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Erfolg in der Sozialen Arbeit

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Erfolg in der Sozialen Arbeit

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Michael Boecker

Erfolg in der Sozialen Arbeit

Im Spannungsfeld mikropolitischer

Interessenkonfl ikte

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Michael Boecker Hagen, Deutschland

ISBN 978-3-658-07346-6 ISBN 978-3-658-07347-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-07347-3

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Die vorliegende Arbeit wurde an der Fakultät Erziehungswissenschaft und Soziologie der Technischen Universität Dortmund als Dissertation angenommen.

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Inhalt

Abbildungsverzeichnis ... 9

Einleitung ... 11

1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit ... 17

1.1 Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ... 18

1.2 Sozialpolitische Entwicklungslinien in der Bundesrepublik Deutschland ... 20

1.3 Soziale Gerechtigkeit ... 28

1.4 Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität ... 33

1.5 Das bundesdeutsche System sozialer Dienstleistungserbringung ... 40

1.5.1 Sozialbudget, Einfluss- und Leistungswege in der Sozialpolitik ... 40

1.5.2 Das sozialrechtliche Dreieckverhältnis ... 48

1.6 Soziale Organisationen zwischen Staat, Markt und Gesellschaft ... 53

1.7 Fazit und Schlussfolgerungen ... 58

2 Mikropolitische Aspekte Sozialer Arbeit ... 59

2.1 Der Paradigmenwechsel in der Organisationstheorie ... 60

2.2 Mikropolitische Theorie – Standortbestimmung und konzeptionelle Rahmungen ... 66

2.2.1 Macht, Spiele und Strategien ... 74

2.2.2 Organisation und Umwelt ... 79

2.2.3 Unsicherheitsbewältigung und Rationalität ... 83

2.2.4 Handlung und Struktur ... 87

2.3 Exkurs: Organisation und Moral ... 89

2.4 Fazit und Schlussfolgerungen ... 93

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6 Inhalt

3 Die Transformation der Wohlfahrtsproduktion in Deutschland ... 97

3.1 Rahmenbedingungen und neue Herausforderungen für die Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik Deutschland ... 99

3.1.1 Die Entgrenzung des traditionellen Wohlfahrtskorporatismus ... 105

3.1.2 Veränderungen in der Sozialgesetzgebung und im Leistungsrecht ... 110

3.1.3 Die neue Kundensouveränität selbstbestimmter Akteure ... 115

3.2 Soziale Arbeit im Spannungsfeld erfolgreicher, effektiver und effizienter Leistungserbringung... 118

3.3 Sozietale Aushandlungssysteme als Folge der Komplexität gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion ... 124

3.4 Fazit und Schlussfolgerungen ... 128

4 Untersuchungsdesign: Stand der Forschung, Untersuchungsfeld, Forschungsfragen, Hypothesen und Methoden ... 131

4.1 Wirkungs- und Erfolgsforschung in der Sozialen Arbeit ... 131

4.2 Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ... 139

4.2.1 Sozialrechtliche und historische Grundlagen ... 139

4.2.2 Spannungsfelder und Diskurse ... 158

4.2.3 Zusammenfassung ... 162

4.3 Hypothesen und forschungsleitende Fragestellungen ... 164

4.4 Design und Erhebungstechniken der empirischen Untersuchung ... 165

5 Empirische Untersuchungen ... 173

5.1 Standpunkte, Definitionen, Fremdeinschätzungen ... 173

5.1.1 Wesentliche Aufgaben der Eingliederungshilfe ... 174

5.1.2 Erfolgsdefinitionen und Erfolgskontrolle ... 175

5.1.3 Favorisierte Finanzierungsarten ... 178

5.1.4 Auswirkungen der Ökonomisierung ... 180

5.2 Mikropolitische Arenen der Aushandlung ... 185

5.2.1 Eigene Rolle(-n) und Auftrag ... 185

5.2.2 Spannungsfelder der Eingliederungshilfe ... 186

5.2.3 Strategien, Macht und Einfluss ... 191

5.3 Spannungsfelder und Unsicherheitszonen Sozialer Arbeit ... 194

5.3.1 Sozialpolitischer Anspruch versus Realisierbarkeit ... 195

5.3.2 Interessen der Leistungserbringer versus Ombudstätigkeit .... 196

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Inhalt 7 5.3.3 Effektivität versus Effizienz; Messbarkeit von Effektivität

versus „diffuser Beziehungsdimensionen“ ... 198

5.3.4 Partizipation von Nutzerinnen und Nutzern versus Abhängigkeit ... 200

5.3.5 Beziehungsqualität und Fürsorgeprinzip versus „Neue Professionalität“ ... 202

5.3.6 Konkurrenz der Anbieter versus kooperativer Hilfeplan ... 204

5.3.7 Profession – Auftrag – Doppeltes Mandat? ... 206

5.4 Fazit und Schlussfolgerungen ... 209

6 Diskussion der theoretischen und empirischen Ergebnisse ... 211

6.1 Die Erfolgsfrage – Soziale Arbeit im Spannungsfeld interessengeleiteter Akteure ... 211

6.2 Zur Ökonomisierung und Mikropolitisierung Sozialer Arbeit ... 214

6.3 Zur Rekursivität erfolgreicher und effektiver Aushandlungssysteme ... 216

6.4 Zur Macht sozietaler Akteure ... 218

6.5 Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing – oder die Zerrissenheit der Profession Sozialer Arbeit? ... 221

7 Professionstheoretische, sozialpolitische und gesellschaftspolitische Implikationen – Forschungsperspektiven ... 225

7.1 Professionstheoretische Implikationen ... 225

7.2 Sozialpolitische Implikationen ... 228

7.3 Gesellschaftspolitische Implikationen ... 230

7.4 Forschungsperspektiven ... 232

8 Resümee ... 239

Literaturverzeichnis: ... 243

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1.1: Sozialbudget 2012: Leistungen nach Institutionen ... 41

Abbildung 1.2: Pluralistische Demokratie und totalitäres System ... 43

Abbildung 1.3: Einfluss- und Leistungswege in der Sozialpolitik ... 45

Abbildung 1.4: Das sozialrechtliche Dreieckverhältnis ... 49

Abbildung 1.5: Erwartungen an Leistungen der Sozialen Arbeit ... 55

Abbildung 2.1: Erkenntnisinteressen der Mikropolitik-Ansätze ... 72

Abbildung 2.2: Vergleich von Einflusstaktiken ... 78

Abbildung 2.3: Direkte und indirekte Einflüsse auf die Organisationsstruktur ... 81

Abbildung 2.4: Organisationale Antagonismen ... 85

Abbildung 2.5: Individuum und Gesellschaft: Strukturation und Vermittlung ... 91

Abbildung 3.1: Qualitätsdefinitionen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit ... 121

Abbildung 3.2: Input – Output – Outcome ... 122

Abbildung 3.3: Die Funktionsweise sozietaler Systeme ... 125

Abbildung 4.1: Das Wirkungsmodell ... 137

Abbildung 4.2: Entwicklung ambulante und stationäre Wohnhilfen für Menschen mit psychischen Behinderungen in Westfalen-Lippe ... 156

Abbildung 4.3: Kosten- und Fallzahlentwicklung der wohnbezogenen Hilfen in Westfalen-Lippe ... 157

Abbildung 4.4: Theoretisches Sampling ... 168

Abbildung 4.5: Interviewpartner/-innen und Strukturmerkmale ... 170

Abbildung 4.6: Struktur Leitfaden ... 171

Abbildung 5.1: Erfolgsdefinitionen in der Fremdwahrnehmung ... 177

Abbildung 5.2: Spannungsfelder Eingliederungshilfe ... 187

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Einleitung

„Erfolg in der Sozialen Arbeit im Spannungsfeld mikropolitischer Interessenkon- flikte.“ Dieser Titel impliziert verschiedene Fragestellungen. Was kann unter Er- folg in der Sozialen Arbeit verstanden werden, oder wie sieht gegebenenfalls er- folgreiche Soziale Arbeit aus? Welche Spannungsfelder sind gemeint, wenn makro- und mikropolitische Interessenkonflikte angesprochen werden und wer sind die handelnden Akteure oder Interessenvertreter?

