D. Hemme: Märchenstraßen – Lebenswelten 2012-4-117
Hemme, Dorothee: Märchenstraßen – Lebens- welten. Zur kulturellen Konstruktion einer tou- ristischen Themenstraße. Münster: LIT Verlag 2009. ISBN: 978-3-643-10179-2; 521 S.
Rezensiert von: Felix Girke, Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien (ZIRS), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Die Deutsche Märchenstraße, sicher eine der bekannteren der zahlreichen Themenstraßen des Landes, hat bis zu ihrem 30-jährigen Jubi- läum 2005 schon einiges erlebt, wie Dorothee Hemmes Viagraphie deutlich macht. Es än- derten sich Träger und Geschäftsführungen, die Einrichtung oszillierte zwischen öffentli- cher Finanzierung und privatwirtschaftlicher Investition und wurde in der grundsätzlichen Ausrichtung wirtschaftliches Potential vom Verlangen nach Identitätsstiftung überlagert – oder anders herum. Die ikonischen Märchen- figuren, die für die Themenstraße Werbung machen, wurden in den drei Jahrzehnten ih- res Bestehens auf Tourismusmessen von Chi- na bis Amerika zu vertrauten Gestalten, und die Problematik der Themenstraße wirbel- te die Politiklandschaften von zunächst drei west- und schließlich vier gesamtdeutschen Bundesländern durcheinander.
Der Band ist in drei Teile segmentiert: (1) eine Einleitung, (2) einen linearen Überblick über 30 Jahre Deutsche Märchenstraße, und (3) eine Aneinanderreihung fokussierter Por- traits einzelner Ortschaften an der Märchen- straße, welche den Titelzusatz „Lebenswel- ten“ substantiell ausfüllen. Jeder einzelne Teil ist sehr sorgfältig geschrieben, gemeinsam stellen sie ein überwältigendes Vademecum für die behandelte Themenstraße dar. Der umfangreiche Quellenteil kompensiert nahe- zu das Fehlen eines Index.
Die Einleitung besteht aus sehr lohnenden 30 Seiten. Hemme verbindet hier die Entste- hungswelle von Themenstraßen mit einem dichtgeknüpften Netz von generellen Fragen und Herausforderungen im Bereich des Tou- rismus und des Erbes. Themenstraßen wer- den als symbolische Konstruktionen behan- delt, die sich stets an den verknüpften Or- ten und deren Attraktionen beweisen müs- sen; hier spielen kulturelle Praxen, Objekte, Events bei dem Versuch einer distinguieren-
den Profilbildung zusammen. Ein zentraler Begriff ist die „Inwertsetzung“, bezogen so- wohl auf ökonomische Gewinngenerierung wie auf Identitätsstiftungen. Konkrete Pro- jekte wie die Märchenstraße, die ja zugleich als symbolischer Diskurs und als praktische Anordnung besteht, müssen, so Hemme, als
„multivokale Räume“ verstanden werden:
Wir sind im Laufe der hier erzählten Ge- schichte mit mehreren Versionen von „Mär- chenstraße“ konfrontiert, da an dieser Kon- struktion „eine Vielzahl von Menschen [. . . ] direkt und indirekt, kreierend, konzipierend, konsumierend und rezipierend“ beteiligt sind (S. 28). Unter den weiteren in der Einleitung angeschnittenen Themen finden sich das Ver- hältnis von Literatur zu Landschaft und Rei- sen, sowie die idealistische Grundausrichtung des in dieser Geschichte so bedeutsamen Ver- einswesens.
Der zweite Teil protokolliert Entstehung und Werdegang der Themenstraße „zwischen Vereinswesen und Marktwirtschaft“ auf na- hezu 250 Seiten und analysiert die Entwick- lung oft sehr erhellend im Rahmen aktuel- ler Debatten. Der schiere Umfang dieses Teils wird durch die hintangestellte „Zusammen- fassung“ gemildert, welche die entscheiden- den Entwicklungen 1975–2005 auf wenigen Seiten hilfreich zusammenfasst.
Der dritte Teil besteht aus vier ethnogra- phischen Einzelstudien, „Mitgliedsorte und Märchenstraßenaktivisten“ unterschiedlicher Tragweite und Dramatik, an deren Beispiel die größeren Dynamiken des zweiten Teils eine anders geerdete Veranschaulichung fin- den: das wichtige und lange widerwillige Hameln mit seinem weltberühmten Ratten- fänger und die kleineren Destinationen Bo- denwerder mit seinem Münchhausen-Bezug, das „Rotkäppchenland“ Neukirchen und der märchenhafte Reinhardswald. Hier stehen Versuche im Vordergrund, lokale Identitäten an das stets nötige Märchenthema anzubin- den.
