In dieser Frage steckt eine Ratlosigkeit, die auch bei Erich Fromm zu finden ist. In der geistigen Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Europa hat er den Begriff Sozialcharakter geprägt, um damit auszudrücken, daß eine charakteristische Verhaltensweise, nämlich die autoritäre, sich bei der Mehr heit ganzer Völker finden kann. Er hat uns weiter gezeigt, daß die Familie bei der massenhaften »Herstellung« dieses Charakters eine entscheidende Rolle spielt. Vor der Schluß folgerung aus diesen Beobachtungen aber schreckt er zurück, obschon er selbst seit nunmehr über vierzig Jahren als Psychotherapeut praktisch tätig ist: daß die Familie und die Erziehung in ihr der Ort und Gegenstand sein muß, wo die Arbeit zu beginnen hat und zu leisten ist, die zur Überwindung der unbewußten Gewalttätigkeit und des ohnmächtigen Be
wußtseins führen soll. Fromm erhofft Abhilfe von Verände
rungen in der Gesellschaft, als deren bloßen Agenten er die
Familie versteht. Wenn die Gesellschaft aber von Menschen
gemacht werden soll, statt als Naturgewalt über sie zu herr schen, dann müssen wir unser Augenmerk und unsere Anstren gungen auch auf die Familie als die Institution richten, in der die Menschen für eine solche Aufgabe bisher so schlecht aus gerüstet werden.
Uschi Eßbach-Kreuzer
Die Theorie des Sozialcharakters in den Arbeiten von Erich Fromm
Die sozialpsychologischen Arbeiten von Erich Fromm können als ein Teil der Forschung verstanden werden, die die Zu sammenhänge zwischen der Entwicklung der Persönlichkeits
oder Charakterstruktur und der jeweiligen Kultur und Gesellschaft zum Gegenstand hat. Fromm geht jedoch insofern über die Fragestellung der »Kultur- und Persönlichkeits schule1« hinaus, als er den Versuch unternimmt, mit Hilfe der Freudschen Psychoanalyse und der Marxschen Gesell
schaftstheorie eine historische Psychologie zu entwickeln, in nerhalb derer der Charakter des Menschen als ein Produkt derEinwirkung ökonomischer und politischer Bedingungen auf seine libidinösen Triebe dargestellt wird. Deshalb sind die
Arbeiten Fromms außerdem einzuorden in die Diskussionüber die Frage nach dem Verhältnis und der Vereinbarkeit von Psychoanalyse und der Methode und Wissenschaft des
dialektischen Materialismus2.
1 Die Kultur- und Persönlichkeitsschule (Culture and Personality) ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, vor allem bestehend aus den Wissenschaften Ethnologie, Anthropologie, Soziologie und Psycho analyse. Die zahlreichen ethnologischen und kulturanthropologischen Beiträge beschäftigen sich mit dem Vergleich verschiedener (häufig primitiver) Kulturen und den entsprechenden Sozialisationsprozessen, z. B. die Arbeiten von Margret Mead, A. Kardiner. Psychoanalytisch orientierte Autoren sind z. B. R. Spitz und E. H. Erikson.
2 Diese Diskussion wurde vor allem in der Zeit von 1920—1935 von Marxisten, Psychoanalytikern und Freudomarxisten geführt; vgl. z. B.
S. Bernfeld, Sozialismus und Psychoanalyse (1926), in: Bernfeld,, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Lutz und Werder und Rein hardt Wolff, Frankfurt 1970, S. 483—497; W. Reich, Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse (1927/28), teilweise abgedruckt in:
Psychoanalyse und Marxismus, Dokumentation einer Kontroverse, hrsg.
von H.-J. Sandkühler, Frankfurt 1970, S. 137—189; I. Sapir, Freudis- mus, Soziologie, Psychologie (1929/30), in: Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol, Bd. 1, hrsg. von H. P. Gente, Frankfurt 1970; O. Fenichel, Über die Psychoanalyse ah Keim einer zukünftigen dialektisch-mate rialistischen Psychologie (1934), in: Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol.
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In den sozialpsychologischen Arbeiten Fromms ist der Be griff »Sozialcharakter« eine zentrale Kategorie; sie soll Freudsche Personalpsychologie und Marxsche Gesellschafts
theorie vermitteln.
In der folgenden Arbeit soll untersucht werden, wie Fromm die Freudsche Theorie, insbesondere dessen Charak terologie, und die Marxsche Gesellschaftstheorie rezipiert hat.
Im weiteren soll dargestellt werden, wie »Charakter« und
»Gesellschaft« in der Theorie des Sozialcharakters vermittelt sind. Von grundsätzlichem Interesse ist dabei die Frage, welche Modifikationen, Revisionen und Akzentuierungen die Freudsche und Marxsche Theorie explizit oder implizit erfahren muß, um die Theorie des Sozialcharakters als eine Vermittlung von Psychoanalyse und Marxismus zu ermög
lichen.
1. Charakterologie
Die Rezeption der Freudschen Triebtheorie und Charakterologie
Fromms Vorstellung von Charakter, besonders von dessen Entstehung, hat sich im Laufe seiner Arbeiten deutlich ver
ändert. Während er in seinen frühen Aufsätzen mit Freuds Charakterologie übereinstimmt1, verändert und erweitert er diese in den folgenden Arbeiten4 und legt auf der Basis dieser 3 Vgl. E. Fromm, Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Be
deutung für die Sozialpsychologie, in: Zeitschrift für Sozialfotschung, Leipzig 1/1932, S. 28—54; zitiert als: »Psychoanalytische Charaktero logie«. Ders., Sozialpsychologischer Teil, in: Autorität und Familie, Paris 1936, S. 77—135; in diesem Aufsatz setzt sich Fromm vorwie gend mit dem sado-masochistischen Charakter und der Über-Ich- Bildung auseinander.
4 Vgl. E. Fromm, Die psychoanalytische Charakterkunde und ihre Be deutung für das Verständnis der Kultur, in: Psyche, Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Stuttgart 8/1954, Heft 2, S. 81 bis 91; zitiert als »Charakterkunde«. Dieser Aufsatz erschien zum ersten Mal in englischer Sprache: Psychoanalytic Characterology and its Applications to the Understanding of Culture, in: Culture and Personality, hrsg. von G. S. Sargent and M. Smith, Viking Fund, 1949.
Ders., Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt 21970, besonders S. 281 ff.; zitiert als »Die Furcht«.
Veränderungen eine vollständige Systematik seiner Charak terologie in der Arbeit Psychoanalyse und Ethik vor".
Diese allgemeine Charakterologie ist die Basis für die
Theorie des Sozialcharakters". Die Theorie des Sozialcharak
ters wäre ohne die an Freud vorgenommenen Veränderungen nicht möglich gewesen. Die Veränderungen sind das Ergebnis von Überlegungen über die Bedeutung der jeweils herrschen den Gesellschaft für die in ihr lebenden Individuen; sie zielen darauf ab, die Charakterentwicklung nicht — wie Freud es tat — aus dem persönlichen Lebensschicksal des Individuums zu verstehen, sondern als ein Teil kollektiver Lebensschick sale, welche durch die jeweilige (historisch zu bestimmende)
soziale Situation determiniert sind.