Die fachpolitische Debatte der letzten 30 Jahre war geprägt von einer inten- siven Auseinandersetzung mit den gravierenden Veränderungen im Bereich der Wohlfahrtsproduktion. Neue Legitimationsanforderungen an die Träger der frei- en Wohlfahrtspflege, einhergehend mit enormen sozialpolitischen Veränderun- gen, provozierten eine Fülle unterschiedlicher und zum Teil kontroverser fach- politischer Beiträge und führten zu einer Ökonomisierung Sozialer Arbeit. Be- grifflichkeiten wie Qualitätsmanagement, Effektivität und Effizienz sozialer Dienstleistungen, Input-Output-Relationen (Produktivität), Benchmarking präg- ten und prägen die Debatte im Kontext alter und neuer Ordnungssysteme der So- zialwirtschaft und führten zu einer Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen.

Schwerpunkt der fachpolitischen Debatte ist die Beschreibung der Auswirkun- gen und der Konsequenzen der oben genannten Entwicklungen auf die Leis- tungserbringer Sozialer Arbeit und deren Handlungsmöglichkeiten.

Die vorliegende Arbeit will diesen Blickwinkel erweitern und den For- schungsschwerpunkt auf die unterschiedlichen Akteure der „sozialpolitischen Arena“ richten, auf ihre Wahrnehmungsmuster und Strategien. Empirischer Schwerpunkt des Forschungsinteresses sind die Selbst- und Fremdeinschätzun- gen der am Dienstleistungsprozess Sozialer Arbeit beteiligten Akteure zu den relevanten Fragestellungen.

Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigte stellen die Hauptakteure der Distribution und Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen in der Bundesrepublik Deutschland dar. In der Tradition subsidiärer und korpo- ratistischer Ordnungssysteme delegieren öffentlich-rechtliche Träger soziale Dienst- und Sachleistungen an freie Träger, welche diese wiederum den Leis- tungsempfängerinnen und Leistungsempfängern zur Verfügung stellen. War es in der Vergangenheit schon sehr problematisch, die unterschiedlichen Sichtwei- sen der oben genannten Akteure adäquat zu berücksichtigen, so scheint im Zuge

M. Boecker, Erfolg in der Sozialen Arbeit, DOI 10.1007/978-3-658-07347-3_1,

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12 Einleitung der Ökonomisierung Sozialer Arbeit eine Verschärfung der unterschiedlichen

Interessenlagen der beteiligten Akteure stattzufinden.

Die vorliegende Arbeit untersucht und analysiert die spannungsgeladenen makro- und mikropolitischen Prozesse sowie die unterschiedlichen Sichtweisen, Interessenlagen, Strategie- und Machtoptionen der beteiligten Akteure im Hin- blick auf die komplexe Erfolgs- und Effektivitätsdiskussion in der Sozialen Ar- beit. Darüber hinaus gilt es erste Erkenntnisse der Auswirkungen sozialman- agerieller und sozialwirtschaftlicher Handlungskonzepte aus Sicht der beteiligten Akteure, im Hinblick auf die heterogenen Anforderungen an den Erfolg Sozialer Arbeit, zu skizzieren.

Ausgangspunkt weiterer Überlegungen stellt die These dar, dass die am Dienstleistungsprozess beteiligten Akteure sich nicht nur von fachlichen Argu- menten bei der spezifischen Definition von erfolgreicher und effektiver Arbeit leiten lassen, sondern individuelle, politische, ökonomische und professionelle Interessen eine wichtige Rolle spielen. Dies lässt sich am Beispiel der nachste- henden Fragestellungen konkretisieren:

ƒ Wie nehmen die unterschiedlichen Akteure den Einfluss wirtschaftlicher und professioneller Entwicklungen wahr und wie wirken sich diese wiede- rum auf die Konstruktion von Erfolgs-, Effektivitäts- und Qualitätsdefiniti- onen aus?

ƒ Welche mikropolitischen Strategien setzen die Akteure gegebenenfalls ein und über welche Machtpotentiale verfügen die verschiedenen Akteure?

ƒ Welche Unsicherheits- und Spannungsfelder und welche Interessenkonflikte lassen sich daraus ableiten?

ƒ Welche Konsequenzen können für die Profession der Sozialen Arbeit fest- gestellt werden?

ƒ Ist Soziale Arbeit im Zuge der Ökonomisierung und durch den Einzug sozialmanagerieller Konzepte und Ideen effektiver und/oder erfolgreicher geworden?

Als ein Ausgangspunkt weiterer Analysen dient unter anderem der Ende der 1970er Jahre von Crozier und Friedberg (1979) geprägte mikropolitische Ansatz, welcher Ende der 1980er Jahre durch Küpper und Ortmann (u. a. 1988) einen großen Einfluss auf die Organisationstheorie ausübte. In einer mikropolitischen Betrachtungsweise verfügen die jeweiligen Akteure spezifischer Organisations- zusammenhänge über Eigeninteressen jenseits der postulierten Organisationszie- le. Diese werden im Kontext mikropolitischer Spielvariationen, mit Hilfe von Machtoptionen, im Rahmen des jeweiligen Organisationskontextes, ausgehan- delt. Mikropolitische Vorgehensweisen haben somit einen essentiellen Einfluss

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Einleitung 13 auf die Politik von Organisationen und ihren unterschiedlichen Definitionen von

Erfolg oder Misserfolg. In der mikropolitischen Arena werden makropolitische Bedingungen und Ordnungssysteme interpretiert, umgeformt und mit individuel- len und korporativen Interessen vermengt.

Um sich dem zu untersuchenden Gegenstandsbereich zielführend zu nähern, wird im ersten Kapitel zunächst auf die makropolitischen Bedingungen des bun- desdeutschen Sozialstaates eingegangen. Neben der Bestimmung wesentlicher Begrifflichkeiten wie Sozialstaat, Soziale Gerechtigkeit, Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität, gilt es, insbesondere die geschichtliche Entwick- lung der deutschen Sozialstaatspolitik seit dem Ende des zweiten Weltkrieges näher zu betrachten. Da mikropolitische Aushandlungssysteme immer im Kon- text makropolitischer Rahmenbedingungen reflektiert werden müssen, erscheint es nur folgerichtig, den seit spätestens Mitte der 1970er Jahre zu konstatierenden Umbau des Sozialstaates zu beschreiben. Hier gilt es, neue Denkansätze zu skiz- zieren und einen Paradigmenwechsel einer vormals fürsorgenden Handlungslo- gik hin zu einer aktivierenden auf Eigenverantwortung, Förderung und Forde- rung konzentrierten Sichtweise neoliberaler Ausprägung darzustellen, mit weit- reichenden Folgen für die handelnden Akteure, ihren Einflussmöglichkeiten und Machtpotentialen.

Soziale Arbeit und ihre Akteure handeln in organisationalen Zusammen- hängen. Erfolgreiche und wirksame Soziale Arbeit ist indes abhängig von der

„Funktion“ und/oder „Dysfunktion“ organisierter, sozialer Systeme und von der Konstruktion sozialer Wirklichkeit(-en) der interpretierenden, definierenden und beeinflussenden Akteure. So wird im zweiten Kapitel der Fokus der Betrachtun- gen auf die Reflexion organisationaler Realitäten gerichtet. Im Kontext der Standortbestimmung mikropolitischer Ansätze wird der Glaube an die rationale, effektive und effiziente Steuerung von Organisationen als Mythos entlarvt und zugunsten einer deutlich komplexeren Sichtweise aufgegeben. Organisationen werden im Sinne von Luhmann als sich emergent weiterentwickelnde, selbstrefe- rentielle Systeme betrachtet, in denen organisationale Unsicherheitszonen machtvoll von individuellen und korporativen Akteuren ausgestaltet werden können. Schlüssige konzeptionelle Rahmungen bieten hier insbesondere die Ar- beiten von Crozier/Friedberg (1979) und Ortmann (u. a. 1988a), in denen sie der Reflexion von „Macht“ und „Spielen“ in Organisationen sowie der Beziehung zwischen Organisation und Umwelt eine besondere Aufmerksamkeit schenken.

