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Der EU-Reformkonvent vor der Bewährungsprobe

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von Claus Giering

I

m Jahr 2003 jährt sich das In-Kraft- Treten des Maastrichter Vertrags zum zehnten Mal. In dieser ver- hältnismäßig kurzen Zeitspanne haben die Mitgliedstaaten zwei Ver- tragsreformen der Europäischen Union durchgeführt, diese auf 15 Mit- gliedstaaten erweitert sowie den Bei- tritt von weiteren zehn der derzeit 13 Kandidatenstaaten beschlossen. Doch haben die Verträge von Amsterdam und Nizza die Entscheidungsstruktu- ren nicht ausreichend auf eine Union mit 25 und bald mehr Mitgliedstaaten vorbereitet. Im Patchwork-Stil wur- den immer neue Bestimmungen hin- zugefügt und Bestandteile zwischen den in Maastricht eingeführten drei EU-Säulen verschoben.

Dadurch gleicht das Gesamtwerk nicht nur einem Flickenteppich, es ist auch kaum mehr nachzuvollziehen, nach welchem Muster die Aufgaben zwischen der EU und ihren Mitglied- staaten verteilt sind. Erschwerend kommt hinzu, dass das institutionelle Gefüge und die Entscheidungsstruk- turen auf europäischer Ebene im Zuge von Erweiterung und Vertiefung zu zerfasern drohen. Und schließlich

fehlt eine strategische Konzeption, wie die nötige Entwicklungsoffenheit einer erweiterten Europäischen Union gewährleistet werden kann.

Der zur Ausarbeitung einer Verfas- sung der Europäischen Union ein- berufene Konvent und die nachfol- gende Regierungskonferenz müssen daher die nachhaltige Wahrung von Handlungs- und Anpassungsfähig- keit einer erweiterten Union als obers- te Priorität verfolgen.1 Dazu sollten die Reformen des Konvents auf vier Ebenen ansetzen:

– Erstens muss das Ziel umgesetzt werden, nach 50 Jahren Entwick- lungsgeschichte wieder eine nach- vollziehbare Struktur in das ent- standene Vertragsgeflecht zu brin- gen.

– Zweitens muss eine zeitgemäße und sachgerechte Neujustierung der Arbeitsteilung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten erreicht werden.

– Drittens müssen die institutionel- len Machtfragen gelöst werden, ohne die eine Verbesserung der Handlungsfähigkeit der EU nicht möglich ist.

– Viertens muss – nicht zuletzt nach den Erfahrungen von Maastricht, Amsterdam und Nizza – ein Ver- tragsänderungsverfahren akzep- tiert werden, das auch nach der Er- weiterung noch Revisionen und

Der EU-Reformkonvent vor der Bewährungsprobe

Generalüberholung statt Facelifting

Dr. Claus Giering, Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) an der Universität München.

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Anpassungen des politischen Sys- tems der EU zulässt.

Vom Vertrag zur Verfassung

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ie Konsolidierung des historisch gewachsenen Rechtsbestands der europäischen Integration in einem Dokument, das die Grundwer- te und Grenzen, die Ziele und Zustän- digkeiten sowie die Verfahren und In- stitutionen umfasst, gehört zu den Kernaufgaben des Konvents. Die Ver- einfachung der Verträge sollte nicht einfach als eine redaktionelle, tech- nische Aufgabe verstanden werden – es geht vielmehr darum, die bereits er- reichte konstitutionelle Qualität der Integration greifbar zu machen.

Damit wird die Grundlage für die Ab- rundung eines sichtbaren europäi- schen Regierungssystems geschaffen.

Der EU-Konvent hat die einmalige Chance, in einem offenen Prozess eine verständlichere Konzeption als das Europa à la Maastricht zu entwickeln.

Was im ersten Halbjahr 2002 in abs- trakter Form debattiert wurde, hat im zweiten Drittel der Konventsberatun- gen konkrete Gestalt angenommen.

Inzwischen ist dem Konvent eine ganze Reihe von Verfassungsvorschlä- gen unterschiedlicher nationaler und parteipolitischer Provenienz vorgelegt worden.2Diese Entwürfe unterschei- den sich hauptsächlich im zugrunde liegenden Leitbild, das sich letztlich in der institutionellen Architektur wi- derspiegelt. Während die Einen ein ausgeprägt föderales, nahezu bundes- staatliches Europa mit einem starken

Parlament und einer regierungsähn- lichen Kommission entwerfen, schla- gen die Anderen Strukturen vor, die den Mitgliedstaaten über Ministerräte und Europäischen Rat die zentrale Rolle vorbehalten. Es soll eine Verfas- sung für eine Union souveräner Staa- ten entstehen, keine Blaupause für einen föderalen Superstaat.