Gleichzeitig hat Fromm ganz entscheidende Erkenntnisse Freuds mit in seine Charakterologie hineingenommen.
Im folgenden sollen zunächst die mit Freud übereinstim menden Vorstellungen, dann die von ihm abweichenden auf gezeigt werden.
Die allgemeine Grundlage der psychoanalytischen Charak terologie ist, bestimmte Charakterzüge aufzufassen als Sublimierung beziehungsweise Reaktionsbildung bestimm ter sexueller (im erweiterten, von Freud so gebrauchten Sinn) Triebregung beziehungsweise als Fortsetzung be stimmter in der Kindheit diesen Triebregungen koordinier ter Objektbeziehungen7.
Fromm versteht — wie Freud — den Vorgang der Sub limierung als eine Ablenkung der sexuellen Energie vom ursprünglichen Triebziel bei gleichzeitiger Zuwendung zu nicht-sexuellen (geistigen und psychischen) Zielen. Die Re aktionsbildung dagegen hat »immer die Funktion der Ab wehr und Niederhaltung eines verdrängten Triebimpulses,
5 Ders., Psychoanalyse und Ethik, Stuttgart 21954; zitiert als »Ethik«.
6 Die Tatsache, daß diese Charakterologie sowohl der Charakteranalyse von Individuen dient, als auch die inhaltliche und begriffliche Grund lage für Fromms historische Psychologie darstellt, in die die Theorie des Sozialcharakters eingeordnet werden kann, ergibt sich, wie später deutlich wird, aus Fromms Vorgehen keine grundsätzliche Trennung von Individualpsychologie und Sozialpsycholog'ie vorzunehmen.
7 E. Fromm, Psychoanalytische Charakterologie, a.a.O. S. 254.
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aus dem sie auch ihre Energie bezieht«8; sie unterscheidet sich damit von der Sublimierung durch eine fehlende »direkte Verarbeitung, eine »Kanalisierung« der Triebregung ...«".
Mit sexuellen Triebregungen sind die von Freud dargestell ten prägenitalen Sexualimpulse gemeint, die sogenannten
»Partialtriebe«. Diese werden als Triebäußerungen verstan den, die sich in verschiedenen frühkindlichen Phasen an ver
schiedenen erogenen Zonen orientieren. Die schematische Dar stellung dieser Phasen — orale, anale, phallische Phase —
diente Freud — wie Fromm betont — nur zu einer ungefähren Abgrenzung; in Wirklichkeit ist eine mechanistische Auf einanderfolge selbstverständlich nicht vorhanden; vielmehr
wird man von einer Zu- und Abnahme der verschiedenen Triebtendenzen sprechen können.
Nach einer Latenzzeit, die etwa bis zur Pubertät dauert, kommt es dann im Zusammenhang mit der körperlichen
Reifung zur Entwicklung der eigentlichen genitalen Sexua
lität, der die prägenitalen Sexualstrebungen unter- beziehungsweise eingeordnet werden, das heißt zur endgültigen
Herstellung des Primats der Genitalität1".Von dieser Organerotik sind die Objektbeziehungen zu unterscheiden, die affektiven Einstellungen — Liebe, Haß usw. — zu den Kontaktpersonen, die Gefühlshaltung zur Umwelt. Organlust und Objektbeziehungen stehen zwar insofern im Zusammenhang, als sich bestimmte Objektbezie
hungen erst mit der Organlust entwickeln. Fromm stellt je doch die Frage, ob dieser Zusammenhang — wie häufig dar gestellt — ein so enger ist oder ob sich die für eine erogene
Zone typische Objektbeziehung nicht auch »unabhängig von den besonderen Schicksalen dieser erogenen Zone .. . ent wickeln kann«11. Diese Bemerkung ist deshalb wichtig, weil8 Ders., Psychoanalytische Charakterologie, a.a.O. S. 255.
9 Ebd. Freud hat die prägenitale Libidoentwicklung ausführlich dar gestellt in: Die infantile Sexualittä, aus: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke V, London-Ffm. 1940 ff. Libidoentwicklung und Sexualorganisation, XXI. Vorlesung, Ges. Werke XI, London-
Ffm. 1940 ff.
10 E. Fromm, Psychoanalytische Charakterologie, a.a.O., S. 256.
11 Ders., Psychoanalytische Charakterologie, a.a.O., S. 257.
sie ein Interesse erkennen läßt, das Fromm später in seinen von Freud abweichenden Positionen formuliert hat: daß nämlich die Art und Weise, wie sich die für eine frühkind liche Periode typische Objektbeziehung und die damit ver bundenen Gefühlseinstellungen entwickeln, eigenständige, ja wichtigste Determinante für die Charakterbildung ist.
Wie sich Objektbeziehungen und Organlust für ein Kind gestalten, in welchem Maße es Befriedigung oder Versagung auf seine Triebimpulse erhält, bestimmen die Formen der Sublimierung und Reaktionsbildung und damit letztlich seine Charakterstruktur. So können zum Beispiel Einstellungen und Verhaltensweisen wie Lust beziehungsweise Unfähigkeit am Behalten und Sammeln, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Geiz usw., wie sie für den Analcharakter typisch sind, als charakterologische Fortsetzung der ursprünglichen Analerotik
abgeleitet werden. So wird Liebe zum Besitz auf die ur
sprüngliche Liebe zum Kot zurückgeführt, ein übermäßigerSpartrieb ergibt sich aus der Sublimierung eines »unbewußten
Stuhlverhaltungswunsches«12 und so fort. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle Genaueres über den Vorgang der Sublimierung und Reaktionsbildung zu sagen; wichtig ist nur die Vorstellung, daß sich über diese Vorgänge libidinöse, organerotische Impulse in Charakterzüge umsetzen.Ein paar Jahre später wendet sich Fromm gegen diese kausale Ableitung der Charakterzüge aus Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Libido. So sei zwar die Beschrei
bung des Analcharakters durch Freud und andere »klinisch
richtig«, dennoch könnedie theoretische Erklärung nicht aufrechterhalten werden, es sei denn, man verstehe sie symbolisch. Was Freud den Analcharakter nannte, kann als besondere Art der Bezie
hung zur Welt verstanden werden. Solche Menschen ziehen
sich in eine befestigte Position zurück. Ihr Ziel ist es, alleäußeren Einflüsse abzuwehren ... Für diesen Charakter
bedeutet Isolierung Sicherheit, Liebe und Intimität. . . dagegen Gefahr11.