Im dritten Kapitel werden im Rückgriff auf die bereits im ersten Kapitel dargelegten sozialpolitischen Entwicklungen, die Veränderungen der Rahmen- bedingungen und neuen Herausforderungen für die Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik Deutschland dargestellt. Im Kontext der wichtigsten Einfluss- faktoren wird die Entgrenzung des traditionell-korporatistischen Wohlfahrtsar-

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14 Einleitung rangements beschrieben; darüber hinaus die Auswirkungen im Sozial- und Leis-

tungsrecht und auf die handelnden Akteure kritisch diskutiert. Ein wesentlicher Fokus wird dabei auf den aktuellen Stand der fachpolitischen Diskussion und ihrer beteiligten Interessengruppen gerichtet, insbesondere auf den „Neuen Kun- den“ als Adressatin und Adressat sozialer Dienstleistungen. Mit dem Rückzug des Staates gewinnen intermediäre Systeme für die Leistungserbringung Sozialer Arbeit zunehmend an Bedeutung. Dies impliziert Unsicherheitszonen entlang der Referenzsysteme, aber auch innerhalb organisationaler Zusammenhänge, was wiederum erneut mikropolitisches Handeln als konstitutives Element der Aus- handlung „erfolgreicher“ Sozialer Arbeit ermöglicht. Hierzu bedarf es komple- xer sozietaler Steuerungssysteme, ein Ansatz, den Helmut Willke bereits 1983 entwarf und der in seiner Aktualität abschließend dargestellt wird.

Im vierten Kapitel werden die für die nachstehende Untersuchung relevan- ten Fragestellungen und Kontextbedingungen beschrieben. Ausgehend vom Stand der Wirkungs- und Erfolgsforschung in der Sozialen Arbeit, den aktuellen Entwicklungen in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention sowie den in den ersten drei Kapi- teln resümierten Schlussfolgerungen, wird ein Sampling für die qualitative Stu- die entworfen. Des Weiteren werden einige, für die Einordnung und Reflexion des empirischen Materials, notwendige Diskurse und Debatten vorgestellt sowie das Forschungsdesign einer qualitativ-explorativen Untersuchung entworfen und begründet. So zeigen die aktuellen Diskussionen und Diskurse der beteilig- ten Akteure im Kontext der Eingliederungshilfe nach §§53ff. SGB XII deutlich, dass die sozialpolitischen Entwicklungen innerhalb der Sozialen Arbeit insge- samt im Feld „angekommen“ sind. Somit reflektieren die mikropolitischen und sozietalen Aushandlungsprozesse innerhalb der Eingliederungshilfe gleichsam als „Mikrokosmos“ den Stand der professionstheoretischen Debatte.

Im fünften Kapitel werden die empirischen Ergebnisse dargestellt und dis- kutiert. Hierbei stehen drei zentrale Analyseebenen im Fokus des empirischen Interesses. Zuerst werden die wesentlichen Standpunkte, Definitionen und Fremdeinschätzungen der Akteure im Hinblick auf ihre Sichtweisen von Erfolg und Effektivität der Hilfen nach §§ 53ff. SGB XII resümiert. Ein zweiter Schritt erfolgt mit der Analyse zentraler Spannungsfelder der Eingliederungshilfe hin- sichtlich mikropolitischer Interessendivergenzen und der Reflexion von Strate- gien, Macht- und Einflusspotentiale der Akteure. Bei der Analyse dieser mikro- politischen Arenen der Aushandlung wird insbesondere der Blick auf die Macht der Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit gerichtet. Die dritte Analyse- ebene richtet den Fokus auf die Konsequenzen der vorstehenden Ergebnisse für die professionelle Handlungslogik, in dem insgesamt sieben zentrale Spannungs- felder und Unsicherheitszonen diskutiert werden.

(13)

Einleitung 15 Im sechsten Kapitel werden die empirischen Ergebnisse auf die in den vor-

stehenden Kapiteln dargestellten theoretischen Rahmungen zurückgeführt und weiter zusammengefasst. Hier gilt es, erneut die Erfolgsfrage Sozialer Arbeit im Spannungsfeld mikropolitischer Interessenkonflikte aufzugreifen, den Einfluss und die Auswirkungen einer zunehmenden Ökonomisierung Sozialer Arbeit zu reflektieren und auf die Rekursivität inner- und interorganisationaler Systeme einzugehen. Im Kontext organisationaler Unsicherheitszonen wird die Macht und Ohnmacht sozietaler Akteure ebenso diskutiert wie die Folgen der zuvor dargestellten Entwicklungen für das Selbstverständnis Sozialer Arbeit.

Eine weiterführende Analyse der wesentlichen Bezugspunkte erfolgt schließlich im siebten Kapitel. In einem ersten Schritt wird der Gebrauchswert einer mikropolitischen Theorie für die Soziale Arbeit diskutiert und einige pro- fessionstheoretische Implikationen abgeleitet. Hieran schließt sich erneut die Frage nach erfolgreicher Sozialer Arbeit im Kontext sich verändernder sozialpo- litischer Rahmenbedingungen an. Eine, auf die zentrale Kategorie der Wirksam- keit abzielende Legitimationsdebatte sowie die „rhetorische Modernisierung“

(Oechler 2009) des „Kundenbegriffs“ für die Soziale Arbeit, werden der Kom- plexität der Problematik allerdings nicht gerecht werden können. Diese Komple- xität sozialer Wirklichkeit wiederum führt zu der gesellschaftspolitischen Frage- stellung, wie hochindustrialisierte Gesellschaften ihre Probleme lösen können.

In diesem Kontext wird die mikropolitische Theorie erneut als Gesellschaftstheo- rie diskutiert und sozietale Lösungswege aufgezeigt. Abschließend werden wei- terführende Forschungsperspektiven dargestellt.

Das achte Kapitel resümiert die zentralen Ergebnisse der empirischen und theoretischen Analysen und weist nochmals deutlich auf die Bedeutung mikropo- litischer Aushandlungssysteme zur Lösung gesellschaftspolitischer Aufgabenstel- lungen hin.

(14)

1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit

Soziale Arbeit und ihre handelnden Akteure sind Bestandteil des Sozialstaates der Bundesrepublik Deutschland. Makropolitische Paradigmen und Grundprinzi- pien beeinflussen sozialpolitische Entscheidungen und setzen somit die entschei- denden Rahmenbedingungen, nicht nur für die Distribution und Inanspruchnah- me sozialer Dienste und Dienstleistungen, sondern ebenso für die Auswahl der am Aushandlungsprozess beteiligten Akteure, deren Einflussmöglichkeiten und Machtpotentiale. Makropolitische1 Entscheidungen haben somit einen direkten Einfluss auf die mikropolitische Arena, ihre Spielerinnen und Spieler und deren Spielregeln. Aktuelle sozialpolitische Rahmenbedingungen sind nicht ohne ihren geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Kontext zu verstehen. Sie bestim- men nicht als statisch-rationale Ordnungsmodelle den politischen Alltag, sondern sind interpretierbar, unterliegen einem komplexen Interessenpluralismus, werden umgeformt und umgedeutet bevor sie zu politischen Entscheidungen führen (Rudzio 2006: 55ff.).

Das folgende Kapitel beginnt mit der Beschreibung der Verankerung des Sozialstaatsbegriffs im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kapitel 1.1) und verdeutlicht die normative und interpretierbare Auslegung des Begriffs.

Um die aktuellen sozialpolitischen Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit in ihrem Kontext darstellen zu können, bedarf es der geschichtlichen Einordnung. In Ka- pitel 1.2 werden deshalb die sozialpolitischen Entwicklungslinien der Nach-

1 Gewöhnlich wird zwischen drei Ebenen der Politik von und in Organisationen unterschieden.

Makropolitik thematisiert die „gesamtgesellschaftliche Einbettung der Organisation“ (Türk 1989: 125). Im Fokus der Betrachtungen steht die Einflussnahme von Organisationen auf staatliche Politik und die Übernahme von gesamtgesellschaftlichen Funktionen. Mesopolitik wird verstanden als Strukturpolitik, sie versucht Strukturbildungen in Organisationen zu beschreiben und zu erklären. „In diesem Sinne spiegeln Organisationen gesellschaftliche, soziale Differenzierungen nach Klassen, Schichten oder Mentalitäten wider und erbringen somit strukturelle und mentale gesamtgesellschaftliche Reproduktionsleistungen.“ (Grunwald 2008: 388) Mikropolitik schließlich beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen von Organisationen geprägt werden und wie sie sich zu ihnen verhalten. Die weiterführenden Ansätze, insbesondere von Küpper und Ortmann (1988), lassen die vorstehende Definition als zu eng erscheinen (vgl. hierzu Kapitel 2) und weisen in ihrem Verständnis und in ihrer Analyse deutlich über ein auf individuelles Verhalten und auf die einzelne Organisation bezogenes Verständnis von Mikropolitik hinaus. Siehe hierzu auch Matys (2006).

