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Historische Zeitschrift

herausgegeben von

Hei nri ch von S y b e l ,

o. o. Professor der Geschichte an der rheinischen F ried rich -W ilhelm s>U niversitat zu B o n n .

Dreizehnter Band.

München, 1865.

L i t e r a r i s c h - a r t i s t i s c h e A n s t a l t

der 3 . <8. totta’fdjrn 0nchha«dlllirg.

R eprinted w ith the perm ission of R. O ldenbourg V erlag

JOHN SO N REPRINT CORPORATION JOHNSON REPRINT COMPANY LTD.

111 Fifth Avenue, New York, N.Y. 10003 Berkeley Square House, London, W . 1

(2)

First reprinting, 1968, Johnson Reprint Corporation Printed in the United States of America

(3)

Z n k a l t .

Seite I. Z ur Literatur und Geschichte des englischen Selfgovernments.

Von E. v. N o o r d e n ... 1 II. Die Anfänge des Lehnwesens. Von G. W a itz . . . 90 III. Io h an de Witt. Von H e i n r i c h P e t e r . . . 112 IV. Briefwechsel der Königin M aria Antoinette. Von He i nr i c h

v o n S y b e l ... s . . 164 V. Nachtrag zur Uebersicht der historischen Literatur des

Jah res 1863.

27. Frankreich ... 179 28. Mittheilungen aus Z e itsc h rifte n ...245 VI. Uebersicht der historischen Literatur des Jahres 1864.

1. Weltgeschichte. Allgemeines ...249 2. Alte G e s c h ic h te ... 267 3 . ' Allgemeine Geschichte des Mittelalters . . . . 290 VII. Ueber Schutzbündnisse und Wehrkraft der Hanse im 13. und

14. Jahrhundert. Von W i l h e l m J u n g h a n s . . 309 VIII. Historische Erinnerungen aus Friaul und Dalmatien. Bon

E. v o n W i e t e r s h e i m ... 340 IX. Die Zerstörung Magdeburgs. Von R u d o l f U s i n g e r 378 X. Z ur orientalischen Frage. Gutachten im J u li 1854 S r .

Majestät König Friedrich Wilhelm IV vorgetragen von Leo- tz ol d v on R a nke ... 406 XI. Z u r neuesten Geschichte Italien s. Bon H. R e u c h l i n . 434 XII. Uebersicht der historischen Literatur des Jah res 1864. (Fort­

setzung.)

Nachtrag zu 3. Allgemeine Geschichte des M ittelalters . 443 4. Geschichte der neueren und neuesten Zeit . . . 454

5. . Deutsche G e s c h i c h t e . 475

(4)

IV In h a lt.

Seite 6. Deutsche Provinzialgeschichte.

1. Schwaben und der O berrhein . . . . 511

2. M i t t e l r h e i n ... 518

3. N i e d e r r h e i n ... 524

4. W e s t f a l e n ...531

5. Niedersachsen ...533

6. Preußen. (Allgemeines.) B randenburg . . 542

7. Pom m ern. D ie P rovinz Preußen. D ie russischen O s t s e e p r o v i n z e n ... 555

8- Obersachsen. Thüringen. Hessen . . . 561

9. F r a n k e n ... 568

10. B a y e r n ... 577

A n h a n g ... 580 B e i l a g e . P reisfragen der Fürstlich Iablonow ski'schen Gesellschaft für die

J a h re 1866, 1867, 1868-

B e i l a g e . Nachrichten von der historischen Commission bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Sechster Jah rg an g .

(5)

Zur Literatur und Geschichte des englischen Selfgovernments.

B on

C. v. Noorden.

Seitdem Robert M ohl in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften eine werthvolle Zusammenstellung und treffliche Beurtheilung der Literatur des englischen Staatsrechtes gegeben hat, sind zu den von M ohl verzeichneten Werken einige neuere Leistun­

gen auf diesem Gebiete von größerer und geringerer Bedeutung hinzu­

gekommen. Englische, deutsche und französische. Forschung hat sich gleicherweise in den lebten Ja h re n mit rühmlichem Eifer dieses G e­

genstandes bemächtigt.

Billigcrweise treten wir an jede neue derartige Erscheinung, mag sie nun ein System des gesammten englischen Staatsrechtes, mag sie die Erörterung über einzelne In stitu te der Verfassung und Verwaltung bringen, zunächst mit der F rage heran, in welchem Umfange und wie gründlich es dem Verfasser gelungen ist, den ans diesem Gebiete ein Jah rhu nd ert hindurch angesammelten Schutt von irrigen Voraussetzun­

gen, von schiefen Beurtheilungen und unwahren Folgerungen hinweg­

zuräumen. Eine solche Frage ist um so berechtigter, als über die we­

sentlichsten Grundzüge der englischen Verfassung bis in die neuere Z eit vorherrschende Urtheils- und Begriffsverwirrung, nicht allein für die Wissenschaft, sondern ebensosehr für das politische Leben in Frank­

reich und Deutschland wahrhaft verhängnisvoll geworden ist. Aller­

dings haben die Engländer selbst das meiste zu der Verwilderung bei-

Historische Zeitschrift. XIII. B a n d . j

(6)

getragen, welche sich in der systematischen Behandlung ihres StaatS- rechteS geltend gemacht hat. Aber das innere politische Leben Englands, der parlamentarische Parteikampf, die englische Gesetzgebung, ward wenn überhaupt doch nur in sehr geringem Maaße dadurch berührt.

Ganz anders', snußten die Einwirkungen mannigfacher Mißver­

ständnisse sich auf dem Kontinente fühlbar machen, wo man in be­

wundernder Würdigung der goldenen Früchte, welche dem englischen Volke an dem Wunderbaume seiner Verfassung gereift sind, mit stei­

gender Sehnsucht nach dem Besitze ähnlicher Hcsperidenäpfel aus­

schaute. Ohne den durchaus verschiedenen Verhältnissen Rechnung zu tragen, unter welchen sich die sogenannte glückliche Konstitution Englands und die Verfassungszustände der kontinentalen Staaten entwickelt hat­

ten, ohne sonderlich darauf zu achten, daß die parlamentarische Ver­

fassung Englands organisch unzertrennlich mit der Geschichte des englischen Volkes verwachsen, gefiel man sich in unseren Tagen wie vor zwei Menschenaltern in einer der äußern Erscheinung nach mög­

lichst naturgetreuen Nachahmung der englischen Verfassung. Als ob auf staatlichem Gebiete die mechanische Konstruktion zulässig sei, ar­

beitete man nach englischem Muster und verurtheilte den Kontinent schlechtweg zur Impotenz auf dem Gebiete politischer Schöpfungskraft.

Trotz wiederholt scheiternder Versuche ließen sich festländische Jm- portatoren nicht in der Hoffnung irre machen, von den auf dem Konti­

nente hierhin und dorthin verpflanzten Ablegern des englischen Ver­

fassungsbaumes die ersehnten Früchte englischer politischer Freiheit zu erzielen. Mochte ein so gewaltsames und unüberlegtes Verfahren schon an und für sich nicht vor dem Urtheile der politischen Wissenschaft bestehen können, so ward der Fall durch besondere Umstände noch außerordentlich verschlimmert. Zunächst dadurch, daß in sämmtlichen älteren Bearbeitungen des englischen Verfassungsrechtes falsche, den wirtlichen Sachverhalt nicht nur verdunkelnde, sondern schlechterdings negirende Theorien Platz gegriffen hatten. In Folge eines heute bei­

nahe unbegreiflich dünkenden Mißverständnisses hatte man diesen un­

wahren Theorien nicht allein auf dem Kontinente, sondern in England selbst Beifall geschenkt und wissenschaftlich darauf fortgebaut. Man befand sich also in Frankreich wie in Deutschland lange und oft genug in der wenig erfreulichen Lage, anstatt des vielbewunderten englischen

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VerfassungSrechteS, irrthümliche und zum Theile sinnlose Theorien über das englische Verfassungsrecht praktisch verwirklichen und bei uns einbürgern zu wollen. Und kaum ein weniger unglücklicher Umstand ist es nicht allein für die Bewunderer und Nachahmer der englischen Verfassung in der Constituante des Jahres 1789, sondern auch für neuere ähnliche Bestrebungen, sogar für streng wissenschaft­

liche und scharf denkende Männer geworden, daß man die eigentlichen Grundlagen der heutigen englischen Verfassung, Entstehung, Wesen und Bedeutung der englischen Communalverfassung und Verwaltung entweder nur unzureichend kannte oder sogar völlig mißverstand.

