dass Gewalt wie eine angemessene Reaktion erscheint?

Welche Faktoren produzieren Gedanken an Gewalt?

Welche Faktoren haben die von der Person wahrgenommenen Vorteile von Gewalt erhöht?

Was wollte die Person erreichen, indem sie gewaltsam handelt?

Motivatoren spiegeln die Wünsche, Absichten, Wahrnehmungen und Überzeugun- gen des Täters wider. Einige zentrale Motivatoren, die Gewalt zugrunde liegen, sind:

 Verteidigung, Distanz, Selbstschutz, Schutz Anderer: Ziel ist hier, Menschen fernzuhalten oder zu neutralisieren, die als Bedrohung wahrgenommen wer- den. Die Betroffenen haben vielleicht das Gefühl, dass sie keine andere Wahl hatten, als Gewalt anzuwenden.

 Gerechtigkeit, Ehre, Rache, Vergeltung, Rache: Ziel ist hier, Menschen zu be- strafen, die in der Wahrnehmung des Betroffenen gegen eine wichtige Norm verstoßen haben. Gewalt kann dabei sogar als moralischer Imperativ angese- hen werden - nicht etwas, was sie tun wollen, sondern etwas, was sie tun müssen.

 Gewinn, Profit, Besitz: Ziel ist hier, von anderen Menschen gegen ihren Willen ein konkretes oder materielles Gut, wie Geld oder Eigentum, zu bekommen oder zu beschaffen. Täter wollen einfach das, was andere haben, diesen weg- nehmen.

 Kontrolle: Ziel ist hier, einen Konflikt oder Streit zu gewinnen, indem man an- dere Menschen zwingt, sich zu fügen oder zu unterwerfen. Betroffenen haben den Eindruck, dass dies der beste oder einzige Weg ist, um das zu bekommen, was sie wollen oder um zu erreichen, dass andere etwas tun müssen.

 Status, Wertschätzung, Dominanz: Ziel ist hier, das Selbstwertgefühl zu erhö- hen, indem man die Dominanz über andere Menschen ausübt und dadurch das Gefühl von Macht oder Kontrolle oder das Ansehen in der Öffentlichkeit erhöht. Einfach ausgedrückt, kann Gewalt dazu führen, dass sich Betroffene mit sich selbst besser fühlen - stärker, härter, mächtiger und wichtiger als an- dere zu sein.

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 Befreiung, emotionaler Ausdruck, Katharsis, Erleichterung: Ziel ist hier, starke oder aufgestaute Emotionen zu entladen. Betroffene wollen Gewalt anwen- den, um mit aversiven Gefühlen umgehen zu können, die sie als überwälti- gend empfinden oder die sie alleine nicht bewältigen können.

 Erregung, Aktivität, Aufregung, Stimulation: Ziel ist hier, sich physiologisch oder psychologisch zu stimulieren. Betroffene suchen Gewaltanwendung, um Gefühle der Leere oder Langeweile zu vermeiden oder loszuwerden, einen

"Adrenalinschub" zu erleben oder sich "lebendig" zu fühlen.

 Nähe, Zugehörigkeit, Konformität, Gehorsam: Ziel ist hier, zwischenmensch- liche Bindung oder Gruppenzusammenhalt durch Gewalt aufzubauen oder zu stärken. Betroffene glauben, dass Gewalt der einzige oder beste Weg ist, eine Beziehung zu einer anderen Person aufzubauen oder aufrechtzuerhalten, o- der sie können Gewalt anwenden, um Loyalität oder Respekt vor einer Auto- rität zu demonstrieren.

Diese Motivatoren sind nach Kropp & Hart (2019) keine Risikofaktoren für Gewalt, sondern die psychologischen Mechanismen, mit denen Risikofaktoren die Entschei- dung zur Gewaltanwendung beeinflussen können.

