A 374 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 112|
Heft 9|
27. Februar 2015B
ei dem alten Mann wurde vor vier Jahren eine Alzheimer- Demenz diagnostiziert. Vor etwa ei- nem Jahr erlitt er einen schweren Schlaganfall und ist seither nicht mehr ansprechbar. Er starrt vor sich hin, reagiert aber auf Schmerzemp- finden. Den Wunsch nach Beendi- gung der künstlichen Ernährung be- gründet der Sohn damit, dass sein Vater zeitlebens sehr auf Selbststän- digkeit bedacht war und nie jeman- dem zur Last fallen wollte. Er habe als Betreuer seines Vaters dem Le- gen der Magensonde vor einem Jahr nur deshalb zugestimmt, weil unmit- telbar nach dem Schlaganfall noch Hoffnung auf Besserung bestand.Diese Hoffnung habe sich nicht er- füllt, weshalb er es nun als seine Pflicht ansehe, dem Willen seines Vaters Geltung zu verschaffen. Seine Mutter und sein Bruder würden dies genauso einschätzen. Eine Patien- tenverfügung gibt es nicht.
Heimleitung und Hausarzt reagie- ren ablehnend auf den Wunsch des Sohnes: Die Heimleiterin kann nicht verstehen, warum der Wunsch nach Einstellen der Ernährung gerade jetzt geäußert wird. Der Zustand des Va- ters sei doch seit Monaten stabil. Ein Einstellen der Ernährung zum jetzi- gen Zeitpunkt wäre deshalb den Pflegenden weder vermittel- noch zumutbar. Der Hausarzt kann den Wunsch des Sohnes zwar nachvoll- ziehen, hält ein Einstellen der Ernäh- rung zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch für rechtlich nicht zulässig, da der Patient nicht sterbend ist.
Fragestellung
Für den behandelnden Hausarzt stellt sich die Frage, ob er zum jetzi- gen Zeitpunkt den mutmaßlichen Pa-
tientenwillen gemäß Maß- gabe des als Betreuer ein- gesetzten Sohnes des Pa- tienten entgegen der Ein- schätzung der Pflegeheim- leitung durchsetzen darf, ob- wohl sich der Patient noch nicht im Sterbeprozess befinde.
Kommentar aus medizin - ethischer und medizinrecht- licher Sicht
Patienten mit einer schweren De- menz haben, wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung. Art und Ausmaß ihrer Behandlung sind gemäß der medi- zinischen Indikation vom Arzt zu verantworten. Medizinische Maß- nahmen sind mit dem Patientenver- treter zu besprechen. Dabei ist der zuvor geäußerte oder der mutmaßli- che Wille des Patienten zu achten.
Einmal eingeleitete medizinische Maßnahmen sind regelmäßig da- raufhin zu überprüfen, ob sie wei- terhin indiziert sind und noch dem Patientenwillen entsprechen. An- dernfalls sind sie einzustellen. Das gilt auch dann, wenn sich der Pa- tient noch nicht im Sterbeprozess befindet.
Im vorliegenden Fall hat der be- handelnde Hausarzt daher die Indi- kation der künstlichen Ernährung regelmäßig zu überprüfen. Die Son-
denernährung eines Demenz- patienten bedarf einer be- sonders sorgfältigen Stel- lung der Indikation in Ab- hängigkeit vom individuel- len Krankheitsstadium. Durch- aus positive Effekte sind zu er- warten bei noch gutem Allgemein- zustand und bei erhaltener Mobili- tät. Bei terminaler Demenz dagegen ist eine Lebensverlängerung, ei- ne Reduktion von Komplikationen oder eine Besserung der Lebens- qualität nicht belegt. Deutsche und europäische Leitlinien zur Ernäh- rung von geriatrischen Patienten empfehlen bei Patienten mit schwe- rer Demenz keine Sondenernäh- rung.
Falls der Arzt die Indikation für die weitere Sondenernährung be- jaht, muss der Sohn und Betreuer den mutmaßlichen Willen des Pa- tienten feststellen und dabei die an- deren Angehörigen und naheste- henden Personen einbeziehen. Sind sich diese – wie hier – einig über den mutmaßlichen Patientenwillen und gibt es keine gegenteiligen An- haltspunkte, muss der Arzt dem Pa- tientenwillen Folge leisten und die künstliche Ernährung beenden. Da- zu sind auch das Pflegeheim und sein Personal verpflichtet.
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Expertenteam: Erik Bodendieck, Dr. med. Stefan Krok, Prof. Dr. jur. Volker Lipp, Prof. Dr. med.
Friedemann Nauck, Prof. Dr. phil. Alfred Simon, Dr. med. Martina Wenker
LITERATUR
1. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedi- zin und Familienmedizin (DEGAM): De- menz – Langfassung. 1. Auflage. Stand 2008. www.degam.de/leitlinien-51.html (zuletzt geprüft: 09.02.2015).
2. Lipp V, Brauer D, Behandlungsgrenzen und „Futility“ aus rechtlicher Sicht, Zeit- schrift für Palliativmedizin 2013; 14(03):
121–6.
KASUISTIK
Einstellen einer künstlichen Ernährung bei schwerer Alzheimer-Demenz
Der Sohn und Betreuer eines 83-jährigen Bewohners einer Altenpflegeeinrichtung bittet das Heim und den behandelnden Hausarzt, die künstliche Ernährung bei seinem Vater einzustellen.
Unter www.aerzteblatt.de/umgangmitsterben hat das Deut- sche Ärzteblatt ein Glossar der wichtigsten Begriffe sowie weitere Beiträge zum Thema „Umgang mit Sterben“ zu- sammengestellt. Die Seite wird sukzessive um die Beiträge der Serie mit palliativmedizinischen Kasuistiken ergänzt.