Wenn irgend ein gescheiter Kopf einmal die Geschichte der mensch­

lichen Irrthümer auf dem Gebiete der geistigen Erkenntniß schriebe, so würde dem 6. Capitel des 11. Buches von Montesquieus esprit

des lois, jenen Seiten, auf welchen der geistreiche Verfasser von der englischen Verfassung handelt, ein besonderer Abschnitt zuzuwenden sein.

Allerdings ist Montesquieus Lehre von der Gewaltentrennung nur die aus der Lockeschcn Vertragstheorie, aus den älteren schot- tisch-presbyterianischen Staatsphilosophen und den noch frühern jesui­

tischen Aposteln der Volkssouveränetät abgeleitete Consequenz, aber an Montesquieu unmittelbar knüpfen doch die englischen Staatsrechtsleh­

rer des vorigen Jahrhunderts an. Seine Schriften sind es, welche angesehene englische Schriftsteller noch heute als Beweismittel wieder­

holen und sogar ein neuerer deutscher Literar- und Culturhistorikcr schließt, nachdem er den Inhalt des berufenen sechsten Capitels ent­

wickelt hat, seine Untersuchung mit dem naiven Ausspruche „nie war der innerste Lebensnerv der englischen Verfassung scharfsichtiger erfaßt worden." *)

Es ist zur Genüge bekannt, wie Montesquieu, Blackstone und der weit mehr dem geistreichen Franzosen als dem schwerfälligen Englän­

der geistesverwandte Genfer Dclolmc in der scharfen Trennung, Be­

grenzung und gegenseitigen Controle der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt die Quelle der politischen Freiheit Englands und das Ideal einer freien Staatsvcrfassung überhaupt erblicken.

Dieser Theorie folgend ließ man in zahllosen späteren Bearbeitungen

1) Hettner, Geschichte der französischen Literatur S . 246.

(8)

des englischen Staatsrechtes die einzige parlamentarische Verfassung, welche wie Earl Grey bemerkt, sich bisher für eine beträchtliche Dancr zu erhalten vermochte, auf einer Basis gegenseitigen Mißtrauens, auf einer fortgesetzten Jsolirung der einander eifersüchtig bewachenden und beschränkenden Glieder der Staatsgewalt beruhen. Sollte man doch meinen, daß die Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, welche das Wesen des Staates weit genug verkannten, um neben der Bertrags­

theorie noch die unglückliche Lehre der Geroaltentheilung aufzustellen, nicht das damalige England mit seiner Parlamentsregierung, mit sei­

nen Ministerien der parlamentarischen Majorität, sondern einen der modernen konstitutionellen Staaten des Continents vor Augen gehabt hätten. I n diesen allerdings würden sie die wahre Theilung der Gewalten und die daraus folgende Zerrissenheit des Staatslebens verwirklicht finden. Der Theorie nach eine Volksvertretung, welche Gesetze macht, und ein Königthum, welches berufen und verpflichtet sein soll diese Gesetze auszuführen. I n Wirklichkeit aber ein Königthum, welches in der Beamtenhierarchie ein gegen die Privilegien der Volks­

vertretung schützendes Bollwerk erblickt, und welches um das Recht der persönlichen Regierungsgewalt unablässig mit den Ständen hadert.

Deßhalb Mißtrauen und Feindseligkeiten auf beiden Seiten, ein unaus- getragener Kampf zwischen souveräner gesetzgebender und souveräner vollziehender Gewalt, in welchem der Hader um das Gebiet der rich­

terlichen Gewalt, um die Befugniß oder Nichtbefugniß der Gerichte, ungesetzliche Verordnungen der vollziehenden Gewalt abzuweisen, nicht die unbedeutendste Rolle spielt. Der kontinentale Constitutionalismus, welcher nicht Parlamentarismus sein will und von einem Gleichge­

wichte der Gewalten fabelnd die souveraine Staatsgewalt arithmetisch vertheilen zu dürfen meint, stellt die von Blackstone und Delolme beliebte Zerreißung der Staatsgewalt in vollster Anschaulichkeit dar.

Montesquicus Mißverständniß der englischen Verfassung wird uns nicht allzusehr in Erstaunen setzen. Unbegreiflicher bleibt es trotz aller durch das System des Aristoteles bewirkten Befangenheit, trotz des reichlichen Anbaues, den man von philosophischer und von staats- männischer Seite der Vertragstheorie gerade in England zu Theil hatte werden lassen, unbegreiflich bleibt es trotz des Vorganges Mon- tcsquieus, daß ein so scharfsinniger und gelehrter Jurist, wie der engli-

(9)

sche Kronanwalt Blackstone, sich dazu herbeilassen konnte, den Gedan­

kenblitz des französischen Schriftstellers gleichsam wissenschaftlich zu legitimiren. E s ist lehrreich und wunderlich anzusehen, wie der treff­

liche englische Forscher in seinen weiteren Ausführungen sich windet, um nicht in Widerspruch mit seinen, Systeme zu gerathen, und doch zu ehrlich ist, um den Widerspruch zu verdecken. S o insbesondere in den historischen Einleitungen der einzelnen Capitel, welche über die Entstehung der Organe der Reichsregierung handeln. Gleichfalls wenn er von der Prärogative der Krone, von der gesetzlichen Befugniß des Privy Councils, von den Competenzen der beiden Häuser des P a rla ­ mentes redet. Im m erhin muß er die Prärogative der Krone als Quelle aller Ehren und Rechte im S taate in die M itte stellen, die Vereinigung gesetzgebender, vollziehender und richterlicher Gewalt in der Krone, im Privy Council und im Parlamente zugestehen. Wenn aus dem Werke von Blackstone selbst sich zum großen Theile die ver­

kehrte Grundanschauung des Verfassers berichtigen läßt, und letztere nur eine lästige Zugabe zu der sonst so trefflichen Arbeit ist, so war es einzelnen Nachtretern des englischen Rechtsgelehrten, vornehm­

lich dem Genfer Delolme, beinahe ausschließlich um Begründung und Ausführung der berufenen Theorien zu thun. M an kann sich nicht genug verwundern, wie ein in seinen positiven Angaben so dürftiges Machwerk sich nicht nur auf dem Continente, sondern auch in England einbürgern, bis zum heutigen Tage sich daselbst in größter Verehrung erhalten konnte.

Uni so mehr befremdet uns der Beifall, dessen sich M ontes- quieuö und Delolmes doctrinäre Sätze so lange Zeit hindurch in England erfreuten, als England seit Wilhelms I Tagen sich nicht nur mit Ausnahme kurzer Episoden im 13. und 17. Jahrhunderte factisch in stetigem Besitze einer starken einheitlichen Staatsgew alt befunden, son­

dern auch wissenschaftlich schon die correcte Auffassung von der untrenn­

baren Einheit der höchsten Staatsgew alt zur Geltung gebracht hatte.

D a s Uebergewicht, welches Franz Bacon der Krone innerhalb der englischen Verfassung gesichert wissen wollte, hat nichts mit dem später in der Oxforder Filmerschcn Schule auftauchenden Zerrbilde der poli­

tischen Ideen Bacons gemein. Dem philosophischen Forscher ist cs

nicht um die Form der Monarchie im Unterschiede von demokratischer

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oder oligarchischer Verfassungsform, noch weniger um ein sogenanntes göttliches Recht, wohl aber um Einheit und Stärke der Staatsgew alt im Gegensatze zu den gleichzeitigen schottischen Vertragstheoretikern zu thun. Eben dahin zielte Hobbes. I n jener vorsündsluthlichen unwider­

ruflichen Verzichtleistung zu Gunsten der absoluten Staatsgew alt, fin­

det sich der irrthümlichen Vertragstheorie »»erachtet doch im Unter­

schiede von dem spätern Lockeschen Standpunkte ein beträchtlicher Ansatz zu einer gesunden Auffassung vom Wesen des S taates enthalten. Unerbitt­

lich freilich gegen die aus der englischen Verfassung des 18. Jahrh un­

derts abgeleiteten falschen Theorien, würde Hobbes gegen die thatsäch­

liche parlamentarische Regierung zu Blackstones Zeiten von seinem Standpunkte aus kaum etwas einzuwenden gehabt haben, da er die Kraft und Einheit der Staatsgew alt durch dieselbe auf das nachdrück­

lichste gewahrt gefunden hätte. E r bekämpft nur im Einklänge mit der englischen Perfassungsgeschichte eine der Prärogative der Krone e n t g e g e n g e s e t z t e selbständige Autorität des Parlamentes. M it dieser Auffassung steht Hobbes nicht so vereinzelt, wie man gewöhnlich anzunehmen geneigt ist, zwischen Film ers Patriarchen und den E rör­

terungen Sidneys und Bockes. M an erinnere sich z. B . dessen, was M ohl über die Schrift eines Friedensrichters der Grafschaft Kent im 17. Jahrhunderte, des biedern S i r Roger Twysdens, bemerkt.

