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U N A B H Ä N G I G E W O C H E N Z E I T U N G F Ü R D E U T S C H L A N D

J a h r g a n g 26 — F o l g e 27 2 H a m b u r g 13, P a r k a l l e e 84 / 5. J u l i i'«7*.

C 5524 C

H a l b w a h r h e i t e n i n M a n n h e i m

Clemens Riedel zu Rainer Barzels Ausführungen über die Haltung der CDU bei der Abstimmung über die Ostverträge

U n s e r l a n g j ä h r i g e r Mitarbeiter C l e - mens Riedel, der v o n 1957 bis 1972 «ils A b g e o r d n e t e r dem Deutschen Bund s tag a n g e h ö r t e , hat zum Verlauf und Er- gebnis des M a n n h e i m e r Parteitages der C D U Stellung genommen und b e s c h ä f - tigt sich in nachfolgendem Beitrag ins besondere mit den A u s f ü h r u n g e n Dr.

Rainer Barzels zu der H a l t u n g der C D U bei der A b s t i m m u n g ü b e r die Ostver- t r ä g e am 17. M a i 1972. W i r geben diesen

A u s i ü h r u n g e n nachstehend Raum:

A l t e r n a t i v e '76?

G e n e r a l s e k r e t ä r Biedenkopf berichtete, d a ß unter seiner blitzgescheiten F ü h r u n g die Union mit dem .Besetzen" der politischen Begriffswelt argumentativ in F ü h r u n g gegangen sei. Er r ä u m t e dabei auch ein, d a ß für den Wahlerfolg 1076 eine Umgewichtung der P r i o r i t ä t e n in der Parteiaussage vorgenommen werden m ü s s e .

Wenn aber hurtig besetzte Positionen den Sieg bringen sollen, m ü s s e n sie auch kampfstark auf- g e f ü l l t werden. Da der ideologische und sach- liche Gehalt einer Parteiaussage sich auch in der Personalgestaltung — und umgekehrt —

\\ >lerspiegelt, ist der Aufbruch von Mannheim nicht eben ü b e r z e u g e n d alternativ zu nennen.

Helmut Kohl sammelt, ohne zu integrieren.

Grundsatzpositionen als Parteiaussagen werden formuliert; sind aber wenig substanziell ange- reichert.

Der Schlager der « M a n n h e i m e r Erklärung" ist die Entdeckung des .unorganisierten" Mitglie- des der Gesellschaft. Daraus wird dann die . N E U E Soziale Frage" postuliert.

Gravierender jedoch ist zu beurteilen, was so unter der Hand entschieden wurde. Der ehrliche Versuch Alfred Dreggers, mit seiner Kandidatur zum P r ä s i d i u m die Partei in Richtung Alter- native auszurichten, verfehlte knapp das Ziel.

Indessen hat dieser Parteitag, der zur knappen H ä l f t e die risikohafte Kandidatur Dreggers u n t e r s t ü t z t e , hingenommen, d a ß der Parteivor- sitzende Kohl den gescheiterten Rainer Barzel kooperativ in das P r ä s i d i u m hievte. Nach Art eines geborenen Candidus hat sich der so neben- bei Rehabilitierte als Copilot im Präsidium etabliert und wurde dabei von den Delegierten lautstark applaudiert. Ein Parteitag, der so ver- fährt, hat auch ohne förmliche Abstimmung votiert.

Herrn Barzel mag zugute gehalten werden, d a ß er sich zu recht von Franz Josef S t r a u ß pro- voziert fühlte. In seinem Comeback-Versuch aus dem Stand hat er sich jedoch nicht als eine P e r s ö n l i c h k e i t vorgestellt, die in Haltung und Aktion ihren Herausforderer ü b e r r a g t e .

W i e war es wirklich?

Zur . K l ä r u n g des G e l ä n d e s " , das die Union hinter sich zu lassen w ü n s c h t , tragen Halbwahr- heiten nicht bei. Eine solche ist Barzels Fest- stellung, d a ß er das .Enthalten" der Fraktion am 17. 5. 1972 nicht erfunden habe. Die volle Wahrheit ist. d a ß der damalige Parteivorsit- zende und O p p o s i t i o n s f ü h r e r seinen erstaunten Kollegen freistellte, den V e r t r ä g e n zuzustim- men, wenn sie ihr Gewissen dazu trieb.

Als sich die Bundestagsfraktion der C D U / C S U damals zu ihren mit Nein-Stimmen befrachteten, einheitlichen Enthalten durchrang, stand sie vor folgender Situation: Ihr Führer und Partei- vorsitzender der C D U hatte unter seinem g r ö ß - ten p e r s ö n l i c h e n Risiko beschlossen, plötzlich beim Endspurt um die Ratifizierung an einer .interpretierten" Verabschiedung mitzuwirken, anstatt die bisherigen Ablehnungstendenzen durchzuhalten. Dieser Schluß ergibt sich eben- falls aus Barzels Einlassung in Mannheim. Da- nach hat er mit seinem Entschluß die F ü h r u n g s - gremien der Parteien ü b e r z e u g t . Am Montag dem 15 M a i 1072, trat er mit Empfehlungen des

Vor 30 Jahren: A m 10. Juli 1945 k ü n d i g t e der polnische M i n i s t e r p r ä s i d e n t Edward Osobka- Morawski die Ausweisung aller Deutschen an Foto Schürer

P a r t e i p r ä s i d i u m s , des Gesamtvorstandes seiner Partei und einem gleichlautenden Votum des Vorstandes der Bundestagsfraktion vor das Plenum der Fraktion. Dies ist offensichtlich auch mit Duldung der Fraktionsvorstandsmitglieder der CSU-Landesgruppe so geschehen. Im Ver- laufe der d r e i t ä g i g e n Fraktionsdiskussion in- formierte der R h e i n l a n d - P f ä l z i s c h e M i n i s t e r p r ä - sident Helmut Kohl, d a ß der Bundesrat — also auch die C D U ' C S U - L ä n d e r m e h r h e i t in ihm — beschlossen habe, die V e r t r ä g e .passieren" zu lassen. A u ß e r d e m war durch die Aufnahme des von der SPD abgesprungenen Abgeordneten Dr.

G ü n t h e r M ü l l e r , M ü n c h e n , am Abstimmungstage im Parlament die Pattsituation hergestellt Die Fraktion lief also Gefahr, d a ß sie bei nur einer einzigen Ja-Stimme aus ihren Reihen zu den V e r t r ä g e n , in der Tat eine gualifizierte Mehrheit erhalten h ä t t e . D a r ü b e r hinaus w ä r e als Nebenwirkung eine Vertrauensgnindlage für die Bundesregierung Brandt/Scheel entstanden.

Unter den damals gegebenen Bedingungen hat die Fraktion gegen den Willen ihrer Vorturner eine Bravour-Leistung an Alternative mit der

durchgehaltenen Geschlossenheit in der A b - stimmung erbracht.

Als Beteiligter stellte ich das dar, um die Halbwahrheit Barzels. . W i r hatten keine Mehrheit gegen die V e r t r ä g e " , zurecht- zurücken. Barzel ist damals das Risiko gelaufen, wegen angeblich .interpretiert" verabschiedeter V e r t r ä g e die Regierung in gleichem Zuge zu stabilisieren und damit deren Vertragspolitik b e i l ä u f i g zu rechtfertigen.

Die dritte Halbwahrheit in Barzels Rechtferti- gungsversuch ist seine Behauptung, d a ß die Gemeinsame E n t s c h l i e ß u n g des Deutschen Bun- destages .vom gleichen Tage eine völkerrecht- liche wirksame Interpretation" erbracht habe.

Es gibt keine gutwilligen und keine b ö s w i l l i g e n Interpretationen, sondern deutsche und sowje- tische bzw. polnische usw. Brandt und Scheel haben im Bundestag selbst von dem bestehen- den .offenen Dissens" bei den jeweiligen Ver-

tragsauslegungen der beteiligten Regierungen gesprochen, mit denen es fertig zu werden gelte.

Im Grunde genommen hat Rainer Barzel die Geburtsstunde des Konformismus und seines Erzeugers innerhalb der C D U offenbart. Herr Barzel führte seine Partei zum variieren des Regierungstheraas und nicht zu dessen Alter- native. So sieht auch sein, wie er sagt, schlich- tes Deutschlandbild aus: .Ich achte unsere Bun- desrepublik Deutschland und bin bereit, sie zu verteidigen. Mein Vaterland h e i ß t Deutschland."

Das alles sollte Herr Kohl bedenken.

Der Verlauf der Behandlung des Antragteiles des abgelaufenen Parteitages hat die erkannte Notwendigkeit der Umgewichtung der Partei- aussage, also ü b e r die Ausgangsposition des ge- sellschaftsbezogenen Sozialkataloges hinaus, nicht erbracht. Die gesellschaftspolitisch orien-

tierten Parteigruppen der Frauen, Sozialaus- s c h ü s s e und Jungen Union haben die Koalition ihres P r i o r i t ä t e n k a t a l o g e s auch als Sperrmauer bei den Personalentscheidungen g e ü b t .

