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Thomas Röbke: Bürgerschaftliches Engagement als Allheilmittel in Kommunen – Chancen und Grenzen

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Thomas Röbke: Bürgerschaftliches Engagement als Allheilmittel in Kommunen – Chancen und Grenzen

1. Bürgerschaftliches Engagement und kommunale Daseinsvorsorge. Eine erste Erkundung

Wenn in kommunalpolitischen Runden derzeit über das Bürgerschaftliche Engagement diskutiert wird, dann drehen sich die Gespräche vor allem um Menschen, die mitreden wollen. Mal sind das die Wut-, mal die Mut- oder „Gestaltungsbürger“ (so Bayerns Innenminister Joachim Hermann), die sich ja nicht nur in Stuttgart für oder gegen einen Bahnhofumbau, sondern auch bei

Umgehungsstraßen, Windkrafträdern oder Biogasanlagen in kleineren Gemeinden zu Wort melden.1 Es gibt aber noch einen anderen Diskurs, dessen Lautstärke in den letzten Jahren einen höheren Pegel erreicht hat: Seine Ausgangsfrage lautet: Brauchen wir in Zukunft mehr Bürgerschaftliches Engagement, um unseren Wohlstand und unsere Lebensqualität zu erhalten? Kommunen sollen sparen, der Sozialstaat ist, so sagt man, am Ende seiner Finanzkraft. Nun müssen wir uns auch noch auf einen demografischen Wandel gefasst machen, der die professionellen sozialen Dienste, die Infrastrukturen der Nahversorgung, die Bildungsinstitutionen oder Kultureinrichtungen zuweilen schon heute in Existenznöte bringt. Hinzu kommt die nun im Grundgesetz verankerte

„Schuldenbremse“. Brauchen wir also mehr Bürgerschaftliches Engagement zur Sicherung der kommunalen Daseinsvorsorge, weil wir sie uns sonst nicht mehr leisten können?

Auffällig ist, dass sich die beiden Diskurse selten überschneiden. Man könnte annehmen, es gäbe zwei Gruppen von Menschen: Eine, die ihr Heil im Protest sucht, entweder staatsbürgerlich demokratisch oder nur die eigenen Interessen im Blick, während eine stille Mehrheit ihren unspektakulären Beitrag zum Gemeinwohl leistet. Und man hat den Eindruck, dass gewählte Politiker von der einen Sorte gerne mehr, von der anderen gerne weniger hätten.

Die Perspektive, die ich einnehmen möchte, will beide Seiten zusammen sehen. Allerdings sind sie auf eine vielschichtige Art miteinander verbunden. Auf der einen Seite will sich nicht jeder Mensch, der einer Sportart oder der Taubenzucht in einem Verein nachgeht, politisch engagieren oder gar protestieren. Aber die Tendenz ist unabsehbar, dass Mitgestaltung und die Erfahrung der

Selbstwirksamkeit wichtige Motive sind, weswegen heute ein Ehrenamt angestrebt wird. Der Freiwilligensurvey 2009, die verlässlichste Datenquelle, die über das Bürgerschaftliche

Engagement in Deutschland Auskunft gibt, stellt fest, dass die Erwartung, in unserer Gesellschaft wenigstens im Kleinen etwas zu bewegen, das stärkste Motiv für die Aufnahme einer

ehrenamtlichen Tätigkeit darstellt.2

Auf der anderen Seite ist nicht jede Intervention unzufriedener Bürger auch ein vernünftiger Beitrag zur Gestaltung des Gemeinwesens. Zweifellos gibt es die sprichwörtlich gewordenen „Nimbys“

(Not in my Backyard), die sich zwar eine Umgehungsstraße wünschen, aber alles dafür tun, dass sie ihren Grundstücksgrenzen nicht zu nahe kommt. Dennoch: Auch diese Auseinandersetzungen gehören zum zuweilen zeitraubenden und nervtötenden Geschäft lokaler Demokratie.

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass selbst dort, wo egoistische Interessen der

Ausgangspunkt sind, die Vitalität demokratischer Beteiligung nicht Schaden nimmt, sondern eher

1 Siehe dazu: Roland Roth: Bürger-Macht. Eine Streitschrift für mehr Partizipation, Hamburg 2011

2 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009.

Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement, bearbeitet von Thomas Gensicke, Sabine Geiss (TNS Infrastest), www.bmfsfj.de, S. 118

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wächst und nachhaltiger wird. Viel schlimmer wäre es, die Bürgerinnen und Bürger wendeten sich vom politischen Geschehen ab und artikulierten ihre Meinung nur noch hinter vorgehaltener Hand.

Diese grummelnde Politikverdrossenheit ist der eigentliche Feind lokaler Demokratie3

Deswegen würde man argumentativ zu kurz springen, wenn man das Bürgerschaftliche Engagement als stillen Lückenbüßer für ausfallende staatliche Leistungen vereinnahmen wollte. Oder als

schrilles Störgeräusch von Dilettanten und Unbefugten zurückweisen würde. Daseinsvorsorge und Demokratieentwicklung gehören zusammen.

Komplexer wird diese Beziehung freilich dadurch, dass es nicht nur um Mitsprache und

Mitmachen, sondern auch um Mitverantwortung geht. Verantwortung hat wiederum zwei Aspekte:

Eine subjektive Seite: Welches Maß an Verantwortung ist jemand bereit zu übernehmen?

In einer modernen, mobilen Gesellschaft, die zudem so vielfältige Optionen bereithält, die Freizeit zu verbringen, ist die Übernahme von Ehrenämtern zweifellos schwieriger geworden. Viele Vereine oder Kirchengemeinden klagen beispielsweise darüber, dass die Suche nach geeigneten Vorständen oft immer aufwändiger und zeitraubender wird. Menschen überlegen sehr genau, ob sie dauerhafte Verpflichtungen eingehen sollen. Deswegen sind freiwillige Tätigkeiten, die zeitlich begrenzt und mit einer geringeren Verbindlichkeit verbunden sind, heute deutlich attraktiver.

Zur subjektiven Seite gehört auch die Art und Weise, wie man in einer Gesellschaft

lernt,Verantwortung zu übernehmen. Gibt es entsprechende Gelegenheiten, an denen man sich erproben und Vorbilder, von denen man lernen kann? Wird freiwillige Verantwortungsübernahme gewürdigt und anerkannt, oder gehört es zu den Gepflogenheiten einer Gesellschaft, sich lieber wegzuducken, weil Verantwortung zu übernehmen höchstens etwas für nützliche Idioten ist?

Verantwortung hat auch eine objektive Seite: Welcher Grad an Verlässlichkeit und Qualität ist für bestimmte Aufgaben und Dienste im Sinne der Adressaten, also der Schüler, Senioren, Menschen mit Behinderung, Arbeitslosen etc., unbedingt zu gewährleisten? Nicht zuletzt beruht der moderne Sozialstaat auf Rechten, die historisch erkämpft wurden. Heute sind sie gesetzlich verankert. Wie weit könnten diese Ansprüche durch Bürgerschaftliches Engagement in einer immer komplexer werdenden Welt überhaupt befriedigt werden?

Wo liegen die Chancen und Grenzen des Bürgerschaftlichen Engagements? Wie hoch lässt sich sein Beitrag zur kommunalen Daseinsvorsorge und zu gesetzlichen Pflichtleistungen ansetzen? Wo verlaufen seine Grenzen? Wann würde man es überfordern?

2. Grenzen des Bürgerschaftlichen Engagements

Kommunale Daseinsvorsorge und Bürgerschaftliches Engagement zu verknüpfen, ist nicht neu.

Schon die Einführung der Freiwilligen Feuerwehr Ende des 19. Jahrhunderts übertrug eine

unverzichtbare Aufgabe der Gefahrenabwehr auf ehrenamtliche Vereine. Damals bildeten sich auch die Umrisse der Leistungen und Einrichtungen heraus, die man später mit dem Begriff der

kommunalen Daseinsvorsorge umschrieb. Sie umfasste vor allem drei Aufgabenkomplexe: „Den polizeilichen Sicherheitszweck (z.B. Feuerschutz, Nachtwache); den sozialen Fürsorgezweck (z.B.

Hospitäler, Armen- und Waisenhäuser) und den ökonomischen Förderzweck (z.B. Märkte, Lagerhäuser).“4

Obwohl der Begriff der kommunalen Daseinsvorsorge bis heute juristisch und inhaltlich

3 Brigitte Geißel: Kritische Bürger. Gefahr oder Ressource für die Demokratie, Frankfurt am Main; New York 2011, S. 162 ff.