Drei Aspekte zu Motivationslagen für Gewalt sind dabei zu beachten:

Erstens kann Gewalt mehrere Motivatoren haben. Tatsächlich ist dies bei den meis- ten Gewalttaten der Fall; multiple Motivatoren sind die Regel, nicht die Ausnahme.

Je mehr der subjektive Nutzen von Gewalt wahrgenommen wird, desto wahrschein- licher ist es, dass dieser die wahrgenommenen Kosten überwiegen und die Person gewalttätig handeln lässt.

Zweitens können sich die Motivatoren für Gewalt im Laufe der Zeit ändern, mitunter auch im Verlauf eines einzigen Gewalttatbestandes.

Drittens erfassen wir Motivationslagen für Gewalt nie mit letzter Sicherheit. Aus dem, was uns die Menschen sagen, aus ihrem Verhalten und aus den Umständen, unter denen sie Gewalt begangen haben, können wir die Motivatoren für Gewalt nur ab- leiten.

Zu Disinhibitoren (Enthemmern) finden sich bei Kropp & Hart (2019) die folgenden Fragen:

Welche Faktoren haben die Reflektions- und Entscheidungsprozesse der Person so verzerrt, dass sie normale Hemmungen gegen Gewalt überwunden haben?

Welche Faktoren machten es für die Person schwierig, Gewaltgedanken selbst zu zensieren?

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Welche Faktoren verminderten die von der Person wahrgenommenen Kosten oder die negativen Folgen von Gewalt?

Welche Faktoren führten dazu, dass die Person Gewalt rechtfertigt oder entschul- digt?

Risikofaktoren, die als Disinhibitoren fungieren, verzerren oder verfälschen systema- tisch Gewaltentscheidungen, reduzieren die wahrgenommenen Kosten oder nega- tive Folgen. Einige der wichtigsten Enthemmer sind:

 Negative Einstellungen: Gemeint sind damit die sozialen, politischen, spiritu- ellen oder anderen persönlichen Überzeugungen der Menschen, die Gewalt unterstützen oder dulden. Positive Einstellungen oder ein starker Moralkodex lassen Gewalt nicht als eine vernünftige und umsetzbare Option erscheinen;

aber negative Einstellungen oder das Fehlen eines starken Moralkodex ent- schuldigen oder rechtfertigen Gewalt. Negative Einstellungen sind manchmal ein eigenständiger Risikofaktor, der spezifische Einstellungen widerspiegelt, die eine Person entwickelt oder akzeptiert (im Radikalisierungsprozess in der Regel die Idee; s. Neumann, 2016); manchmal können sie aber auch mit Per- sönlichkeitsproblemen (z.B. oppositionelle oder prokriminelle Einstellungen im Zusammenhang mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen) oder traumati- schen Erfahrungen (z.B. körperlicher oder sexueller Missbrauch in der Kind- heit) in Verbindung gebracht werden.

 Negatives Selbstverständnis / Selbstkonzept: Gemeint ist die Sichtweise oder das Selbstverständnis / Selbstkonzept, dissozial, rebellisch, schlecht oder so- gar böse zu sein. Die meisten Menschen sehen sich selbst als anständig oder gut an und der Gedanke, Gewalt anzuwenden, wäre mit einem positiven Selbstverständnis unvereinbar. Gewalt ist nicht unvereinbar mit einem nega- tiven Selbstkonzept; in der Tat kann Gewalt völlig im Einklang mit einem ne- gativen Selbstkonzept stehen. Negatives Selbstverständnis kann mit Dingen wie traumatischen Erfahrungen (z.B. körperlicher oder sexueller Missbrauch in der Kindheit) oder Persönlichkeitsproblemen (z.B. gestörtes Selbstkonzept im Zusammenhang mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen) im Zusammen- hang stehen.