Der andauernde „Boom“ von Themenstra- ßen ist vielleicht nicht jedem bewusst: The- menstraßen zielen ja prinzipiell auf Kraft- fahrzeugtourismus, eine nur manchen an- sprechende Form des Reisens. Hemmes Dar- stellung weckt allerdings Verständnis für die Welt von Ortsverwaltungen, ministeria-
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len Planern und Fremdverkehrsvereinen, de- nen eine Themenstraße ein derartiges Ver- sprechen und Chance darstellt, dass sich In- stitutionen wie Individuen über Jahrzehnte an solche Projekte binden. Existierende The- menstraßen werden von diesen Akteuren mit- einander verglichen, und anscheinend erfolg- reiche Modelle werden auch in Teilen ko- piert. Praktisch gesprochen stellt sich die- ses Versprechen folgendermaßen dar: The- menstraßen verbinden Orte, eröffnen Zugän- ge zu Landschaft und geben Landschaften ein markantes, werbewirksames Profil. Sie sol- len zur regionalen wie lokalen Identitätsstif- tung beitragen oder sogar in (wie im vor- liegenden Fall) strukturschwachen Gegenden zu einer generellen Aufbruchsstimmung ver- helfen. Themenstraßen führen damit nicht nur von A nach B, sondern sie sollen vor allem auch in die Zukunft führen – eine schwere Hypothek, wie Hemme ausführt, an- gesichts notorisch kurzer Zeithorizonte bei vielen der beteiligten Akteure (wie Partei- en und regionalen Mandatsträgern). Zugleich ist die Geschichte der Märchenstraße durch- drungen von den rivalisierenden Grundge- danken des Ehrenamts und der Vereinsarbeit einerseits (oft amateurhaft und durch Basis- demokratie in der Entscheidungsfindung ge- hemmt), und den Zielsetzungen und Vorge- hensweisen professioneller Marketingexperti- se und (privaten) Gewinnbestrebungen ande- rerseits. Die „Arbeitsgemeinschaft Märchen- straße“ verbleibt so in Hemmes Narrativ der Hauptakteur, wird aber unaufhörlich vom Widerstreit dieser Haltungen gebeutelt; die- se Dynamik liefert das eigentliche Drama der Geschichte.
2005 ist für die Deutsche Märchenstraße ihr Jubiläums- und Jubeljahr, und die Studie stoppt bei diesem happy end. Hemme fasst zusammen: „Erfolge im Ausland“ und die
„Strahlkraft der UNESCO-Auszeichnung“ für die Grimmschen Märchen als „Weltdokumen- tenerbe“, welche ja die Grundlage für das Thema der Straße lieferten (schön: den „Lock- stoff“), ließen „lokale Politiker den zwischen der Befestigung lokaler Identität und Mög- lichkeiten ökonomischer Inwertsetzung ange- siedelten Wert der Märchenstraße“ (S. 295) anerkennen. Hemmes erleichtert anmuten- der Ausblick, dass die „daraus resultierende
Unterstützung [. . . ] die Arbeitsgemeinschaft dem Privatisierungsdruck [enthob]“ (ebd.), beschwört im Leser die Grimmschen Werke selber herauf: nach vielen Reisen auf Tou- rismusbörsen in China und nach Kämpfen mit Riesen-Politikern ist nun die böse Hexe
„Übernahme durch die Privatwirtschaft“ be- siegt, und wenn sie nicht gestorben sind, dann werkelt die Arbeitsgemeinschaft noch heu- te basisdemokratisch weiter. Dieser märchen- hafte Abschluss wirkt genrekonform.
Abschließend ist die klare, von Umständ- lichkeit freie Sprache der Autorin hervor- zuheben: Eine offensichtlich hervorragende Doktorarbeit ist hier zu einem überraschend spannenden, wenn auch recht langen Buch geworden. Hemmes Darstellung der „kultu- rellen“ Konstruktion der Deutschen Märchen- straße transportiert genauso deren soziale, politische und materielle Konstruktion – eine beeindruckende Studie, in der eine 30-jährige Entwicklung nicht nur in Fleißarbeit minuti- ös nachvollzogen wird, sondern die genau- so durch gekonnte Rückbindung der Schil- derungen an die aktuellen theoretischen Fra- gestellungen im weiten Feld von Kulturerbe und Tourismus überzeugt. Auch wem The- menstraßen bisher nicht als relevante Elemen- te von Tourismuslandschaften vertraut wa- ren, verspricht der Band „Märchenstraßen – Lebenswelten“ faszinierende inhaltliche wie methodische Einblicke in the life and times ei- nes solchen Projekts, und wie man ihm wis- senschaftlich begegnen kann – Hemme geht auch präzise auf ihren augenscheinlich sehr guten Feldzugang ein. Ein caveat sei hinzu- gefügt: Touristen selber kommen hier weder zu Wort, noch wird ihr Wirken betrachtet.
Wer sich mit der Setzung, dass wir nach Or- var Löfgren alle Touristen sind, und damit das „Tourist-Sein und das Tourismus-Machen einander reflexiv bedingen“ (S. 29) nicht zu- friedengeben möchte, der suche woanders.
HistLit 2012-4-117 / Felix Girke über Hem- me, Dorothee:Märchenstraßen – Lebenswelten.
Zur kulturellen Konstruktion einer touristischen Themenstraße. Münster 2009, in: H-Soz-Kult 08.11.2012.
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