4 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 1849–1914, München 2008, S. 33

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unbestimmt ist, lässt sich sein ungefährer Auftrag und Umfang am Artikel 83 der Bayerischen Verfassung ablesen. Dort heißt es: „In den eigenen Wirkungskreis der Gemeinden (Art. 11 Abs. 2) fallen insbesondere die Verwaltung des Gemeindevermögens und der Gemeindebetriebe; der örtliche Verkehr nebst Straßen- und Wegebau und Wohnungsaufsicht; örtliche Polizei; Feuerschutz;

örtliche Kulturpflege; Volks- und Berufsschulwesen und Erwachsenenbildung;

Vormundschaftswesen und Wohlfahrtspflege; örtliches Gesundheitswesen; Ehe- und

Mütterberatung sowie Säuglingspflege; Schulhygiene und körperliche Ertüchtigung der Jugend;

öffentliche Bäder; Totenbestattung; Erhaltung ortsgeschichtlicher Denkmäler und Bauten.“

Welcher Beitrag des Bürgerschaftlichen Engagements lässt sich dingfest machen? In manchen der genannten Aufgabenbereiche spielt es keine oder so gut wie keine Rolle. Straßen- und Wegebau, Berufsschulwesen, Schulhygiene, Totenbestattung haben mit dem Ehrenamt nichts oder kaum etwas zu schaffen. Bei den meisten der genannten Aufgaben hingegen kann man bürgerschaftliche

Beiträge erkennen, ob es sich um ehrenamtlich geführte Volkshochschulen (Erwachsenenbildung) oder Mütterzentren (Mütterberatung), Kulturinitiativen (örtliche Kulturpflege), Gruppen der offenen Jugendarbeit, Freibäder in Vereinsbetrieb (körperliche Ertüchtigung der Jugend) oder ehrenamtliche Vormundschaften handelt. Freilich wird man die Leistungen im Einzelnen wohl nicht besonders hoch einschätzen dürfen. Oft sind sie marginal. Die meisten Dienste kommunaler Daseinsvorsorge werden hauptamtlich versehen, es sind fachliche Anforderungen festgeschrieben, die umfangreiche Ausbildungen voraussetzen. Viele notwendigen Arbeiten lassen sich ohne aufwändige Ressourcen und Strukturen gar nicht realisieren, die ehrenamtliche Initiativen schlicht überfordern würden.

Man kann sagen: Dort, wo ...

• eine kontinuierliche Präsenz notwendig ist, um die Funktionsfähigkeit von Einrichtungen zu gewährleisten;

• Dienstleistungen verlässlich und kontinuierlich abrufbar sein müssen;

• eine besondere fachliche Qualifikation vorausgesetzt wird;

• komplizierte juristische Bestimmungen, vom Tarifrecht über den Datenschutz bis zu Förderbedingungen, einzuhalten sind;

• Umsätze und Finanzströme so groß werden, dass die damit verbundene Haftung und Verantwortung zeitintensive Steuerung und Kontrollen notwendig machen,

wird es für ehrenamtlich getragene Initiativen und Korporationen immer schwieriger oder gar unmöglich, einen erfolgreichen und nachhaltigen Beitrag für die kommunale Daseinsvorsorge zu leisten. Zwar gibt es Beispiele hoch engagierter Initiativen, die es beispielsweise schaffen, ein ehrenamtlich geführtes Museum die Woche über offen zu halten. Oft wird es aber nach einigen Jahren schwierig, diese Kontinuität weiter zu gewährleisten, wenn die Gründergruppe sich langsam verabschiedet.

In einer modernen, wandlungsfähigen Gesellschaft sind weder Art und Umfang dieser Leistungen der Daseinsvorsorge noch die Prozesse ihrer Bereitstellung und Realisierung ein für alle Mal festgeschrieben. Immer wieder tauchen neue Anforderungen auf: So gilt es heute für ausgemacht, dass eine Breitbandverkabelung ländlicher Regionen eine unverzichtbare Leistung der

Daseinsvorsorge darstellt, die allen Menschen einen schnellen Zugang zum Internet verschafft. Vor dreißig Jahren konnte davon nicht einmal die Rede sein.