M. Boecker, Erfolg in der Sozialen Arbeit, DOI 10.1007/978-3-658-07347-3_2,

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18 1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit kriegszeit skizziert und deutlich gemacht, dass spätestens seit Mitte der 1970er Jahre mit der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums sowie aufgrund der ab 1989 zu bewältigenden Folgen der Deutschen Einheit, ein Umbau des Soziaal- staates erfolgte und traditionelle Ordnungsprinzipien neu interpretiert wurden.

Denkansätze eines „aktivierenden Sozialstaates“ gewannen an Bedeutung und haben erheblichen Einfluss auf die staatlichen Fürsorge-, Versicherungs- und Vorsorgeleistungen. Neoliberale Aspekte beeinflussen bis in die aktuelle Diskus- sion hinein sozialstaatliche Ordnungs- und Handlungsmuster. Kapitel 1.3 und 1.4 beschäftigen sich mit den wichtigsten Grundprinzipien deutscher Sozialpolitik:

soziale Gerechtigkeit, Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität. Auch hier wird der Fokus der Analyse darauf gerichtet, den Sinn und das Wesen der unterschiedlichen Begriffe in ihrem geschichtlichen Kontext zu begreifen und den Bezug zu aktuellen Diskursen der Sozialpolitik darzustellen. In Kapitel 1.5 wird unter Bezugnahme des pluralistischen Demokratiekonzepts, die Vielzahl und die Heterogenität der auf der Aushandlungs- und Durchführungsebenen agierenden Akteure sowie der relevanten Einfluss- und Leistungswege beschrie- ben. Hierbei wird unter Bezugnahme auf das Sozialbudget der Bundesrepublik Deutschland eine erste Orientierung der relevanten Leistungsträger vorgenom- men. Im weiteren Verlauf des Kapitels erfolgt eine Eingrenzung auf die für die Soziale Arbeit bedeutsamen Akteure der Leistungserbringung. Den Abschluss des Kapitels bildet die detaillierte Betrachtung der Rechtsverhältnisse im sozial- rechtlichen Dreieckverhältnis. Diese einmalige Akteurkonstellation in der deut- schen Sozialpolitik, mit ihren komplexen, wechselseitigen Rechtsbestimmungen stellt für die weitere empirische Untersuchung einen wichtigen Ausgangspunkt dar. Kapitel 1.6 beschreibt und interpretiert die komplexen Anforderungen und Spannungsverhältnisse mit denen soziale Organisationen zwischen Staat, Markt und Gesellschaft umgehen müssen. Differierende Kundenerwartungen (Wer sind überhaupt die Kunden?) und unterschiedliche Logiken sowie die charakteristi- schen Merkmale personenbezogener Dienstleistungen bilden eine wichtige Grundlage für die Erarbeitung der forschungsleitenden Fragestellungen sowie die in Kapitel 6 anschließenden Kontextuierungen. In Kapitel 1.7 erfolgt schließ- lich eine kurze Zusammenfassung und es werden die für das weitere Vorgehen notwendigen Schlussfolgerungen abgeleitet.

1.1 Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes

Art. 20 Abs. 1 GG bestimmt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokra- tischer und sozialer Bundesstaat“. In Art. 28 Abs. 1 GG wird weiterhin darauf hingewiesen, dass: „[d]ie verfassungsgemäße Ordnung in den Ländern […] den

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1.1 Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes 19 Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen [muss]“. Art. 79 Abs. 3 GG legt wei- terhin fest, dass eine Änderung der grundsätzlichen Gliederung des Bundes in Länder, deren Mitwirkung bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 bestimmten Grundsätze unzulässig ist.

Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet die Gesetzgeber, die Rechtsprechung und die Verwaltung dazu, sich an soziale Grundsätze zu halten und politische Rahmenbedingungen dementsprechend zu gestalten (Griep/Renn 2011: 19).

Konkrete Aussagen über Quantität und Qualität der sozialstaatlichen Fürsorge finden sich im Grundgesetz nicht. Trube (2005) erklärt dies damit, dass die im parlamentarischen Rat vertretenen Mütter und Väter des Grundgesetzes äußerst divergierende Vorstellungen von einer Sozialstaatsverfassung hatten, die von der sozial flankierten Marktwirtschaft bis hin zum staatssozialistischen Modell reich- ten. Selbst die CDU forderte in ihrem Ahlener Programm 1947 bekanntlich noch die Verstaatlichung der gesamten Grundstoffindustrie. Angesichts nun dieser kontroversen Vorstellungen und des Genehmigungsvorbehalts der Alliierten, insbesondere den USA, fand das Sozialstaatsgebot in der Verfassung keine wei- tere Konkretisierung und man erhoffte sich jeweils durch die politischen Mehr- heiten oder im Zuge der alsbald ersehnten Wiedervereinigung dann einen – den eigenen Vorstellungen entsprechenden – Gestaltungsspielraum (13).

„§ 1 Abs. 1 S 1 SGB I nennt die programmatischen Ziele, die der Gesetzge- ber mit dem Recht des SGB verbindet, nämlich die Verwirklichung ‚sozialer Ge- rechtigkeit‘ und ,sozialer Sicherheit‘. Damit stellt diese Norm die Umsetzung des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 GG auf der Ebene des einfachen Gesetzes dar und gibt vor, dass alle im Sozialgesetzbuch zusammengefassten Einzelnormen aus diesen Leitvorstellungen, die aus den bisher vorhandenen Regelungen her- ausgezogen worden sind aus dem Sozialstaatsprinzip selbst heraus verstanden und interpretiert werden müssen. Das Sozialstaatsprinzip ist sowohl von der Verwaltung als auch von der Rspr. zumindest als Auslegungsleitlinie, insbes.

auch bei der Auslegung von Grundrechten zu beachten.“ (Niedermeyer 2012:

SGB I, § 1 Rn. 2)2

Dass die Interpretation, Ausgestaltung und Ausprägung des im Art. 20 Abs.

1 GG verankerten Grundsatzes des „sozialen Bundesstaates“ geprägt ist von der Heterogenität gesellschaftspolitischer Kontextbedingungen, zeigen unter ande- rem die Ausführungen von Schmidt (2005), Frevel und Dietz (2008) und Butterwegge et al. (2008) über die Entwicklungen der Sozialpolitik in der Bun-

2 Zur detaillierten rechtlichen Betrachtung des Sozialstaatsbegriffs vgl. u. a. Niedermeyer (2012:

SGB I, § 1 Rn. 2ff.).

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20 1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit desrepublik Deutschland.3 Diese Entwicklungslinien haben zum Teil einen ent- scheidenden Einfluss auf die aktuellen sozialpolitischen Diskurse. Darüber hin- aus geben sie einen facettenreichen Überblick über die Möglichkeiten sozial- staatlichen Handelns.

1.2 Sozialpolitische Entwicklungslinien in der Bundesrepublik Deutschland Die erste Phase (1949-1966) der von der CDU/CSU geführten Bundesregierung war geprägt von der Bewältigung der Kriegsfolgen, insbesondere durch die Be- tonung des Sozialversicherungsprinzips als der „Soziale Kapitalismus“ (Hart- wich 1970; van Kersbergen 1995). Als Folge des neuerstarkten Wirtschafts- wachstums wurde Deutschland zu einer der führenden Exportnationen. Es herrschte Vollbeschäftigung. Der Sozialstaat wurde konsolidiert. Den handeln- den Akteuren der Gesetzgebung im Deutschen Bundestag wurde eine quantitati- ve und qualitative erstaunliche sozialgesetzgeberische Leistung bescheinigt (Schmidt 2005: 77).

Nachdem die eigene Klientel befriedigt wurde, konnte sich die Regierung den Schwachen zuwenden. Das Gesetz zur Versorgung der Kriegsopfer von 1950 (Bundesversorgungsgesetz) sollte die Kriegsfolgen für die betroffenen Fa- milien mildern. Weitere Gesetze zum Schutz bestimmter Sozialgruppen wie den Heimkehrern (Heimkehrergesetz von 1950) und schwerbehinderte Menschen (Schwerbehindertengesetz von 1953) folgten.

Programme zur Förderung des Wohnungsbaus und das Lastenausgleichsge- setz von 19524 wurden installiert. Als Folge des Wohnungsbauprogramms ent- standen innerhalb weniger Jahre eine halbe Million neuer Wohnungen.