12 Ders., Die Furcht, a.a.O., S. 283.
13 E. Fromm, Charakterkunde, a.a.O., S. 87.
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Von daher sind Charakterzüge wie Ordentlichkeit und Pünktlichkeit zu verstehen als ein Versuch, »die Dinge in ihre Schranken zu weisen . .. (beziehungsweise) der Welt ihre
zeitliche Ordnung . . . zuzuweisen«14. Hier wird die unter schiedliche Akzentuierung ganz deutlich: Während Freud den genetischen Aspekt von Charakterzügen hervorhebt, indem er
die Formen der Reaktionsbildung beschreibt, betont Fromm
den funktionalen Aspekt von Charakterzügen, das heißt für ihn sind Charakterzüge von ihrer Funktion, die sie für die Stabilisierung der jeweiligen Gefühls- und Einstellungsquali
täten haben, her zu verstehen.Es muß betont werden, daß für Fromm nach wie vor die
libidinösen Triebimpulse Antriebsquelle für die Charakter
bildung sind:Richtig gesehen (von Freud, d. Verf.) war die leidenschaft
liche und irrationale Natur dieser »oralen« und »analen«
Charakterzüge sowie die Tatsache, daß derartige Wünsche
alle Bereiche der Persönlichkeit durchdringen .. ."
Jedoch sind die Triebimpulse nicht deshalb so bedeutungs voll, weil — wie Freud annahm — deren Befriedigung oder Versagung unmittelbarer Schlüssel für den Charakter dar stellen, sondern weil die Triebimpulse das primäre »Material«
sind, was ein Kind zur Verfügung hat, wenn es sich — und
das ist das Entscheidende — zur Welt in Beziehung setzt;und erst die Erfahrungen, die es dabei macht, indem es Reaktionen aus der Umwelt rezipiert, die — meist unbe wußt — weiterwirken, prägen seine Charakterzüge.
Diese Korrektur an Freud kann nur aus Fromms Gesamt
vorstellung vom Menschen verstanden werden: Der Mensch
ist nicht,
wie Freud annimmt, sich selbst genügend und erst sekundär
zur Befriedigung seiner instinktiven Bedürfnisse auf andere
Menschen begierig und angewiesen1",
sondern er ist primärein soziales Wesen. Damit folgt Fromm, wie er selber bemerkt, H. S. Sullivan, der die zwischen-
14 Ebd.
15 E. Fromm, Die Furcht, a.a.O., S. 283.
16 Ders., Die Furcht, a.a.O., S. 282.
menschlichen Beziehungen als Gegenstand der Psychoanalyse
definiert. Fromm erweitert diese These, indem er den zwi schenmenschlichen Beziehungen die Beziehungen zur Welt — Natur und Gesellschaft — hinzufügt.So kann zusammenfassend gesagt werden: Fromm stimmt insofern mit Freud überein, als er libidinöse Triebe als
Grundlage des menschlichen Charakters annimmt, die diesem dynamische Qualität verleihen. Auch die Auffassung, daß die
Charakterstruktur die besondere Richtung darstellt, in die
seine Energie gelenkt wird, ist mit der Freuds identisch. Fer ner folgt er Freud in der Annahme, daß die Verhaltensweisen
eines Individuums Ausdruck seiner Charakterstruktur und die Motive dieser Verhaltensweisen meist unbewußter Natursind17.
Fromm weicht insofern von Freud ab, als er die bestimm
ten Charakterzüge, die sich bei einem Individuum herausbil den, aus der Art und Weise der Beziehung des Individuums
zu den Menschen und zur Welt erklärt.
Auf der Grundlage dieser Relationsvorstellung entwickelt Fromm seine systematische Charakterologie, die kurz skiz
ziert werden soll:
Der Mensch setzt sich zur Welt in Beziehung, indem er sich
Dinge aneignet — Assimilationsprozeß — und indem er mit
anderen Menschen und sich selbst kommuniziert — Vergesell schaftungsprozeß.
Charakter kann definiert werden als die relativ perma nente Form, in welche die Energie des Menschen während des Prozesses der Assimilation und Vergesellschaftung ge
leitet wird18.
17 Vgl. Franz Heigl, Die humanistische Psychoanalyse Erich Fromms, in:
Zeitschrift für Psychosomatische Medizin, Göttingen, 7/1961 2. Vier teljahresheft, S. 78 ff.
18 E. Fromm, Ethik, a.a.O., S. 74. Der Charakter kann als Ersatz für den beim Menschen nicht vorhandenen Instinktapparat betrachtet wer den. Ist die Energie kanalisiert, dann vollzieht sich das Handeln getreu dem Charakter. Fromm weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß diese Tatsache für das Individuum eine wichtige Entlastung bedeutet, weil es sich in bestimmten, ähnlichen Situationen nicht ständig neu zu entscheiden habe, da seine Verhaltensweisen annähernd
habitualisiert sind.
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Jedem Charakter liegen bestimmte Orientierungen zu
grunde, die Fromm zunächst in produktive und nichtproduk
tive Orientierungen unterteilt. Diese Kategorien enthalten bestimmte Wertvorstellungen über die Natur des Menschen, seine Bedürfnisse und Möglichkeiten. Fromm hat sehr oft die Aufgabe der Psychologie betont, von einer deskriptiven Wis senschaft zu einer normativen, humanistischen Psychologie zu gelangen, die darüber aussagen kann, was für den Menschen gut ist. Er selbst hat diese Frage nur partiell beantwortet, zum Beispiel bei der Darstellung des »produktiven Charak ters« (siehe unten). Der Mensch hat — so Fromm — über seine Selbsterhaltungstriebe hinaus das Bedürfnis nach pro duktivem Denken, Arbeiten und Lieben. Was das im einzel nen bedeutet, wird nur ansatzweise deutlich und läuft letzt lich auf eine allgemeine Kreativitätsvorstellung hinaus.Die Forderung nach einer normativen Psychologie ist ge koppelt mit Fromms gesellschaftspolitischen Reformvorstel lungen, die er hauptsächlich in neueren Arbeiten formuliert hat. Die gegenwärtigen Gesellschaften — und damit meint Fromm vor allem die Vereinigten Staaten und Westeuropa — müssen so verändert werden, daß der Mensch von seiner Unproduktivität befreit wird, die sich am deutlichsten in ent fremdeter Arbeit zeigt. Der Mensch muß sich zu einem pro duktiven Charakter entwickeln können. Es soll später deut lich werden, wie Fromm seine Charakterologie und die Theo rie des Sozialcharakters dazu benutzt, Maßstäbe für eine humane Gesellschaft zu setzen, und wie umgekehrt die ge sellschaftlichen Analysen an Bedeutung und Exaktheit ver lieren, weil das ethische Interesse im Vordergrund steht und häufig mit gesellschaftstheoretischen Problemen verbunden
wird.
Unter die »nichtproduktiven Orientierungen« faßt Fromm die »rezeptive, ausbeuterische, Hamster- und Marktorientie- rung«19. Diese Bezeichnungen dienen zur Charakterisierung der Assimilation. In bezug auf die Vergesellschaftung gibt es analog zu diesen Erscheinungen die masochistische, sadistische,
19 E. Fromm, Ethik, a.a.O., S. 77 ff.
destruktive und indifferente Haltung2". Fromm betont, daß diesen »negativen« Orientierungen jeweils entsprechende positive Anteile zugeordnet werden müssen, so daß zum Bei spiel Menschen mit einer ausbeuterischen Orientierung neben den Tendenzen, anderen etwas mit List oder Gewalt weg zunehmen, »gesunde« kaptative Fähigkeiten besitzen, Men schen mit einer Hamsterorientierung neben stark ausgepräg tem Geiz und übermäßiger Distanz zur Umwelt die Fähig keit besitzen, Dinge zu behalten und so fort.