 Entfremdung: Gemeint ist ein Mangel an sozialer Integration. Menschen ha- ben etwas zu verlieren, wenn sie sozial integriert sind - die Liebe oder der Respekt für Familie, Freunde, Nachbarn oder Mitarbeiter, ihre Arbeitsplätze, ihre finanzielle Sicherheit oder ihre Häuser. Menschen, die keine guten sozi- alen Beziehungen, keine Arbeit oder keinen festen Wohnsitz haben, haben nichts zu verlieren auch nicht durch Gewaltanwendung. Entfremdung kann mit Beziehungsproblemen (z.B. Mangel an enger persönlicher Beziehung), Beschäftigungsproblemen (z.B. chronische Arbeitslosigkeit), schweren psy-

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chischen Störungen (z.B. sozialer Rückzug bei Schizophrenie) oder Persön- lichkeitsproblemen (z.B. chronische Wut oder soziale Kompetenzdefizite, die Beziehungen oder Beschäftigung beeinträchtigen) verbunden sein.

 Nihilismus: Gemeint ist ein Mangel an Zukunftsgefühl. Menschen, die das Gefühl haben, dass ihr Leben vorbei ist (bildlich oder wörtlich) oder dass die Zukunft nichts für sie bereithält, haben auch nichts zu verlieren, wenn sie Ge- walt anwenden. Entfremdung kann mit Beziehungsproblemen (z.B. plötzlicher Verlust des sozialen Unterstützungsnetzes), Beschäftigungs- und Finanzprob- lemen (z.B. plötzlicher Verlust eines Arbeitsplatzes) oder sogar mit schweren psychischen Störungen (z.B. Depression) verbunden sein.

 Mangelnde Einsicht: Gemeint ist ein Mangel an Bewusstsein oder Verständnis für die moralische Unrechtmäßigkeit von Gewalt oder die möglichen physi- schen oder psychischen Schäden, die durch Gewalt verursacht werden. Man- gelnde Einsicht kann mit Aspekten wie negativen Einstellungen, traumati- schen Erfahrungen, Persönlichkeitsproblemen (z.B. Selbstbezogenheit im Zu- sammenhang mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung) oder sogar schweren psychischen Störungen verbunden sein.

 Fehlende Schuld, fehlende Angst, fehlende Empathie: Gemeint sind emotio- nale Defizite, die Menschen vor, während oder nach Gewalttaten unbesorgt machen. Sie können mit mangelnder Einsicht verbunden sein, z.B. mit Dro- genkonsumproblemen, negativen Einstellungen, traumatischen Erfahrungen, Persönlichkeitsproblemen (z.B. antisoziale oder psychopathische Persönlich- keitsstörung) oder schweren psychischen Störungen (z.B. traumatische Hirn- verletzung, Autismus-Spektrumstörung).

Disinhibitoren sind wie Motivatoren die Mechanismen, mit denen Risikofaktoren die Gewaltbereitschaft beeinflussen können. Die Aufgabe im Einzelfall ist, festzustellen, welche der Risikofaktoren vorliegen und in Bezug auf Radikalisierung und Gewalt- anwendung enthemmen.

Destabilisatoren sind nach Kropp & Hart (2019) Risikofaktoren, die mit folgenden Fragen verbunden sind:

Welche Faktoren haben die Reflektions- und Entscheidungsprozesse der Betroffe- nen so beeinträchtigt, dass es schwierig war, logisch oder systematisch über radikale Inhalte und Verhaltensweisen sowie über Gewaltanwendung nachzudenken?

Welche Faktoren haben die grundlegenden kognitiven Funktionen gestört?

Welche Faktoren hinderten die Betroffenen daran, Alternativen zur Gewalt oder die Folgen von Gewalt angemessen zu berücksichtigen?

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Die wichtigsten destabilisierenden Mechanismen sind nach von Kropp & Hart (2019) grundlegende Störungen in der fundamentalen oder übergeordneten Informations- verarbeitung, wie z.B.:

 Gestörte Aufmerksamkeit: Gemeint ist die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren oder aufrechtzuerhalten.