D aß ebenfalls dem 18. Jahrhunderte, den englische» Zeitgenossen M on- tesquieus und Blackstones die richtige und auf klarer Würdigung der thatsächlichen Verhältnisse beruhende Auffassung vom Wesen des S ta a ­ tes und von der Einheit der Staatsgew alt nicht völlig verloren gegan­

gen war, beweisen;. B . die politischen Essays des großen David Hume.

Die Lehre Montesquieus und Blackstones von der Trennung der Gewalten ist nun freilich wissenschaftlich schon längst und hoffent­

lich bald mich ebenso vollständig praktisch überwunden. Dagegen schleppt sich eine andere Phrase des gelehrten Commentators, die Verwirklichung der sogenannten gemischten Verfassungsforvi in der englischen Ver­

fassung, bis in unsere Tage fort. Wie bei der Trennung der Gewal­

ten Aristoteles, so scheint hier eine Sentenz aus Ciceros

de republica

die Veranlassung zum Irrthum e gegeben zu haben. Nachdem man

einmal in der englischen Verfassung ein Id ea l der freien Verfassung

entdeckt, mußte dieselbe auch in jeder Hinsicht den Idealen antiker

(11)

Staatsphilosophen entsprechen. M it Entzücken nahm das 18. J a h r ­ hundert, nahmen Politiker vom Fache in und außerhalb England die Versicherung auf, daß die Realisirung des antiken Id ea ls, die Her­

stellung der aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie zu gleichen Theilen gemischten Staatsverfassung auf der britischen In sel vor­

handen sei. M an kümmerte sich nicht darum, daß die Wirklichkeit der Theorie handgreiflich widersprach. M an berücksichtigte weder daß die englische Verfassung sowohl ihrem Bildungöprocesse wie ihrem gesetzlich staatsrechtlichen Bestände nach bis zum heutigen Tage eine streng monarchische ist, noch daß der P raxis nach sich die Regierung d. h. die Handhabung der souveränen einheitlichen Staatsgew alt aus­

schließlich im Besitze der Gentry, der alten Ritterschaft der Grafschaf­

ten befindet. M an übersah es der Theorie zu Liebe, daß die Rechte des Parlam entes in seinen beiden Häusern lediglich ein Ausfluß der königlichen Gewalt, daß die Peerie des Oberhauses schon im 16. J a h r ­ hunderte nur als eine Ehrenauszeichnung innerhalb der die Bänke des Unterhauses füllenden Gentry erscheint. M an hatte es jeden Tag vor Augen, und die Presse und öffentliche Meinung betonten eS scharf und bitter genug, daß das Unterhaus des 18. Jahrhunderts in seiner Zusammensetzung und Ernennung das vollkommene Gegentheil einer demokratischen Vertretung sei. ES hatte nicht einmal bei der Reform­

bill im entferntesten die Absicht vorgewaltet, eine Vertretung nach de­

mokratischem Prinzipe herzustellen, und doch sollte trotz alledem die Vortrefflichkeit der parlamentarischen englischen Regierung in der ans monarchischer, aristokratischer und demokratischer Gewalt gemischten Verfassungsform wurzeln. Roch heutigen Tages bildet diese aben­

teuerliche Voraussetzung die Unterlage des gesammten konstitutionellen Systems, welches uns Lord Brougham sowohl in seiner „politischen Philosophie" wie in seiner „britischen Verfassung" vorträgt. Leider zahlt auch hier der nach fester Gestaltung der politischen Zustände ringende Continent die Buße für diese irreleitende Doctrin. I n England ist niemals auf Grund einer politisch-philosophischen Doc­

trin, und mochte dieselbe sich eine noch so umfangreiche und begei­

sterte Propaganda verschafft haben, ein einziger Titel der Verfassung

geändert worden. Derartige speculative Experimente überließ man,

während die Verfassungsgeschichte des JnselreicheS in ihrer geschieht-

(12)

lichen Entwickelung nur dem unabweisbar drängenden praktischen B e­

dürfnisse Rechnung trug, dem philosophisch gebildeten Contincnte. H ier galt es, wenn cs um die Zusammensetzung der Kammern sich handelte, von den Eigenthümlichkeiten der bisherigen Entwickeluugszustände in den einzelnen Staatsindividnalitäten abzusehen und nach dem Recepte der gemischten Verfassungsform im Unterhause d as demokratische Ele­

ment, in den langen Geburtswehen der Oberhäuser das aristokratische Element auch bei dem völligen M angel aristokratischer Leistungen in den einzelnen S taaten zu Ehren zu bringen.

An die Lehre von der gemischten Berfassungsform knüpft sich leicht und beinahe von selbst die Doktrin der sogenannten „ c h e c k s a n d

balances“,

des Gleichgewichtes und der gegenseitigen Controle zwischen den an der Regierung beteiligten Gewalten, eine Theorie, welche die Einheit der S taatsg ew alt nicht weniger willkührlich zerreißt, wie die alte Blackstoneschc Trennung der S taatsg ew alt. W ie wenig eine solche D octrin der geschichtlichen Entwickelung der parlamentarischen Regie­

rung in England, der S tellung beider Häuser des P arlam ents unter einander, des P arlam ents zum Königthume entsprechen mag, und ob­

schon erst der moderne kontinentale ConstitutionalismuS diese Lehre auf G rund der äußern Erscheinungsform der englischen P arlam e n ts­

regierung ausgebildet und sein berufenes System vom konstitutionellen Gleichgewichte darauf gebaut hat, so ist diese krankhafte Frucht konti­

nentaler politischer Philosophie doch ebenso bereitwillig wie ehemals Delolmcs pathetische Deklamation von den Engländern aufgenommen und erweitert worden. Nicht allein gilt dieß von dem vorzugsweise nach französischem M uster gebildeten Lord Brougham . E s mag eini­

germaßen englische A utorität ihr Gewicht ausüben, wenn sogar ein vorurthcilsfrcicr deutscher Forscher Robert MoHl das Prinzip der

„checks and balances“

nicht sowohl

als

ein Resultat des Zweikam­

mersystems, sondern als einen der vornehmsten Gründe zu Gunsten der Zweitheilung des P arlam ents hervorhebt. M a n braucht zwar nicht mit S tu a r t M ill übereinzustimmen, wenn derselbe vom demokra­

tischen Standpunkte aus die Theorie des Gleichgewichtes als unrichtig

verwirft und die Tendenz des Königthums sowohl wie der Aristokratie

beständig gegen die volkstümliche Gew alt gerichtet sein läßt, aber ein

tieferer Blick in die Geschichte der englischen Gesetzgebung dürfte bald

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überzeugen, daß diejenigen Gesetze, ans welchen die politische Wohl­

fahrt und Freiheit Englands beruht, nicht unter dem Einflüsse solcher zwischen den Factoren der Gesetzgebung ausgespielten

„checks and balances“

zu Stande gekommen sind.

Trotz der in neuerer Zeit stattgefundenen wissenschaftlichen prin­

cipiellen Ueberwindung dieser sämmtlichen Irrthüm er lehren unS doch auch noch heutigen TageS nicht nur die Publicationen untergeordneter Journalisten, sondern gleicherweise Werke von wissenschaftlicher Gediegen­

heit und Gründlichkeit die Macht und Bedeutung schätzen, welche eine keck auftretende und gläubig angenommene Phrase auf dem Gebiete der politischen Dockrin behaupten kann. S o die neueste größere franzö­

sische Arbeit über englisches VerfassungS- und Verwaltungsrecht von Franqueville *). D er Verfasser, welcher vom Standpunkte deö ein­

sichtigen Kritikers französischer Zustände, französischer Beamtencentra­

lisation, französischen Vcrwaltungsrechtes u. s. w. in der erkennbaren Absicht, durch sein Werk die Selbsterkenntniß seiner Nation zu fördern, geschrieben hat, liefert uns so weit sein specieller Zweck eine Erschöpfung des Gegenstandes zuläßt, eine recht brauchbare Arbeit über die In s ti­

tutionen des vereinigten Königreiches. Höchst sonderbar nun wenn ein sonst unbefangener Kopf wie Franqueville an die Spitze seiner Abschnitte als Ausgangspunkte seiner Darstellung die einzelnen Sätze des berufenen Cap.