Jetzt m u ß Helmut Kohl zeigen, ob er im- stande ist, seine Aussage zu verwirklichen, er werde die C D U .wie Adenauer führen". Dazu ist erforderhch, d a ß er ü b e r die Ausgewogenheit von Gruppenanforderungen das organisierte Parteivolk auf Aussagen festlegt, zu Anliegen, die den umworbenen unorganisierten W ä h l e r n , ü b e r deren Sozia linteressen hinaus, auf den N ä g e l n brennen. Der Erfolg winkt nur dann, wenn es den Unionsparteien gelingt, die W ä h - leransprache eine Etage ü b e r dem Sozialkatalog anzusiedeln. Insoweit ist die Sprache der C S U geeigneter, die W ä h l e r in Bewegung zu bringen.

A u ß e r d e m ist dann auch im personellen Be- reich für eine Darstellung der Alternative zu sorgen. Auf alle F ä l l e g e h ö r t dazu auch ein klares Wort g e g e n ü b e r Versuchen zu sprechen, den problematischen Teil der j ü n g s t e n Partei - geschiente konformistischer A u s p r ä g u n g , als Bestandteil der Alternative zu offerieren. Meine Antwort lautet: .So nicht, Herr Barzel."

Alles andere

wäre kleinkariert...

H . W . — So kann es heiter werden: der Partei- lag der Union war noch nicht ganz ausgeklun- gen, da häuften sich bereits Zeitungsmeldungen darüber, daß es jetzt nicht nur an der Zeit, son- dern man vielmehr auch bereits dabei sei, eine neue Partei zu gründen. Wunschvorstellungen und Absichtserklärungen gewinnen dabei in der Publizistik ott einen Stellenwert, der ihnen wirk- lich nicht zukommt, wenn man die Dinge genau kennt und nüchtern sieht. Wenn sich eine Anzahl Gruppen, die allein bisher keinen Durchbruch erreichen konnten, zu einem Zusammenschluß hnden wollen, dann ergeben 2,3 und 0,5 und 0,8 Prozent immer noch nicht jene magischen 5 Prozent, an denen bisher viel guter Wille und auch manche Hoffnung gescheitert ist.

Indessen wird man nicht daran vorbeikom- men festzustellen, daß der Mannheimer Partei- tag der CDU und ein dort erkennbarer Ruck nicht die volle Zustimmung all der Kreise gelunden haben, die die Union zwar lieber als die der- zeitige Koalition am Bonner Staatsruder sehen, aber eben doch nicht glücklicher sein würden, wenn der Kurs des Schiffes vorwiegend von den Herren der Sozialausschüsse bestimmt oder wenn Kapitän Kohl bei der Navigation nur links in die Fahrrinne blicken würde.

Laßt uns nüchtern teststellen: es handelt sich hierbei auch um die Kreise, die der Deutschland- politik der Union ihre besondere Aufmerksam- keit widmen und die mehr als überrascht waren, weil und wie ein von der CDU Baden-Württem- bergs eingebrachtes Arbeitspapier behandelt und letztlich abgeschmettert wurde. Wir werden auf die in diesem Papier dargestellten Gedanken noch ausführlich zurückkommen und wollen heute nur das Befremden darüber zum Ausdruck bringen, daß die Delegierten nicht einmal grund- sätzlich diesem in der Substanz so ausgezeich- neten Antrag zustimmen konnten. Die Redaktion wäre im Verhältnis zu dem grundsätzlichen In- halt eine Lappalie gewesen. Doch es blieb dabei:

der Parteitag beschloß, den Antrag — ohne jeden Zusatz — an den Bundesvorstand zu verweisen.

Wo er, so hoffen wir, hoffentlich nicht ver- schmoren wird.

Kann es aber verwundern, wenn derartige

„Blitzlichter* den Eindruck erwecken lassen, als seien grundsätzliche Fragen der Deutschland- oder gar der Ostpolitik bei der Union auch nicht besser aufgehoben als etwa bei den Parteien der Bonner Koalition? Und wenn man sich im Lande Gedanken darüber macht, ob es nicht wirklich notwendig sei, eine echte Alternative zu bieten, die nicht nur auf dem Papier steht, sondern zu einer Sammlung von Kräften wird, die in der Tat weder eine Fahrkarte in ein so- zialistisches Deutschland noch in ein in der Wolle rot eingefärbtes Europa kaufen wollen. Viel- leicht sehen Kräfte, bestimmt auch in der CDU, in Strauß eine bessere Chance für unsere Zu- kunft. So mag es kommen, daß jetzt wieder betont von Freundeskreisen gesprochen wird, wobei derjenige, dessen Namen man sich hier- bei bedient, sich die Freunde noch nicht einmal selbst aussuchen kann und vielleicht selbst von Zeitungsmeldungen überrascht wird.

Es erscheint schon sinnvoller, wenn die Frage einer .Vierten Partei' — ob überhaupt und wenn ja, dann wie — nicht in provinziellen Konventikeln, sondern dort behandelt wird, wo man sich nüchtern ausrechnen müßte, was not- wendig ist, damit man 1976 unter dem Strich mehr auf den Tisch des Hauses bringt, als es bisher möglich war. Wenn man aber aul dem Standpunkt stehen sollte, daß die Palette an- gereichert werden muß, dann sollte man sich nicht erst wieder im Mai 1976 entscheiden, und man darf eine solche Entscheidung nicht mit halben Herzen treffen. Kommt man endlich zu der Erkenntnis, daß es partout eine Menge Leute gibt, die zwar die Ablösung der derzeitigen Koalition wünschen, aber dennoch nicht auf die Liste der CDU zu bringen sind, dann sollte man sich rechtzeitig eine Lösung einfallen lasse», die das optimalste Ergebnis bei den Wahlen 7976 erwarten läßt. Alles andere wäre kleinkariert.

Politik

5. J u l i 1975 — F o l g e 27 — Seite 2

NEUES AUS B O N N

G l ü c k w ü n s c h e an den Sprecher

D e r V o r s i t z e n d e der U n i o n der V e r t r i e b e n e n u n d F l ü c h t l i n g e i n der C D U / C S U — O s t - u n d

M i t t e l d e u t s c h e V e r e i n i g u n g — D r . H e r m a n n G ö t z M d B , hat d e m n e u g e w ä h l t e n Sprecher der Landsmannschaft O s t p r e u ß e n , L a n d g e r i c h t s p r ä - sident H a n s G e o r g Bock, z u seiner W a h l d i e besten W ü n s c h e der V e r e i n i g u n g ü b e r m i t t e l t . Z u g l e i c h w i e s er darauf h i n , d a ß i m V o r s t a n d der U n i o n der V e r t r i e b e n e n u n d F l ü c h t l i n g e M i n . - R a t H a r t m u t G a s s n e r aus der o s t p r e u ß i - schen Landsmannschaft d i e s t ä n d i g e n K o n t a k t e nach K r ä f t e n u n t e r h ä l t .

Mitteldeutsche protestieren

D e r B u n d der M i t t e l d e u t s c h e n hat i n e i n e m T e l e g r a m m - a n S E D - C h e f E r i c h H o n e c k e r d i e A u f h e b u r der U r t e i l e gegen d r e i „ D D R " - B e - w o h n e r gefordert, d i e i m J a n u a r i n O s t - B e r l i n für d i e Menschenrechte i n d e r „ D D R " d e m o n - striert h a t t e n . D e r P r ä s i d e n t des B u n d e s der M i t t e l d e u t s c h e n , J o a c h i m D o r e n b u r g , w a n d t e sich gleichfalls a n U N - G e n e r a l s e k r e t ä r K u r t W a l d h e i m u n d d i e U N - M e n s c h e n r e c h t s k o m m i s - s i o n i n G e n f m i t der B i t t e u m I n t e r v e n t i o n . Rentner hart betroffen

D i e polnische R e g i e r u n g hat s t i l l s c h w e i g e n d die Z o l l e r m ä ß i g u n g e n für R e n t n e r abgeschafft.

Darauf w e i s t jetzt das e x i l p o l n i s c h e T a g e b l a t t

„ D z i e n n i k P o l s k i " i n L o n d o n h i n . R e n t n e r i n P o l e n m ü s s e n jetzt b e i d e m E m p f a n g v o n W e s t - P a k e t e n d i e v o l l e Z o l l g e b ü h r z a h l e n . In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g machen P o l e n - E x p e r t e n darauf a u f m e r k s a m , d a ß d i e Z o l l e r m ä ß i g u n g für R e n t - n e r i n P o l e n b e t r ä c h t l i c h w a r : s i e b e t r u g e t w a 00 P r o z e n t .