Die produktive Orientierung hat Fromm, wie er selbst be merkt, in Anlehnung an Freuds genitalen Charakter kon zipiert. Ein Individuum mit produktivem Charakter ist in der Lage, seine individuellen Fähigkeiten in den Bereichen Arbeit, Liebe und Vernunft befriedigend zu realisieren:
Die produktive Orientierung bezieht sich auf eine funda mentale Verhaltensweise, nämlich darauf, wie der Mensch sich in allen Bereichen menschlicher Erfahrung in Beziehung setzt. Sie betrifft geistige, gefühlsmäßige und Sinnes reaktionen auf Menschen, Gegenstände und auf sich selbst.
Produktivität ist die Geschicklichkeit des Menschen, seine Fähigkeiten zu gebrauchen und die in ihm schlummernden Möglichkeiten zu verwirklichen. Wenn wir sagen, er muß seine Fähigkeiten gebrauchen, so heißt dies, daß er frei sein und von niemandem abhängen darf, der ihn (.. .) beherrscht (...). Produktivität bedeutet, daß der Mensch sich selbst als Verkörperung seiner Fähigkeiten und als Handelnder erlebt; daß er eins ist mit seinen Fähigkeiten und daß sie nicht vor ihm verborgen und ihm entfremdet
sind21.
20 Fromm betont, daß diese Begriffe idealtypisch sind und deshalb nicht geeignet, den Charakter von bestimmten Individuen zu beschreiben.
Der Charakter eines Individuums »stellt meist eine Mischung aller oder einiger dieser Orientierungen dar. . ., wobei allerdings eine dominiert«. Psychoanalyse und Ethik, S. 77.
21 E. Fromm, Ethik. a.a.O., S. 99 f.
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Aus diesen Unterscheidungen ergibt sich folgendes Schema:
Assimilation Vergesellschaftung /. Nichtproduktive Orientierung a) Rezeptive Orientierung Masochistisch
(Annehmen) (Treue)
b) Ausbeuterische Orientierung Sadistisch
(Nehmen) (Autorität)
c) Hamster-Orientierung Destruktiv
(Bewahren) (Selbstbehauptung)^.
d) Markt-Orientierung Indifferent
(Tauschen) (Gerechtigkeit)
Symbiose
//. Produktive Orientierung
Arbeiten Lieben, vernunftgemäß denken22 Aus der historischen Abfolge der Arbeiten Fromms wird deutlich, daß diese Charakterologie nicht allein aus Über legungen über individualpsychologische Fragen resultiert.
Allein der Begriff »Marktorientierung«, der, wie Fromm selbst bemerkt, keinem der Freudschen prägenitalen Charak tertypen zugeordnet werden kann, ist ein Zeichen dafür, daß Fromm gesellschaftstheoretische Überlegungen in der Cha rakterologie verarbeitet hat". Das wichtigste Ergebnis ist die These, daß das Vorherrschen einer Orientierung nur zum ge ringen Teil vom Individuum bestimmt ist — nämlich durch dessen Temperament24; vielmehr geben »soziale Bedingungen
22 Ders., Ethik, a.a.O., S. 126.
23 Um einen möglichen falschen Eindruck über das Verhältnis von psychoanalytisch und soziologisch orientierten Arbeiten bei Fromm zu vermeiden, soll darauf hingewiesen werden, daß die Beschäftigung mit gesellschaftstheoretischen Fragen keineswegs eine Folge der Freud-Revision war; denn die Aufsätze in der Zeitschrift für Sozial forschung enthalten bereits wichtige soziologische und sozialpsycho logische Arbeiten. Vielmehr wird man umgekehrt vermuten können, daß die Auseinandersetzung mit gesellschaftstheoretischen Fragen, vor allem die Marx-Rezeption, die sachlich notwendige Konsequenz hatte, die Freudsche Charakterologie zu revidieren.
24 »Temperament ist eine Reaktionsnorm, es ist konstitutionell und un veränderlich. Der Charakter formt sich im wesentlichen durch Erleb nisse, besonders in der Jugend.« Erich Fromm, Ethik, S. 67.
einer der vier nicht-produktiven Orientierungen das Über gewicht«25. Die jeweilige wirtschaftliche und politische Struk
tur der Gesellschaft bestimmt weitgehend, wie sich die in ihr lebenden Mitglieder zueinander und zur Welt in Beziehung setzen, und entscheidet damit weitgehend über ihre Charak terorientierung.Bevor die Vermittlung von sozialen Bedingungen und Charakterorientierungen dargestellt werden kann, soll ge klärt werden, was Fromm unter »sozialen Bedingungen«
versteht, welchen Begriff von Gesellschaft er zu Grunde legt.
2. Gesellschaftsbegriff
Die Rezeption der Marxschen TheorieFromms gesellschaftstheoretische Aussagen sind an keiner Stelle systematisch dargelegt, sondern können jeweils nur aus
der Darstellung von bestimmten, historisch determinierten Gesellschaftsstrukturen wie Feudalismus, Kapitalismus, Faschismus usw. abgeleitet werden20. Annähernd systematische Aussagen finden sich in dem Aufsatz Über Methoden und
Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie und in demKapitel »Sozialismus« in Der moderne Mensch und seine
Zukunft, in dem Fromm sich vor allem mit marxistischenTheoretikern auseinandersetzt.
Die Gesellschaftstheorie von Marx hat entscheidenden Ein fluß auf Fromms Vorstellungen über Gesellschaft gehabt.
Fromms Marx-Rezeption richtet sich jedoch in weit größerem Maße auf anthropologische als auf sozioökonomische Aspekte der Marxschen Theorie. Auch der entscheidende Teil der Marxkritik Fromms zielt darauf, daß Marx eine Darstellung der für jeden Gesellschaftsprozeß wichtigen anthropologi-
25 Erich Fromm, Ethik, S. 93.
26 E. Fromm, Freiheit zur Zeit der Reformation. Das Doppelgesicht der Freiheit, in: Die Furcht vor der Freiheit, S. 48—107.
Ders., Der Kapitalismus des 11. und 18. Jahrhunderts; Der Kapitalis mus des 19. Jahrhunderts; Die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, in:
E. Fromm, Der moderne Mensch und seine Zukunft, Frankfurt M969, S. 77—101; im folgenden zitiert als: Der moderne Mensch.
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sehen und psychologischen Faktoren vernachlässigt habe. Um so mehr versucht Fromm an anderen Stellen, diese Faktoren nicht nur aus den Marxschen Arbeiten abzuleiten, sondern sie als deren entscheidende Teile herauszustellen.