V I

des

esprit des leis

stellt, während die wei­

tere Ausführung doch den deutlichen Beweis von der Unrichtigkeit der Montesquieuschen Grundsätze liefert. Im m erhin ließe sich die Frage auswerfen, in welchem Umfange, dem Verfasser selbst vielleicht unbewußt, gerade die Hochachtung vor Montesquieus Sätzen Franque­

ville gehindert habe, zu einem einheitlichen Bilde des englischen Ver- fassungslebenS in S ta a t und Grafschaften zu gelangen.

Weit aus das beste Werk, welches in neuerer Zeit auf dem Ge­

biete des englischen Staatsrechts in England erschienen, ist das System des englischen Verfassungs- und Verwaltungsrechtes von Cox 2). Schon

1) Charles de Franqueville, Les institutions politiques, iudiciaires et administratives de l’Angleterre. Paris 1863.

2) Homcrsham Cox, The institutions of tho english government,

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eine frühere vor zehn Jahren erschienene, von M ohl rühmend her­

vorgehobene Arbeit ‘) desselben Verfassers zeichnete sich vor allen ähn­

lichen staatsrechtlichen Werken der Engländer durch seltene Vorzüge aus. G alt es dort schon die Präcision zu loben, mit welcher der Gelehrte die einzelnen Gegenstände allerdings in mehr essayistischer als systematisch entwickelnder Form behandelt, die scharfe Sonderung zwischen altangestammter königlicher Prärogative und der neueren P ra ­ xis sowohl, wie der neueren Gesetzgebung anzuerkennen, galt eS das tiefere Eindringen in den englischen BerwaltungSapparat, vor allem aber das unabhängige der Tagesmeinung oft trotzig widerstrebende Urtheil rühmend hervorzuheben, so wird man diesem neuen weitschichtig gelehrt und doch keineswegs trocken und ermüdend ausgearbeiteten System des englischen Staatsrechtes eine noch höhere Anerkennung zollen dürfen.

D a s Werk beruht auf umfangreichen gelehrten Arbeiten, de­

ren Resultate bündig, klar und präcis lins vorgeführt werden. D ie heute in England bestehenden Institutionen der Gesetzgebung, Justiz, Verwaltung, das gerichtliche Verfahren, die Concurrenz der Reichsge­

richte, der Mechanismus des englischen Staatshaushaltes, alles dieß ist mit einer solchen Klarheit und Anschaulichkeit dargestellt als ob der Verfasser bei seiner Ausarbeitung vorzugsweise den Ausländer, der sich unterrichten will, vor Augen gehabt hätte. D a s Werk von Cox besitzt alle nutzbaren Eigenschaften eines CompendiumS und ver­

schafft dem Leser doch den Genuß, welcher mit der Lectüre eines geschicht­

lichen Werkes verbunden ist. Denn der Verfasser würde seine Auf­

gabe sehr ungenügend zu erfüllen glauben, wenn er uns die englische Verfassung und Verwaltung nur in ihrer heutigen Erscheinung vor­

führte. E s kommt dem Verfasser darauf an, uns zu zeigen, wie jede einzelne Institution, wie Prärogative der Krone, Parlam ent, Ober- und Unterhaus, richterliche Gewalt u. s. w. sich durch geschichtliche Ent­

wickelung und Gesetzgebung aus ihrem ursprünglichen gewohnheits-

being an account of the Constitution, powers and procedure of its legis­

lative, iudicial and administrative departments. London 1863.

1) Homersham Cox, The british Commonwealth or a commentary on the institutions and principles of british government. London 1854.

(15)

rechtlichen Dasein zu ihrer jetzigen staatsrechtlichen Geltung herange­

bildet hat. Auf diese Weise gelingt es ihm in höherem Grade als einem seiner Vorgänger, uns das organische Wachsthum einerseits, den organischen Zusammenhang der englischen Verfassung und Ver­

waltung andererseits zu lebendiger Anschauung zu bringen. Indem er daS Verhältniß der einzelnen Functionen der Staatsgew alt zueinander untersucht und zum Zwecke der systematischen Behandlung von der Theilung der Staatssunctionen in Gesetzgebung, Justiz und V er­

waltung ausgeht, denkt er dabei doch an nichts weniger als an eine Trennung der einheitlichen Staatsgew alt im Sinne des vorigen J a h r ­ hunderts. E s ist nichts anderes als eine eigenthümliche Caprice, oder wie vorhin bemerkt, ein Beispiel von der Macht, welche eine einmal hergebrachte falsche Doctrin, auch nachdem sie wissenschaftlich überwun­

den ist, auf die Geister ausübt, wenn Cox sich auf Montesquieu, Delolme und Blackstone als Autoritäten zu Gunsten einer solchen systematischen Theilung der Staatssunctionen beruft. Einen Einfluß auf die Behandlung aber gestattet er Montesquieu und Blackstone nicht. I m Gegentheile läßt sich gerade von dem Coxschen Werke rühmen, daß es gründlich thätig und geschickt Hand anlegt, um den im englischen Staatsrechte angesammelten, noch von Lord Brougham wohlgefällig als Baumaterial benutzten Schutt hinwegzuräumen. Wie kritisch prüfend der Verfasser sich zu jener Irrleh re der älteren S ta a ts ­ gelehrten verhält, ergiebt sich sofort, wenn wir ihn sowohl Justiz wie Verwaltung als einen Ausfluß der vollziehenden Staatsgew alt bezeichnen hören, wenn er sich ausdrücklich gegen ein Princip verwahrt, welches die mit Ausübung der vollziehenden Gewalt betrauten P er­

sönlichkeiten von einer Theilnahme an der Gesetzgebung ausschließen möchte. Cox geht von dem Grundsätze aus, daß factisch und rechtlich die ganze Sum m e der Staatsgew alt in England in der Prärogative der Krone enthalten, daß dem Rechte nach noch heute gesetzgebende, richterliche und aministrative Gewalt in dem Geheimrathe der Königin vereinigt sei. Wenn er auf diese Weise entschieden gegen eine Tren­

nung der Gewalten, gegen die willkührliche Zerreißung der S taatsein­

heit ankämpft, wenn er das heutige englische Staatsrecht überhaupt

nicht auf dem einen oder anderen Systeme, sondern auf der historisch

fortschreitenden Gesetzgebung und auf Präcedenzfällen beruhen läßt-

(16)

betont er um so nachdrücklicher die scharfe Trennung der rechtlichen Competenz zwischen den einzelnen Functionen der einheitlichen Staats­

gewalt. In dieser durch die Gesetzgebung verbürgten scharf begrenzten Competenz der einzelnen Functionen der Staatsgewalt erkennt er nicht mit Unrecht die einzig zuverlässige Bürgschaft guter gesetzlicher Regie­

rung und politischer Freiheit. Wie ein rother Faden zieht sich durch sein Werk der leitende Gedanke, daß Sachen der Gesetzgebung nicht vor das Forum der Verwaltung gehören, daß die letztere nur Gesetze ausführen nicht interpretiren soll, daß ohne Gefahr das öffentliche Rechtsleben zu stören die Gesetzgebung sich nicht zugleich mit der Interpretation der Gesetze befassen könne. Aus diesem Standpunkte des Verfassers heraus erklärt sich seine polemische Stellung gegen die Befugniß des Unterhauses bei streitigen Wahlen das Verbiet zu fällen, gegen die umfangreiche England eigenthümliche Praxis der Privatbills und endlich gegen das gesammte System der jetzigen Parteiregierung.

Es ist hier nicht der Ort, näher auf die eigenthümliche und beachtungswerthe Stellung einzugehen, welche neuerdings Homersham Cox und mit ihm einige andere geistvolle Engländer, wie Anstey, Froude, D'Jsraeli, Urquhart, den Schäden der parlamentarischen Partei­

regierung gegenüber einnehmen. Nicht zu diesem Ziele, nicht zu der Erörte­

rung über die das neuere englische Staatswesen vielleicht mehr oder we­

niger zersetzenden Elemente und Richtungen sollten unsere einleitenden Betrachtungen über Irrthümer und Fortschritte auf dem Gebiete des englischen Staatsrechtes führen. Vielmehr sollten dieselben, und zwar insbesondere die Erinnerung an die mannigfachen aus einer oberfläch­

lichen und schiefen Beurtheilung der englischen Verfassung erwachsenen Irrthümer, uns eine Veranlassung bieten, an der Hand des zuverläs­

sigsten Führers zu einer Prüfung der realen Grundlagen zu schreiten, auf welchen die englische Verfassung des 18. und 19. Jahrhunderts sich in ihrer historischen Entwickelung auferbaut hat.