Trotz aller Unterschiede in Umfang und Ausrichtung der bisher vorgeleg- ten Vorschläge sind auch überein- stimmende Linien zu erkennen. Ge- meinsam ist den meisten Entwürfen, dass sie letztlich eine Auflösung der Säulenstruktur anstreben, die EU mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit ausstatten, die Grundrechtecharta als rechtlich verbindlichen Bestandteil verankern und das Prinzip festschrei- ben wollen, dass die Mitgliedstaaten für alle Sachfragen zuständig bleiben, die nicht explizit im Verfassungstext geregelt sind.3

Unter dem Druck einer wachsen- den Zahl potenzieller Verfassungs- väter hat der Präsident des Konvents, Valéry Giscard d’Estaing, schließlich auf der Plenarsitzung am 28./29. Ok- tober 2002 einen eigenen Entwurf vorlegt. Dieser hat erstmals die zu er- wartende Grundstruktur des endgül- tigen Verfassungsvorschlags des Kon- vents aufgezeigt, indem er die Ergeb- nisse der bisherigen Konventsarbeit zusammenführt.4

Der Rahmen für die weitere Debat- te ist damit abgesteckt. Zum einen sind bereits wichtige Bestandteile aus den bisherigen Beratungen inkorpo- riert worden; zum andern hat der Ent- wurf genügend Spielraum gelassen, um im Plenum oder in Arbeitsgrup-

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pen eine Reihe von strittigen Fragen zu debattieren. Damit wird es künftig wesentlich leichter sein, die einzelnen Reformvorschläge konkret anhand ihrer Kompatibilität mit der vorlie- genden Gesamtstruktur einzuschät- zen, sie anzupassen und bei Konsens in den Entwurf zu integrieren. Es ver- bleibt knapp ein halbes Jahr, um die Verfassung schrittweise und gezielt mit Inhalten zu füllen. Das ist eine effektive und nachvollziehbare Me- thode, um einen Konsens im Konvent anzustreben.

Die Vorlage eines in sich stimmigen und umfassend akzeptierten Ent- wurfs war ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Verfasstheit Europas. Eine Erfolgsgarantie ist dies gleichwohl nicht. Denn wenn sich der Konvent darauf beschränkt, gleich- sam ein redaktionelles Facelifting vor- zunehmen und nur den konstitutio- nellen Status quo neu zu sortieren, bleibt die Konventsarbeit Stückwerk, ohne die strukturellen Defizite als Ur- sache mangelnder Handlungsfähig- keit der EU beheben zu können. Die großen Bewährungsproben stehen dem Konvent erst dann bevor, wenn die konkreten Textentwürfe zur Neu- gestaltung der Kompetenzordnung, der Entscheidungsstrukturen sowie des Revisionsverfahrens auf die Ta- gesordnung gesetzt werden.

Die Neugestaltung der Kom- petenzordnung hat bisher den brei- testen Raum in den Konventsberatun- gen eingenommen. Die Mehrzahl der mittlerweile elf Arbeitsgruppen hat sich mit einer möglichen Ausweitung, Ausgestaltung und Kontrolle der EU- Aufgaben beschäftigt. Im Ergebnis

zeichnet sich bei allen Arbeitsgruppen ab, dass die EU auf Grund plausibler Sachüberlegungen eher mehr als we- niger Zuständigkeiten benötigt. So sind sich beispielsweise die Arbeits- gruppen zur Außen- und Sicherheits- politik sowie zur Innen- und Justiz- politik weit gehend einig, dass zur Verbesserung von Effizienz und Transparenz eine Überwindung der Säulenstruktur erfolgen sollte. Für welche Politikfelder damit aber auch eine tatsächliche Ausweitung der Be- fugnisse der Gemeinschaftsorgane und ein Verzicht auf Vetomöglichkei- ten durch die Mitgliedstaaten einher- gehen könnten, bleibt offen.