„ D z i e n n i k P o l s k i " hat ausgerechnet, d a ß n u n e i n R e n t n e r d i e H ä l f t e des W e r t e s seines W e s t - p a k e t e s auf d i e Z a h l u n g d e r Z o l l g e b ü h r e n aus- g e b e n m u ß .

A u s s i e d l e r z u r ü c k g e g a n g e n

Im n i e d e r s ä c h s i s c h e n G r e n z d u r c h g a n g s l a g e r F r i e d l a n d b e i G ö t t i n g e n u n d i n d e r D u r c h g a n g s -

stelle N ü r n b e r g s i n d i m v e r g a n g e n e n M o n a t 1 206 A u s s i e d l e r — 178 w e n i g e r als i m M o n a t z u v o r — r e g i s t r i e r t w o r d e n . W i e d e r Sprecher des N i e d e r s ä c h s i s c h e n M i n i s t e r i u m s f ü r B u n d e s - a n g e l e g e n h e i t e n a m F r e i t a g i n H a n n o v e r d a z u e r g ä n z e n d m i t t e i l t e , k a m e n aus der V o l k s r e p u - b l i k P o l e n 396 ( A p r i l : 457) A u s s i e d l e r u n d aus der U d S S R 490 (529).

u n d wir w u ß t e n v o n nichts!' Zeichnung aus „Die Welt"

Entspannung ä la Moskau

V O N R I C H A R D S T Ü C K L E N M d B

(Hui) Vor wenigen Tagen wurde am Zonen-

übergang in Berlin wieder auf Menschen ge- schossen, die von Deutschland nach Deutschland wollten. Ein Mann wurde aus dem Wagen hinter dem Steuer weggezerrt, ein anderer aus dem Kofferraum geholt. Wenige Wochen zuvor mußte ein fünfjähriges Kind jämmerlich ertrinken; dies geschah mitten in Berlin. Heller waren zur Hand, aber sie durften keine Hilfe leisten, sie mußten mit zusammengebissenen Zähnen danebenslehen und zuschauen, wie das Kind im Wasser er- trank. Das ist die deutsche Wirklichkeit 1975.

Die Lage an der blutenden Grenze, die mitten durch Deutschland geht, ist in den letzten Jah- ren nicht besser geworden. Trotz Ostpolitik, die angeblich zu Versöhnung und zu Verbesserun- gen der Verhältnisse für die Menschen führen sollte, trotz angeblicher sowjetischer Entspan- nungs- und Koexistenzpolitik wird die Abgren- zung und die Trennung für die Menschen immer brutaler und unmenschlicher. An der Zonen- grenze im Harz wird von der Volkspolizei in diesen Tagen ein neuer perfektionierter Draht- gitterzaun mit .verbesserten* Mordautomaten, die nicht nur Selbstschüsse, sondern Schrapnell- Explosionen auslösen, errichtet. Das ist die deut- sche Wirklichkeit 1975, die von der Bundesre- gierung am liebsten nicht zur Kenntnis genom- men wird.

Die Bundesregierung tut so, als sei dies alles nicht vorhanden. Sie verhandelt über Zahlungen

Besuche:

Brandt bei Marschall Tito

Beide Veteranen haben nur noch beschränkte Führungsrollen

W e n n W i l l y B r a n d t u n d J o s i p B r o z - T i t o auf- einandertreffen, k a n n es n u r u m h o h e W e l t - p o l i t i k gehen. F r a g t sich n u r , w i e w e i t sie auf diese P o l i t i k heute n o c h w i r k l i c h e n E i n f l u ß haben: A u f der e i n e n S e i t e e i n e r n ü c h t e r t e r , b e i s e i n e m E i n t r e f f e n i n B e l g r a d m ü d e u n d a b w e s e n d w i r k e n d e r B r a n d t , der s o e b e n auch i n A t h e n e n t t ä u s c h t e S o z i a l i s t e n u n d S o z i a l - d e m o k r a t e n h i n t e r sich g e l a s s e n hat, e i n M a n n , der i n s e i n e m A m t gescheitert w a r u n d n u n auf die B o n n e r K o a l i t i o n s r e g i e r u n g u n d selbst auf d e n n e u e n K a n z l e r n u r noch b e s c h r ä n k t e n E i n - fluß a u s ü b t , auf der a n d e r e n e i n 8 3j ä h r i g e r , der a n d e r S p i t z e des u n s t a b i l s t e n Staates i m O s t e n E u r o p a s steht u n d i n der W e l t der B l o c k f r e i e n , der er sich selbst zurechnet, l ä n g s t seine e i n - stige F ü h r u n g s r o l l e v e r l o r e n hat.

D i e B u n d e s r e p u b l i k hat, v o r a l l e m u n t e r F ü h - r u n g v o n B r a n d t , v i e l getan, u m d e m L a n d z w i - schen A l p e n u n d A d r i a eine eigene F o r t e x i s t e n z z u s i c h e r n : S i e ist heute der w i c h t i g s t e L i e f e r a n t für j u g o s l a w i s c h e n Industriebedarf, n i m m t T i t o die L a s t d e r A r b e i t s l o s e n ab, i n d e m s i e d i e m e i s t e n j u g o s l a w i s c h e n G a s t a r b e i t e r b e i sich b e s c h ä f t i g t , entsendet d i e m e i s t e n T o u r i s t e n a n die A d r i a k ü s t e u n d sorgt d a d u r c h f ü r e i n e n v o l l e n A u s g e i c h der sonst n e g a t i v e n j u g o s l a w i - schen H a n d e l s b i l a n z g e g e n ü b e r W e s t d e u t s c h - l a n d , u n d s t ü t z t J u g o s l a w i e n m i t l a u f e n d e n K r e - d i t e n , w i e s i e g ü n s t i g e r n i r g e n d w o z u h a b e n s i n d . B r a n d t s p e r s ö n l i c h e r E i n s a t z f ü r d e n l e t z - ten M i l l i a r d e n - K r e d i t , d e r i h n i n der B u n d e s - r e p u b l i k A n s e h e n g e k o s t e t hat, t r u g d a z u b e i , d a ß er i n J u g o s l a w i e n s o z u s a g e n als P r t o t o y p des g u t e n „ n e u e n D e u t s c h e n " g i l t .

U n t e r m a u e r t w i r d dieses gute V e r h ä l t n i s durch H e r z l i c h k e i t z w i s c h e n B r a n d t u n d T i t o . D a b e i s p i e l t d i e Tatsache eine w i c h t i g e R o l l e , d a ß B r a n d t s e i n e r p o l i t i s c h e n H e r k u n f t nach

v o m l i n k e n F l ü g e l der S o z i a l d e m o k r a t i e stammt, w i e T i t o g e g e n F r a n c o k ä m p f t e u n d s p ä t e r z u s a m m e n m i t T i t o auf der Seite der H i t l e r s c h e n K r i e g s g e g n e r stand. D a r a u s e r g i b t sich das G e f ü h l e i n e r g e m e i n s a m e n p o l i t i s c h e n H e i m a t : F ü r T i t o ist B r a n d t e i n b e q u e m e r G e - s p r ä c h s p a r t n e r , d e n n statt sich als V e r t r e t e r des m ä c h t i g s t e n w e s t e u r o p ä i s c h e n Staates n a ß - forsch u n d m ä c h t i g z u geben, tritt B r a n d t a l s deutscher B ü ß e r auf.

D o c h i n d e n l e t z t e n J a h r e n h a t sich i n der P o l i t i k v i e l v e r ä n d e r t . F ü r d i e B u n d e s r e p u b l i k u n d W e s t e u r o p a ist nicht m e h r B e l g r a d d e r A n g e l p u n k t d e r O s t p o l i t i k , s o n d e r n M o s k a u , w o h i n B r a n d t u n m i t t e l b a r nach s e i n e m j e t z i g e n J u g o s l a w i e n b e s u c h r e i s e n w i r d . D i e s bedingt,

d a ß B o n n , ä h n l i c h w i e i m U m g a n g m i t der V o l k s r e p u b l i k C h i n a , d i e B e z i e h u n g e n m i t B e l - g r a d so gestalten m u ß , d a ß d i e S o w j e t s d a r ü b e r k e i n e V e r ä r g e r u n g v e r s p ü r e n . A n e i n e v o n T i t o e r w ü n s c h t e Steigerung d e r westdeutschen Lei-

s t u n g e n z u g u n s t e n J u g o s l a w i e n s ist auch sonst nicht m e h r z u d e n k e n : D i e Z a h l d e r deutschen T o u r i s t e n i n J u g o s l a w i e n stagniert, d i e j u g o - s l a w i s c h e n G a s t a r b e i t e r f i n d e n i n d e r B u n d e s - r e p u b l i k k e i n e A r b e i t m e h r , f ü r j u g o s l a w i s c h e P r o d u k t e ist W e s t d e u t s c h l a n d k e i n A b s a t z m a r k t u n d a n n e u e K r e d i t e , so W i r t s c h a f t s m i n i s t e r F r i d e r i c h s a n l ä ß l i c h seines k ü r z l i c h e n J u g o s l a - wienbesuchs, s e i b e i d e r westdeutschen F i n a n z - lage ü b e r h a u p t nicht z u d e n k e n . A u s j u g o s l a w i - scher Sicht w i r d e i n solches V e r h a l t e n a l s schlechter W i l l e gewertet, w ä h r e n d m a n i n

B u n d e s k a n z l e r Schmidt, d e n T i t o i m l e t z t e n S o m m e r besuchte, n u r d e n E r f ü l l u n g s g e h i l f e n für j e n e Z u s a g e n z u s e h e n v e r m a g , d i e noch v o n B u n d e s k a n z l e r B r a n d t gemacht w u r d e n .