Aber nicht nur der technische Fortschritt stellt neue Herausforderungen, auch die Art der Leistungserbringung ändert sich. Heute besteht beispielsweise weitgehender Konsens über den flächendeckenden Ausbau von Kindergarten- und Krippenplätzen. Dadurch werden nicht nur Familien entlastet und vor allem Frauen die Chance eröffnet, eine Erwerbsarbeit anzustreben.

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Meist gehen diese Veränderungen in unserer Gesellschaft gerade in eine Richtung, die bestehenden bürgerschaftlichen Initiativen die Existenzgrundlagen entzieht, weil sie einen erheblichen

Mehraufwand an fachlicher Ausbildung, komplexen Rechtsvorschriften und Voraussetzungen für den Dauerbetrieb mit sich bringen. Damit wird, um beim Beispiel der Kinderbetreuung zu bleiben, ein erheblicher Veränderungsdruck auf ehrenamtliche Elterninitiativen oder Mütterzentren

ausgeübt. Je mehr Frauen eine Erwerbsarbeit aufnehmen, desto weniger Zeit bleibt für das Bürgerschaftliche Engagement übrig. Wenn zudem hauptamtlich erbrachte Dienstleistungen

bereitstehen, dann erscheint das klassische Mütterzentrum vielen nur noch als schlechter Ersatz, der auch noch eigenes Engagement abverlangt.

Auch die Tatsache, dass die Fördergrundlagen für Kindertageseinrichtungen nun genauere

Rechenschaftspflichten abverlangen, bürdet ehrenamtlichen Trägervereinen oder Elterninitiativen immer größere Dokumentationserfordernisse auf, die bei Nichteinhaltung zu gefährlichen

Haftungsproblemen anwachsen können. Deshalb besteht nach Einführung des Bayerischen Kindergartenbildungs- und -betreuungsgesetzes (BayKiBig) eine unabweisbare Tendenz , dass ehrenamtlich geführte Trägervereine – beispielsweise bei katholischen Trägern – immer mehr verschwinden und hauptamtlich geführten Verwaltungszentren Platz machen.

Diese Entwicklungen sind zum Teil gewollt und können gute Gründe für sich beanspruchen.

Letztlich folgen sie einer sich nun über zwei Jahrhunderte Geltung verschaffenden Logik des modernen Vorsorgestaates und einer Gesellschaft, die im Zuge der Entwicklung kapitalistischer Produktionsweise gleichsam natürlich dazu tendiert, soziale Hilfen und Dinge zu

„kommodifizieren“,5 d.h. in Waren und Dienstleistungen zu verwandeln. Gerade dies sichert erst universelle Verfügbarkeit aller wichtigen und weniger wichtigen Dinge des täglichen Lebens zu Qualitätsstandards, die überall gleich sind. Und dies schafft damit die Grundlage für die

zunehmende Flexibilisierung und Mobilisierung der Arbeitswelt. Überall erwarten uns dieselben Hotelzimmer, Fastfood-Ketten und Flugzeuge.

Der materielle Reichtum wird zweifellos vermehrt. Ob er freilich der wichtigste Maßstab unserer Lebensqualität sein sollte, wird von immer mehr kritischen Stimmen in Zweifel gezogen, die beispielsweise die Messung des Wohlstands einer Nation durch andere Indikatoren ergänzen wollen als jenen, die das herkömmliche Bruttosozialprodukt bereitstellt. So wird zum Beispiel in einer Enquetekommission des Bundestages zu Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität darüber

debattiert, ob nicht der Grad des Bürgerschaftlichen Engagements und die Größe des Sozialkapitals (Robert Putnam) einen wesentlichen Aspekt gesellschaftlichen Reichtums darstellt. Viel beachtet wurde der Versuch des Königreichs Bhutan, das Bruttoinlandsglück zu bilanzieren.6 Dies und die immer unüberschaubarer werdende Literatur, die ein neues Miteinander und eine Ökonomie des Schenkens und der Gabe auf dem Vormarsch sieht, werden sicher auch unsere Definition der kommunalen Daseinsvorsorge in den nächsten Jahren verändern.7

3. Chancen und Mehrwert des Bürgerschaftlichen Engagments

Ich habe die Grenzen des Bürgerschaftlichen Engagements zu bestimmen versucht. Wo nun aber