Das System der Gewaltentrennung nebst den daran sich haftenden weiteren falschen Theorien lst nicht das einzige, nicht einmal das größte Hinderniß gewesen, welches den Continent abhielt aus dem englischen Staatsleben Nutzen und Belehrung zu ziehen. Wichtiger als die rechtswissenschaftliche und staatswissenschaftliche Bekämpfung der ver­

schiedenen falschen staatsrechtlichen Doctrinen war für uns Kenntniß

(17)

und Verständniß der Grundlagen und Bedingungen des englischen Staatswesens, der Fundamente und Materialien, auf und aus welchen der Aufbau der heute bestehenden englischen Verfassung sich vollzogen hat, und zwar die möglichst genaue und detaillirte Kenntniß der einzel­

nen Maaße und Verhältnisse. Nur der sachliche Beweis vermochte unerbittlich alle theoretischen Gespenster und spcculativ doktrinären Jrrgeister zu bannen.

So ist es, und zwar zum Ruhme deutscher Wissenschaft, in der That gekommen. Wie in der Entwickelung der englischen Verfassung die scharfe Begrenzung der den einzelnen Staatsfunctionen zustehenden rechtlichen Competenz, wie parlamentarische Regierung und die frühe Unterdrückung einer englischen Verwaltungsjustiz nur ermöglicht ward durch die Entstehung und die gegenwärtige Gestaltung der Grafschafts­

verfassung, so zerstoben auch wie leichte Spreu und sogar ohne die M it­

hilfe englischer Kritik alle staatsrechtlichen Aftcrthcöricn des 18. und 19.

Jahrhunderts vor der das Selfgovernment der englischen Grafschafts­

verbände prüfenden deutschen Wissenschaft.

Die Arbeiten von Rudolf Gneist auf dem Gebiete des englischen Verfassungs- und Verwaltungsrechtes, denn welche andere kontinentale Leistung könnten wir hier im Auge haben, sind nicht nur eine glän­

zende wissenschaftliche, sie sind zugleich eine politische That. M it vollem Rechte schreibt Constantin Rößler'). „Wenn ein Schriftsteller heute die Ergebnisse seines Nachdenkens über preußische Verfassung vorlegen will, so ist es unmöglich, daß er nicht mit einem Dank und einer Rechenschaft beginne Uber das, was er einem gleichzeitigen Schriftsteller schuldet." Dieser Schriftsteller ist Rudolf Gneist. Was hier mit speciellem Vermerke der preußischen Verfassung gesagt ist, gilt von allen kontinentalen Verfassungen, gilt von der Beschäftigung mit politischen Fragen überhaupt. Wie aus den Mißverständnissen über das wahre Wesen der englischen Verfassung unselige praktische Folgen für Deutschland sowohl wie für Frankreich erwachsen sind, so wird ohne Zweifel, wenn erst die manchmal in ungeglättetcr Form vorgetragenen politischen Gedanken, Lehren und Beweise GneistS eine

1) Rößler, Studien zur Fortbildung der preußischen Verfassung. Ber­

lin 1863 —64. Einleitung.

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umfassendere Verbreitung gewonnen haben und durch die Bearbeitung verwandter Geister Gemeingut weiterer Kreise geworden sind, an die Ergründung der echten englischen Verfassung und ihres Lebensprincipes sich ein reicher politischer Segen für unsere in dieser Hinsicht so befähigte und so bedürftige Nation knüpfen. Von Gneist geführt, verlassen wir willig die Nachahmung des Unnachahmbaren und beschei­

den uns zuerst bei einer sorgfältig prüfenden Selbsterkenntniß. W ir Jüngeren wenigstens bekennen es gern und offen, daß wir, gänzlich abgesehen von der Bereicherung der wissenschaftlichen, nur einem enge­

ren Kreise zugänglichen Kenntniß englischer Berfassungsgeschichte und englischer Institutionen, von keinem Meister so viel für die Beurthei­

lung politischer Fragen gelernt haben, als von Gneist. Weit voll­

ständiger als von der sogenannten historischen Schule, die daS alte liebte, weil es alt und nicht weil es gut war, lernen wir von Gneist den wahrhaft konservativen, politisch-historischen Sinn, der das alte nicht zerstört ohne neues zu schaffen, der das neue aber nicht rück­

sichtslos nach staatsphilosophischen Doctrinen bildet, sondern dasselbe organisch aus denjenigen Elementen des alten, die noch zu lebendiger Entwickelung tauglich sind, sich entfalten läßt. M it seinen Untersu­

chungen hat Gneist einen ganz anders berechtigten und wuchtigen Ge­

gensatz der Theorie Stahls und des sogenannten Feudalismus ins Leben gerufen als in dem bisherigen unklaren und lediglich auf Auflö­

sung des Staates hinarbeitenden Liberalismus gegeben war *).

W ir müssen uns die eingehendere Würdigung dessen, was Gneist für die Entwickelung klarer und gesunder politischer Begriffe geleistet hat, versagen, es gilt hier die wissenschaftliche That seiner Arbeiten im Auge zu behalten, wie innig dieselbe immerhin mit der politischen ver­

wachsen sein mag. Nur um vollständiger den wissenschaftlichen Er­

werb Gneists würdigen zu können, wollen wir, ehe wir uns einge­

hender seiner Geschichte des Selfgovernments, der ersten Abtheilung der neuen Auflage der Communalverfassung, zuwenden, einen Blick

1) Vergl. Walcker Kritik der Parteien in Deutschland vom Stand­

punkte des Gneistschen englischen Verfassung«- und Verwaltungsrechts. Berlin 1865 S . 194.

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auf die bisherigen Urtheile des Continents über englisches Selfgo- vernmettt werfen').

W ir hören von Gneist die Darstellung der innern Verwaltung Englands vom Freiherrn von Vincke ans dem 1 . 1815 als die ein­

zige continentale Schrift bezeichnen, welche vor seinen eigenen Tagför­

derungen die innere Verwaltung Großbritanniens in ihrer Eigenthüm­

lichkeit, Verschiedenheit vom Continente und Bedeutung für die StaatS- verfassung zum Gegenstände eingehender und voraussetzungsloser Un­

tersuchung gemacht habe. Und zwar nicht allein im Vergleiche mit französischen und deutschen Untersuchungen, sondern ebenfalls in Parallele mit englischen Arbeiten auf demselben Gebiete behauptet Vincke seine ehrenvolle Stelle. Bis zum heutigen Tage entbehrt England eine erträgliche, von streng "wissenschaftlichem Standpunkte aus geschriebene zusammenfassende Geschichte sowohl wie Darstellung des Selfgovernments. Denn die mannigfachen Handbücher zum Ge­

brauche der Friedensrichter, Armenaufseher und anderer Grafschafts­

beamten, alphabetisch geordnete Register, oberflächliche Summarien »c.

wird man doch nicht unter die erträglichen Darstellungen rechnen.

Indeß ebenso wie England ohne Schaden für sein Verfassungsleben die falschen staatsphilosophischen Theorien vom Schotten Buchanan bis zu Montesquieu, und von Blackstones Commentar bis zu Lord BroughamS englischer Verfassung hinab ertragen konnte, ohne an sei­

ner Verfassung selbst Schaden zu leiden, so gilt dasselbe von der bis heute noch nicht überwundenen Unterschätznng der Grafschaftsverfas­

sung in ihrer Bedeutung für die Verfassung und Verwaltung des Gesammtstaats. Erst seit der jünger» Zeit beginnt die englische, von allen politischen Schriftstellern bis auf Earl Grey hinab getheilte Naivetät, in der Parlamentsverfassung die Wurzel der englischen Freiheit zu erblicken, für England selbst bedenkliche Früchte zu tragen.

Man dürfte der Ansicht sein, daß der gegen das Selfgovernment ge­

richtete Zug der neueren, nach continentalem Muster der Verwaltung umschauenden Gesetzgebung, dessen Wirkung auf die zukünftige Gestal-

1) Natürlich ist hier nur eine allgemeine Charakteristik der hervorste­

chendsten Beurtheilungen des englischen Selfgovernments und kein Literatur«

verzeichniß beabsichtigt.