Die Neuschaffung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte von 1953 und das Kindergeldgesetz von 1954 sollten Angestellte, Rentnerinnen und Rent- ner sowie Familien mit Kindern an dem neuen Wohlstand teilhaben lassen. Mit der grundlegenden Rentenreform von 1957 wurden vorrangig Rehabilitations- leistungen eingeführt und die Renten wurden einmal aufgestockt und auf hohem

3 Für die sozialpolitischen Entwicklungen von 1883 bis 1945 vgl. u. a. Zerche und Gründer (1996), Kaufmann (2003: 248ff.), Schmidt (2005: 21ff.) sowie Reidegeld (2006: Bd. I und II).

Ebenfalls eine gute Übersicht von den Anfängen des Armenhilfesystems des 14. Jahrhunderts bis zu aktuellen sozialpolitischen Entwicklungslinien geben Flösser/Oechler (2010: 32ff.).

4 Das Lastenausgleichsgesetz legte die gesetzliche Grundlage zur Eingliederung von mehr als zehn Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen aus den östlichen Gebieten des ehemaligen Deutschen Reichs. Siehe hierzu auch Frevel und Dietz (2004: 32ff.).

(18)

1.2 Sozialpolitische Entwicklungslinien in der Bundesrepublik Deutschland 21 Niveau an die Bruttolohnentwicklung angepasst (Dynamisierung).5 Dieser Schritt war notwendig, um die Spaltung zwischen Arm und Reich in der Gesell- schaft zu verringern, da Mitte der 1950er Jahre, trotz einer hohen Sozialleis- tungsquote, die Schwächeren der Gesellschaft nicht ausreichend am Wohlstand partizipieren konnten.

Das Bundessozialhilfegesetz von 1961 ersetzte die bis dato aus dem Jahr 1924 stammende Regulierung der Sozialfürsorge und das Jugendwohlfahrtsge- setz löste das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz ab. Mit dem Bundessozialhilfege- setz wurde das unterste staatliche Sicherungsnetz installiert, wenn alle anderen staatlichen und privaten Systeme versagen. Es etablierte einen einklagbaren Rechtsanspruch aller Bürgerinnen und Bürger auf Sozialhilfe. Mit der Imple- mentierung des Bundessozialhilfe- und des Jugendwohlfahrtsgesetzes stärkten die Gesetzgeber die für die Bundesrepublik charakteristische Unterscheidung zwischen Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgeprinzip und unterstrichen die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips6 als Grundlage sozialpolitischer Inter- ventionsdynamik. Auch das Wohngeldgesetz von 1960 zeigte die Absicht der Gesetzgeber sich den sozial Schwächeren zuzuwenden (Schmidt 2005: 76ff.;

Frevel/Dietz 2008: 31ff.).

Die zweite Phase (1966-1969) wurde von der Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD parteipolitisch verantwortet. Nach den Jahren des Wohlstands und der durch das „Wirtschaftswunder“ verwöhnten Wählerschaft standen die Jahre 1966/67 im Zeichen der Rezension. Bei 216.000 Arbeitslosen stieg die Arbeits- losenquote auf 0,7 Prozent, was in Anbetracht der heutigen Arbeitslosenzahlen sicherlich sehr gering erscheint, aber im Kontext der oben genannten Erfolgsbi- lanz als Schock empfunden wurde. In der Folge warf man der Regierung Erhard vor, nicht ausreichend vorgesorgt zu haben. Die FDP war im November 1966 aus der Koalition mit der CDU/CSU ausgeschieden, da sie befürchtete, bei den anstehenden Landtagswahlen Stimmen zu verlieren. Standfest (1979: 41) wirft der großen Koalition vor, dass sie auf die Probleme der ersten Rezension der Nachkriegsgeschichte keine Antworten hatte. Trotzdem schaffte es die unter Kurt Georg Kiesinger geführte Große Koalition 1969, drei entscheidende Geset- zesinitiativen auf den Weg zu bringen (42).

Die „Lohnfortzahlung für Arbeiter“ ermöglichte eine sechswöchige Lohn- fortzahlung im Krankheitsfall gleichermaßen für Arbeitnehmerinnen und Arbei- ter als auch für Angestellte und sorgte auf Dauer für verbesserte Arbeitsbezie- hungen zwischen den beiden Gruppen.

5 In der Arbeiterrentenversicherung wurden die Versichertenrenten um 60 Prozent, die Witwenrenten um 81 Prozent, die Waisenrenten um 75 Prozent, in der Angestelltenversi- cherung um 66, 91 und um 40 Prozent erhöht (Schäfer 1997: 264).

6 Eine detaillierte Beschreibung des Subsidiaritätsprinzips erfolgt in Kapitel 1.4.

(19)

22 1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit Das Arbeitsförderungsgesetz wurde als Mittel zur aktiven Arbeitsmarktpoli- tik eingeführt, mit dessen Hilfe die Anpassung von Arbeitsangebot und Arbeits- nachfrage verbessert werden sollte. Eine verbesserte Arbeitsvermittlung, Um- schulungs- und Weiterqualifizierungsmaßnahmen für Arbeitskräfte sowie Lohn- kostenzuschüsse für bestimmte Beschäftigungsgruppen waren die Folge.

Der Finanzausgleich zwischen Angestellten- und Arbeiterrentenversiche- rung von 1969 regulierte einen gegenseitigen Ausgleich der Kassen und ver- pflichtete zur gegenseitigen Liquiditätshilfe. Die Beitragssätze in der Angestell- ten- und Arbeiterrentenversicherung wurden gleichgesetzt. Diesen Schritt der Umverteilung unternahm die Große Koalition entgegen massiver Proteste der Interessenverbände der Angestellten, welche dergleichen Maßnahmen als Ent- eignung empfanden (Schmidt 2005: 88f.).

Die Jahre 1969 bis 1982 wurden politisch durch die sozial-liberale Koalition aus SPD und FDP geführt. In den ersten Jahren nach 1969 erfolgte ein weiterer Ausbau des Sozialstaates. Stichworte dieser Zeit sind: „Verbesserung, Reform, Chancengleichheit, sozialer Ausgleich, Bekämpfung öffentlicher Armut“

(Schmidt 2005: 91). Der Ausbau des Sozialstaates korrelierte weiterhin mit ei- nem ununterbrochenen, allerdings verlangsamten, Wirtschaftswachstum.

So wurde 1971 der Unfallversicherungsschutz für Schülerinnen, Schüler und Studierende eingeführt und zeitgleich das Bundesausbildungsförderungsge- setz beschlossen. 1972 folgte das Betriebsverfassungsgesetz, welches die Mitbe- stimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf eine neue gesetzliche Grundlage stellte. Eine weitreichende Rentenreform schloss flexible Altersgren- zen, eine Öffnung für Hausfrauen, Selbständige und andere nicht abhängig Be- schäftigte mit ein (91ff.).

Die Sozialleistungsquote7 der Bundesrepublik stieg von 24,6 Prozent im Jahr 1969 auf 34,0 Prozent im Jahr 1982 (OECD 1985). Im Jahr 2010 lag sie bei 30,4 Prozent (BMAS 2010: 5).

Die Rezension 1973/74 beendete den Ausbau des Sozialstaates im bisher bekannten Ausmaß. „Die Zeiten expansiver Sozialpolitik waren vorüber, danach wurden Leistungen verfeinert, verkompliziert, in der Regel aber zurückgefah- ren.“ (Frevel/Dietz 2008: 35) Trotz des Rückbaus in vielen Bereichen erfolgte auf der anderen Seite ein Ausbau Sozialer Arbeit und sozialer Dienstleistungen bis weit in die 1990er Jahre, z.T. bis heute hinein (siehe u. a. Rauschenbach 2008: 814 sowie BAGFW 2008: 14ff.). Neben den Herausforderungen mit dem aufkeimenden RAF-Terrorismus hatte die Bunderegierung insbesondere mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit, der zunehmenden Alterung der Gesellschaft und in der Folge mit Einnahmeverlusten in den Sozialversicherungen zu kämpfen (35).

7 Die Sozialquote oder Sozialleistungsquote ist eine relative statistische Größe, mit der gemessen wird, welcher Anteil am Bruttoinlandsprodukt für soziale Zwecke verwendet wird.

(20)

1.2 Sozialpolitische Entwicklungslinien in der Bundesrepublik Deutschland 23 Trotz dieser massiven Probleme reagierte die Bunderegierung, nicht zuletzt auf- grund wahltaktischer Kalküle im Hinblick auf die Bundestagswahl von 1976 nur zögerlich (Schmidt 2005: 96).