Dasselbe gilt für die zahlreichen Vertragsentwürfe, die dem Konvent vorliegen, nicht zuletzt auch für den Entwurf des Präsidenten selbst. Brei- ter Konsens besteht über die Einfüh- rung von Kompetenzkategorien, die die jeweilige Intention und Reichweite europäischer Befugnisse in den Blick nehmen. Die einzelnen Politikfelder sollen nicht nach dem bisherigen Prinzip der Einzelermächtigung, son- dern entlang ihrer Eingriffsintensität unterschiedlichen Handlungskatego- rien zugeordnet werden. Es zeichnet sich ab, dass dies ausschließliche Zu- ständigkeiten der Union, zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeitsbereiche und auf un- terstützende Maßnahmen beschränk- te Aufgabenfelder sein werden.5Eine Neuordnung nach diesem Ansatz würde zunächst erheblich mehr Transparenz schaffen, ohne dass dafür eine substanzielle Umverteilung der heutigen Kompetenzbestände not- wendig wäre.

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Noch umstritten ist allerdings, ob auch die Tätigkeiten im Rahmen der offenen Koordinierung explizit in der künftigen Verfassung geregelt werden sollen. Da diese Methode aber unter anderem im Rahmen des so genann- ten Lissabon-Prozesses eine immer größere Rolle einnimmt,6sollten die Rahmenbedingungen als eigene Kate- gorie festgelegt werden.

Die essenzielle Frage mit Blick auf eine verbesserte Handlungsfähigkeit der Europäischen Union lautet indes, inwieweit der Konvent das Prinzip der Einzelermächtigung durchbrechen kann. Der Verfassungsentwurf von Giscard d’Estaing sieht zwar eine bes- sere Darstellung der Aufgabenkatego- rien im ersten Teil der Verfassung vor.

Die Vielzahl der für jedes einzelne Po- litikfeld verbindlichen Einzelermäch- tigungen und Ausführungsregeln der bisherigen EU- und EG-Verträge soll jedoch im zweiten Teil nur zusam- mengeführt werden und benötigt weiterhin den größten Raum der Ver- fassung. Dort spiegeln sich die spezi- fischen Interessen der Mitgliedstaaten wider, indem für alle Politikfelder fein ziselierte Einzelbestimmungen mit expliziten Einschränkungen, Instru- menten und Verfahrensvorschriften gelten. Dies verhindert eine nachvoll- ziehbare, effiziente und anpassungs- fähige Entscheidungsfindung und ist den Bürgern in ihren Konsequenzen für die tägliche Politikgestaltung kaum zu vermitteln.

Jede noch so stringente Einord- nung der Aufgaben in einem ersten Teil der künftigen Verfassung würde unter diesen Umständen keine Ver- besserung der Handlungsfähigkeit

bedeuten. Nur durch die Einführung eines allgemein gültigen Entschei- dungsverfahrens und entsprechender Handlungsinstrumente für alle Ge- setzgebungsbereiche zumindest der ausschließlichen und geteilten EU- Zuständigkeitsbereiche kann das Di- ckicht der Sonderregelungen, die aus dem Prinzip der Einzelermächtigung erwachsen sind, gelichtet werden.

Dieses Verfahren sollte die qualifizier- te Mehrheitsentscheidung im Rat, die zugleich die Mehrheit der Staaten und der Bürger repräsentiert, im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens sein.

Auf diesem Weg würde zugleich die demokratische Legitimation über das Europäische Parlament gestärkt.

Politische Führung

E

ine in sich schlüssige Verfassungs- basis und eine klare Aufgaben- zuweisung sind wichtige Bestandteile, um die Akzeptanz und die Hand- lungsfähigkeit der EU zu verbessern.

Entscheidend für die Art und Weise ihrer Umsetzung in konkrete Politik sind aber strategische Planung und ef- fektive Entscheidungsstrukturen.7 Diese Funktionen werden laut EG- Vertrag im Mächtedreieck von Minis- terrat, Kommission und Parlament entschieden. Als zusätzliche Kontroll- instanzen dienen der Europäische Ge- richtshof und der Rechnungshof. Eine immer zentralere Rolle nimmt zudem der Europäische Rat ein. Dieser gibt laut Art. 4 EU-Vertrag „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen“ fest.

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Längst ist der Europäische Rat über diese Leitlinienfunktion hinaus zur zentralen Schaltstelle der EU gewor- den – ein Aufsichtsrat, der dem Vor- stand in Gestalt der Kommission kaum mehr Handlungsspielraum zu- billigt. Denn das breite Themenspek- trum der meisten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs reicht von der Außen-, Sicherheits- und Ver- teidigungspolitik über die Sozial- und Wirtschaftspolitik bis hin zu allen strittigen Themen der Gemein- schaftspolitiken.