Diese »Anthropologisierung« der Marxschen Theorie, die
— was den letzten Punkt betrifft — bis zu einer sehr frag würdigen Marx-Interpretation geht, soll in der folgenden Darstellung mitdiskutiert werden, weil ihr vermutlich ein Interesse zugrunde liegt, das mit den Fragestellungen dieser Arbeit eng verbunden ist; das Interesse nämlich, Psychoana lyse und dialektischen Materialismus als methodisch zu ver einbarende und inhaltlich einander verwandte bzw. ergän zende Wissenschaften dazustellen, die Theorie des Sozial charakters in die marxistische Theorie einzubauen und dar über hinaus den Marxismus als eine in der Tradition des Humanismus stehende Wissenschaft vom Menschen zur
Grundlage für eine humanistisch-politische Ethik zu machen.
Fromm geht davon aus, daß es »keine Gesellschaft im all gemeinen, sondern nur spezifische soziale Strukturen (gibt, d. Verf.), die auf verschiedene und feststellbare Weise funk tionieren«27. Jede Gesellschaft ist durch eine doppelte ge sellschaftliche Realität bestimmt,
die weitere, für alle Mitglieder der Gesellschaft geltende und die engere Klassenrealität innerhalb der Gesellschaft, die nur für die Angehörigen der betreffenden Klasse Gel tung hat28.
Was die weitere gesellschaftliche Realität betrifft, so sind
ihre Struktur und ihr Funktionieren von den materiellen und
ökonomischen Bedingungen abhängig, wie: geographische Lage, Klima, Rohmaterialien; Stand der Produktivkräfte, Produktionsmethoden, Verteilungssystem. Daraus resultieren Herrschaftsverhältnisse, die sich in Klassen oder Schichten manifestieren, und ein bestimmter politischer Machtapparat.
Ideologien (Religionen, philosophische Anschauungen) — aus den ökonomischen Bedingungen hervorgehend — stabilisie ren als wichtige Teile des Überbaus die ökonomische Basis.
27 Ders., Der moderne Mensch, a.a.O., S. 74.
28 Ders., Das Christusdogma, Wien 1931, S. 19.
Was den sozialen Wandel betrifft, so verändern sich zwar die Sozialstrukturen, sind jedoch innerhalb einer bestimm
ten historischen Periode relativ stabil. Diese relative Stabili
tät, die für das Bestehen einer Gesellschaft notwendig ist, ist nur dann gewährleistet, wenn sich die Gesellschaft »innerhalb des Rahmens dieser bestimmten Struktur bewegt«29.
Diese verkürzte Darstellung soll genügen, um anzudeuten, welche Teile der Marxschen Theorie auf Fromms Vorstellung von Gesellschaft Einfluß gehabt haben. Wichtig ist, daß Fromm den Themenbereich Klassenbewußtsein, Klassen kampf und Revolution ausgespart hat und deshalb die Kate gorien »Klasse« oder »Schicht« nur formale Bedeutung ha ben. Diese Vernachlässigung hat, wie später deutlich wird, für die Theorie des Sozialcharakters problematische Kon
sequenzen.
Die Kritik an Marx setzt bei dem Problem von Basis und
Überbau an und besteht darin, daß Marx die Frage der Um setzung ökonomischer Bedingungen im Bewußtsein der Men schen vernachlässigt habe; und zwar insofern, als er mangels einer brauchbaren materialistischen Psychologie die Rolle des Menschen (speziell dessen Triebapparat und Charakterbil dung) in diesem Prozeß nicht erklären konnte. Marx und Engels konnten zwar
richtige Zuordnungen zwischen Unterbau und ideologi schem Überbau vornehmen, ohne doch zu klären, wie der Weg der Ökonomie zum menschlichen Kopf oder Herz geht30, wie sich die ökonomische Basis in den ideologischen
Überbau umsetzt31.
Diese Lücke in der Marxschen Theorie kann durch psycho analytische Erkenntnisse gefüllt werden. Die Psychoanalyse kann aufzeigen, durch welche Mechanismen sich das mensch liche Triebpotential der jeweils herrschenden sozio-ökonomi- schen Struktur anpaßt und wie sich aus diesem Anpassungs prozeß heraus die entsprechenden Ideologien entwickeln.
29 Ders., Charakterkunde, a.a.O., S. 84 f.
30 Ders., Jenseits der Illusionen, Konstanz 1967, S. 79; im folgenden
zitiert als Illusionen.
31 Ders., Illusionen, a.a.O., S. 83.
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Die Psychoanalyse kann zeigen, daß die Ideologien die Produkte von bestimmten Wünschen, Triebregungen, In teressen, Bedürfnissen sind, die selber zum großen Teil nicht bewußt, als »Rationalisierung« in Form von Ideolo gie auftreten; daß aber diese Triebregungen selbst zwar einerseits auf der Basis biologisch bedingter Triebe erwach sen, aber weitgehend ihrer Quantität und ihrem Inhalt
nach von der sozial-ökonomischen Situation des Indivi duums bzw. seiner Klasse geprägt sind.32
Es gelte, aus den Erkenntnissen des dialektischen Mate rialismus und der Psychoanalyse eine Methode zu entwik- keln, die es erlaubt, diesen Prozeß des »Zusammenwirkens
»natürlicher« und gesellschaftlicher Faktoren« zu beschreiben33.
Von diesen Fragestellungen aus gelangt Fromm zur Theorie des Sozialcharakters, wobei dieser als ein Ergebnis dieses 32 Ders., Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsycho
logie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Leipzig 1/1932, S. 40; im folgenden zitiert als: Analytische Sozialpsychologie.
33 In dem Aufsatz Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie legt Fromm ausführlich die Berührungspunkte zwi schen dialektischem Materialismus und Psychoanalyse dar und legi timiert die Methode einer analytischen Sozialpsychologie, die Anwen dung psychoanalytischer Kategorien auf historische Ersdieinungen.
Er geht dabei von der These aus, daß die psychoanalytische Methode eine dialektisch-materialistische Methode sei und es deshalb auch legitim sei, sie für die Analyse gesellschaftlicher Prozesse heranzu ziehen. Dabei wendet er sich vor allem gegen Wilhelm Reich, der betont, daß die Anwendung psychoanalytischer Kategorien auf gesell schaftliche Erscheinungen und Prozesse (Streik, Klassenbewußtsein usw.) zu verschleiernden, unwissenschaftlichen Ergebnissen führt, weil diese Erscheinungen nur mit soziologisch-ökonomischen Kategorien dialektisch erkannt werden können. In dem Aufsatz Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse setzt sich Reich ausführlich mit der oben dargelegten Argumentation Fromms auseinander und bewertet sie als formallogische Ungenauigkeit: die Tatsache, daß die psycho analytische Methode eine dialektisch-materialistische sei (was Reich niefit bestreitet), bedeutet noch lange nicht, daß man sie aus diesem Grund für die Erkenntnis sozialer Zusammenhänge heranziehen könne: »Denn die Methode der Untersuchung hängt nicht in der Luft, sondern ist in ihrem besonderen Wesen von demjenigen Gegen stand bestimmt, auf den sie angewendet wird.« (W. Reich, Dialek tischer Materialismus und Psychoanalyse, in: Dialektischer Materialis mus und Psychoanalyse (Reich, Fromm, Bernfeld, Underground Press, Berlin 1968, S. 50.)