T i t o e r i n n e r t e B r a n d t d a r a n , d a ß u r s p r ü n g - l i c h v e r e i n b a r t w o r d e n w a r , J u g o s l a w i e n k o n k r e t w e i t e r z u s t ü t z e n : N u r z u d i e s e m P r e i s w a r T i t o bereit, sich m i t e i n e r M i l l i a r d e D M als E n t s c h ä d i g u n g f ü r d i e K r i e g s z e r s t ö r u n g e n z u - f r i e d e n z u geben. D o c h v e r m u t l i c h w i r d T i t o O p f e r e i n e r j u g o s l a w i s c h e n U b e r s c h ä t z u n g B r a n d t s : A u f der B o n n e r F i n a n z k a s s e l i e g t heute die Faust eines M a n n e s , d e r s e i n A m t als „ S p a r - k a n z l e r " antrat u n d z u m i n d e s t i n d i e s e m P u n k t s e i n V e r s p r e c h e n e i n h a l t e n w i r d , w e i l er gar nicht anders k a n n . S o ist nicht ausgeschlossen, d a ß der B r a n d t - B e s u c h z u e i n e r E r n ü c h t e r u n g i n B e l g r a d f ü h r e n w i r d , d i e i n d e n einst g u t e n B e z i e h u n g e n z w i s c h e n w e s t d e u t s c h e r S o z i a l - d e m o k r a t i e u n d d e m B u n d der K o m m u n i s t e n J u g o s l a w i e n s l ä n g s t e i n g e t r e t e n ist. Seit T i t o i n J u g o s l a w i e n m i t s e i n e n v e r h e e r e n d e n p o l i - tischen S ä u b e r u n g e n b e g a n n , ist s e i n R u f als V a t e r eines n e u e n s o z i a l i s t i s c h e n M o d e l l s , das auch f ü r W e s t e u r o p a G ü l t i g k e i t h a b e n k ö n n t e , selbst u n t e r l i n k e n S o z i a l d e m o k r a t e n b e e i n - t r ä c h t i g t . B r a n d t selbst ä u ß e r t e , a n eine R ü c k - k e h r z u d e m o k r a t i s c h e n V e r h ä l t n i s s e n i n J u g o - s l a w i e n s e i nicht z u d e n k e n .

Z w a r ist B r a n d t der A n s i c h t , deutscher S o z i a l - d e m o k r a t i s m u s s e i k e i n e E x p o r t w a r e ; d a ß sich J u g o s l a w i e n v o n j e d e r F o r m des S o z i a l d e m o - k r a t i s m u s abgrenzt, ist k e i n H i n d e r u n g s g r u n d für n o r m a l e B e z i e h u n g e n . D o c h T i t o s A b s i c h t , z u s a m m e n m i t d e n „ u n a b h ä n g i g e n " i t a l i e n i s c h e n u n d spanischen K o m m u n i s t e n , d e n f r a n z ö s i s c h e n

u n d p o r t u g i e s i s c h e n S o z i a l i s t e n u n d a n d e r e n L i n k s k r ä f t e n e i n e n e u e M i t t e l m e e r i n t e r n a t i o - n a l e aus der W i e g e z u heben, k a n n B r a n d t nicht g l e i c h g ü l t i g s e i n , z u m a l es k e i n e r l e i G a r a n t i e n d a f ü r gibt, d a ß d i e „ U n a b h ä n g i g k e i t " eines s o l - chen n e u e n B l o c k s auch schlechte Z e i t e n ü b e r - stehen w i r d . T i t o selbst h a t für Z w e i f e l gesorgt, i n d e m er e r k l ä r t e , J u g o s l a w i e n w e r d e i m Ernst- f a l l , trotz a l l e r M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n , auf S e i t e n der S o w j e t u n i o n stehen, d e n n : „Die S o w j e t u n i o n u n d w i r v e r f o l g e n d i e s e l b e n

Z i e l e . . H a n s Peter Rullmann

a n Ost-Berlin und an die Staaten des Warschauer Paktes und sie verhandelt in Genf auf der sog.

Europäischen Sicherheitskonferenz, die angeblich der Entspannung und der Verbesserung mensch- licher Beziehungen dienen soll, in Wirklichkeit jedoch ein Instrument offensiver sowjetischer Westpolitik ist. Die Bundesregierung hatte es in der Hand, auf der Genfer Konferenz die Konse- quenzen zu ziehen aus den Schüssen in Berlin, aus der Unmenschlichkeit an Sektoren- und Zo- nengrenze. Aber sie tut es nicht. Sie verhandelt weiter und kommt damit den Sowjets entgegen, die fast jeden Tag eine Beschleunigung der Gen- fer Sicherheitskonferenz fordern. Der Erfolg ist:

Moskau wird noch dreister und maßt sich an, wider jedes Recht die Viermächte-Verantwor- tung iür Berlin und Deutschland als Ganzes ab- zustreiten. Die drei Westmächte weisen dies in diplomatischen Noten vor den Vereinten Natio- nen zurück. Die Bundesregierung läßt sich in ihrem Entgegenkommen gegenüber Moskau bei der Sicherheitskonferenz in Genf nicht stören:

Sie verhandelt weiter.

Der Kreml spannt den Bogen mehr und mehr an: Der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin, Abrassimow, protestiert dagegen, daß der Bun- desminister des Auswärtigen den amerikani- schen Außenminister Kissinger in die deutsche Hauptstadt Berlin begleitet. Bonn weist diesen Protest zwar mit höflichen Worten formell zu- rück, aber diese Bundesregierung ist nicht be- reit, die Konsequenzen zu ziehen: Sie verhan- delt weiter in Genf und duldet so weiter das Spiel Moskaus zur Ausdehnung des sowjetischen Einflusses auf ganz Europa.

Was muß eigentlich noch geschehen, damit die frei gewählte deutsche Regierung die Konse- quenzen zieht? Hier darf es doch nur eine Ant- wort geben: Solange Moskau und Ost-Berlin nicht zeigen, daß sie an wirklicher Entspannung, daß sie an wirklicher Verbesserung der Zustände für die Menschen, daß sie an wirklicher Mensch- lichkeit in Deutschland und Europa auch nur einen Funken Interesse haben, muß der deut- sche Verhandlungsführer auf der Sicherheits- konferenz in Genf aufstehen und erklären, er sei unter diesen Umständen nicht bereit, auch nur einen Tag weiter zu verhandeln; er werde seinen Platz am Verhandlungstisch in Genf erst wieder einnehmen, wenn das Verhalten Moskaus und seines Ost-Berliner Satellitenregimes erken- nen läßt, daß es Moskau wirklich um Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gehe und nicht um offensive sowjetische Machtpolitik, um Aus- dehnung des Einflusses über den Eisernen Vor- hang hinausl

Wir wollen Frieden, Sicherheit und Zusam- menarbeit in Europa und überall in der Welt.

Aber wir wollen in Frieden und Sicherheit unsere Freiheit bewahren. Deswegen dürfen wir nicht weiter verhandeln, um Moskau weiter nachzu- geben, sondern vorrangiges Ziel unserer Politik muß endlich der Autbau des politisch geeinten freien Europas sein und die Stärkung der Atlan- tischen Allianz, die unsere Sicherheit garantiert.

Solange Moskau nicht bereit ist, deutschen Ge- sten des Friedens und der Versöhnung auch ent- gegenzukommen, muß jedoch die Bundesregie- rung in ihrer Ostpolitik endlich Standhaftigkeit zeigen: Die CSU fordert daher eine Unterbre- chung der Verhandlungen auf der Genfer Sicher- heitskonferenz!

B e r l i n braucht u m s e i n e p o l i t i s c h e Z u k u n f t ge- w i ß nicht z u f ü r c h t e n ; a b e r es ist gut, d a ß das h i n u n d w i e d e r auch v o n berufener Seite aus- g e s p r o c h e n w i r d .