Die führende Position des Europäi- schen Rates soll nach dem Willen ei- niger Mitgliedstaaten, die sich für die Ernennung eines Präsidenten des Eu- ropäischen Rates auf Zeit ausgespro- chen haben, weiter ausgebaut werden.

Dieser „ABC-Vorschlag“ – so genannt nach den Hauptprotagonisten José Maria Aznar, Tony Blair und Jacques Chirac – soll Europa mit einer ver- nehmbaren Stimme und einem ver- trauten Gesicht versehen. Im Euro- päischen Rat selbst könnte dieser Prä- sident viele Aufgaben des derzeit halb- jährlich wechselnden Vorsitzes übernehmen. Und als ehemaliger Staats- oder Regierungschef würde ein solcher Präsident auf internatio- naler Ebene mit den Großen dieser Welt auf gleicher Augenhöhe stehen.

Für die Vertreter vor allem kleine- rer Mitgliedstaaten sowie der Ge- meinschaftsinstitutionen stellt die Vorstellung eines weiteren Präsiden- ten für Europa allerdings eher ein Schreckgespenst dar.Als Parallelkons- trukt könnte er in Konkurrenz zum Präsidenten der Europäischen Kom- mission agieren und diesen mögli-

cherweise in den Schatten stellen.

Damit könnten einseitig die zwi- schenstaatlichen Elemente der EU ge- stärkt und ihre Abgrenzung gegen- über der Gemeinschaftsmethode auf Dauer verstetigt werden.

Besonders die Kommission ist unter Zugzwang geraten. Anfang De- zember 2002 hat sie nun Reformvor- schläge präsentiert, die letztlich da- rauf hinauslaufen, ihre eigene Rolle zu stärken. So will sie beispielsweise mehr Verantwortung und Rechte im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik an sich ziehen, um als Hüterin der Verträge die Interessen der neuen wie der alten Mitgliedstaa- ten auf kohärentere und auch effekti- vere Art und Weise als bisher vertreten zu können. Im Gegenzug soll dem Eu- ropäischen Rat das Recht übertragen werden, die Kommission aufzulösen.8 Mit diesem Vorschlag würde aller- dings das Europäische Parlament in seinen schwer erkämpften Kontroll- rechten zurückgesetzt, da es bisher al- lein über die Möglichkeit eines Miss- trauensantrags gegenüber der Kom- mission verfügt. Zudem müsste eine Lösung der Frage gefunden werden, welche Konsequenzen unterschiedli- che Voten des Parlamentes und des Europäischen Rates hätten.

Um sowohl die Kommission als auch das Parlament zu stärken, sollte daher ein anderer Ansatzpunkt ge- wählt werden, nämlich die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament. Die euro- päischen Parteienzusammenschlüsse aller Couleur sollten mit einem Spit- zenkandidaten in den EP-Wahlkampf ziehen, der zugleich der Anwärter für

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das Amt des Kommissionspräsiden- ten wäre. Dies würde die Entwicklung europäischer Parteien stärken, die Er- arbeitung gemeinsamer Wahlpro- gramme erfordern und die Europa- Politik personalisieren, wodurch sie nicht zuletzt in den Medien leichter zu vermitteln wäre. Der Kommissions- präsident müsste mit weit gehenden Befugnissen bei der Zusammenstel- lung seiner Kommissare ausgestattet sein, und nur dem Parlament käme das Recht auf eine mögliche Abwahl der Kommission zu. Damit wäre ein klares Signal für mehr Transparenz und Demokratie auf europäischer Ebene gesetzt.

Doch wird es keine einseitige Stär- kung von Kommission und Par- lament geben können. Dies wider- spricht der bisherigen Entwicklungs- logik der Integration, deren Erfolg sich nicht zuletzt auf einem stetigen Ausgleich zwischen den gemein- schaftlichen und zwischenstaatlichen Wesenszügen der Union begründet.

Zudem erscheint es angesichts der zerklüfteten Interessenlage der Mit- gliedstaaten unrealistisch, von einer Vergemeinschaftung weiterer Politik- felder auszugehen. Vielmehr werden die Staats- und Regierungschefs gera- de in der Außen- und Sicherheitspoli- tik ihre zentrale Rolle zu Lasten der Kommission ausbauen wollen. Diese Entwicklung würde sich noch ver- dichten, wenn sich eine „Doppelhut- Lösung“ durchsetzt, nach der eine Person zugleich die Präsidentschaft der Kommission sowie des Europäi- schen Rates übernehmen würde. Im Zweifel würden sich deren Loyalität und Interessen wohl eher am Gremi-

um der Staats- und Regierungschefs ausrichten – die Kommission könnte zur verlängerten Werkbank dieser neuen Machtkonstellation werden.

