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Jessica Lilli Köpcke Arne Schöning (Hrsg.) Menschen mit Querschnittlähmung. Lebenswege und Lebenswelten. Verlag W. Kohlhammer

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Academic year: 2022

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Die Herausgeber

Prof. Dr. Jessica Lilli Köpcke, seit Oktober 2016 als Professorin für Heilpädagogik und Studiengangsleiterin an der Medical School Berlin tätig. Sie schloss ein Studium der Er- ziehungswissenschaften (BA) an der Freien Universität zu Berlin und ein Studium der Sozialen Arbeit (MA) an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin ab. An der Universität Leipzig promovierte sie zu dem Thema »Rekonstruktion der Bedeutung einer in der Adoleszenz erworbenen traumatischen Querschnittlähmung für den weiteren Lebensverlauf« und war dort als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Erziehungswissenschaften im Förderschwer- punkt körperliche und motorische Entwicklung tätig. Berufliche Stationen waren die Schulsozialarbeit in einem Förderzentrum, Projekte des einge- tragenen Vereins Spastikerhilfe Berlin und die Hamburger Assistenz Ge- nossenschaft. Mit ihrem Coaching-Institut ist sie seit vielen Jahren als Se- minarleiterin tätig, u. a. in der Arbeitsmarkt-Integration von Menschen mit Beeinträchtigung.

Arne Schöning, Kommunikationsexperte und freier Fotograf. 2003–2005 Peer Counseling und Projektmanagement für den Verein zur Förderung Querschnittgelähmter am Unfall- krankenhaus Berlin (UKB-Berlin). 2005–2006 Referent für Barrierefreiheit bei der Nationa- len DFB Kulturstiftung WM 2006. Er arbeitet als Berater im Pro Seniore Pflegenetz Berlin Brandenburg für die Bereiche Wohnen im Al- ter, Kommunikation und Personalmarketing und als freier Dozent an der Medical School Berlin in der partizipativen So- zialforschung für den Studiengang Heilpädagogik. Er lebt selbst mit einer Querschnittlähmung und fungiert als »Experte in eigener Sache« in der Hochschullehre und in Forschungsprojekten.

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Jessica Lilli Köpcke Arne Schöning (Hrsg.)

Menschen mit

Querschnittlähmung

Lebenswege und Lebenswelten

Verlag W. Kohlhammer

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Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver- wendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset- zungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni- schen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzei- chen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzei- chen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Titelbild: Vaterfigur Model: Steven Dylla Fotografie: Arne Schöning

1. Auflage 2018 Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print:

ISBN 978-3-17-033824-1 E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-033825-8 epub: ISBN 978-3-17-033826-5 mobi: ISBN 978-3-17-033827-2

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Inhaltsverzeichnis

Teil I Einführung

Vorwort 13

Menschen mit Querschnittlähmung als Experten

in eigener Sache 15

Jessica Lilli Köpcke

Die Methode des Storytellings in der partizipativen

Sozialforschung 28

Jessica Lilli Köpcke

Teil II Lebenswelten

Alltag und Lifestyle 37

Jessica Lilli Köpcke

Blut, Schweiß und Tränen 50

Katrin Schreier

Nicht allein 64

Mario Swoboda

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Als Kind die Vorstellung von Reisen, alles ohne Probleme? 66 Andreas Nickel

Barrierefrei!?! 76

Kirsten Bruhn

Aus der »Not« eine Tugend gemacht! 78

Richard Schaefer

Kein Leisetreter 92

Jens Sauerbier

Grenzgänger 94

David Weissbaum

Teil III Arbeitsleben

Berufliche Perspektiven 105

Jessica Lilli Köpcke

Start ins (Berufs-)Leben 109

Andreas Schönhofer

Mobilität schaffen 116

Stefan Volkmann Inhaltsverzeichnis

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Das Unerwartete 118 Jörg Köhler

Langer Atem 130

Christian Au

Teil IV Abenteuersport

Von der Rehabilitation zum Abenteuersport 135 Jessica Lilli Köpcke

Sportliche Netzwerke 140

Christoph Pisarz

Was bewegen 156

Christoph Pisarz

Dog Trekking 158

Manuela Richter

Die Kriegerin 170

Katja Sandschneider

Ein Leben auf der Überholspur 172

Achim Freund

Inhaltsverzeichnis

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Sit Up Paddling 190 Steven Dylla

Mal Abtauchen 192

Dirk Michelus

Teil V Liebe und Sexualität

Körper, Sexualität und Partnerschaft 201 Jessica Lilli Köpcke

Love and Basketball 210

Maria Kreß (geb. Kühn)

Abgelegt 220

Timm Heienbrok

Lust und Vorurteil 222

Jessica Lilli Köpcke und Arne Schöning

Entfesselt 232

Dirk Michelus Inhaltsverzeichnis

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Teil VI Wahrnehmung von Querschnittlähmung