Seit spätestens Mitte der 1970er Jahre sprechen Expertinnen und Experten von einer „Wendemarke“ (Alber 1989: 286) in der Sozialpolitik. Windhoff- Héritier (1983) konstatiert eine „Sozialpolitik der mageren Jahre“. Das Haus- haltsstrukturgesetz von 1975 leitete den Anfang einer Reihe von Kürzungen und den Rückbau von Sozialleistungsansprüchen ein. Bis Anfang der 1980er Jahre versuchte die Koalition aus SPD und FDP die Sozialpolitik auf dem Stand von Mitte der 1970er Jahre zu konsolidieren ohne die sozialen Sicherungssysteme in Frage zu stellen. Gekürzt wurden insbesondere Leistungen, welche sich nicht aus Versicherungsansprüchen ableiten ließen, viele Sozialversicherungsbeiträge wurden erhöht und es erfolgte eine Umverteilung der finanziellen Belastungen im Hinblick auf die Kommunen8, welche insbesondere die Leistungen der Sozi- alhilfe zu tragen hatten. Michalsky (1984) konstatiert hier zwei Hauptrichtungen der sozialpolitischen Entscheidungen der Jahre 1975 bis 1982. Zum einen wur- den individuelle Förderprogramme, insbesondere auf Grundlage des Arbeitsför- derungsgesetzes zurückgenommen, zum anderen wurde das Leistungsniveau ge- senkt und Anspruchsvoraussetzungen in der Renten- und Arbeitslosenversiche- rung verschärft (141).

Die vierte Phase (1982-1998) der sozialpolitischen Entwicklung in der BRD ist einerseits geprägt durch das Bestreben den Sozialstaat finanziell zu konsoli- dieren, andererseits die Folgen der Deutschen Einheit zu meistern. Zu Beginn der von der CDU und FDP geführten Bundesregierung standen weiter Einsparungen, Streichungen und Umstellungen, unter anderem im Rahmen der Arbeitsförde- rung, der Ausbildungsförderung, der Sozialhilfe und beim Arbeitslosengeld so- wie der Arbeitslosenhilfe. Der Grundsatz der Subsidiarität wurde gestärkt, Leis- tungseinschränkungen zum Teil an soziale Kriterien9 gebunden.

Ab Mitte der 1980er Jahre wurden erstmals seit 12 Jahren keine Kürzungen in der Sozialpolitik vorgenommen. Einige Sozialleistungen wurden sogar verbes- sert, insbesondere in der Familien- und Arbeitsmarktpolitik. Die Einführung des Erziehungsgelds und die Anrechnung der Kindererziehungszeiten bei der Ren- tenversicherung waren folgenreiche Entscheidungen. Darüber hinaus löste das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) mit seinen 24 Artikeln das Jugendwohl- fahrtsgesetz ab. Der Artikel 1 des KJHG`s wurde 1996 als SGB VIII in die Sozi-

8 Aufgrund der Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik (Umschulungen, Weiterbildun- gen etc.) mussten viele Arbeitslose im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt Fürsorge- leistungen erhalten. Verantwortliche Leistungsträger waren die Kommunen.

9 So wurden beispielsweise beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe Leistungs- berechtigte mit Kindern von Einschränkungen ausgenommen (BMA 1986: 6).

(21)

24 1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit albücher aufgenommen und stellte ein Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe dar, von einer staatlichen Eingriffs- und Kontrollorientierung zu einem moder- nen Leistungsgesetz (siehe hierzu u. a. Boekh et al. 2011: 115; Zerche/Gründer 1996: 38f.).

Die zweite Etappe der Regierungskoalition unter Helmut Kohl stand im Zeichen der Wiedervereinigung und den damit verbundenen Folgekosten, insbe- sondere für die sozialen Sicherungssysteme (Ritter 2007). Die deutsche Einheit, zunehmende Arbeitslosigkeit sowie der Auf- und Ausbau der Pflegeversicherung (1995) als fünfte Säule10 der sozialen Sicherung, ließen die Staatsausgaben ex- pandieren. Es folgten Korrekturen bei der Alterssicherung (1992) sowie die Gesundheitsreformen der 1990er Jahre. 11

Spätestens ab Mitte der 1990er Jahre sprechen Fachleute, so unter anderem Lamping/Schridde (2004: 49ff.), von einem Wandel der Sozialpolitik des „Sozia- len Kapitalismus“ hin zu einer Periode der „konfliktiven Sozialpolitik“ eines

„aktivierenden Sozialstaats“. Entgegen massiver Proteste der Opposition und der Gewerkschaften wurde die gesetzliche Lohnfortzahlung bei Krankheit von 100 auf 80 Prozent reduziert und Lockerungen des Kündigungsschutzes vorgenom- men (Schmidt 2005: 99ff.). Auf der anderen Seite wurden die Instrumente der Arbeitsförderung wieder verstärkt in den Blick genommen, nicht zuletzt, um die ohnehin schon schlechte Arbeitslosenstatistik zu entlasten (Schmid/Oschmiansky 2005).

Viele Autorinnen und Autoren (vgl. u. a. Schmidt 2005) bescheinigen der Ära Kohl eine sehr vielschichtige und diskontinuierliche Sozialpolitik. Hierfür können mehrere Gründe angeführt werden: Zum einen mussten innerparteiliche Differenzen zwischen liberaler und sozialer Sozialstaatsphilosophie berücksich- tigt werden, die deutsche Einheit stellte eine enorme Herausforderung für das politische System der Bundesrepublik dar und nicht zuletzt machte die hohe Staatsverschuldung einen Kurswechsel zu marktorientierten, liberaleren Struktu- ren notwendig (Schmidt 2005: 111).

Die fünfte Phase (1998-2005) unter der politischen Verantwortung der rot- grünen Bundesregierung folgte in vielen Punkten den Ansätzen aus den letzten Jahren der christliberalen Koalition. Insgesamt setzte die Sozialpolitik der Folge- jahre auf den Leitsatz „mehr Markt“. In der Rentenversicherung wurden die Ren- tenleistungen der Einnahmeentwicklung angepasst, was in der Konsequenz die Abwendung von einer Lebensstandardsicherung bedeutete (Hockerts 2008: 29).

Als Begrifflichkeiten dominieren unter anderem: „Eigenverantwortung“, „akti-

10 Neben der Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Unfallversicherung wird die Pflegeversiche- rung im SGB XI (1995) als fünfte Sozialstaatssäule der BRD definiert.

11 Nähere Ausführungen zu den Auswirkungen der deutschen Einheit auf die Sozialsysteme siehe Zapf und Habich (1996), Wewer (1998), Zohlnhöfer (2001) und Ritter (2007).

(22)

1.2 Sozialpolitische Entwicklungslinien in der Bundesrepublik Deutschland 25 vierender Sozialstaat“, „Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit“ sowie

„Nachhaltigkeit“ (Schmidt 2005: 112). Der aktivierende Sozialstaat avanciert in der Folge zum Schlagwort einer neuen Sozialpolitik und forcierte den bereits von der Vorgängerregierung eingeleiteten Paradigmenwechsel einer fordernden Sozi- alpolitik unter Aufgabe versorgungsstaatlicher Elemente (vgl. u. a. Wolf 2011).12 2001 verabschiedete die rot-grüne Bundesregierung ein eigenes Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen und das Bundessozialhilfege- setz wurde im Jahr 2003 in modifizierter Fassung als SGB XII etabliert.