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tung der englischen Verfassung sich noch nicht mit Zuverlässigkeit ab­

sehen läßt, neben anderen Ursachen zum großen Theile aus der Unkennt- niß der Engländer über die politische Bedeutung ihrer kommunalen Institutionen entspringt. Mag das Jnselreich den bis heute aus der Unterschätzung seiner kommunalen Institutionen entsprungenen Schaden immerhin noch glücklich verwinden können, in den wissenschaftlichen Be­

arbeitungen des britischen Staatsrechtes machen sich die Spuren dieser Unterschätzung allenthalben bemerkbar. Die großen Rechtscommentare von Blackstone und seinen Bearbeitern fertigen die Grafschaftsvcrwal- tung natürlich möglichst kurz unter der Rubrik der untergeordneten Aemter ab. Aber auch noch Lord Brougham in seinem Systeme der politischen Philosophie und in seiner historisch-philosophischen Darstellung der englischen Verfassung findet keine Stelle für die kommunale Ver­

fassung und Verwaltung. Cox in den beiden Abschnitten, welche von der strafrichterlichen Thätigkeit der Kreistage, von der summarischen PolizcigerichtSbarkeit der Friedensrichter und von der Localverwaltung handeln, hebt nicht im entferntesten die Bedeutung der kommunalen In sti­

tutionen für das Gesammtstaatsleben hervor. Die englische Literatur auf diesem Gebiete wird am besten durch die gelegentliche Bemerkung von Stuart M iß charakterisirt, daß England keine Arbeit über die kommunale Verwaltung besitze, welche sich mit dem umfangreichen auf Auftrag der belgischen Kammer ausgearbeiteten Bericht über locale Auflagen in England vergleichen lasse. Unter den neueren konti­

nentalen seit Gneist erschienenen Bearbeitungen schenkt vor allen Fischet t) dem Selfgovernment der Grafschaften die gebührende

1) Die Beurtheilung welche Fischels englische Berfassung im 10. Bande dieser Zeitschrift durch Reinhold Pauli erfahren hat, dürfte vielleicht unter dem Eindrücke des traurigen Endes, welches der talentvolle Verfasser gefunden, etwas zu glimpflich ausgefallen sein. Es kann nicht unsere Absicht sein, die Ver­

dienste, welche sich Fischel durch seine frische lebendige Darstellung erworben, zu schmälern. Nur zwingt gerade die große Anerkennung welche sich das in zweiter Auflage erschienene, ins Französische, Russische und sogar ins Englische übersetzte, allenthalben rühmend hervorgehobene Buch gewonnen, darauf auf­

merksam zu machen, daß wir es in dieser Verfassung Englands keineswegs mit einer gelehrten Arbeit, sondern mit einer nicht einmal mustergiltigen Com­

pilation zu thun haben. Ließe sich zum wenigsten versichern, daß wir in

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Z ur Literatur und Geschichte de« englischen Selfgovernment». 17

Beachtung, ohne indessen eine Reihe von Undeutlichkeiten und Unge­

nauigkeiten zu vermeiden, welche bei sorgfältiger Arbeit nach dem V or­

gänge des vorzugsweise benutzten Werkes von Gneist zu umgehen gewesen wären. Indeß gerade in dieser Hinsicht darf Fischet am wenigsten auf Eigenthümlichkeit Anspruch erheben. S eine Arbeit kann nicht maßgebend sein, wenn es sich darum handelt, die Frage zu ent­

scheiden, ob Gneist zuerst und einzig in Deutschland das Wesen des englischen Selfgovernment in seinem vollen Umfange verstanden und zur Anschaulichkeit gebracht hat *).

Fischel einen correcten handlichen Auszug aus Gneist vor u n s hätten, so könn­

ten w ir verzeihen, daß m an in weiteren Kreisen geneigt ist, über der leichten bequemen Lektüre Fischels das schwerfällig geschriebene Compendium G neists in den H intergrund zu stellen. Aber Fischels Blumenlese ist, wie schon der Recensent in dieser Zeitschrift bemerkt hat buntscheckig und capriciös. A ls Probe von Fischels Flüchtigkeit und als W arnu ng für diejenigen welche seine Verfassung E nglands als Nachschlagebuch benutzen möchten, möge hier n u r bemerkt sein, daß er bei Gelegenheit der Reform bill, die auch von diesem G e­

setze in Zukunft als Kern der Grafschaftswähler beibehaltenen 40 S . Freeholders auf den A ussterbe-Etat gesetzt sein läßt, anstatt zwischen Freehold durch E rb ­ schaft, H eirath, A usstattung, P fründen, Amt und dem durch Kauf nach der Reform bill erworbenen Freehold zu unterscheiden, auf welches letztere allein fich der neue Census von 10 L. S t . bezieht.

1) Unter den neueren Schriften, welche mehr oder weniger unm ittelbar an die Untersuchungen Gneists anlehnen, wird dem eigenthümlichen Wesen des englischen Selfgovernm ents und den darau s für continentale Verhältnisse an­

wendbaren Grundsätzen nur ein untergeordnetes Interesse geschenkt. Anstatt die in den Kreisen und Gemeinden vorhandenen Elemente des Selfgovernm ents zu prüfen und die von Glleist empfangenen Anregungen eingehender zu ver­

arbeiten, begnügt m an sich durchgehende, das principiell geforderte Selfgovern­

ment fü r die Erledigung weiterer politischer Fragen zu verwerthen. S o R ö ß l e r für die B ildung des Abgeordnetenhauses, W a l c k e r für die Lösung der deutschen Frage, H e l d (das constitutionelle P rin zip , Leipzig 1 8 6 4 .B d . 2) bei der Kritik der politischen Wahlsysteme. N u r C. F r a n t z hat in seiner

„Q uelle alles Uebels" (S tu ttg a rt 1863), ohne Gneist zu erwähnen, indeß doch unm ittelbar an Gneist anlehnend, sich in einer nicht ausreichenden Con- struction des deutsch-preußischen Selfgovernm ents versucht. D er sonst so schätzenswerthe für die V erbreitung gesunder politischer Begriffe so unermüdlich

Historische Zeitschrift. X III. B a n d . 2

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Vielleicht noch schlimmer als die Unkenntniß dürste das halbe Verständniß des englischen Selfgovernments, welches sich allmählich im Laufe der letzten Jahrzehente auf dem Continentc verbreitet hatte, zu betrachten sein. Bei der Beurtheilung politischer Verhältnisse wird halbe Kenntniß stets Mißverständnisse erzeugen. S o ist es wenigstens hier in umfassendem M aaße der Fall gewesen. D ie deutsche Ueber- setzung des englischen W ortes lautet Sclbstrcgierung. Wie verlockend klingt ein solches W ort in einer nach politischer Gestaltung, nach be­

rechtigter Erlösung vom Drucke abgelebter politischer Formen ringen­

den Zeit. D ie Parole „Sclbstregierung" und die Thatsache, daß diese Parole seit Jahrhunderten verwirklicht sei und das englische Volk sich glücklich dabei befinde, hielt man fest. Wie die Naturwissenschaft aus der fossilen Kinnlade den gesummten O rganism us eines vorsinflut- lichen Thieres, so construirte man aber mit geringerer Zulässigkeit der angewandten Methode aus abgerissenen und unverstandenen Brocken ein continentales P s e u d o s e l f g o v e r n m e n t , ober wie es mit fran­

zösischem Ausdrucke heißt, die kontinentale Deccntralisation. M an glaubte nach englischem Muster zu handeln, wenn man die einheitliche Gewalt des S taates, wenn man den S ta a t selbst in möglichst zahl­

reiche locale Verbände zerlegte, diesen nicht eine Sclbstthätigkeit im Dienste und Auftrage der souveränen Staatsgew alt, sondern die in unendlich viele Particcl zerschnittene souveräne Staatsgew alt selbst zuertheilte, wenn man jeder Gruppe von Individuen, wo möglich jedem Kreise der gesellschaftlichen Interessen eine unbeschränkte Au-

wirkende und keineswegs nach Verdienst anerkannte Verfasser läßt, uns völlig darüber im dunkeln, welche Elemente zu den Mitgliedern der Kreiscorpora- tionen herangezogen werden sollen, welche Pflichten er den einzelnen M itglie­

dern zugetheilt wissen will. Ueberhaupt ist es zu bedauern, daß C. Frantz bei dieser Gelegenheit nicht tiefer auf da« Verhältniß von Pflichten und Rechten, welches die Grundlage des englischen Selfgovernm ents bildet, eingegangen ist.

Eine speciellere Berücksichtigung dürste noch die von einem früheren preußischen Verwaltungsbeamten in P i c k s o r d S M o n a t s s c h r i f t 1858 erschienene Ab­

handlung „über das Selfgovernment in England und Preußen" verdienen.