Zusammenwirkens verstanden wird, als ein »Vermittler«
zwischen Basis und Überbau.
Bevor jedoch Funktion und Entstehung des Sozialcharak ters dargestellt werden, einige Bemerkungen zu dem hier
deutlich werdenden wissenschaftlichen Interesse Fromms und
den damit verbundenen gesellschaftstheoretischen Vorstel lungen.
Es wird deutlich, daß das Hauptinteresse Fromms darin liegt, erstens die Prozesse im Triebapparat und Bewußtsein des Menschen aus dessen Standort in der jeweiligen Gesell
schaft zu erklären und zweitens dadurch die Erkenntisse
über die jeweiligen sozialen Erscheinungen zu erweitern. Die ses letzte soziologische Problem wird jedoch für Fromm im Laufe seiner Arbeiten immer unwichtiger, so daß letztlich das anthropologische Interesse überwiegt. Soziale Erscheinungen werden nur noch zu dem Zweck analysiert, um sie als Hin dernisse für die produktive Entfaltung des Menschen auf zuzeigen. Als exemplarischer Beleg für diese Verschiebung kann folgendes Zitat dienen:
Die Analyse der Gesellschaft und des historischen Verlaufs muß mit der Analyse des Menschen beginnen, aber nicht mit einer Abstraktion, sondern mit dem wirklichen kon kreten Menschen in seinen physiologischen und psycho logischen Eigenschaften. Am Anfang muß eine Konzeption vom Wesen des Menschen stehen, und das Studium des Wirtschaftslebens und der Gesellschaft dient nur dazu, verstehen zu lernen, wie die Verhältnisse den Menschen verkrüppelt haben und wie er sich und seinen Kräften fremd geworden ist. Die Natur des Menschen kann nicht abgeleitet werden aus ihren spezifischen Manifestationen, wie sie das kapitalistische System erzeugt hat. Unser Ziel muß sein, zu erfahren, was für den Menschen gut ist.34 Diese Verschiebung ist durch den Widerspruch gekenn zeichnet, daß Fromm auf der einen Seite das »Wesen des Menschen« bestimmen will, also eine ontologische Position einnimmt, auf der anderen Seite aber gerade die soziale
34 E. Fromm, Der moderne Mensch, a.a.O., S. 225.
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Determiniertheit des Menschen betont, also genau konträr, historisch-materialistisch argumentiert. Fromm hat hier eine oft formulierte Absicht nicht konsequent durchgeführt: näm
lich bei der Darstellung des Verhältnisses Individuum-Gesell
schaft mit einer ökonomisch-soziologischen Analyse der ge sellschaftlichen Erscheinungen zu beginnen, um dann an zweiter Stelle mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse dieAnpassung des Individuums an die soziale Wirklichkeit zu
bestimmen. Diese Trennung der beiden Ebenen: soziale Wirk lichkeit auf der einen und deren Repräsentanz im Bewußt sein der Individuen auf der anderen Seite, ist notwendig, weil sonst — wie Reich zu Recht kritisiert (s. Anm. 33) — einegenaue soziologische Analyse nicht gewährleistet ist und objektive gesellschaftliche Erscheinungen durch die Darstel lung in psychoanalytischen Kategorien auf Erscheinungen
reduziert werden, die im Triebapparat und im Bewußtsein des Menschen determiniert sind. Das soll nicht bedeuten, daßdie Psychoanalyse für soziologische Darstellungen wertlos sei.
Sie ist insofern relevant, als sie ergänzend Auskunft darüber
geben kann, in welchen Prozessen sich die ökonomischen und
sozialen Erscheinungen im menschlichen Bewußtsein manife stieren und wie diese Bewußtseinsstrukturen auf die soziale Wirklichkeit zurückwirken. Diese Art des Vorgehens ist von Fromm auch an einigen Stellen formuliert worden. In vielenFällen jedoch werden die beiden verschiedenen Ebenen nicht
auseinandergehalten oder — das wird in dem obigen Zitat sehr deutlich — die Akzente werden so verschoben, daß die anthropologische Frage im Vordergrund steht und die Ge sellschafts-Analyse zur peripheren Aufgabe wird.Zahlreiche Arbeiten lassen Fromms intensives Bemühen erkennen, Marx für dieses letztlich psychologisch-ethische Interesse nutzbar zu machen. Das wird bereits in einem Aufsatz von 1932 tendenziell deutlich; dort betont Fromm zwar, daß der historische Materialismus weit davon entfernt
sei, eine psychologische Theorie zu sein; dennoch habe er
einige psychologische Voraussetzungen:Die Tatsache, daß es die Menschen sind, die ihre Geschichte machen, zweitens, daß es die Bedürfnisse .. . sind, die das Handeln motivieren, und drittens, daß diese Bedürfnisse
im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung steigen und diese Bedürfnissteigerung eine Bedingung für die steigende wirtschaftliche Tätigkeit darstellt35.
So vorsichtig Fromm die psychologischen Implikationen der Marxschen Theorie auch formuliert, sie als deren wesent liche Bestandteile zu nennen, bleibt äußerst fragwürdig, so lange nicht die völlig anderen, nämlich ökonomischen Vor aussetzungen genannt werden, die diesen Begriffen zugrunde liegen und sie deshalb auch zu primär ökonomischen Kate gorien machen. Wenn Marx von Bedürfnissen wie Essen, Trinken, Schlafen spricht, so deshalb, um deutlich zu machen, daß aus diesen primären Lebensbedürfnissen ökonomische Prozesse resultieren, die für die Befriedigung dieser Bedürf nisse notwendig sind. Es geht Marx nicht primär darum, daß die Menschen Bedürfnisse haben, sondern darum, welche ge sellschaftlichen Verhältnisse sie zur Befriedigung ihrer Be dürfnisse eingehen und welche Widersprüche sich aus der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte mit den vor handenen Produktionsverhältnissen ergeben36.
Diese schon hier in der Tendenz vorhandene Ungenauig- keit entwickelt sich in den späteren Arbeiten Fromms zu einer noch fragwürdigeren Marx-Interpretation: das Ent
scheidende an der Marxschen Theorie sei eine in der Tradi tion des westlichen Humanismus stehende Wissenschaft vom
Menschen. Diese Marx-Stilisierung zu einem sozialistisch humanistischen Anthropologen wird am deutlichsten in einem Kommentar zu (von Fromm selbst ausgewählten) Frühschrif ten unter dem Titel: Das Menschenbild bei Marx: Dort heißt es:
Das wirkliche Ziel von Marx ist die Befreiung des Men schen vom Druck der ökonomischen Bedürfnisse, damit er 35 Vg'l. E. Fromm, Analytische Sozialpsychologie, a.a.O., S. 42.