Hans Höppner

im ,Spandauer Volksblatt', Berlin S i e h a b e n d i e D e u t s c h e n i n der W e s t - B e r l i n - F r a g e nicht g e n ü g e n d i n d e r H a n d .

Pjotr Abrassimow,

sowjetischer Botschafter in der ,DDR', zu westlichen Diplomaten

B e r l i n - O p t i m i s m u s ist nicht e r l a u b t . Nicht ein- m a l S e l b s t z u f r i e d e n h e i t ü b e r V e r b e s s e r u n g e n .

Ernst-Otto Maetzke

in der frankfurter Allgemeinen' Ich d e n k e nicht d a r a n , i r g e n d e i n D o k u m e n t zu u n t e r s c h r e i b e n , i n d e m d i e E i n b e z i e h u n g West- B e r l i n s i n d i e A u ß e n v e r t r e t u n g der Bundesrepu- b l i k nicht s i c h e r g e s t e l l t ist.

Hans-Dietrich Genscher, Bundesaußenminister

N i e m a n d k a n n ü b e r s e h e n , d a ß d i e Macht, die am l a u t e s t e n v o n F r i e d e n u n d Sicherheit i n Euro- pa spricht, d i e V ö l k e r E u r o p a s mit einer fla- g r a n t e n m i l i t ä r i s c h e n B e d r o h u n g in Schach h ä l t

Teng Hsiao-ping,

stellvertretender Ministerpräsident der VR China

D i e S o w j e t u n i o n w i r d es sich nicht entgehen lassen, d i e aus s o z i a l e n U m w ä l z u n g e n im Westen z u e r l a n g e n d e n V o r t e i l e z u nutzen, u n d sie wird sich k a u m d a v o n durch K i s s i n g e r s W a r n u n g e n a b h a l t e n l a s s e n .

Josef Riedmüller

in der .Süddeutschen Zeitung', München G r o b gerechnet stand der seit jeher Bonner Re- g i e r u n g e n zugedachte g r o ß e M o s k a u e r K n ü p p e l fünf J a h r e i n der Ecke.

Walter Günzel in ,Die Welt', Bonn

10. J u l i ;

Bilanz des Schreckens

Z w ö l f M i l l i o n e n v e r l o r e n ihre Heimat

D a s E n d e des Z w e i t e n W e l t k r i e g e s w a r für e i n e n g r o ß e n T e i l d e s deutschen V o l k e s der B e g i n n e i n e r n e u e n L e i d e n s z e i t . R u n d zwölf M i l l i o n e n w u r d e n aus i h r e r H e i m a t v e r t r i e b e n , ü b e r z w e i M i l l i o n e n v e r l o r e n d a b e i i h r Leben.

N o c h b e v o r d i e P o t s d a m e r K o n f e r e n z d i e V e r - t r e i b u n g „ l e g a l i s i e r t e " , w a r s i e schon i n v o l l e m G a n g e . S o k ü n d i g t e d e r p o l n i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t E d w a r d O s o b k a - M o r a w s k i v o n 30 Jahren, a m 10. J u l i 1945, d i e A u s w e i s u n g a l l e r Deut- schen a n .

A u f d e n K o n f e r e n z e n v o n T e h e r a n u n d J a l t a h a t t e n d i e A l l i i e r t e n beschlossen, d i e Deutschen aus d e n G e b i e t e n ö s t l i c h d e r O d e r - N e i ß e - L i n i e z u v e r t r e i b e n . D i e erste V e r t r e i b u n g s w e l l e setzte i m S o m m e r 1945 e i n . D i e Potsdamer K o n f e r e n z b i l l i g t e d i e V e r t r e i b u n g d e r Deut- schen aus P o l e n , U n g a r n , d e r T s c h e c h o s l o w a k e i u n d a n d e r e n G e b i e t e n „ i n g e r e g e l t e r u n d huma- n e r F o r m " . D e r A l l i i e r t e K o n t r o l l r a t stellte am 17. O k t o b e r 1945 e i n e n P l a n „ z u r U b e r f ü h r u n g der B e v ö l k e r u n g " auf. D i e d a b e i festgelegte G e s a m t z a h l v o n 6 650 000 w u r d e i n der P r a x i s j e d o c h w e i t ü b e r t r o f f e n . Schon das beweist, w i e sich d i e A u s w e i s u n g v o l l z o g . B i s Ende 1947 d a u e r t e n d i e M a s s e n t r a n s p o r t a .

D i e a m t l i c h e n A n g a b e n ü b e r d i e V e r t r e i b u n g k a n n m a n n u r a l s M i n d e s t z a h l e n ansehen. D a - nach l e b t e n i n d e n d e u t s c h e n O s t g e b i e t e n und i n d e n v o n d e r V e r t r e i b u n g betroffenen deut- schen S i e d l u n g s g e b i e t e n i m A u s l a n d b e i K r i e g s - e n d e 16 558 000 D e u t s c h e . D a v o n w u r d e n 11730 000 b i s E n d e 1950 v e r t r i e b e n , weitere 2 111000 k a m e n d a b e i u m s L e b e n , 2 717 000 l e b t e n E n d e 1950 n o c h i n d e r H e i m a t . A u s den

d e u t s c h e n O s t g e b i e t e n w u r d e n 6 944 000 ver- t r i e b e n ; d i e V e r t r e i b u n g s v e r l u s t e w e r d e n mit 1 225 000 a n g e g e b e n , i n d e r H e i m a t v e r b l i e b e n 1 134 000. D i e Z a h l d e r V e r t r i e b e n e n aus den d e u t s c h e n S i e d l u n g s g e b i e t e n i m A u s l a n d er- reichte 4 786 000, d i e d e r V e r t r e i b u n g s v e r l u s t e 886 000. I m e i n z e l n e n w u r d e n aus der Tschecho- s l o w a k e i 2 921 000 (bei 267 000 Toten), aus

P o l e n 672 000, aus J u g o s l a w i e n 287 000, aus D a n z i g 284 000, aus R u m ä n i e n 246 000, aus U n - g a r n 206 000 u n d a u s d e n b a l t i s c h e n Staaten 170 000 D e u t s c h e v e r t r i e b e n . I n der Bundes- r e p u b l i k l e b e n h e u t e r u n d 10,5 M i l l i o n e n V e r - t r i e b e n e . I n d e r „ D D R " w a r e n es 1950 noch 4,4 M i l l i o n e n ; h e u t e s i n d es n u r noch 1,7 M i l - l i o n e n , d e r g r ö ß e r e T e i l i s t i n d i e Bundes- r e p u b l i k w e i t e r g e f l o h e n . D r . H a n s Langenberg

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5. Juli 1975 — F o l g e 27 — Seite 3 £>o$ £flprniDfitb(flit

^Neulich hatte ich Willy Brandts Brille aul und er meine — und keiner hats gemerkt.' (Bundeskanzler Helmut Schmidt)

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e t z e n w i r d e n F a l l : E i n e s u n s e r e r bekannte- s t e n d e m o s k o p i s c h e n I n s t i t u t e postiert a u i d e r D ü s s e l d o r f e r K ö n i g s a l l e e e i n e n seiner M i t a r b e i t e r . U n d d i e s e r richtet n u n an e i n i g e der v o r ü b e r e i l e n d e n P a s s a n t e n d i e f o l g e n d e n F r a - gen: . I n B o n n r e g i e r t e i n M a n n n a m e n s K a r l R a - vens. W i e h e i ß t s e i n M i n i s t e r i u m ? " — „In B o n n r e g i e r t e i n M a n n n a m e n s H e l m u t R o h d e W i e h e i ß t s e i n M i n i s t e r i u m ? " — „ ln B o n n regiert ein M a n n n a m e n s E g o n F r a n c k e . W i e h e i ß t sein M i n i s t e r i u m ? " — „ I n B o n n r e g i e r t e i n M a n n na- mens K u r t G s c h e i d l e . W i e h e i ß t s e i n M i n i s t e - r i u m ? " U n d s c h l i e ß l i c h : „ I n B o n n regiert e i n M a n n n a m e n s H a n s M a t t h ö f e r . W i e h e i ß t sein M i n i s t e r i u m ? " W i r g e h e n j e d e W e t t e e i n , d a ß der B e f r a g e r m i n d e s t e n s b i s z u 90 P r o z e n t nur e i n b e d a u e r n d e s A c h s e l z u c k e n z u r A n t w o r t er- h a l t e n w ü r d e . S o farblos, so u n p o p u l ä r ist dem- nach e i n nicht g e r i n g e r T e i l u n s e r e s B u n d e s k a b i - netts.