Diese ebenfalls unmittelbar durch Gneists Arbeiten hervorgerufene Untersu­

chung ist namentlich in ihrer Kritik der bestehenden preußischen Kreis-, Städte- und Gemeindeordnung beachtungSwerth.

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tonomie zuerkannte '). Man verwechselte locale Autonomie mit Selbstthätigkeit der localen Verbände im Dienste des Staates, decen- tralisirte Volkssouveränität mit Selbstverwaltung der eigenen Angele­

genheiten in den Schranken der einheitlichen Staatsgesetzgebung, Frei­

heit von Staatslasten mit der Uebernahme derselben durch locale Ver­

bände. Das Ideal des Pseudoselfgovernments ist, wie Gneist es rich­

tig ausführt, die Verwandlung des Staates in Gruppen von Wäh­

lerschaften mit pyramidal von der untersten Basis der Ortsgemcinden bis zur höchsten Spitze sich aufschichtenden gewählten Justiz, Polizei und Verwaltungsbeamtcn. Die Wahl der beamteten Vertrauensmän­

ner erfolgt auf Grund der Majoritäten in der Ortsgemcinde, im Kreise, in der Provinz und so weiter fort. Direkter Gegensatz freilich von organisch staatlicher Gliederung, aber als echtes Conterfei der moder­

nen Aktiengesellschaft, der vagen Sehnsucht des üblichen Liberalismus wundersam entsprechend. Jede Majorität in ihrem Kreise autonom, in jedem Kreise nach mittelalterlichem Vorbilde ein eigenes naturwüch­

siges Recht und schließlich über allen gipfelnd zugleich als höchster Aus­

fluß und als letztes Correctiv der autonomen Volkssouveränetät ein M i­

nisterium mit arbiträrer Handhabung einer kräftigen Verwaltungs­

justiz, wie solche sich nun einmal zur Controle von gewählten Ver- trauensbeamtcn der Majorität nicht entbehren läßt. Das sind, oder hoffen wir vielmehr, das waren die Utopien des aus dem Mißver­

ständnisse des englischen Ausdruckes erzeugten Selfgovernments.

Ernster eindringender als es vor Gneist in Deutschland und Frank­

ls Auch M o h l in seiner Enkyklopädie der StaatSwisseuschaften nennt ungefähr gleichzeitig mit Gneist« Untersuchungen, Selfgovernment noch S . 245 eine „freiwillige Vereinigung und außerstaatliche Organisation der Ein­

zelkräfte ," und Wünscht S . 248 zur Besorgung der steigenden finanziellen Forderungen der Staatsverwaltung „die eigene Besorgung gemeinschaftlicher Angelegenheiten durch wohl organisirte Privatkraft" also Voluntarismus.

Esch er in seinem Handbuche der praktischen Politik, Leipzig 1863 und 64 verwechselt 1 17 Selfgovernment mit der aus Autonomie gerichteten Forderung der Gesellschaft, eignet der Manchesterschule, dem ärgsten Feinde des echten Selfgo­

vernments in England, eine auf Selfgovernment gerichtete Tendenz zu und über­

setzt I 351 Selfgovernment geradezu mit Autonomie. M an erkennt, welches Unheil ein mißverstandener Ausdruck noch in unseren Tagen stiften kann.

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reich geschehen, hat im Gegensatze zu Centralisation und Bureaukratie AlcxiS de Tocqueville, der edle Verfasser deS „ a n c ie n r6 g im c “ die Bedeutung des englischen Selfgovernments und seine Anwendbarkeit auf dem Continente zu ergründen gesucht. Aber obwohl er ganz sach­

gemäß das Elend Frankreichs im vorigen Jahrhunderte aus einer das reale Verhältniß der Leistungen für den S ta a t schlechterdings negi- rcndcn Gliederung der S tän d e und dem daraus entspringenden Classcn- haß hervorgehen läßt, und mit scharfer Ruthe die fortschreitende M acht der Administrativjustiz und die Exemtion der Verwaltung von der Eon- trolc des öffentlichen Rechtes geißelt, so ist ihm doch das innerste Wesen der englischen Selbstregierung verborgen geblieben. D ie von ihm erstrebte Dcccntralisation bleibt doch, wie sehr er das Heil Frank­

reichs davon erwarten mochte, eine äußerliche. W enn es sich um die Frage handelt, warum Frankreich nach der Revolution, nachdem ein großer Theil der alten Schäden hinweggeräumt, keine lebensfähigen kommunalen Institutionen entstehen sah, so trifft seine Antwort, daß man anstatt der politischen Freiheit und ihren Bedingungen dem fal­

schen Id e a l der socialen Gleichheit nachgestrebt habe, den Kern der Sache nicht. E r verlegt den Schwerpunkt allzusehr in die Decentra- lisation der von der centralen S taatsg ew alt ohne Verkümmerung des S ta a te s nicht abzulösenden Functionen, viel zu sehr in die Verthei- lung politischer Rechte anstatt in die zweckmäßige Vertheilung der S taatslastcn. Diese Irrth ü m e r Tvcqucvillcs und seiner Schule über das eigentliche Wesen des englischen Selfgovernments, Irrth ü m er, welche natürlich bei der Rückanwendung auf contincntale Verhältnisse sich doppelt fühlbar machen mußten, verliehen den geistreichen Entgegnun­

gen D u po nt-W hitcs') eine so schneidige Schärfe und einen solchen Schein von überzeugender W ahrheit. E s ist ebenfalls nicht das wirk­

liche Wesen der kommunalen Institutionen Englands, welches Dupout- W hitc mit so vielem Glücke bekämpft. D er Riese, gegen welchen er mit glänzender Waffe sicht, ist ein Phantasicgcbilde, allerdings durch die Mißverständnisse der englischen Schule in Frankreich erzeugt. M it

1) Dupont-White, radministration locale en Angleterre et en France.

Revue des deux mondes 1862 15 Mars, 15 Aout, 1 Decembre, 1863 1 Fevrier, 1 Mai.

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Interesse folgen w ir den besonnenen E rörterungen'und Erwägungen eines M annes, welcher in vereinzeltem Widerstände gegen den S tro m der öffentlichen M einung, gegen das gerade von den ernster denkenden M ännern in Frankreich erhobene Feldgeschrei „Decentralisation" an­

kämpft. D ie positive S eite seiner Behauptungen ist vortrefflich, so der Nachweis über die Bedürftigkeit der lateinischen Race nach einer starken allgegenwärtigen Staatspolizeigew alt, über das Verlangen des französischen Volkes stark und viel regiert zu werden. Treffend charak- terisirt er den völligen Bruch der Franzosen m it der Vergangenheit als nationale Eigenthümlichkeit und bezeugt die Bereitwilligkeit Frank­

reichs, angesichts eines guten Verwaltungsmechanismus den schlechten Geist der Verfassung zu verschmerzen. M ag es bedenklich klingen, wenn er politische Rechte als Geburtseigenthum jedes S taatsb ü rg ers ohne Rücksicht auf seine Leistungen für den S ta a t in Anspruch nimmt, wir stimmen ihm bei, wenn er die Franzosen sich nicht m it der poli­

tischen und schiedsrichterlichen Einmischung der Regierung begnügen, sondern auch die bevormundende Verwaltung in Communalangelegcn- heiten verlangen läßt. W ir dürfen unbedingt allem beipflichten, w as Dupont-W hite zu Gunsten einer starken S taatsg ew alt geltend macht, wenn er in dieser einen Schutz der Freiheit erblickt, wenn er anderer­

seits Communen mit gewählten Beamten diesen Schutz nicht gewähren

läßt und in der Autonomie communaler Verbände über den Kreis

ihrer ökonomischen Angelegenheiten hinaus eine Zersetzung des S ta a ts ­

lebens erblickt. S o weit ist alles richtig, wir schätzen den Verfasser

wegen der Besonnenheit und Selbständigkeit seines Urtheils. Könnten

wir uns nur der Ueberzeugung versichern, daß er b o n a fide handelt,

wenn er den polemischen Theil seiner Abhandlung nicht sowohl gegen

das wirkliche Selfgovernment Englands, sondern gegen eine Fiction

desselben richtet. Einzelne M omente, welche D upont-W hite als einen

sehr trefflichen Kenner der englischen Grafschaftsvcrwaltnng zeigen,

lassen die Vermuthung auftauchen, daß er nicht ohne Absicht diese

Fiction anstatt der wirklichen Gestalt gewählt, um unter der Hülle des

bekämpften Nebclgebildes die verwundbaren Stellen seiner Gegner ans

der englischen Schule desto sicherer zu treffen. D enn die Institutionen

des Pseudoselfgovernments sind ein Conglomcrat, zusammengeschweißt

aus den neuesten gesellschaftlichen Anschauungen vom S ta a te und aus

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mittelalterlichen Reminiscenzen. Gegen dieses hebt sich allerdings der M echanismus der französischen Verwaltung vortheilhaft ab. W enn man mißverstehend das Wesen des englischen Selfgovernments m it Tocqueville und seinem Gegner in die A u t o n o m i e der Kreisver­

bände verlegt, so möchten sämmtliche Ausstellungen D upont-W hiteS gerechtfertigt erscheinen. Aber dieß eben ist die Fiction des Verfassers und die gesaminte Polemik, welche sich hier anknüpft, trifft nicht engli­

sche Verhältnisse, sondern die englische Schule in Frankreich, dasP seu - doselfgovernnicnt auf dem Continente.