36 »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Men schen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Ver hältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwick lungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.« K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, MEW, Bd. 13, S. 8,
Berlin 1961.
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sich — das ist dabei entscheidend — in seiner vollen Menschlichkeit entfalten kann. Das wichtigste Anliegen von Marx ist also die individuelle Emanzipation des Men schen, die Überwindung der Entfremdung, die Wiederher stellung seiner Fähigkeit, sich zum Menschen und der Natur voll in Einklang zu setzen. Ich behaupte weiter, daß Marx' Philosophie einen geistigen Existenzialismus in wis senschaftlicher Sprache darstellt und eben wegen seiner gei stigen Qualität im Gegensatz zur materialistischen Praxis und zur nur dünn verhüllten Philosophie unseres Zeit alters steht. Marx' Ziel, ein auf seiner Theorie vom Men schen basierender Sozialismus, ist im wesentlichen prophe tischer Messianismus in der Sprache des neunzehnten Jahr
hunderts.37
Und in einem 1970 erschienenen Aufsatz versucht Fromm darüber hinaus, bei Marx bisher noch nicht entdeckte »Prin zipien einer humanistischen Tiefenpsychologie« nachzuwei sen; Beweis dafür sei die Art und Weise, wie Marx die Be griffe »Leidenschaft«, »Begierde« u. a. verwende38.
Fragt man nach den Ursachen solcher Revisionen der Marxschen Theorie, so wird man auf der einen Seite Fromms starke Motivation nennen müssen, Marx' Theorie gegen die antikommunistische Marx-Interpretation im Sinne einer vul gärmaterialistischen Theorie zu schützen; Fromm hat dieses
Interesse selbst in seinem Kommentar zu den Frühschriften formuliert.
Auf der anderen Seite wäre die Theorie des Sozialcharak
ters nicht möglich gewesen, wenn Fromm der Marxschen Theorie, vor allem der Klassen- und Revolutionstheorie, voll ständig und konsequent gefolgt wäre. Diese Notwendigkeit, bestimmte Teile der Marxschen Theorie auszusparen, soll in der folgenden Darstellung des Sozialcharakters deutlich
werden.
37 E. Fromm, Das Menschenbild bei Marx, Frankfurt 1963, S. 16.
38 Ders., Marx' Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen (1968), in: E.
Fromm, Analytische Sozialpsychologie und Geselhchaftstheorie, Frankfurt 1970, S. 145—161.
3. Der Sozialcharakter a) Seine Funktion
Wie oben dargelegt, ist die Stabilität der ökonomischen, po litischen und ideologischen Strukturen einer jeden Gesellschaft nur dann gewährleistet, wenn sich die Gesellschaft im Rah men dieser Strukturen bewegt. Das bedeutet für die Mit glieder dieser Gesellschaft: sie haben sich so zu verhalten, daß sie den Normen und Regeln entsprechen, die für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig sind. Da Ver haltensmuster in der spezifischen Charakterorientierung be gründet sind und diese durch bestimmte Einstellungsquali täten zur Umwelt definiert ist, gelangt Fromm zu der These:
Allen Individuen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft
beziehungsweise Klasseist die Qualität ihrer Einstellungen zur Umwelt, ihre bestimmte Charakterorientierung weitgehend von der jeweiligen Gesellschaft — und das heißt primär: von der in ihr bestehenden ökonomischen Situation — vorgeschrie ben. So gibt es neben den individuell bestimmten Unterschie den in der Charakterentwicklung allen Mitgliedern gemein same Charakterorientierungen: der Sozialcharakter. Dieser
kann definiert werden als
der Kern der Charakterstruktur, der von den meisten Angehörigen einer Gesellschaft geteilt wird, im Gegen satz zum individuellen Charakter, in dem die Menschen derselben Gesellschaft sich voneinander unterscheiden39.
39 E. Fromm, Der moderne Mensch, a.a.O., S. 73. Der Begriff »Sozial charakter« taucht zum ersten Mal in dem Aufsatz Psychoanalytic Characterology and its Application to the understanding of Culture auf. In früheren Arbeiten spricht Fromm von der »libidinösen Struk tur« einer Gesellschaft, womit jedoch die gleichen Inhalte bezeichnet werden: » . .., daß jede Gesellschaft, so, wie sie eine bestimmte öko- nomisdie und eine soziale, politische und geistige Struktur hat, auch eine ihr ganz spezifische libidinöse Struktur hat. Die libidinöse Struk tur ist das Produkt der Einwirkung der sozial-ökonomischen Bedin gungen auf die Triebtendenzen, und sie ist ihrerseits ein wichtiges bestimmendes Moment für die Gefühlsbildung innerhalb der verschie denen Schichten der Gesellschaft wie auch für die Beschaffenheit des
»ideologischen Überbaus«. Die libidinöse Struktur einer Gesellschaft ist das Medium, in dem sich die Einwirkung der Ökonomie auf die eigentlich menschlichen, seelisch-geistigen Erscheinungen vollzieht.«
E. Fromm, Analytische Sozialpsychoanalyse, a.a.O., S. 53.
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Fromm weist darauf hin, daß dieser Begriff kein statisti scher sei, sondern nur von der Funktion des Sozialcharakters her verstanden werden kann. Diese besteht darin,
die menschlichen Energien innerhalb einer gegebenen Ge sellschaft so zu formen und zu kanalisieren, daß sie das kontinuierliche Funktionieren eben dieser Gesellschaft ver
bürgen40.
Fromm betont, daß es sich jedoch nicht um eine einseitige Beeinflussung handelt, in dem Sinne, daß die psychische Ener gie von den ökonomischen Bedingungen gelenkt wird. Viel mehr handelt es sich um einen Vorgang gegenseitiger Beein flussung, da die psychische Energie selbst eine »höchst aktive Kraft dar(stellt) .. . die Lebensbedingungen im Sinne der
Triebziele zu verändern«41. Diese These schränkt Fromm
jedoch mit dem Hinweis auf das Primat der ökonomischen Bedingungen weitgehend ein. Es handelt sich
um ein Primat in dem Sinne, daß die Befriedigung eines großen Teils der Bedürfnisse, speziell aber der dringlich sten, der Selbsterhaltungsbedürfnisse, an die materielle Produktion gebunden ist und daß die Modifizierbarkeit der ökonomischen außermenschlichen Realität weit gerin ger ist als die des menschlichen Triebapparates, speziell die der Sexualtriebe42.
Frommt nennt ein Beispiel für die wichtige Rolle der Triebenergie im ökonomischen Prozeß: Die hochentwickelten Industriegesellschaften hätten ihre Ziele nicht ohne die inten sive und regelmäßige Arbeit ihrer Mitglieder erreicht. Weder die freiwillige Entscheidung des einzelnen, regelmäßig zu arbeiten, noch äußerer Zwang hätten ausgereicht, die be
stehenden industriellen Fortschritte zu erzielen.