 Gestörte Wahrnehmung: Gemeint sind Probleme bei der Wahrnehmung oder dem Sinn für die Umgebung, wie z.B. das Nichtsehen von Dingen, die da sind, oder das Hören von Dingen, die nicht da sind.

 Beeinträchtigtes Gedächtnis: Gemeint sind Probleme beim Erinnern, wie z.B.

vergessen oder ungenau erinnern, was passiert ist.

 Beeinträchtigte Intelligenz, verminderte rationale Prozesse: Gemeint sind Probleme mit dem Denken oder der Problemlösung, wie z.B. die Unfähigkeit, eine Situation zu verstehen oder klar darüber nachzudenken.

 Impulsives Denken: Gemeint ist die Unfähigkeit, die Gedanken zu fokussieren, so dass sie scheinbar rasen oder von Thema zu Thema springen.

 Unflexibles Denken: Gemeint ist die Unfähigkeit, die eigenen Gedanken zu defokussieren, so dass sie an einem Thema hängen bleiben (d.h. perseverie- rend oder zwanghaft erscheinen).

Mit diesen forensisch-psychologisch bewährten Themen und Funktionsweisen von identifizierten Risikofaktoren lassen sich möglicherweise in Kombination mit den vorliegenden Modellen, Erkenntnissen und Bausteinen des Radikalisierungsprozes- ses individualisierte Fallkonzepte erstellen. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass dieser Vorschlag dabei hilft, prägnant und nachvollziehbar zu formulieren, wie sich Menschen radikalisieren und welche psychologischen Funktionen damit erfüllt wer- den sollen bzw. eine zentrale Rolle spielen. Auch hierbei handelt es sich nicht um eine Formel, aber um einen Strukturierungsvorschlag mit psychologischen Mecha- nismen, die auch für die Präventions- und bzw. Ausstiegsarbeit bei Radikalisierungs- phänomenen Verwendung finden könnte.

Wichtig zu erwähnen ist aber, dass bei jeder Analyse verdeutlich werden muss, wel- che Perspektive dabei eingenommen wird und welcher Bezugsrahmen gelten soll.

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Abstrakt zur Bachelor-Arbeit: Die Entwicklung des BKA hinsichtlich personel- ler und konzeptioneller Parallelen zum Dritten Reich

Jakob Reichelt, Maria-Luisa Waßmann

1. Einleitung

Das heutige Bundeskriminalamt (BKA) nimmt im Prozess der Kriminalitätsbekämp- fung eine übergeordnete Rolle ein. Es koordiniert die Zusammenarbeit der Landes- kriminalämter und fungiert als Zentralstelle grenzüberschreitender polizeilicher Tä- tigkeiten. Seit der Gründung des Institutes im Jahre 1951 hat sich die Behörde eine exponierte Stellung auf dem Gebiet der internationalen Verbrechensbekämpfung erarbeitet.1

Anlässlich dieser bemerkenswerten Entwicklung fokussierte sich der Schwerpunkt der hier vorgestellten Arbeit auf den behördlichen Ausbau des BKA in deren Grün- dungsjahren. Ziel war es herauszuarbeiten, inwiefern die Entwicklung der Behörde durch personelle und konzeptionelle Einflüsse der ehemaligen Ordnungs- und Si- cherheitspolizei des Dritten Reichs geprägt wurde und durch welche Umstände diese Prozesse geschehen konnten. Neben der Durchführung von Literaturrecher- chen bildete die Sichtung und Auswertung verschiedenster Aktenbestände aus dem Bundesarchiv Koblenz den methodischen Schwerpunkt dieser Arbeit.

1.1 Rolle der Polizei im Nationalsozialismus

Die Beantwortung der Frage hinsichtlich der Rolle der Polizei im Nationalsozialismus stellte die Ausgangslage dieser wissenschaftlichen Bearbeitung dar. Durch Literatur- recherchen konnte einerseits der Aufstieg des deutschen Sicherheitsapparates zum wichtigsten Machtinstrument der Nationalsozialisten belegt werden. Andererseits konnte die aktive Beteiligung sogenannter Polizeibataillone an dem Prozess der Massenvernichtung anhand historischer Ereignisse konkret beschrieben werden.