Kritiker der Regierung Schröder werfen dieser eine neoliberale Steuer- und Sozialstaatsreform vor. Ein erheblicher Einschnitt in bestehende Sozialleistungs- gesetze wurde im Zuge der Hartz I bis Hartz IV Arbeitsmarkreformen vorge- nommen. Diese beinhalteten im Wesentlichen die Zusammenlegung der Arbeits- losenhilfe mit den Leistungen der Sozialhilfe, eine Kürzung der Bezugszeiten des Arbeitslosengeldes und die Stärkung der Anreize zur Arbeitsaufnahme sowie Leistungskürzungen beim Ablehnen zumutbarer Arbeit (Griep/Renn 2011:

22ff.). „Nie zuvor hat sich Sozialpolitik hierzulande ähnlich drastisch verändert wie seit der Bundestagswahl am 22. September 2002. Die als ‚Agenda 2010‘ be- kannt gewordene Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder war einem sozialpolitischen Paradigmenwechsel geschuldet […].“

(Butterwegge 2008: 174) Die Einführung der Riester-Rente stellte, staatlich sub- ventioniert, eine zusätzliche private Alterssicherung dar. „Damit schuf der Sozi- alstaat einen »Wohlfahrtsmarkt« für Produkte der Alterssicherung, dessen Re- geln er in einer Art Public-Private-Partnership durch Zertifizierungsverfahren, Zulagen und steuerliche Förderung aktiv mitbestimmt.“ (Hockerts 2008: 29)

Die sechste Phase sozialpolitischer Aktivität kennzeichnete nach dem Aus- einanderbrechen der rot-grünen Bundesregierung eine weitere große Koalitions- bildung aus SPD und CDU, CSU von 2005 bis 2009 sowie nach der Bundes- tagswahl 2009, erneut eine Koalition aus CDU, CSU und FDP (Schmidt 2012:

42f.). Butterwegge (2008) bescheinigt der zweiten großen Koalition in der Ge- schichte der Bundesrepublik eine weitere Reorganisation des Sozialstaates unter neoliberalen Aspekten. Leistungskürzungen, weitere Nullrunden für Rentnerin- nen und Rentner (welche im Jahr 2004 erstmals auf die jährliche Anpassung ih- rer Renten verzichten mussten), Verschärfung von Anspruchsvoraussetzungen, zum Beispiel bei der Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters von 65 auf 67 Jah- re, werden als weitere Schritte auf dem Weg zur Reformierung des Sozialstaates angeführt (175ff.).

Boeckh et al. (2011) folgen dieser Einschätzung nur teilweise. Die großen Reformprojekte der großen Koalition waren die Themen Alterssicherung und

12 Eine detaillierte Analyse des „aktivierenden Sozialstaates“ aus ordnungs- und steuerungs- theoretischer Perspektive findet sich u. a. bei Lamping und Schridde (2004).

(23)

26 1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit Gesundheitspolitik, in denen CDU/CSU und FDP als „Koalition der neoliberalen Modernisierer“ auftraten und die SPD sich als „[…] Mittler zwischen versor- gungsstaatlicher Bewahrung und gesellschaftlicher Modernisierung präsentier- te[n]“ (125). So wurde die gesetzliche Krankenversicherung in einem Kompro- miss aus einkommensabhängiger Beitragsleistung (nur Erwerbsarbeit) und Gesundheitsfond reformiert. Dieser Fond reguliert über Transferleistungen einen gerechten Ausgleich der Kassen untereinander und kann so soziale Tatbestände stärker berücksichtigen. Mit der Einführung des Elterngelds und dem Rechtsan- spruch auf einen Kindertagesstättenplatz für Kinder unter drei Jahren ab dem Jahr 2013, wurden erste Schritte unternommen, Familie und Erwerbsarbeit mit- einander besser vereinbaren zu können (125ff.).

Hans Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München, warb schon 2003 für eine aktive Bevölkerungspolitik:

„Wenn es gelänge, die Geburtenraten auf ein Niveau anzuheben, wie es eine sta- tionäre Bevölkerung kennzeichnet, dann ließe sich die Bevölkerung allmählich wieder verjüngen.“ (Sinn 2003: 369) Konsequent forderte er die Fertilitätsrate mittels finanzieller Anreize für Familien zu steigern und gezielte Sanktionen für Kinderlose einzuführen (393). Butterwegge (2008) unterstellt Sinn eine „biologi- sche Produktionstheorie“, wenn er Kinder als „Humankapital und Privateigen- tum ihrer Eltern“ betrachtet (149).

Mit dem erneuten Antreten einer großen Koalition aus SPD und CDU im Dezember 2013 verbinden sich zahlreiche Hoffnungen und Reformwünsche.

Zentrale Themenfelder sind weiterhin die Gesundheitspolitik, insbesondere die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung im ländlichen Raum, die Um- setzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe hin zu einem Bundesteilhabegesetz. Auch die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit und die Anpassung der Rentenansprüche, durch die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten für Kinder, die vor dem Jahr 1992 geboren wurden, sind hier zu nennen (Deutscher Caritasverband 2014: 28ff.).

Allerdings weist unter anderem Marcus deutlich darauf hin, dass die Ten- denz, erfolgreiche Sozialpolitik an Vermittlungsquoten festzumachen weder weitsichtig effektiv noch sozialethisch vertretbar ist (Marcus 2014: 3). Wenn somit im Koalitionsvertrag die Steuerung der Grundsicherung für Arbeitssu- chende verstärkt auf das Ziel der Vermeidung von Langzeitleistungsbezug und die Mittelverteilung stärker auf Wirkungsorientierung ausgerichtet werden soll, dann geht es im Klartext darum „[…] die noch nicht langzeitarbeitslosen Men- schen, also […] die arbeitsmarktnahen Arbeitslosen […]“ (Marcus 2014: 3) zu integrieren und nicht um soziale Teilhabe und soziale Einbindung durch Arbeit.

(24)

1.2 Sozialpolitische Entwicklungslinien in der Bundesrepublik Deutschland 27 Folgt man den sozialpolitischen Entwicklungslinien der deutschen Nach- kriegsgeschichte, so lassen sich hieraus einige wesentliche Schlussfolgerungen für die weitere Analyse makropolitischer Aspekte Sozialer Arbeit ableiten:

ƒ Erfolgte in den ersten Jahren der Bundesrepublik bis Mitte der 1970er Jahre noch ein Aus- und Aufbau sozialstaatlicher Fürsorge-, Versorgungs- und Versicherungssysteme, so mussten spätestens seit der Rezension der Jahre 1974/75 deutliche Korrekturen im Hinblick auf Leistungsberechtigte, Leis- tungsumfang und Refinanzierungsbeitrag der betreffenden Bevölkerungs- gruppen durchgeführt werden. Hierbei rückten marktwirtschaftliche Ele- mente zur Steuerung der Sozialleistungsausgaben und individuelle Förder- programme mit der klaren Aufforderung zur Eigenverantwortung in den Vordergrund sozialstaatlichen Handelns. Eine effektive und effiziente Leis- tungserbringung gewinnt an Bedeutung. Neue Finanzierungsinstrumente wie Fachleistungsstunden und persönliche Budgets unterstreichen den Steuerungswillen sozialstaatlicher Intervention.

ƒ Der Wandel vom „passivierenden zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat“

(Heinze 2009: 91) ging einher mit einem deutlichen Perspektivwechsel des Sozialstaatsverständnisses Mitte der 1990er Jahre. Sozialstaatliche Ziele wie soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, Eigenverantwortung und Subsidia- rität mussten neu definiert und bewertet werden (Griep/Renn 2011: 20).

Dieser gesellschaftspolitische Diskurs hat bis heute nichts an seiner Aktuali- tät und Brisanz verloren und beeinflusst entscheidend wohlfahrtsstaatliche Interventionspolitik (Flösser/Oechler 2010: 47).

ƒ Die Auswahl sozialpolitisch relevanter Maßnahmen und Initiativen ist trotz oder gerade aufgrund der normativen Leitlinie (Kapitel 1.1) des Sozial- staatsbegriffs abhängig von komplexen Einflussvariablen. Kontextfaktoren wie volkswirtschaftliche Entwicklungen, politische Überzeugungen und parteipolitisches Kalkül üben einen starken Einfluss auf die politische Wil- lensbildung aus und führen zu unterschiedlichen Interpretationen sozial- staatlicher Intervention.

ƒ Sozialpolitische Entwicklungen unterliegen somit keiner mechanischen Steuerungslogik. Sie sind beeinfluss- und verhandelbar, können verändert und erneuert werden und folgen neben normativen Aspekten keiner teleolo- gischen Rationalität.

ƒ Trotz des Paradigmenwechsels sozialstaatlicher Steuerungs- und Hand- lungslogik erfolgte bis weit in die heutige Zeit ein Auf- und Ausbau sozialer

(25)

28 1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit Dienstleistungsangebote sowie eine Erweiterung der Anforderungsprofile.13 Neben gesellschaftspolitisch notwendigen Reaktionen, zum Beispiel auf die demographischen Veränderungen und dem damit deutlich erhöhten Bedarf an altersadäquaten Angeboten, ist gegebenenfalls eine „Erosion der Norma- lität“ zu konstatieren. Soziale Dienstleistungsangebote haben zunehmend nicht nur „soziale Randgruppen der Gesellschaft“ im Visier sondern reagie- ren auf heterogene gesellschaftliche Veränderungen. Im Zuge europäischer und nationaler Reflexionen inklusiver Sozialpolitik zeichnen sich am Hori- zont sozialstaatlichen Handelns komplexe Herausforderungen ab. Neben personenzentrierten Leistungs- und Finanzierungssystemen gilt es Begriff- lichkeiten wie „Normalität“, „Behinderung“, „abweichendes Verhalten“ etc.

als Referenzwerte sozialstaatlicher Reflexion neu zu bestimmen.