Die Alternative ist, dass sich im in- stitutionellen Bereich nichts maßgeb- lich verändert – was angesichts der Herausforderungen und Probleme, die sowohl die Kommission wie der (Europäische) Rat bewältigen müs- sen, die wohl schlechteste Lösung dar- stellt. Daher könnte sich die Einset- zung eines eigenen Präsidenten des Europäischen Rates letztlich als einzig tragfähiges Gegengewicht zur Wah- rung der Stellung der Kommission in den Gemeinschaftspolitiken sowie zur Festigung ihrer Legitimations- basis herausstellen. Jeder der beiden Präsidenten hätte seine klaren Zu- ständigkeits- und Vertretungsbefug- nisse im zwischenstaatlichen bzw. im gemeinschaftlichen Bereich abzude- cken. In den Bereichen, in denen sich die Aufgaben überschneiden, wäre natürlich ein Abstimmungsprozess nötig, der durchaus auch einmal kon- frontativ verlaufen kann. Doch Kon- kurrenz belebt das Geschäft – und sorgt für eine bessere öffentliche Wahrnehmung.

Dauerhafte Dynamik

V

on besonderer Bedeutung für die erweiterte EU ist die Beantwor- tung der Frage, wie Dynamik und An- passungsfähigkeit angesichts sich wandelnder interner und externer Rahmenbedingungen gewahrt wer- den können. Politische und finanziel- le Interessenkonflikte kennzeichnen

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jedes politische System; die Unter- schiede liegen im Grad des Konsens- bedarfs. Dieser ist in der Europäi- schen Union besonders hoch. So wäre beispielsweise eine Reform der Agrar- politik sogar mit qualifizierter Mehr- heit im Rat möglich. Da die grund- legenden Entscheidungen aber im Rahmen der Finanzverhandlungen getroffen werden, greift bei der da- durch notwendigen Paketlösung wie- der das Einstimmigkeitsprinzip. In weiten Teilen der Steuer-, der Wirt- schafts-, Innen- und Justiz- sowie der Außen- und Sicherheitspolitik ver- hindert das Einstimmigkeitsprinzip von vornherein eine Durchsetzung ef- fektiver Entscheidungen gegenüber Partikularinteressen.Wie seit der Ein- heitlichen Europäischen Akte bei jeder Reformrunde üblich, wird auch diesmal die Ausweitung der qualifi- zierten Mehrheitsentscheidungen ein zentraler Gradmesser für die Verbes- serung der Handlungsfähigkeit sein.

Mit der Einführung der Mehrheits- entscheidung als generelles Prinzip ist allerdings auch diesmal nicht zu rech- nen. Schon im Konvent selbst findet sich dazu kein Konsens. Als Alternati- ve steht seit dem Vertrag von Amster- dam das Instrument der „Verstärkten Zusammenarbeit“ nach Art. 43 ff.

EUV zur Verfügung. Dieses ist nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Restrik- tionen bisher nicht zur Anwendung gekommen. Mit dem In-Kraft-Treten des Vertrags von Nizza werden einige der Einschränkungen wegfallen. Der Konvent sollte dieses Prinzip auf jeden Fall auch in die künftige Verfas- sung übernehmen, aber vor allem im Bereich der Außenbeziehungen, bei

den möglichen Anwendungsfeldern und bei der Anzahl der Teilnehmer weitere Lockerungen an der langen Liste der Ausführungsbedingungen vornehmen. Nur dann können die Gestaltungspotenziale dieses Instru- ments effektiv genutzt und die ver- stärkte Zusammenarbeit als glaub- würdige Alternative gegenüber einer Blockadepolitik einzelner Staaten ein- gesetzt werden. Dies sollte allerdings nicht zu einem dauerhaften Aus- schluss der zunächst nicht teilneh- menden Staaten führen.