Speziell wurden die Verbrechen des 101. Reserve-Polizei-Bataillons in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten dargestellt. Vor allem die Auswirkungen der Aktion

„Erntefest“ im Jahre 1943, wobei unter Anteilnahme des 101. Reserve-Polizei-Batail- lons 43.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder systematisch ermordet worden,

1 Vgl. BKA; Artikel: Zentralstellen des Bundeskriminalamtes; abrufbar über: https://www.bka.de/DE/UnsereAuf- gaben/Aufgabenbereiche/Zentralstellen/zentralstellen_node.html; Stand: 27.05.2020

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symbolisierte einen Höhepunkt der verbrecherischen Aktivitäten durch die deutsche Polizei.2

1.2 Notwendigkeit eines Bundeskriminalamtes in der BRD

Als weiteres Ergebnis konnte die Auftaktphase im Entwicklungsprozess einer Bun- deskriminalbehörde der westlichen Besatzungszonen gezeigt werden. Ziel sollte es sein, im Zuge durchgeführter Literaturrecherchen eine detaillierte Darstellung da- maliger Zustände ermöglichen zu können, welche die Gründung eines BKA rechtfer- tigen sollten. Hierbei konnte belegt werden, dass sich nach 1945 in kürzester Zeit schwerwiegende Missstände entwickelten. Fehlende Infrastruktur und wachsende wirtschaftliche Notstände schufen weitreichende Brennpunkte für delinquentes Ver- halten innerhalb aller Bevölkerungsschichten der westlichen Besatzungszonen. Spe- ziell konnte das Phänomen der zunehmenden Professionalisierung des Verbrecher- tums dargestellt werden, welches maßgeblich Einfluss auf die Entstehung dieser Missstände nahm.3 Als Ergebnis konnte ein systematischer Anstieg damaliger Krimi- nalstatistiken in dem Bereich der Eigentumsdelikte festgestellt werden.4 Aufgrund der dargestellten Zustände und um eine effektive Bekämpfung dieser ermöglichen zu können, beschloss der Deutsche Bundestag nach einer langen Diskussionsphase und auf äußerem Druck durch die Militärgouverneure das Gesetz zur Errichtung ei- nes Bundeskriminalpolizeiamtes vom 08. März 1951, in dessen Wortlaut die Grün- dung des BKA fundiert wurde.5

1.3 Amnestie und Rehabilitation in der BRD

Im weiteren Verlauf stellte sich nun die Frage, wodurch eine Beschäftigung belaste- ter Personen im BKA erst ermöglicht werden konnte. Im Zuge durchgeführter Lite- raturrecherchen wurde eine mangelhafte Durchführung des sogenannten Entnazifi- zierungsverfahrens als Ursache festgestellt. Die ursprüngliche Intention, sämtliche

2 Vgl. Schwindt, Barbara; Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek: Funktionswandel im Kontext der Endlösung; Verlag Königshausen & Neumann; Würzburg; 2005; S. 268-280.

3 Vgl. Mörchen, Stefan; Echte Kriminelle und zeitbedingte Rechtsbrecher: Schwarzer Markt und Konstruktionen des Kriminellen in der Nachkriegszeit; In: Werkstatt Geschichte 42; Klartext Verlag; Essen; 2006; S. 58-59.

