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Archiv "Dammbruch flussaufwärts" (27.12.2010)

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918 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 51–52

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27. Dezember 2010

M E D I Z I N

DISKUSSION

Behandlung als Problem

Der Artikel würde sehr davon profitieren, wenn ent- sprechend der eingeschränkten Ausgangspopulation die vorgestellten Daten zum Beispiel als Konsultationsprä- valenz der AOK-Versicherten bezeichnet wären. Die Basis der Erhebung schließt die Patienten der AOK aus, die das Gesundheitssystem nicht in diesem Zeitraum beansprucht haben, jedoch trotzdem erkrankt sind, weshalb die Konsultationsprävalenz definitiv niedriger ist, als die tatsächliche Gesamtprävalenz. Ebenfalls wä- re der Selektionscharakter der gewählten Versicherten- population zu diskutieren. Die Schlussfolgerung kann nur sein, für die Betrachtung von Prävalenzen aus- schließlich auf die Gesamtprävalenz aus Querschnitt- studien zu beschränken.

Zu den Verordnungshäufigkeiten: „Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Methylphenidat wird [. . .] als ein relevantes Public-Health-Problem an- gesehen.“

Diese Formulierung zeigt nur, welche emotionale Stellung die Autoren dieser Studien zur Anwendung von Methylphenidat (MPH) haben. Es ist sachlich be- trachtet befremdlich, wenn die indikationsgerechte An- wendung eines zugelassenen Medikamentes bei einem massiv einschränkenden Krankheitsbild als Problem bezeichnet wird. Ist Behandlung mit MPH per se ein Problem? Eine Diskussion wäre wünschenswert.

Die Behandlungsprävalenz der bei der Arbeit ver- wendeten Vergleichsgruppe von 1 bis 1,5 % bedeutet im Vergleich zur Gesamtprävalenz von 5 bis 7 % (2) ei- nen Anteil der Medikation von circa 15 bis 20 %. Das ist im Vergleich zu den anderen psychiatrischen Krank- heitsbildern eher wenig und nährt den Verdacht nicht, dass übermäßig viele Erkrankte ungerechtfertigt medi- ziert sind.

Zu der Zunahme der verordneten MPH-Menge: Die längere Behandlungsdauer bis an das Erwachsenenalter heran berücksichtigt aktuelle Daten, wonach um den zehnten Geburtstag die Hyperaktivität, jedoch nicht die Erkrankung verschwindet. Gleiches gilt für die Erhö- hung der Tagesdosen. Die Abkehr von der reinen Schulzeitbehandlung bewirkt, dass 4 bis 6 zusätzlich behandelte Stunden pro Tag die Verordnungsmenge steigern.

DOI: 10.3238/arztebl.2010.0918a

Dr. med. Karsten Dietrich Hoefftstraße 32 29525 Uelzen

E-Mail: praxis.dietrich@gmx.de

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des In- ternational Committee of Medical Journal Editors besteht.

Dammbruch flussaufwärts

Auffällig ist die rückläufige Diagnosestellung im unter- suchten 7-Jahreszeitraum für die Altersgruppe 0 bis 5 Jahre (gesamt minus 41), während es in allen anderen Altersgruppen einen nahezu exponenziellen Anstieg gibt (1). Das kann nicht sein, wenn denn ADHS eine gene- tisch determinierte Erkrankung sein soll. Sie beginnt im Säuglingsalter! Der Zusammenhang mit entsprechend vermehrter Methylphenidat(MPH)-Verordnung ist evi- dent, es ist ein Hinweis darauf , dass die Diagnose ADHS invers, also falsch, über die Wirkung des Medikaments gestellt wird. Zum Thema „Neuro-Enhancement“ ist zu sagen, dass von den Autoren zu vorsichtig angenommen wird, MPH komme nicht indikationsgerecht zum Ein- satz. Dies war schon immer so, weil die Diagnosestel- lung unscharf, dass heißt phänomenologisch erfolgt und mit subjektiven Interpretationen behaftet ist.

Zu meiner 35-jährigen Erfahrung mit ADHS gehört:

Anfang der 1970er Jahre war in Deutschland „das hyperkinetische Kind“ praktisch unbekannt, beim 2.