„ J a " , w i r d m a n e i n w e r f e n , „ a b e r H e l m u t Schmidt u n d W i l l y B r a n d t ? ! " G u t u n d s c h ö n , doch auch d a s t i m m t b e i l e i b e nicht a l l e s . E i n e m h e l l h ö r i g e n h o l l ä n d i s c h e n J o u r n a l i s t e n , der k ü r z l i c h an W e r n e r H ö f e r s „ I n t e r n a t i o n a l e m F r ü h s c h o p p e n " t e i l n a h m , v e r d a n k e n w i r d a z u e i n e n b e m e r k e n s w e r t e n H i n w e i s . E r hob h e r v o r , d a ß b e i d e n v e r g a n g e n e n W a h l k u n d g e b u n g e n i n N o r d r h e i n - W e s t f a l e n Schmidt z w a r „ B e i f a l l " , B r a n d t h i n g e g e n „ O v a t i o n e n e i n g e h e i m s t habe.

Der J o u r n a l i s t f ü g t e h i n z u , d a ß auf e i n e r Presse- k o n f e r e n z a n l ä ß l i c h eines Treffens e u r o p ä i s c h e r S o z i a l i s t e n B r a n d t mit d e m g e l ä u f i g e n W o r t

„ G e n o s s e " , der B u n d e s k a n z l e r aber als „ H e r r Schmidt" a n g e s p r o c h e n w o r d e n s e i . B e i Licht b e s e h e n ist dies nicht dasselbe. Doch w i r w o l l e n h i e r k e i n e H a a r e s p a l t e n . W i r w o l l e n l e d i g l i c h untersuchen, ob Schmidts „ u n b e m e r k t e r B r i l l e n - tausca" d e m w a r e n S a c h v e r h a l t entspricht, i n - w i e w e i t das T a n d e m H e l m u t S c h m i d t u n d W i l l y

B r a n d t t a t s ä c h l i c h f u n k t i o n i e r t , o d e r ob nicht v i e l m e h r d i e b e i d e n M ä n n e r unter der Decke tiefe, e h r g e i z i g e Z i e l s t r e b u n g e n trennen, w o r a u s z u s c h l i e ß e n w ä r e , d a ß die S P D - S p i t z e b i s z u m E n d e d i e s e r L e g i s l a t u r p e r i o d e 1976 u n d d a r ü b e r h i n a u s u n h e i l b a r z e r s t r i t t e n ist oder ob sie n u r aus t a k t i s c h e n G r ü n d e n „ z w e i g l e i s i g " f ä h r t . D i e O p p o s i t i o n h ä t t e sich r e c h t z e i t i g d a r a u f e i n z u - s t e l l e n .

Prof. D r . S t e i n b u c h sieht i n d e n b e i d e n T a n - d e m f a h r e r n e i n e n w e s e n t l i c h e n U n t e r s c h i e d . S c h m i d t h a b e i n s e i n e r R e g i e r u n g s e r k l ä r u n g z w i s c h e n „ K o n t i n u i t ä t u n d K o n z e n t r a t i o n " l a - v i e r t . „ E i n e r s e i t s b e h a u p t e t e er, d i e b i s h e r i g e P o l i t i k fortzusetzen, u n d a n d e r e r s e i t s w o l l t e er sich auf das W e s e n t l i c h e k o n z e n t r i e r e n . A b e r es g i b t G r u n d s ä t z e , d i e sich g e g e n s e i t i g aus- s c h l i e ß e n — das W e s e n B r a n d t s c h e r P o l i t i k w a - r e n V e r h e i ß u n g e n o h n e R ü c k s i c h t auf i h r e R e a - l i s i e r b a r k e i t , S c h m i d t aber b e s c h r ä n k t sich auf das R e a l i s i e r b a r e o h n e utopische V e r h e i ß u n g e n . E i n k r a s s e r e r G e g e n s a t z ist k a u m d e n k b a r " .

D e r a n g e s e h e n e F r e i b u r g e r P o l i t o l o g e Prof.

W i l h e l m H e n n i s z i t i e r t i n e i n e r A n a l y s e Schmidts A u s s p r u c h , u n t e r W i l l y B r a n d t u n d

B u n d e s k a n z l e r H e l m u t Schmidt, A m t s v o r g ä n g e r W i l l y B r a n d t : A m g l e i c h e n G l o c k e n s t r a n g ? T r o i k a , e i n e m D r e i g e s t i r n der S P D - S p i t z e nicht

mehr die Rede s e i n k a n n . D e r „ S t e r n " empfiehlt d e m K a n z l e r , den V o r s i t z der S P D - B u n d e s t a g s - f r a k t i o n n e u z u besetzen, d a „ d e m alternden W e h n e r d i e Z ü g e l aus der H a n d g l e i t e n " . Schon aus der „ A f f ä r e W i e n a n d " w a r er angeschlagen h e r v o r g e g a n g e n , aus d e m F i a s k o jenes o b s k u - ren M a n n e s , der s e i n M a n d a t n i e d e r l e g e n u n d auf das h ö h e A m t eines G e s c h ä f t s f ü h r e r s der S P D - B u n d e s t a g s f r a k t i o n v e r z i c h t e n m u ß t e . W e h - ner w a r es, der nach d e n E r m i t t l u n g e n des „ G u i l - l a u m e - A u s s c h u s s e s " zuerst v o m V e r f a s s u n g s - s c h u t z p r ä s i d e n t e n N o l l a u ü b e r die U m t r i e b e des

h i e l t : „ D a s h a b e n Sie schon i n m e i n e m S e m i n a r nicht begriffen"? A u c h Schmidt t r ä g t V e r a n t - w o r t u n g für Brandts Scheitern, d e n n als F i n a n z - m i n i s t e r m u ß t e er e r k e n n e n , w o V e r h e i ß u n g e n die G r e n z e n des M ö g l i c h e n ü b e r s t e i g e n . V o n der k o n z e r t i e r t e n A k t i o n ; auch v o m S t a b i l i t ä t s - gesetz h ä l t er nicht v i e l . A u c h steht er unter d e m Z w a n g , die l e b e n s g e f ä h r l i c h e n P e r s o n a l a u s - gaben der B o n n e r -./Besoldungsrepublik" z u dros- s e l n . W i r d er e i n M i t b e s t i m m u n g s r e c h t gegen d i e G e w e r k s c h a f t e n r i s k i e r e n k ö n n e n , d i e er als W a h l v o l k so u m w i r b t ? W o h l m e i n e n d e K r i t i k e r raten i h m , bis 1976 u n b e d i n g t „ a u s d e m Schat-

DieTandemfahrer Schmidt und Brandt

Erleichtert der Kanzler seinem Vorgänger das Comeback? — Eine Lagebetrachtung von Tobias Quist

G u s t a v H e i n e m a n n s e i d i e S P D „ v e r l u d e r t " . R ü - d i g e r A l t m a n n m e i n t i n „ D e u t s c h e Z e i t u n g — C h r i s t u n d W e i f : „ D e r W e g des B u n d e s k a n z - lers w i r d nicht a n d e n N o t w e n d i g k e i t e n v o r b e i - f ü h r e n , d e n P a r t e i v o r s i t z a n z u s t r e b e n u n d sich W i l l y B r a n d t s v o l l e n d s z u e n t l e d i g e n " . B o n n e r B e u r t e i l e r s e i n e r K a r r i e r e s o r g t e n f ü r V e r b r e i - t u n g B o n m o t s : „ D a s E n d z i e l v o n H e l m u t Schmidt h e i ß t H e l m u t S c h m i d t " . D i e s b e g i n n e bereits r i c h t i g e r z u w e r d e n , als m a n w a h r h a b e n m ö c h - te. U n d i m g e w i ß nicht r e g i e r u n g s f e i n d l i c h e n

„ S t e r n " w a r z u l e s e n : „ D e r K a n z l e r w i l l nicht d e n V e r d a c h t a u f k o m m e n l a s s e n , d a ß er drauf u n d d r a n s e i , B r a n d t auch noch d e n P a r t e i v o r - sitz s t r e i t i g z u m a c h e n " . D a h e r seine W o r t e :

„ M a n k a n n nicht r e g i e r e n u n d d i e P a r t e i f ü h r e n . Das geht ü b e r d i e K r a f t eines e i n z e l n e n M a n - nes". D a n n a b e r h i e ß es w e i t e r : „ D e r K o n f l i k t z w i s c h e n d e m R e g i e r u n g s - u n d d e m Parteichef ist v o r g e z e i c h n e t . Schon jetzt steht es z w i s c h e n b e i d e n nicht z u m besten, seit sich B r a n d t v o r - n e h m l i c h als M e m o i r e n s c h r e i b e r u n d , w i e i n P o r t u g a l , als s e l b s t e r n a n n t e r Sonderbotschafter h e r v o r t u t . S c h m i d t : „ D e r s o l l t e besser z u H a u - se b l e i b e n u n d d e n S a u s t a l l a u f r ä u m e n " . M a n w i r d a l s o n u r s c h w e r l i c h b e h a u p t e n k ö n n e n , d a ß die b e i d e n „ e i n H e r z u n d e i n e S e e l e " w ä r e n .