4 Vgl. ebd.

5 Vgl. Mergen, Armand; Die BKA Story; S.73-75.

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ideologische Veranlagungen des Nationalsozialismus aus den Köpfen der Bevölke- rung und des Beamtenapparates entfernen zu wollen, konnte aufgrund fehlender Tiefgründigkeit des Prozesses nicht realisiert werden.6

1.4 Spruchkammerverfahren des Paul Dickopf

Kernstück der Entnazifizierung bildete das sogenannte Spruchkammerverfahren, in- dem eine Klassifizierung beteiligter Personen durchgeführt wurde. Demnach sollte durch diesen Prozess eine korrekte vergangenheitsorientierte Einstufung aller Be- troffenen ermöglicht werden. Stattdessen kam es zu Fehleinstufungen belasteter Personen in die Kategorie der Entlasteten, wodurch eine Wiederbeschäftigung im Staatsdienst ermöglicht werden konnte. Zur näheren Verdeutlichung damaliger Pro- zesse wurde der Ablauf des Spruchkammerverfahrens von Paul Dickopf beispielhaft dargestellt. Hierbei fiel auf, dass der Betroffene durch das Verfälschen von Lebens- läufen einen positiven Verfahrensausgang anstrebte. Trotz des Vorhandenseins di- verser Unstimmigkeiten und Widersprüchen innerhalb der eingereichten Dokumen- tensätze wurde der Betroffene in die Kategorie der Entlasteten eingestuft und das Entnazifizierungsverfahren wurde als beendet angesehen. Im Zuge der Analyse der Gerichtsakten von Paul Dickopf konnten mehrere Kopien sogenannter Persilscheine gesichtet werden, welche maßgeblich Einfluss auf den Ausgang damaliger Verfahren nahmen. Die Dokumente, meist von hochrangigen Vertretern der Alliierten unter- zeichnet, schilderten dem Leser eine Verharmlosung ehemaliger Taten des Betroffe- nen zur Zeit des Nationalsozialismus. Im Falle Dickopf erfüllten die Dokumente ihr Ziel und das eingeleitete Spruchkammerverfahren wurde innerhalb von 16 Tagen trotz vorhandener Widersprüche zu seinen Gunsten abgeschlossen.7 Somit stand ei- ner Wiederbeschäftigung im Staatsdienst nichts mehr im Wege.

2. Personelle Kontinuitäten zur Vorgängersituation

Die Suche nach eventuellen personellen und konzeptionellen Kontinuitäten des BKA in deren Gründungsjahren symbolisierte den thematischen Schwerpunkt dieser Ar- beit. Den methodischen Kern bildeten die verschiedenen Aktenbestände aus dem Bundesarchiv Koblenz. Hierbei handelte es sich um die persönlichen Nachlässe des

6Vgl. Benz, Wolfgang; Artikel: Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung; In: Bundeszentrale für politische Bildung; 2005; abrufbar über: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-national- sozialismus/39605/entnazifizierung-und-erziehung?p=all; Stand: 27.05.2020.

7BArch Koblenz N 1265/9.

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Paul Dickopf sowie die Personaldokumente der Behörde aus deren Gründungsjah- ren. Der erste Abschnitt dieser Bearbeitung befasste sich mit der Suche nach even- tuellen personellen Kontinuitäten.

2.1 Kriminalpolizeiamt für die Britische Zone (KPABrZ)

Im Fokus der ersten Betrachtung stand das Kriminalpolizeiamt für die Britische Zone (KPABrZ). Die 1946 gegründete Behörde nahm maßgeblich an der personellen Ge- staltung des 1951 gegründeten BKA teil. Ziel dieses Abschnittes sollte es sein, im Zuge einer wissenschaftlichen Untersuchung, die Einflüsse des KPABrZ auf die per- sonelle Entwicklung der Nachfolgebehörde chronologisch darzustellen. Da der Großteil des Personalstandes des KPABrZ 1951 geschlossen in das BKA übernom- men wurde, stellte sich nun die Frage, inwiefern es sich bei den Mitarbeitern um belastete Personen gehandelt haben könnte.

Aus den Dokumentensätzen kristallisierte sich heraus, dass der Grundstock des KPABrZ im Jahre 1946 aus 48 Mitarbeitern bestand, welchen eine Beamtentätigkeit im Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) nachgewiesen werden konnte. Hierbei fiel je- doch auf, dass ein Großteil dieser Gruppierung lediglich in ein Angestelltenverhältnis im KPABrZ eingestuft wurde. Somit stellte sich die Frage, warum diese „erfahrenen“

Mitarbeiter lediglich als Büroangestellte in der neuen Behörde beschäftigt wurden, anstatt Sie erneut in das Beamtenverhältnis zu berufen.