Neuropädiatriekongress in Kiel 1976 (2) wurde erst- mals auf einem deutschen Kongress davon berichtet.

Die Differenzialdiagnose kindlicher Unruhe zu ADHS (neurotische Unruhe, vegetative Unruhe) wird heute kaum in Erwägung gezogen. Der Nestor der Stimulan- zientherapie in der BRD, Dr. Eichlseder (3) aus Mün- chen, wurde wegen größter Vorbehalte gegenüber Sti- mulanzien einfach ignoriert

Vieles weist heute daraufhin, dass mit Hilfe einer ADHS-Diagnose und konsekutiver MPH-Verordnung der Weg des geringsten Widerstandes gegangen wird.

Die immer wieder geforderte multimodale Behandlung findet kaum statt, weil sie nur mühsam und zu langsam einen Erfolg zeigt. Die vielen verhaltensgestörten

„ADHS-Kinder“ haben ihre Ursache im sich gewaltig verändernden sozialen und familiären Umfeld unserer Tage. Erste Arbeiten aus den USA erörtern diesen Zu- sammenhang.

zu dem Beitrag

Prävalenzentwicklung von hyperkinetischen Störungen und Methylphenidatverordnungen:

Analyse der Versichertenstichprobe AOK Hessen/

KV Hessen zwischen 2000 und 2007

von Dr. rer. soc. Ingrid Schubert, Ingrid Köster, Prof. Dr. med. Gerd Lehmkuhl in Heft 36/2010

LITERATUR

1. Schubert I, Köster I, Lehmkuhl G: The changing prevalence of attenti- on-deficit/hyperactivity disorder and methylphenidate prescriptions: A study of data from a random sample of insurees of the AOK health insurance company in the german state of Hesse, 2000–2007.

Dtsch Arztebl Int 2010; 107(36): 615–21.

2. Schlack R, Hölling H, Kurth BM, Huss M: Die Prävalenz der Aufmerk- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Ju- gendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsbl – Gesundheits- forsch – Gesundheitsschutz 2007; 50: 827–35.

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Deutsches Ärzteblatt

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27. Dezember 2010 919

M E D I Z I N

Schlack (4) aus Bonn hat die zutreffende Metapher geliefert: viele (MPH)-Helfer springen in den reißen- den Strom, um die ertrinkenden Kinder zu retten, kei- ner macht sich Gedanken über den Dammbruch fluss- aufwärts.

DOI: 10.3238/arztebl.2010.0918b

LITERATUR

1. Schubert I, Köster I, Lehmkuhl G: The changing prevalence of attenti- on-deficit/hyperactivity disorder and methylphenidate prescriptions: A study of data from a random sample of insurees of the AOK health insurance company in the german state of Hesse, 2000–2007.

Dtsch Arztebl Int 2010; 107(36): 615–21.

2. Aktuelle Neuropädiatrie – 2. Jahrestagung der Gesellschaft für Neu- ropädiatrie, Kiel Hrsg. Hermann Doose, Thieme Verlag Stuttgart 1977.

3. Eichlseder W: Zur Behandlung konzentrationsgestörter hyperaktiver Kinder mit DL-Amphetamin. Päd Praxis 1974; 14: 109–23.

4. Schlack HG: ADHS: eine Soziogene Epidemie? Kinderärztl Praxis Sonderheft ADHS 2004: 6–9.

Dr. med. Joachim Börner Adenauerring 45 49393 Lohne

E-Mail: dr.med.boerner@ewetel.net

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des In- ternational Committee of Medical Journal Editors besteht.

Unkritische Verordnung

Wenn in Ländern wie Frankreich weniger Methylphe- nidat verordnet wird, so wird dies mit einer Unterdia - gnostik oder der Zugehörigkeit zu einer akademischen Schicht erklärt.

Dass die Schichtzugehörigkeit wichtig ist zeigt eine neue schwedische Studie (1).

Untersucht wurden 7 960 Kinder im Alter von 6 bis 19 Jahren, die im Jahr 2006 Psychostimulanzien ver- ordnet bekommen hatten. Sie wurden verglichen mit ei- ner nationalen Kohorte von 1,1 Millionen Kindern.