5 Ich beziehe mich hier auf Karl Polanyi: The Great Transformation (ursprgl. 1942), Frankfurt am Main 1972 6 Amrei Coen: 40,9 % sind schon glücklich. Die ZEIT vom 1.12.2011. Enquetekommission des Bundestages

Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität. www.bundestag.de

7 An anderer Stelle habe ich diese Erweiterung des Begriffs der Daseinsvorsorge im Rückgriff auf die Philosophie Martha Nussbaums ausführlich dargestellt: Thomas Röbke: Bürgerschaftliches Engagement und sozialstaatliche Daseinsvorsorge: Bemerkungen zu einer verwickelten Beziehung, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat, 2012

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liegen seine Chancen und sein Mehrwert? M. E. lassen sich vier Aspekte ausmachen:

1. Zunächst ist die oben genannte „Schwäche“ bürgerschaftlicher Initiativen, immer wieder von komplexen, hauptamtlich organisierten Diensten überformt und verdrängt zu werden, auch als eine Stärke zu erkennen, wenn man die historische Perspektive ein wenig

verschiebt. Das Bürgerschaftliche Engagement hat sich über die gesamte Zeitspanne

moderner Gesellschaft, also seit der „Sattelzeit“ (Koselleck) des endenden 18. Jahrhunderts als eine nie ermüdende Innovationsagentur erwiesen. Es hat gesellschaftliche Lücken aufgespürt, überkommene Strukturen und Ordnungen gelockert oder gar zum Einsturz gebracht. Das beginnt schon mit dem ersten kodifizierten Ehrenamt, als die preußische Städteordnung von 1808 vorsieht, ehrenamtliche Bürgermeister und Gemeinderäte

einzuführen, um die feudal erstarrten Kommunen wieder zum Leben zu erwecken. Denn die neuen Werte der Französischen Revolution und Napoleons Siegeszug in Europa hatten erwiesen, dass ein Gemeinwesen ohne Beteiligung seiner Bürger nicht bestehen kann. Als Mitte des 19. Jahrhunderts das soziale Elend in den Städten ungeahnte Ausmaße annimmt, sind es ehrenamtliche Initiativen, die die Grundlagen des modernen Sozialstaates legen. Alle großen Wohlfahrtsverbände, aber auch die kommunale Sozialpolitik stammen aus

ehrenamtlichen Wurzeln.8

Auch wenn im 20. Jahrhundert Berufspolitiker und hauptamtliche soziale Dienste diese Ursprünge in den Hintergrund drängen, so bleiben sie doch präsent. Auch heute noch werden die meisten kommunalpolitischen Mandate ehrenamtlich versehen. Viele große Verbände haben immer noch ehrenamtliche Vorstände.

Die Innovationskraft des Bürgerschaftlichen Engagement ist bis heute ungebrochen. Ohne große Vorbereitung und mit wenigen Mitteln kann es sich der Themen annehmen, die gleichsam auf der Straße liegen. Das gilt bis zu aktuellen Tafelprojekten oder

ehrenamtlichen Hospizvereinen.

2. Die durch das Bürgerschaftliche Engagement aufgegriffenen Themen und Probleme werden häufig Gegenstand einer breiten sozialpolitischen Diskussion. Die Tafeln haben auf eine neue Armut aufmerksam gemacht, durch die Hospizvereine wurde das Sterben von einem Tabuthema in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Diese Diskurs- und Demokratiefunktion ist neben der Innovationsfunktion eine weitere wesentliche Stärke des Bürgerschaftlichen Engagements. Es bringt vernachlässigte, manchmal auch kontroverse Themen in die öffentliche Diskussion und insistiert auf den grundsätzlichen Fragen, wie wir leben wollen, was wir für unverzichtbar oder entbehrlich halten; Fragen, die in den alltäglichen Routinen der Politik und des Sozialstaates oft nicht mehr gestellt werden. Ob im Naturschutz, bei der Energiewende, im Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter oder die politischen Rechte von Migranten: Überall waren und sind es ehrenamtliche Initiativen, die diese Themen auf die gesellschaftliche Agenda gesetzt haben. Demokratie darf nicht nur an der Wahlurne stattfinden. Sie lebt von diesem, durch vielfältige bürgerschaftliche Initiativen vital gehaltenen Raum der „deliberativen Öffentlichkeit“ (Habermas), auch wenn es manchen gewählten Politiker Nerven kostet und sich manch bürgerschaftlich verbrämter Egoismus artikuliert. „Governance“ als neuartiger Entscheidungs- und Beteiligungsstil zielt darauf ab, diesen Dialog zwischen gewählten politischen Vertretern, Verwaltung und