B e s o n d e r s d e u t l i c h w u r d e dies w ä h r e n d der B u n d e s t a g s d e b a t t e ü b e r d i e i n n e r e S i c h e r h e i t M i t t e M ä r z . Schmidt b e g a n n m i t e i n e r E r k l ä r u n g durchaus s t a a t s m ä n m s c h e n F o r m a t s , auf die der Redner der O p p o s i t i o n g l e i c h e r m a ß e n fair ant- w o r t e t e . D e m K a n z l e r schien es g e l u n g e n z u sein d e n a l l g e m e i n e r w a r t e t e n heftigen A u f e i n - a n d e r p r a l l z w i s c h e n R e g i e r u n g u n d O p p o s i t i o n z u v e r m e i d e n , d e n n er s c h l o ß m i t d e n W o r t e n :

„ I d i hoffe, d a ß diese S a c h l i c h k e i t w a h r e n d der Debatte, d i e w i r j e t z t f ü h r e n , e r h a l t e n b l e i b e n k a n n . " Doch d a trat W i l l y B r a n d t ans M i k r o p h o n u n d e r g i n g sich i n u n g e z ü g e l t e n B e l e g u n g e n seiner p o l i t i s c h e n G e g n e r , w i e sie sonst n u r H e r - b e r t W e h n e r k e n n t . Es w u r d e w i e d e r - g e h o l z t U n d d i e L i n k e des H a u s e s tobte v o r B e i f a l l . N o c h am 17. F e b r u a r hatte B r a n d t auf e i n e r S P D - B u n - d e s k o n f e r e n z i n R e c k l i n g h a u s e n betont: . W i r deutschen S o z i a l d e m o k r a t e n s t e h e n geschlossen h i n t e r u n s e r e m B u n d e s k a n z l e r H e l m u t Schmidt.

W i r h a l t e n i h m d e n R ü c k e n frei. Nunt a b e r p r a k - t i z i e r t e er u m b i l l i g e r d e m a g o g i s c h e r Effekte w i l - l e n das g e n a u e G e g e n t e i l u n d entwertete Schmidts n o b l e n S t i l .

W e n n w i r m i t V o r s a t z d i e B e z e i c h n u n g „ T a n - d e m " w ä h l t e n , so d e s h a l b , w e i l heute v o n einer

O s t s p i o n s unterrichtet w u r d e . E r riet d e m K a n z - ler, „ d i e K o n s e g u e n z e n z u z i e h e n " . U n d B r a n d t trat z u r ü c k . J ü n g s t e s Z e i c h e n W e h n e r s c h e n M a c h t v e r f a l l s w a r d i e N i e d e r l a g e des v o n i h m als n e u e r W e h r b e a u f t r a g t e r v o r g e s c h l a g e n e n S P D - A b g e o r d n e t e n B u c h s t a l l e r . B e i der A b s t i m - m u n g v e r w e i g e r t e n i h m T e i l e seiner F r a k t i o n d e n G e h o r s a m . So ist W e h n e r i m G r u n d e schon a m E n d e s e i n e r K a r r i e r e angelangt. U n d es b l e i - b e n n u r noch a n der S p i t z e H e l m u t Schmidt u n d W i l l y B r a n d t , z u m a l sich H e i n z K ü h n w i e d e r auf s e i n e n M i n i s t e r p r ä s i d e n t e n t h r o n i n D ü s s e l d o r f z u r ü c k g e z o g e n hat.

W e n n n u n i n d i e s e n W o c h e n H e l m u t Schmidt als „ g e l e r n t e r Ö k o n o m " , w i e er sich gerne nennt, i n I n t e r v i e w s d i e B i l a n z seiner e i n j ä h r i g e n K a n z - lerschaft z o g u n d sich d a b e i m i t N a c h d r u c k „ s e h r z u f r i e d e n " gab, so m u ß h i e r Schmidt gegen Schmidt ins F e l d g e f ü h r t w e r d e n . S e i n P a r t e i - freund C o n r a d A h l e r s , f r ü h e r Bundespressechef u n d Sprecher der s o z i a l - l i b e r a l e n B o n n e r K o a l i - t i o n , s a h dies noch v o r k u r z e m so: . H e l m u t Schmidt w i r d d a r a n e r i n n e r t w e r d e n , d a ß er selbst d i e ö k o n o m i s c h f r a g w ü r d i g e F o r m e l ge- p r ä g t hat, 5 P r o z e n t P r e i s s t e i g e r u n g e n seien leichter z u ertragen als 5 P r o z e n t A r b e i t s l o s i g - k e i t . E r m u ß v e r m e i d e n , d a ß i h m v o r g e w o r f e n w e r d e n k a n n , unter seiner K a n z l e r s c h a f t seien b e i d e P r o z e n t z a h l e n g l e i c h z e i t i g erreicht w o r - d e n " . G e n a u dort aber, j a noch schlechter ste- h e n w i r heute. U n d w e n n w i r dies feststellen, so m a l e n w i r damit nicht S c h w a r z i n Schwarz, s o n d e r n w i r beschreiben n u r d i e bittere W a h r - heit, auch w e n n w i r deshalb nach W i l l y B r a n d t z u d e n e n g e h ö r e n s o l l t e n , „ d i e i h r G i f t m i t D r u k - k e r s c h w ä r z e v e r s p r i t z e n " . A u f j e d e n F a l l gibt Schmidts B i l a n z nicht d e n g e r i n g s t e n A n l a ß zur

„ Z u f r i e d e n h e i t " . D e n v o n i h m versprochenen

„ A u f s c h w u n g " , m i t d e m er W ä h l e r s t i m m e n fing, verschiebt er jetzt bereits bis i n d e n Sommer.

Dennoch k o n s t a t i e r t der „ S p i e g e l " ü b e r Schmidt: „Er w i l l die B u n d e s r e p u b l i k unbescha- det durch die g r o ß e K r i s e b r i n g e n , u n d er w i l l 1976 die W a h l e n g e w i n n e n — w e n n es e i n m u ß gegen die reine L e h r e der P a r t e i u n d auf K o - sten der e i g e n e n P o p u l a r i t ä t b e i d e n G e n o s s e n " .

Das Recht z u d i e s e m W a g n i s w i r d i h m n i e - m a n d bestreiten. B e z w e i f e l t w i r d nur, ob er die K e n n t n i s s e , die K r a f t u n d die A u s d a u e r h i e r z u besitzt. E r i n n e r t er sich noch a n K a r l Schiller,

seit J a h r e n A b t r ü n n i g e r der S P D u n d heute C D U - M i t g l i e d , d e r i h m w ä h r e n d eines K a b i - nettsstreits ü b e r Wirtschaftsfragen e i n m a l v o r -

ten der D G B herauszutreten", w i l l er sich nicht a n seiner Einsicht v e r g e h e n : „ D a s S y s t e m ist noch nicht erfunden, i n d e m e i n e Gesellschaft m e h r v e r b r a u c h e n k a n n , als sie p r o d u z i e r t " .

Schmidts C h a n c e n l i e g e n nach Prof. S t e i n - buch d a r i n , „ v o n der S P D , die ohne i h n a u s e i n - a n d e r l ä u f t (oder w i e d e r z u r D e n k u n g s a r t W i l l y Brandts z u r ü c k k e h r t ) d e u t l i c h A b s t a n d z u n e h - m e n " . So entstehe die p a r a d o x e L a g e , d a ß der K a n z l e r u n d seine P a r t e i aufeinander a n g e w i e - s e n s i n d , aber k e i n e g e m e i n s a m e n Z i e l e h a b e n : Schmidt macht m i t e i n e r P a r t e i der L i n k e n e i n e rechte P o l i t i k . A u s d i e s e m G r u n d e ist er v e r - m u t l i c h trotz a l l e r P r a g m a t i k , die i h m nach- sagt, e i n i n sich zutiefst gespaltener M a n n . U n d ausgerechnet a m ersten J a h r e s t a g seiner K a n z - lerschaft unterstreicht eine V e r l a u t b a r u n g der B u n d e s b a n k , gemessen a n d e n o p t i m i s t i s c h e n P r o g n o s e n der R e g i e r u n g s e i der a u g e n b l i c k l i c h e E n t w i c k l u n g s s t a n d u n s e r e r W i r t s c h a f t „ n o c h i m - m e r v i e l z u n i e d r i g " . W i l h e l m Busch w ü r d e d a z u s a g e n : „ M i n i s t e r w e r d e n ist nicht schwer, K a n z - l e r s e i n d a g e g e n sehr".