Doch nicht nur die Anwendung und Umsetzung von Gemeinschafts- politik bedarf der Flexibilität. Kon- ventspräsident Giscard d’Estaing wünscht sich zwar eine Verfassung, die die nächsten 50 Jahre Bestand hat, doch werden immer wieder Anpas- sungen ratsam sein. Diese können in einer EU mit 25, geschweige denn mit 28 und mehr Mitgliedstaaten nicht mehr nach dem heute gültigen, lang- wierigen Prozedere erfolgen. Zu- nächst sollte daher die auch im Gis- card-Entwurf vorgesehene Aufteilung in konstitutionelle Rahmenbedin- gungen und politikfeldbezogene De- tailbestimmungen genutzt werden, um zumindest den zweiten Verfas- sungsteil einem vereinfachten Revisi- onsverfahren ohne Einstimmigkeits- zwang und Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten zu unterwerfen. Hier sollten besonders qualifizierte Mehr- heiten im Rahmen des Zustimmungs- verfahrens ausreichen, wenn die Defi- nition und Begrenzung der Kom- petenzkategorien im ersten Teil ein- deutig genug festgelegt worden sind.

Für den ersten und dritten Verfas-

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sungsteil wäre nach den bisherigen Erfahrungen der Konvent das geeig- nete Gremium für die Vorbereitung künftiger Verfassungsreformen, bevor diese dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten zur Ratifika- tion vorgelegt werden. Ist ein solch ge- teiltes Revisionsverfahren nicht zu realisieren, müssen andere Wege zur Fortentwicklung der europäischen Verfassung eingeschlagen werden. So könnten Anpassungen entweder nach Zustimmung einer bestimmten An- zahl von Staaten in Kraft treten, oder einzelne Staaten, deren Bürger Refor- men mehrfach ablehnen, sollten ihre Mitgliedschaft per Referendum zur Disposition stellen müssen.

Über die „Verpackung“ des künfti- gen Primärrechts besteht weit gehend Einigkeit. Es wird eine Verfassung mit mindestens zwei Teilen sein. Gelingt es dabei, die heutige Säulenstruktur sowie die Vielfalt an Verträgen und Gemeinschaften im Rahmen der EU zu überwinden, wäre unter dem Ge-

sichtspunkt der Transparenz schon eine Menge erreicht. Um jedoch zu- gleich die Handlungs- und Entwick- lungsfähigkeit der Union zu verbes- sern, müssen Eingriffe an der Sub- stanz der heutigen Vertragsbestim- mungen erfolgen. Mit der schlichten Fortschreibung des Bestehenden ist das große Europa der 28 und mehr Mitgliedstaaten nicht zu realisieren.

Scheitert der Konvent in dieser Hin- sicht, steht das Projekt der Integration insgesamt auf dem Spiel – ein Aus- einanderdriften der EU-Staaten wird vom „Worst-Case-Szenario“ zur rea- listischen Option. Nur ein ambitio- niertes Ergebnis kann die Europäische Union als vitale Erfolgsgemeinschaft fit für künftige Herausforderungen machen. Diese Alternativen müssen klar benannt werden. Wenn die Bür- ger wieder für ein zukunftsfähiges und Erfolg versprechendes Europa ge- wonnen werden sollen, darf der Kon- vent kein Konsenspaket ohne Durch- schlagskraft vorlegen.

Anmerkungen

1 Zu Entstehungsgeschichte, Zusammenset- zung und Auftrag des Konvents vgl. Beate Neuss, Die Krise als Durchbruch. Die EU zwischen Vertragsreform und Verfassungs- entwurf, in: Internationale Politik, 1/2002, S. 9–16.

2 S. die Sammlung der Vorschläge und Kom- mentierungen unter <http://www.cap.uni- muenchen.de/konvent/entwuerfe.htm>.

3 Vgl. auch die vorliegenden Abschluss- berichte der Arbeitsgruppen im Konvent unter <http://european-convention.eu.int/

doc_wg.asp?lang=DE>.

4 Vgl. den hier abgedruckten Text, S. 87 ff.

5 Vgl.den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe V „Ergänzende Zuständigkeiten“,Dokument

CONV 375/02, <http://Register.consilium.

eu.int/pdf/de/02/cv00/00375-r1d2.pdf>.

6 Vgl. Ingo Linsenmann/Christoph Meyer, Dritter Weg, Übergang oder Teststrecke?

Theoretische Konzeption und Praxis der of- fenen Politikkoordinierung, in: integration, Heft 4/2002, S. 285–296.

7 Vgl. Thinking Enlarged Group, Bridging the Leadership Gap. A Strategy for Improving Political Leadership in the EU, abrufbar unter <http://www.cap.uni-muenchen.de/

publikationen/Strategien/leadership.htm>.

8 Vgl. Mitteilung der Europäischen Kommis- sion zur institutionellen Architektur vom 4.12.2002, in Auszügen hier abgedruckt, S. 107 ff.

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