Bürgerschaft in Arenen und Regeln so einzufassen, dass ein Miteinander im Ringen um die besten Lösungen entsteht. Weyarn, Barbing, Nordhalben, Rottendorf und andere Städte und

8 Wolf Reiner Wendt: Geschichte der Sozialen Arbeit 1. Die Gesellschaft vor der sozialen Frage, Stuttgart 2008, S.

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Gemeinden, die dem Netzwerk Nachhaltige Bürgerkommune9 angehören, haben es verstanden, mit Bürgerbefragungen, Agenda-21 Arbeitskreisen und anderen Instrumenten einen konstruktiven Diskurs zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft zu etablieren.

Befragt man deren Bürgermeister, so ist die Bilanz eindeutig. Einbezug der Bürgerinnen und Bürger führt zu besseren Lösungen, neuen Verantwortungspartnerschaften und einem

lebendigeren Gemeindeleben. Interessant ist dabei festzustellen, dass jene Kommunen, die den steten Austausch mit der Bürgerschaft pflegen, offenbar weniger mit Bürgerinitiativen zu kämpfen haben, die sich scheinbar aus dem Nichts bilden, um gefasste politische Beschlüsse wieder zu kippen.

Im Grunde wird mit der so neuartig klingenden Leitidee der „Governance“ eine traditionelle Auffassung von Kommune wieder gestärkt, die von dem zunehmend dominierenden Aspekt als Ausführungsorgan der zweiten staatlichen Ebene nur verdeckt wurde. Kommune meint im Kern Bürgerkommune und nicht staatliche Vollzugsebene, wie das

Bundesverfassungsgericht schon 1950 in einem wegweisenden Urteil zur kommunalen Selbstverwaltung festgestellt hat: Kommunale Selbstverwaltung bedeutet „Aktivieren der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten, die die in der örtlichen Gemeinschaft lebendigen Kräfte zur eigenverantwortlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben der engeren Heimat zusammenschließt mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren.“ (BVerfGE 11, 266/275 ff.)

3. Wer die Stapel der Bestseller in Buchhandlungen betrachtet, dem wird auffallen, dass sich darunter zunehmend Ratgeber und populärwissenschaftliche Abhandlungen finden, die Glück und Zufriedenheit mit Werten des Schenkens und der Freundschaft in Beziehung setzen.10 Ein Ferrari, so Bruno S. Frey, macht nur für kurze Zeit glücklich. Haltbarer sei das relationale Beziehungsglück.11 Seriöse Studien deuten darauf hin, dass Menschen, die sich bürgerschaftlich betätigen, länger und gesünder leben. Ebenso scheinen

Demenzerkrankungen im Alter bei einem rege geführten gesellschaftlichen Leben weniger häufig aufzutreten.12

Das Image des Bürgerschaftliches Engagement hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich verändert. Auch wenn man heute noch Werbungen wie die der Postbank13 findet, für die unter dem Strich nur das Ich zählt, so scheinen wir uns von den neoliberalen

Wertewelten der 1980er und 1990er Jahre immer weiter zu entfernen. Engagement ist selbst in Lebensstil prägenden Milieus mittlerweile „angesagt“.14 Alois Glück, der prominente bayerische Vordenker einer solidarischen Leistungsgesellschaft, hat unermüdlich darauf verwiesen, dass eine moderne Gesellschaft beides sein muss: wettbewerbsfähig und solidarisch.15 Man kann sich fragen, ob unsere derzeitige Arbeitswelt dies auch wirklich zulässt, aber es ist unübersehbar, dass immer mehr Menschen ihren Lebenssinn nicht nur in materiellen Werten und höherem Einkommen, sondern in einer neuen Lebenskunst suchen, die vielfältige Formen gesellschaftlicher Tätigkeit umfasst. Um diese Sehnsucht nach einer

9 Näheres unter www.nachhaltige-buergerkommune.de

10 Derzeit prominentestes Beispiel ist Richard David Prechts Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein“, München 2010 11 „Ein Ferrari macht nicht lange glücklich“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.12.2008