Naheliegend wäre die Theorie, wonach die Einstellung ehemaliger Beamte in das Angestelltenregister des KPABrZ einer wirksamen Methode glich, um effektiv belas- tete Persönlichkeiten in die Behörde zu integrieren. Begründen ließe sich diese Schlussfolgerung aus der historischen Bedeutung des RKPA, wo alle 48 Personen zu Kriegszeiten beschäftigt wurden. Es wurde verdeutlicht, dass das RKPA maßgeblich an der Verfolgung und Ermordung der vom Regime geächteten Gruppierungen be- teiligt war. Aufgrund dieser Tatsache und um eine öffentliche Untersuchung be- troffener Personen zu vermeiden, kam es lediglich zu einer Einstellung in ein Ange- stelltenverhältnis. Die Vergabe eines Beamtenstatus hätte zusätzliche politische Hür- den geschaffen, wo durch die Gefahr einer Veröffentlichung begangener Taten ge- stiegen wäre. 8

8 BArch Koblenz N 1265/31.

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2.2 Eingliederungsverlauf der Führungsebene des KPABrZ

Um der Theorie zusätzlichen Halt zu verschaffen wurde im anschließenden Abschnitt die ehemalige Führungsebene des KPABrZ einer näheren Untersuchung unterzogen.

Im weiteren Verlauf dieser Bearbeitung fiel auf, dass ein Großteil der Führungsebene des KPABrZ bei Gründung des BKA geschlossen in hohe Positionen innerhalb der Behörde übernommen wurde. Hierbei stellte sich erneut die Frage, inwieweit es sich bei diesen Beamten um belastete Personen gehandelt haben könnte.

Im KPABrZ existierten neben der Position des Amtschefs, neun weitere sogenannte Oberbeamte, welche ebenfalls hohen Führungsaufgaben innerhalb des Institutes nachkamen. In den Beständen des Bundesarchiv Koblenz befanden sich die Listen der Personalzusammenstellungen der damaligen Kriminalbehörde, wodurch eine nähere Betrachtung jeder einzelnen Persönlichkeit der neun Oberbeamten ermög- licht wurde.9

Eine durchgeführte Untersuchung ergab, dass vier der Beamten eine ehemalige Be- schäftigung im RKPA aufgewiesen haben. Weiterhin fiel auf, dass ebenfalls vier Be- amte eine vergangene Parteizugehörigkeit zur NSDAP besaßen. Weiterhin wiesen insgesamt drei Personen eine ehemalige Mitgliedschaft in der Schutzstaffel (SS) auf.10 Zur damaligen Rechtfertigung dieser Zugehörigkeit bedienten sich die Beam- ten des Phänomens der Dienstgradangleichung. Demnach erhielten alle Träger eines Polizeidienstgrades im Zuge Himmlers Gleichschaltung einen dazugehörigen SS- Rang. Nach Angaben der Betroffenen handelte es sich um einen automatisierten Prozess, auf den sie keinen Einfluss hätten nehmen können. Im Zuge der Literatur- recherche konnte dieser Rechtfertigungsgrund als falsch dargestellt werden. Viel- mehr sollte diese Ausrede eine ehemalige Mitgliedschaft in der SS verharmlosen.11 Im Endeffekt wurde offenbar, dass lediglich gegen zwei Personen der neun Oberbe- amten keine belastbaren Informationen in den Beständen des Bundesarchives ge- sichtet worden. Dem Rest der Führungsebene konnte eine belastbare Vergangenheit in den Diensten der damaligen Sicherheits- und Ordnungspolizei nachgewiesen werden. Trotz dieser Tatsachen erhielten mit der Gründung des BKA im Jahre 1951 sechs der neun Oberbeamten hohe Führungspositionen innerhalb der neuen Krimi- nalbehörde.12

9 BArch Koblenz B 131/1339.

10 Vgl. Schenk, Dieter; Die Braunen Wurzeln des BKA; S. 236.

11Vgl. Buchheim, Hans; Anatomie des SS-Staates Band 1; S. 113.