W e g e n seines doch n u r scheinbar „ r e c h t s o r i e n - t i e r t e n " K u r s e s hat sich Schmidt v o r a l l e m d i e Feindschaft der J u n g s o z i a l i s t e n eingehandelt. I n H a m b u r g w a r f er i h n e n v o r : „ I h r p r e d i g t d i e K i r c h e n l e e r " . D o c h der f r ü h e r e Jusochef K a r s t e n V o i g t v e r s c h w i e g i h m nicht, d a ß die B e k u n d u n - g e n seiner G e n o s s e n für d e n K a n z l e r i n W a h l - k a m p f z e i t e n „ n u r als L i p p e n b e k e n n t n i s s e m i t der g e b a l l t e n F a u s t i n der Tasche" z u v e r s t e h e n seien. U n d auf d e m l e t z t e n B u n d e s k o n g r e ß der J u s o s i n W i e s b a d e n k o n n t e m a n es d a n n noch k l a r e r h ö r e n : „ W e r w i e Schmidt R e f o r m e n auf das b e s c h r ä n k t , w a s a k t u e l l m ö g l i c h ist, w e r gar „ a n t i k a p i t a l i s t i s c h k o n z i p i e r t e S t r u k t u r r e - f o r m e n " w i e die berufliche B i l d u n g u n d die p a - r i t ä t i s c h e M i t b e s t i m m u n g z u „ S c h e i n r e f o r m e n "

v e r f ä l s c h t , v e r s ü n d i g t sich a m D o g m a der k o n s e - q u e n t e n S o z i a l i s t e n , w o n a c h es gilt, d e n K a p i t a - l i s m u s so lange z u r ü c k z u d r ä n g e n , b i s d e r Staat u n d d i e Gesellschaft des „ d e m o k r a t i s c h e n So- z i a l i s m u s " v e r w i r k l i c h t s i n d . E i n s o z i a l d e m o k r a - tischer B u n d e s k a n z l e r , der darauf verzichtet, d i e M i t t e l des Staates z u r U b e r w i n d u n g des K a p i t a - lismus einzusetzen, macht o h n e h i n a l l e s falsch.

D e s h a l b w e n d e n w i r uns gegen d e n V e r s u c h , aus der S P D e i n e n K a n z l e r - W a h l v e r e i n z u ma- chen u n d eine „ A l l e r w e l t s p a r t e i " , w i e manche d e n Begriff „ V o l k s p a r t e i " i n t e r p r e t i e r e n . D i e S P D hat sich v i e l m e h r als „ M a g d der A r b e i t e r - k l a s s e " z u begreifen u n d i h r e P o l i t i k i n s t ä n d i -

Foto dpa gern engen K o n t a k t m i t d e n G e w e r k s c h a f t e n z u e n t w i c k e l n " . D e r „ F r a n k f u r t e r K r e i s " , das L e n - k u n g s z e n t r u m der ganz L i n k e n , w a r t e t , w i e der

„ S t e r n " m u t m a ß t , n u r darauf, „ b i s der s t a r k e M a n n d e n e r s t e n S c h w ä c h e a n f a l l zeigt. S o l a n g e s o l l der u m T o l e r a n z b e m ü h t e W i l l y B r a n d t d e n u n g e l i e b t e n K a n z l e r a n der T e u f e l s a u s t r e i b u n g h i n d e r n " . W a s aber h e i ß t . T o l e r a n z " , w e n n ge- rade B r a n d t , v o n d e n J u s o s i n W i e s b a d e n u m - j u b e l t , d i e j u n g e n G e n o s s e n z u „ m e h r S e l b s t v e r - t r a u e n " aufruft? Hofft er, sich d a m i t eine neue P l a t t f o r m z u schaffen?

I n d i e s e m Z u s a m m e n h a n g p a ß t e i n A r t i k e l der

„ D e u t s c h e n Z e i t u n g " v o m 21. M ä r z . U n t e r der Uberschrift „ B r a n d t w i l l noch e i n m a l a n die M a c h t — D e r P a r t e i v a t e r w u r d e z u m l i n k e n Scharfmacher", h i e ß es d a i m V o r s p a n n : „Er- staunt, betroffen, doch auch n e u g i e r i g v e r f o l g t das P u b l i k u m die W a n d l u n g eines e h e m a l i g e n M a s s e n - I d o l s z u s e i n e m G e g e n t e i l : z u r D e s i n t e - grationsfigur. M i t d e m A n t i - R e z e p t der E r f o l g e v o n einst b r i n g t W i l l y B r a n d t sich i n E r i n n e - r u n g " . N a c h s e i n e m Sturz s e i er für e i n i g e Z e i t i n die i n n e r e E m i g r a t i o n gegangen. D a n n v e r - tiefte er sich i n P a r t e i a r b e i t . D o c h heute zeige er k e i n e S p u r m e h r v o n R e s i g n a t i o n . E r w o l l e mindestens Parteichef b l e i b e n , aber manche g l a u b t e n , er i n t e r e s s i e r e sich für m e h r als d i e - ses A m t , das er n u n schon z w ö l f J a h r e innehat.

H e l m u t Schmidt erleichtere s e i n e m V o r g ä n g e r das C o m e b a c k , i n d e m er nicht auf d e n P a r t e i - v o r s i t z r e f l e k t i e r t . „Die V e r n a c h l ä s s i g u n g d i e - ser A m b i t i o n , d i e f ü r e i n e n Regierungschef e i - g e n t l i c h Pflicht aus S e l b s t e r h a l t u n g s t r i e b s e i n m ü ß t e , k a n n d e n j e t z i g e n K a n z l e r nach M e i n u n g seiner engsten F r e u n d e noch t e u e r z u stehen k o m m e n " .

G e r a d e d e r F a l l B r a n d t z e i g e , d a ß der P a r t e i - v o r s i t z auch e i n e w i c h t i g e A u f f a n g s s t a t i o n dar- stellt. B r a n d t n ü t z e diese F u n k t i o n , u m v o n da aus s e i n e n n o c h k e i n e s w e g s b e g o n n e n e n (frei- l i c h m a t e r i e l l schon g l ä n z e n d abgesicherten) po- l i t i s c h e n L e b e n s a b e n d z u p l a n e n . E r s e i i m m e r n o c h z w ö l f J a h r e j ü n g e r als A d e n a u e r b e i des- s e n A m t s a n t r i t t . S o b a l d W e h n e r resigniere, w i s - se B r a n d t genau, w e r „ b e i der K n a p p h e i t a n g u - t e m P e r s o n a l " ( v g l . h i e r z u u n s e r e E i n g a n g s t h e - se) d e n b e s t e n N a c h f o l g e r a n d e r F r a k t i o n s s p i t z e a b g ä b e : W i l l y B r a n d t l A u f d e m B u n d e s k o n g r e ß s e i n e r P a r t e i i n R e c k l i n g h a u s e n habe er gewet- tert: . D i e U n i o n w ü r d e d i e s o z i a l e n S p a n n u n - g e n s t e i g e r n u n d d i e w e l t p o l i t i s c h e S t e l l u n g die- ser B u n d e s r e p u b l i k e r s c h ü t t e r n " . G a n z i m S t i l e alter K l a s s e n k ä m p f e r rede er w i e d e r v o n der . A r r o g a n z d e r d i c k e n Brieftaschen", ganz so, als ob seine eigene e i n e d ü n n e w ä r e . D i e „ D Z " er- w i d e r t h i e r a u f : „ W e r aus d e m n o r m a l e n G r u p - p e n k o n f l i k t d e r a r t v e r z e r r t e F e i n d b i l d e r e n t w i k - k e l t , m u ß a n der D e m o k r a t i e i r g e n d etwas nicht v e r s t a n d e n h a b e n — w a h r s c h e i n l i c h d i e T a t s a - che, d a ß D e m o k r a t i e u n d S o z i a l i s m u s eben nicht z w a n g s l ä u f i g identisch s i n d . W e r eben dieses M i ß v e r s t ä n d n i s w i d e r bessere E r f a h r u n g s t r i k t e aufrecht e r h ä l t u n d z u r B a s i s s e i n e r p o l i t i s c h e n K o n z e p t e macht, der spricht so w i e heute W i l l y Brandt. E r h a u t w i e d e r auf d i e l i n k e P a u k e — i n P a r l a m e n t u n d Ö f f e n t l i c h k e i t . E r ist m i t f l i e g e n - d e n r o t e n F a h n e n auf d e m W e g z u r ü c k z u d e n I r r t ü m e r n s e i n e r J u g e n d . "

U n d angesichts dessen w ä h l t H e l m u t Schmidt für d i e Erst J a h r e s b i l a n z seiner Kanzlerschaft das G l e i c h n i s , er u n d B r a n d t h i n g e n . a n d e m s e l b e n G l o c k e n s t r a n g " . Es fragt sich n u r ob d i e G l o c k e e i n e n G l e i c h k l a n g oder D i s s o n a n z e n v o n sich gibt. B i s jetzt scheint z w e i f e l s o h n e das L e t z t e r e d e r F a l l z u s e i n . M a n m u ß n u r g e n a u h i n h ö r e n k ö n n e n .

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