S o begegnen uns also Mißverständnisse und Irrth ü m e r über Wesen der kommunalen Institutionen Englands und über ihre Bedeu­

tung für Gesammtverfassung und politisches Leben sogar in den E rö r­

terungen derjenigen M änner, welche die englische Grafschaftsverwaltung mit Rücksicht auf kontinentale Anwendung ihrer Grundsätze zum G e­

genstände eines gewissenhaften S tud iu m s gemacht haben. E s ist wohl unverkennbar, daß nur der M angel klarer Erkenntniß über die geschicht­

liche Entwickelung des Selfgovernments und seines innigen Zusam ­ menhanges mit der Entwickelung der englischen Verfassung selbst gewissenhafte Forscher zu Mißverständnissen verleiten konnte. Eben deßhalb aber muß man die Erweiterung und Ergänzung, welche Gneist seiner älteren Geschichte der Aemter in England durch eine neuerdings erschienene Geschichte der Communalverfassung gegeben hat, mit so besonderer Freude und Dankbarkeit begrüßen. In d em Gneist damit einerseits einem wissenschaftlichen Bedürfnisse nicht allein des Conti- nents, sondern auch Englands genügte, läßt sich andererseits wohl mit vollem Rechte behaupten, daß durch die Einsicht in die allgemeinen geschichtlichen Verhältnisse, in die bewegenden und hemmenden Kräfte, in die leitenden Principien, welche in diesem und jenem Jahrhunderte zur Anwendung kamen, uns in praktischer Hinsicht eine größere F ö r­

derung erwächst, als durch eine noch so gründliche D arlegung der gegenwärtig in England bestehenden communalen Institutionen. I n ­ dem man sich den Entstehungsproceß fremdartiger politischer Einrich­

tungen vergegenwärtigt, wird man am glücklichsten von irrigen V or­

stellungen über dieselben zurückkommen, sich am sichersten über die

Bedingungen vergewissern, unter welchen solche Institutionen entstehen

können, man wird endlich das zutreffendste Urtheil über die größere

(27)

oder geringere Anwendbarkeit der Grundsätze des englischen Selfgo- vernments in unseren Verhältnissen gewinnen. Verfolgen wir deßhalb, um den Beweis zu führen, daß die heutige Verfassung Englands sowohl, wie die englische politische Freiheit in der Geschichte und dem Wesen der Communalverfassung und Verwaltung wurzelt, in 'kurzen Zügen an der Hand von Gneist die Entwickelung des englischen Selfgovern­

ments in seinem Zusammenhange mit der Geschichte der S taatsver­

fassung und in seiner Bedeutung für das Staatsleben Großbritanniens.

Montesquieu läßt, und noch Franqueville wiederholt eS gläubig, die englische Freiheit in den altgermanischen Wäldern zur Zeit des Tacitus wurzeln. Noch vor wenigen Jahrzehnten, ehe die kritische Wissenschaft ihre sichtenden Operationen begonnen, erhob sich kaum ein leiser Widerspruch gegen die Ansicht, daß diejenigen Grundsätze der heutigen englischen S ta a ts- und Grafschaftsverfassung, in welchem die politische Freiheit des Jnselreiches vorzugsweise ihren Ausdruck sowie ihre Garantie findet, dem altgermanisch-angelsächsischen S taate ihren Ursprung verdanken sollten. D er allgemeinen Auffassung nach worb im Grundgesetze vom I . 1215 lediglich die alte angelsächsische Freiheit und Verfassung aufs neue bestätigt. Diese Ansicht ist seit einiger Zeit durch die eindringenden geschichtlichen und rechtsgeschichtlichen Unter­

suchungen gänzlich unhaltbar geworden. M an muß es einzelnen Un­

verbesserlichen überlassen, im Geschwornengerichte ein angelsächsisches Rechtsinstitut, im Parlamente die Fortsetzung des angelsächsischen Reichstages zu erkennen. Bei derartigen, den unläugbaren Resultaten der wissenschaftlichen Forschung entgegen vorgetragenen Behauptungen, pflegt gewöhnlich religiöse, politische oder sociale Parteitendenz im Spiele zu sein. S o überbietet Chisholme Anstey, ein eifriger Anwalt für eine nicht einmal durch die normannische Eroberung merklich unter­

brochene Continnität der angelsächsischen Rechts- und Verfassungszu­

stände, sogar den Verfasser des Patriarchen an excentrischer Leiden­

schaftlichkeit gegen die im Laufe der Jahrhunderte erweiterten Privilegien

und gegen die überwältigend um sich greifende Autorität des Parlamentes,

weil in den Annalen der Parlamentsgeschichte nicht allein so manche

Beschränkungen der willkürlichen Macht des persönlichen Königthums,

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sondern auch, und dieß liegt dem Verfasser zunächst am Herzen, der hierarchischen Allgewalt R om s verzeichnet stehen. Ein anderer S ta n d ­ punkt als der hierarchisch-katholisch gefärbte Ansteysche ist derjenige des ehemaligen großdeutschen Demokraten Lothar Buchers in seinem Werke

„der P arlam entarism us wie er ist". E s fehlt daselbst nicht an allzu wahren beißenden Bemerkungen, welche die schwachen Seiten der P a r ­ teiregierung wie die socialen M ißstände Englands m it vernichtender Schärfe treffen. I n seiner Gesammtheit aber ist das Buch eine von H aß erfüllte Schmähschrift gegen die seit Jahrhunderten in den G ra f­

schaften wie im Parlam ente befestigte Regierung der G entry. Trotz der wissenschaftlichen Zustutzung, trotz der geschichtlichen Studien, welche der Verfasser gemacht haben mag, kann Buchers P arlam entarism us deßhalb auf eine wissenschaftliche Bedeutung keinen Anspruch machen.

Z u deutlich tritt die Tendenz hervor, wenn er die angelsächsischen Z u ­ stände aller historischen W ahrheit zum Trotze mit einem Glorienscheine umkleidet, dieselben durch die normannische Eroberung nur unwesentlich berührt werden läßt, um den Beweis zu führen, daß seit der fortschrei­

tenden Bedeutung des Parlam entes, das heißt seit der Regierung der Gentry sich die Regierung Englands fortschreitend verschlechtert habe.

Z u diesem Zwecke muß die angelsächsische Verfassung schon das M a ­ terial zu willkührlichen Hypothesen bieten. D ie angelsächsische G ra f­

schaftsversammlung muß die Befugniß gesetzgeberischer Autonomie empfangen, um den Beweis zu stützen, daß ein Bruch des natürlichen Verhältnisses zwischen den Bedürfnissen der Gesellschaft und dem Ge­

setze eintritt, sobald M andatare des Volkes die Befugniß der Gesetz­

gebung empfangen. E s gilt zu behaupten, daß durch Usurpation des Adels die altherkömmliche unter den ersten Normannenkönigen geübte Berufung der S täd te und Grafschaften außer Uebung gekommen.

Aussprüche B ractons und Fortescues werden als Beweise für die angelsächsische Verfassung citirt! S o g a r die

common law

wird als ausschließlich angelsächsisches Recht in Beschlag genommen, um zu zei­

gen, daß das Parlam ent seit Eduard I- principiell und durchgängig den Kampf gegen das gemeine Recht aufgenommen. D erartige absicht­

liche Entstellungen verdienen keine Berücksichtigung von Seiten der

wissenschaftlichen Forschung und es ist auffallend, daß Gneist den

Dithyram ben Anstehs über die angelsächsischen Verfassungszustände in

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