Die Notwendigkeit, zu arbeiten, pünktlich und ordentlich zu sein, mußte umgewandelt werden in das Verlangen
40 E. Fromm, Der moderne Mensch, a.a.O., S. 74.
41 Ders., Analytische Sozialpsychologie, a.a.O., S. 39.
42 Ebd.
nach diesen Zielen. Dies bedeutet, daß die Gesellschaft einen Sozialcharakter zu züchten hatte, dem dieses Streben als selbstverständlich innewohnte, gleichsam zur zweiten
Natur wurde43.
Ergebnis dieser Charakterentwicklung ist die Internalisie- rung von bestimmten Ideen, Vorstellungen, Werten usw., die
im Sinne der Stabilisierung der bestehenden ökonomischen Verhältnisse fungieren.So ist es auf der einen Seite die ökonomische Basis, die
(über die Einwirkung auf die libidinösen Strebungen der Menschen) einen bestimmten Sozialcharakter schafft. Auf der
anderen Seite wirkt der Sozialcharakter, indem er als Pro duzent bestimmter Ideologien sich selbst ständig stabilisiert,
stabilisierend auf die ökonomische Basis zurück.
Was ich hier betone, ist, daß der Sozialcharakter der Ver mittler zwischen der sozio-ökonomischen Struktur und den Ideen und Idealen ist, die in einer Gesellschaft vorherr schen. Er vermittelt nach beiden Richtungen, von der öko nomischen Basis. Das folgende Schema bringt diese Be griffsvorstellung zum Ausdruck:
H ökonomische Basis H Sozialer Charakter
• Ideen und Ideale44.
b) Die historische Bestimmung des Sozialcharakters Es wird deutlich, daß der Sozialcharakter historisch zu bestimmen ist, so daß Fromm zum Beispiel zu der Unterschei
dung kommt: In kapitalistischen Ländern ist der Sozial
charakter des Menschen des 19. Jahrhunderts von dem desheutigen Menschen wesentlich verschieden. Im 19. Jahrhun
dert ist die Hamsterorientierung — vermischt mit der aus beutenden Orientierung — vorherrschend, was Fromm, ver-43 Ders., Der moderne Mensch, a.a.O., S. 75.
44 Ders., Illusionen, a.a.O., S. 97.
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kürzt gesagt, aus der ökonomischen Notwendigkeit erklärt, daß in dem damaligen Stadium des Kapitalismus die Kapital
anhäufung im Vordergrund stand. Im 20. Jahrhundert ist die rezeptive Orientierung vorherrschend — verbunden mit der Marktorientierung —, was Fromm aus den Gesetzen des heutigen Marktes erklärt, der auf massenhafte Produk tion und massenhaften Konsum angewiesen ist:Ein anderer fundamentaler Wandel des Kapitalismus im 19. Jahrhundert zu dem unseres Jahrhunderts besteht in
der wachsenden Bedeutung des Binnenmarkts. Unser gan
zer Wirtschaftsapparat beruht auf Massenproduktion undMassenkonsum. Während im 19. Jahrhundert die allge
meine Tendenz dahin ging, zu sparen und sich nicht auf Ausgaben einzulassen, die nicht sofort bar bezahlt werdenkonnten, ist das heute herrschende System das genaue
Gegenteil davon. Jedermann wird verlockt, so viel wiemöglich zu kaufen, noch ehe er genug gespart hat, um seine
Einkäufe zu bezahlen. Reklame und alle anderen Metho
den des psychologischen Drucks treiben intensiv zu ge
steigertem Verbrauch an4"'.
Eine entscheidende Frage bleibt jedoch ungeklärt, die Frage nämlich, in welchem Verhältnis die Begriffe »Sozialcharakter«
und »Klasse« beziehungsweise »Schicht« zueinander stehen.
Bereits bei der Darstellung von Fromms Gesellschaftsbegriff
wurde deutlich, daß Fromm das Thema »Klasse, Schicht in einer Gesellschaft« vernachlässigt oder ungenau behandelthat. Sowohl in den theoretischen Ausführungen als auch in
den Analysen bestimmter Gesellschaftsepochen ist bei Fromm in vielen Fällen von Klassen beziehungsweise Schichten die Rede, wobei deren unterschiedliche ökonomische Situationund deren unterschiedliche Interessen aufgezeigt werden;
Fromm vermeidet es jedoch, daraus Konsequenzen für die Analyse von sozialem Wandel, von Konflikten und Wider sprüchen in einer Gesellschaft zu ziehen. Dieses Problem wird isoliert betrachtet und — im Sinne der strukturell-funk-
45 Ders., Der moderne Mensch, a.a.O., S. 99.
tionalen Theorie — auf die formale Aussage reduziert: Eine Gesellschaft funktioniert, wenn sie sich im Rahmen ihrer gegebenen Struktur bewegt; es wird kaum gefragt, wer dar über bestimmt, wie sie funktioniert, wie die Klassenwider sprüche und Herrschaftsverhältnisse in den kapitalistischen Gesellschaften aussehen. Fromms Vorstellung von Widersprü
chen und Prozessen in einer Gesellschaft zielt letztlich auf ein
mechanistisches Funktionieren von ökonomischen und poli tischen Abläufen, und es entsteht der Eindruck, als habe die Darstellung von Klassen beziehungsweise Schichten nur die Funktion, ein Gliederungsprinzip zu liefern, um das kom plexe System »Gesellschaft« aufzuschlüsseln.
Das Aussparen des Problemkreises Klasse—Gesellschaft setzt sich in der Darstellung des Sozialcharakters fort.
Fromms oft gebrauchte Formulierung »Sozialcharakter einer Gesellschaft beziehungsweise einer Klasse« läßt seine Absicht vermuten, zu unterscheiden zwischen Charakterorientierun gen, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft gelten, und sol chen, die für die Mitglieder einer bestimmten Klasse innerhalb der Gesellschaft gelten. Diese Unterscheidung ist jedoch inso fern problematisch, als bei der Annahme von klassenspezi fischen Charakterstrukturen der Begriff »Sozialcharakter«
einen Grad von Allgemeinheit erhält, der nur noch sehr vage soziologische Aussagen ermöglicht. Selbst wenn man klassen spezifische Charakterstrukturen als spezielle Ausprägungen des allgemeinen Sozialcharakters versteht, wozu Fromm ten diert, bedarf es genauer klassentheoretischer Überlegungen,
um die unterschiedlichen Bewußtseinsinhalte herausarbeiten zu können. Vor allem deshalb, weil der Klassenbegriff unmit telbar auf die unterschiedliche ökonomische Situation der
Klassen hindeutet, und die ökonomischen Bedingungen sind es nach Fromm ja gerade, die die Charakterbildung weit gehend bestimmen. Horkheimer betont die Wichtigkeit, zwi schen den Bewußtseinsformen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu unterscheiden, und formuliert zum Beispiel fol gendes Problem:
Es wäre zu erforschen, wie die psychischen Mechanismen Zustandekommen, durch die es möglich ist, daß Spannun gen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, die auf Grund
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