12 Regelmäßig sichtet der österreichische Freiwilligenmanager und Psychologe Martin Oberbauer hierzu die einschlägige Fachliteratur und verfasst verdienstvolle Abstracts, die man auf den Internetseiten der IG Freiwilligenzentren Österreich finde: www.freiwilligenzentrum.at

13 Serge Embacher: Baustelle Demokratie. Die Bürgergesellschaft revolutioniert unser Land, Hamburg 2012, S. 11 ff.

14 Alexander Dill: Gemeinsam sind wir reich. Wie Gemeinschaften ohne Geld Werte schaffen, München 2012 15 Alois Glück: Verantwortung übernehmen. Mit der Aktiven Bürgergesellschaft wird Deutschland leistungsfähiger

und menschlicher, München 2000

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„vita activa“ (Hannah Arendt) nicht zu enttäuschen, benötigen wir attraktive und

vielgestaltige Möglichkeiten des Bürgerschaftlichen Engagements, die den Bedürfnissen und Zeitvorstellungen der Engagierten entgegenkommt. Sätze wie „Eshat sich eben kein anderer gefunden, der den Posten übernehmen wollte. Da musste ich das eben machen“

sollten der Vergangenheit angehören. Dazu bedarf es einer wertschätzenden Kultur, die noch nicht überall vorhanden ist. Die Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements wird davon abhängen, ob es allgemein als Freunde gilt, anderen etwas Zeit, Wissen oder Geld zu spenden.

4. Verantwortung zu übernehmen, muss gelernt werden. Deswegen ist die vierte wichtige Funktion des Bürgerschaftlichen Engagements die Erziehung zum Bürger. John Dewey, der große amerikanische Philosoph und Pädagoge, hat Erziehung als einen Prozess der

Vertiefung von Erfahrungen und der praktischen Lösung von Problemen beschrieben, die in einer Gesellschaft von Gleichen stattfindet, die sich im besten Fall kooperativ verhalten.

Demokratie als Lebensform ist nicht selbstverständlich. Vom Kindergarten16 über die Schule bis in die Elternhäuser müssen ihre Vorzüge sichtbar, ihre Mühen und Erfolge spürbar und reflektierbar gemacht werden. Dafür ist Bürgerschaftliches Engagement ein vorzügliches Lernfeld. Durch informelles Lernen in Vereinen, kirchlichen Jugendgruppen oder

politischen Initiativen werden täglich und konkret soziale und demokratische Tugenden eingeübt. Freiwillige Übernahme von Verantwortung, Freude am Geben und Stolz auf Selbstwirksamkeit des eigenen Tuns werden praktisch und konkret nachvollziehbar.

Hans Josef Vogel, Bürgermeister der Stadt Arnsberg, hat aus dem zitierten Urteil des

Bundesverfassungsgerichts zur kommunalen Selbstverwaltung den Schluss gezogen, dass eine Kommune nicht nur von der Tätigkeit und Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger lebt, sondern auch eine kommunale Verpflichtung zur Engagementförderung besteht.17 In der Tat: Die vier herausgearbeiteten Chancen des Bürgerschaftlichen Engagements: Innovationsagentur für die Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens zu sein; im demokratischen Diskurs grundsätzliche Fragen nach gesellschaftlichen Werten anzumahnen; individuelle Sinnressource und

unverzichtbares Übungsfeld der Bildung zu sein, könnten auf der gesellschaftlichen Agenda eine höhere Wertschätzung erfahren. Die systematische Entwicklung von politischen

Beteiligungsstrukturen, die Öffnung der Schule zu Organisationen des Bürgerschaftlichen Engagement, die Entwicklung von vielfältigen Einsatzfeldern, die in unserer zunehmend individualisierten Gesellschaft für jeden etwas zu bieten haben, sind, gelinde gesagt, noch ausbaufähig.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement Bayern

16 Raingard Knauer: Kindertagesstätten als Kinderstuben der Demokratie. Vortrag auf dem Fachtag Bürgerschaftliches Engagement in Kindertagesstätten am 19. April 2012 in Mainz, BBE-Newsletter 09/2012, Download unter www.b- b-e.de

17 Hans-Josef Vogel: Engagementförderung - eine kommunale Pflichtaufgabe? 4. Fachtagung des Bundesmodellprogramms „Erfahrungswissen für Initiativen (EFI)“, Würzburg, 06. Juni 2005

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