1.3 Soziale Gerechtigkeit

Am 13. März 2012 luden die Wochenzeitung DIE ZEIT und die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie der Deutschlandfunk und die Berlin- Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zum 45. ZEIT FORUM WIS- SENSCHAFT in Berlin ein. Das Thema der Veranstaltung: „Gerechtigkeit in der Krise oder was ist heute gerecht?“ In der Einladung zur Podiumsdiskussion heißt es unter anderem: „Der Begriff [soziale Gerechtigkeit, Anm. d. Verf.] wird infla- tionär gebraucht. Die Inflation hat seinen Grund: Die aktuellen Krisen verschär- fen die Gegensätze und Ungleichheiten – zwischen Arm und Reich, zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, zwischen Gewinnern und Verlierern. Was ist und wo bleibt die Gerechtigkeit?“

Gerechtigkeitsfragen wurden schon in der Antike sowohl unter individual- ethischer Perspektive als auch unter institutionell-ethischer Perspektive diskutiert (Becker/Hauser 2009: 13). Platons Dialog über den gerechten Staat, die Utopie einer besseren Gesellschaftsordnung, hat bis heute nicht nur die politische Theo- rie maßgeblich beeinflusst, sondern prägte ebenfalls Metaphysik, Ethik und Dichtungstheorie (Szlezák 1998). Anfang der siebziger Jahre leitete John Rawls mit seinem 1971 erschienenen Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ die Re- naissance der politischen Philosophie ein, indem er zentrale Gegenstandsberei- che seiner Gerechtigkeitsphilosophie beschrieb und Gerechtigkeit als soziale Tu- gend formulierte. Dementsprechend haben gesellschaftliche Institutionen die ge- rechte Verteilung von Grundgütern zu gewährleisten und die Interaktionen in-

13 So zum Beispiel die Jugendämter, welche nach den spektakulären Fällen von Kindstötungen Anfang des neuen Jahrzehnts den Schutzcharakter der Kinder wesentlich stärker in den Vordergrund stellen mussten (Kathöfer/Kotthaus/Kowol/Siebert 2011: 5).

(26)

1.3 Soziale Gerechtigkeit 29 nerhalb eines Sozialsystems zu strukturieren. Um die Universalität seiner Defini- tion von Gerechtigkeit zu begründen, geht er von einem gedanklichen Experi- ment aus, indem er die Menschen in einen Urzustand zurückversetzt. Sie haben keine Kenntnis über ihre spätere Lebenssituation und haben keine aufeinander gerichteten Interessen. Da jeder in diesem Urzustand davon ausgehen muss, dass er in einer zukünftigen Gesellschaft potentiell jeder Klasse angehören könnte, ist es ein vernünftiges Anliegen, die Rahmenbedingungen so gerecht wie möglich für alle zu gestalten. Rawls ideengeschichtliche Auseinandersetzung übte einen großen Einfluss auf die politische Theoriebildung zuerst in den USA und später auch in Europa aus (Bevc 2007: 28). 14

Der Gerechtigkeitsbegriff in der Bundesrepublik Deutschland wird insbe- sondere in § 1 SGB I konkret aufgegriffen in dem es heißt: „Das Recht des Sozi- algesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Si- cherheit […] beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Vo- raussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Er- werb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzu- wenden oder auszugleichen“.

Eine weitere Konkretisierung im Sinne einer normativen Ausrichtung findet sich nicht. Wie schon bei der Analyse des Sozialstaatsbegriffs des Grundgesetzes (Kapitel 1.1) bleiben die Gesetzgeber auch hier vage in der Wahl der Begriff- lichkeiten und überlassen die weitere Interpretation dem gesellschaftspolitischen Diskurs.15 Dass soziale Gerechtigkeit ein sehr vielschichtiger Begriff ist, zeigen insbesondere die wissenschaftlichen Forschungsbeiträge von Becker und Hauser.

So beschreiben sie in ihrem 2009 publizierten Forschungsbeitrag soziale Gerech- tigkeit als ein magisches Viereck und gehen dabei von den vier Teilzielen – Chancen-, Leistungs-, Bedarfs- und Generationengerechtigkeit aus – welche miteinander verwoben sind und Interdependenzen aufweisen.

Chancengleichheit impliziert die Aufgabe des Staates, möglichst gleiche Bedingungen für seine Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen und soziale Un- gleichheit zu vermeiden. Allerdings schränkt Hauser den Grad der Zielerrei- chung ein, indem er darauf hinweist, dass

14 Zur ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Gerechtigkeitsbegriff vgl. u. a. Sen (2010), Wolf (2011: 122ff.) sowie Becker und Hauser (2009).

15 Eine detaillierte rechtliche Auseinandersetzung mit dem Begriff „soziale Gerechtigkeit“ vgl.

Niedermeyer (2012: SGB I, § 1 Rn. 5-6.1).

(27)

30 1 Makropolitische Aspekte Sozialer Arbeit a. unterschiedliche angeborene Fähigkeiten;

b. unterschiedliche Möglichkeiten der familiären Bezugspersonen im Hinblick auf die gesellschaftliche Positionierung ihrer Kinder;

c. unterschiedliche Bildungs- und Ausbildungswege;

d. mittelbare und unmittelbare Diskriminierungen;

e. geschlechtsspezifische Rollenverteilungen und f. Vererbung oder Schenkung von Vermögenswerten

einen erheblichen Einfluss auf die weitere Lebensentwicklung nehmen und der Staat nicht in der Lage ist, alle diese Risiken auszugleichen (Becker/Hauser 2009: 24ff.).

Leistungsgerechtigkeit setzt soziale Ungleichheit voraus, da sie auf eine un- gleiche Ausgangslage und ungleiche Leistungen von Individuen reagiert (Döring 1994: 71). „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ lässt den Rückschluss zu, dass Unterschiede in der Bezahlung durchaus geduldet werden, wenn sie das Ergebnis unterschiedlicher Leistungen sind. Hier stellt sich allerdings schon die nächste Problematik. Wie kann Leistung operationalisiert und bewertet werden, um hie- raus eine gerechte Bezahlung ableiten zu können „[…], da weder über die Ab- grenzung noch über die individuelle Zurechnung und Bewertung von Leistungen bzw. Quantifizierung von Leistungsunterschieden allgemeine Einigkeit zu errei- chen ist […]“ (Becker/Hauser 2009: 32) wird in der Regel die „Definitionsmacht explizit oder implizit dem Markt überlassen“ (Döring 1994: 72).16 Da nicht alle Leistungen über den Markt ausgehandelt werden, sondern Leistungen ebenfalls in der Familie stattfinden, kann eine diesbezügliche Anerkennung auf der Grund- lage gesellschaftspolitischer Interessenpolitik nur als Transferleistung über den Staat erfolgen (Becker/Hauser 2009: 32).

Bedarfsgerechtigkeit folgt der Logik, dass nicht alle Menschen in der Lage sind, ihren Bedarf aus eigener Leistung zu decken. In Art. 1 Abs. 1 GG wird die Würde des Menschen als unantastbar hervorgehoben, unabhängig von der Pro- duktivität oder Leistungsfähigkeit des Individuums. Ziel der Bedarfsgerechtig- keit ist die Deckung des Bedarfs an privaten, öffentlichen und meritorischen17

16 Das regelmäßige Aufflammen der Diskussion über die Gerechtigkeit bei der Bezahlung von Top Managerinnen und Managern ist ein weiteres Beispiel für die gesellschaftspolitische Aus- einandersetzung mit dem Aspekt der Leistungsgerechtigkeit.

17 In der Volkwirtschaftslehre wird zwischen privaten, öffentlichen und meritorischen Gütern unterschieden. Private Güter werden von den Konsumenten nach individuellen Präferenzen ausgewählt und gegen Entgelt erworben; für sie gilt das Ausschlussprinzip. Der eigene Konsum schließt grundsätzlich Dritte von der Bedürfnisbefriedigung aus. Für öffentliche Güter gilt das Ausschlussprinzip nicht. Sie werden in der Regel aus Steuermitteln finanziert.

Beispiele für öffentliche Güter sind u.a. die innere Sicherheit oder die Landesverteidigung.

Meritorische Güter nehmen eine Zwitterstellung ein. Sie werden zwar individuell konsumiert

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