12Vgl. Schenk, Dieter; Die Braunen Wurzeln des BKA; S. 229.

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Die anhand von Fakten dargestellten Tatsachen geben ein eindeutiges Bild damali- ger Zustände. Durch die Eingliederung der Personalstände des KPABrZ, war das BKA bereits kurz nach seiner Gründung fest mit braunen Wurzeln verankert.

2.3 Paul Dickopf und seine Tätigkeit als Architekt des BKA

Im Zuge der weiteren Suche nach personellen Kontinuitäten fokussierte sich der Schwerpunkt dieser wissenschaftlichen Bearbeitung auf Paul Dickopf und sein un- mittelbares Wirken auf die Personalpolitik des BKA.

Aus den Akten des Bundesarchiv Koblenz konnte entnommen werden, dass Paul Dickopf am 15. Mai 1950 die Beförderung zum Kriminalkommissar erhielt und seinen Dienst im Bundesministerium des Innern antrat. Gleichzeitig wurde er dem für den Aufbau des BKA zuständigen Referat unter Leitung von Dr. Hagemann zugeteilt, welcher nach der Gründung des Kriminalinstituts die Position des ersten Amtsleiters einnahm. Dickopf selbst wurde daraufhin mit der personellen Besetzung der künfti- gen Bundesbehörde beauftragt.13

3. Das BKA als Versorgungsanstalt für Alt-Kriminalisten

Nach den gesichteten Personalakten waren für das BKA 161 Planstellen für Beamte vorgesehen. 57 Stellen wurden bereits durch den Personalstamm des KPABrZ abge- deckt. Weitere 31 Stellen waren für die künftige Sicherungsgruppe Bonn vorgese- hen. Die übrigen 73 Stellen konnten somit frei nach Wahl besetzt werden.14

Dickopf selbst war bemüht, möglichst viele Beamte in die Behörde einzugliedern, welche bereits einer polizeilichen Tätigkeit vor 1945 nachgingen. Im Bundesarchiv konnte unter seinen persönlichen Nachlässen ein Dokumentensatz gesichtet wer- den, indem insgesamt 140 Personen geführt wurden, welche nach Dickopfs Vorstel- lungen für eine Verwendung im BKA geeignet waren. Eine nähere Betrachtung der Bewerbervorschläge ergab, dass von den 140 Personen insgesamt 88 eine Parteizu- gehörigkeit zur NSDAP aufwiesen. Weitere zehn besaßen eine ehemalige Mitglied- schaft zur SA, 31 waren Angehörige der SS und 13 nahmen eine ehemalige Tätigkeit bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) wahr. Lediglich 42 Namen wiesen keinerlei belastbare Angaben auf. Aufgrund fehlender Aktenlage konnte jedoch bei dem Großteil der Namen nicht geprüft werden, inwiefern eine tatsächliche Beschäftigung

13 BArch Koblenz B 106/ Band 2.

14 Vgl. Mergen, Armand; Die BKA Story; S. 143.

Abbildung

Abb. 1: Entwicklung politisch motivierter Straftaten seit 2010 in M-V (Quelle: Eigene  Darstellung auf Grundlage der Statistiken zur PMK seit 2010, weitere Angaben siehe  Anlage 1)
Abb. 2: Entwicklung des Personenpotenzials politischer Extremismen in M-V (Quelle:
Abb.  3:  Netzwerk  von  Präventionsprogrammen  (Quelle:  eigene  Darstellung  auf  Grundlage von Internetquellen der  dargestellten  Programme,  genaue  Quellenan-gabe siehe Anlage 3)

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