Es stellte sich heraus, dass Kinder von

Eltern, die Hartz-IV-Empfänger waren, 2,3-mal

Müttern mit niedrigem Bildungsstatus 2,3-mal

allein erziehenden Eltern 1,5-mal

Eltern, die wegen einer psychiatrischen Erkran- kung registriert waren 1,5-mal so häufig Psycho- stimulanzien verordnet bekommen hatten wie in der nationalen Kohorte.

Zusammen waren die genannten sozioökonomischen und psychosozialen Faktoren für 60 % der Verordnun- gen verantwortlich. Dass die Kinder bei den aufgezähl- ten Belastungen in der Familie unruhig und unkonzen- triert werden, verwundert nicht.

Eine unkritische Verordnung von immer höheren Ta- gesdosen Methylphenidat, auch in höheren Altersgrup- pen muss uns nachdenklich machen. Werden durch vor- schnelle Verordnung von Psychostimulanzien psycho- soziale Hintergrundfaktoren übersehen? Kann die neu- ropsychiatrische Ursachenvermutung aufrechterhalten werden?

Dass es auch anders geht zeigt eine Studie (2), die in dem Buch „ADHS-Symptome verstehen – Beziehun- gen verändern“ wiedergegeben wird: Von 93 Kindern, die in mindesten zehn Sitzungen kinder- und familien- therapeutisch behandelt wurden, musste mindestens 6 Monate nach Abschluss der Therapie nur ein Kind vo- rübergehend bei einer familiären Krise Psychopharma- ka einnehmen.

Die Kinder hatten in der Therapie gelernt, ihre inne- re Befindlichkeit mit Worten auszudrücken und konn- ten auf das auffällige Verhalten verzichten.

DOI: 10.3238/arztebl.2010.0919a

LITERATUR

1. Hjern A, et al.: Social adversity predicts ADHD-medication in school children – a national cohort study. Acta pædiatrica 2010; 99: 920–4.

2. Neraal T, Wildermuth M: ADHS: Symptome verstehen – Beziehungen verändern. Giessen: Psychosozial-Verlag 2008.

3. Schubert I, Köster I, Lehmkuhl G: The changing prevalence of attenti- on-deficit/hyperactivity disorder and methylphenidate prescriptions: A study of data from a random sample of insurees of the AOK health insurance company in the german state of Hesse, 2000–2007.

Dtsch Arztebl Int 2010; 107(36): 615–21.

Dr. med. Terje Neraal Höhenstraße 33 c 35435 Wettenberg E-Mail: t.neraal@t-online.de

Interessenkonflikt fehlt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des In- ternational Committee of Medical Journal Editors besteht.

Schlusswort

Die Autoren danken den Verfassern der Leserbriefe für ihre Hinweise. Herr Dr. Dietrich weist in seinem Schreiben zu Recht darauf hin, dass in den Kranken- kassendaten die Erkrankung nur bei Versicherten mit Arztkontakt dokumentiert werden kann und schlägt für die Prävalenzschätzung die Bezeichnung „Konsultati- onsprävalenz“ vor. Wir tragen diesem Aspekt in unse- rem Beitrag mit den Bezeichnungen „Behandlungsprä- valenz“ oder „administrative“ Prävalenz Rechnung.

Wir stimmen mit Herrn Dietrich darin überein, dass diese administrativen Prävalenzen im Vergleich zu be- völkerungsbezogenen Surveys niedriger ausfallen, da diese, wie zum Beispiel der Kinder- und Jugend-Ge- sundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch-Instituts (1), auch nicht bekannte Krankheitsfälle und Erkrankte, die keinen Arzt aufsuchen, berücksichtigen können.

Wir sehen jedoch in den Routinedaten, die keinen Se- lektions- oder Erinnerungsbias aufweisen, eine wichti- ge Ergänzung zu den aufgrund der hohen Kosten nur in größeren Abständen durchführbaren Surveys.

In der Diskussion weisen wir darauf hin, dass die Behandlung mit Methylphenidat in vielen Ländern als Public-Health-Problem erachtet wird. Aus dem Kontext wird deutlich, dass sich diese Aussage auf den in vielen Ländern zu beobachtenden Verordnungsanstieg und da- mit auf das dahinter stehende Phänomen der Zunahme der Diagnosenennung mit all den sozialen, medizini- schen, aber auch gesundheitsökonomischen Konse-

Referenzen

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