Querschnittlähmung in der öffentlichen Wahrnehmung 237 Jessica Lilli Köpcke

Vom Landmädchen zum Model mit Querschnitt und

Durchblick 243

Carolin Fischer

Etwas zu sagen haben 258

Andreas F. Schneider

Musik ist Medizin–ohne Nebenwirkungen 260 Dennis Sonne aka Sittin’Bull

Singt meinen Song 272

Dennis Sonne aka Sittin’Bull

Der Entstehungsweg der Bilder für das Projekt

para-normal-lifestyle 274

Arne Schöning

Inhaltsverzeichnis

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Teil I

Einführung

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Vorwort

Dieses Buch entstand durch den Wunsch, die unterschiedlichen Lebens- welten von Menschen mit Querschnittlähmung darzustellen und sie als Experten in eigener Sache zu ermutigen, gemeinsam einen neuartigen und interessanten Beitrag zum Thema Querschnittlähmung im Sinne der parti- zipativen Sozialforschung zu verfassen. Dabei geht es vorrangig darum, die individuelle Sicht der Menschen mit Querschnittlähmung in den Fokus zu stellen und damit über die häufig anzutreffende medizinische Sichtweise und die erste Phase der Rehabilitation nach einer Querschnittlähmung aus einer wissenschaftlichen Sicht hinaus zu gehen.

Insbesondere für zukünftige Fachkräfte, Angehörige und Menschen mit Querschnittlähmung selbst ist es wichtig, die diversen Möglichkeiten und Facetten eines Lebens mit Querschnittlähmung wahrzunehmen. Die parti- zipative Sozialforschung bietet den Rahmen, um Menschen mit Quer- schnittlähmung an einem Forschungsdiskurs zu beteiligen und sie zu »Ex- perten in eigener Sache« zu machen. Dies bedeutet für das vorliegende Buch, dass es hierbei zu einem Zusammenspiel kommt, nach einer einfüh- renden fachlichen Beschreibung einzelner Lebensbereiche tritt dann die Geschichte der Menschen mit Querschnittlähmung in den Vordergrund.

Es gibt eine Vielzahl von Biografien und Autobiografien, die insbesondere die individuelle Bewältigung der Querschnittlähmung einzelner Personen thematisieren. Das vorliegende Buch versteht sich als Sammlung unter- schiedlicher Geschichten und Bilder, die zeigen, welche außergewöhnli- chen Wege Menschen mit Querschnittlähmung gehen können, aber auch die Normalität, mit der sie ihr Leben gestalten. Die Themenbereiche All- tag und Lifestyle, berufliche Perspektiven, Rehabilitation und Sport, Sexua- lität und Partnerschaft sowie die öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit Querschnittlähmung werden dabei abgedeckt und zeigen, was im Roll- stuhl alles möglich ist. Die bereits vorhandene Inklusion von Menschen im Rollstuhl in die Gesellschaft und sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens werden dabei häufig betont, es werden jedoch auch noch beste- hende Grenzen aufgezeigt.

Das methodische Vorgehen orientiert sich an der Methode des Story- tellings, bei der die Experten in eigener Sache die Möglichkeit haben, ihre Geschichte und ihr Leben in ihren eigenen Worten zu präsentieren. Dies führt zu einer sehr ungewohnten und individuellen Tonalität der Ge- 13

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schichten und stellt einen zusätzlichen Gewinn zu der reinen inhaltlichen Aussage dar.

Das Buch besteht aus zwei Elementen, zum einen aus dieser Sammlung von Geschichten, die von Menschen mit Querschnittlähmung geschrieben wurden, und zum anderen aus den Bildern von Arne Schöning, der die Geschichten fotografisch darstellt und visualisiert. Arne Schöning lebt selbst mit einer Querschnittlähmung und erreicht damit eine künstlerische Darstellung der Lebensbereiche aus seinem besonderen Blickwinkel zwi- schen Normalität und außergewöhnlichen Situationen.

Gemeinsam sind wir die Herausgeber dieses Buchs und schlagen damit eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Betrachtung und Erfahrungswis- sen unserer Autoren, die einen einzigartigen und persönlichen Einblick in ihre Lebenswelt geben.

Zur besseren Lesbarkeit werden männliche und weibliche Bezeichnun- gen für unterschiedliche Personen und Personengruppen wechselnd ge- nutzt. Die eindeutige Zuordnung zu einer Geschlechtergruppe ist an den entsprechenden Stellen kenntlich gemacht.

Jessica Lilli Köpcke und Arne Schöning Teil I Einführung

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Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

Jessica Lilli Köpcke

Menschen mit Querschnittlähmung sind eine Gruppe in Deutschland, die in verschiedenen Kontexten unterschiedlich starke Beachtung findet. Im Bereich der Populärliteratur, Biografien und Autobiografien wird man schneller fündig als in der Fachliteratur der Sonder- und Heilpädagogik.

Am wissenschaftlichen Diskurs der Disability Studies beteiligen sich Men- schen mit Querschnittlähmung ebenfalls selten. Die Ursachen dafür könn- ten in einer möglichst autonomen und individuellen Lebenspraxis liegen und in der daraus resultierenden geringen Vernetzung. Der Bereich des Sports bildet dabei eine Ausnahme, dort engagieren sich viele Menschen mit angeborener und erworbener Querschnittlähmung und pflegen dar- über eine Form des informellen Austauschs. Bevor die Autoren über ihr Leben mit Querschnittlähmung berichten, soll ein kurzer Überblick über die Auswirkungen einer Querschnittlähmung im medizinischen und sozia- len Bereich der Lebenswelt gegeben werden.

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Die Auswirkungen einer Querschnittlähmung sind vielfältig und indivi- duell, Ausführungen dazu können nur eine grobe Einordnung bieten, die dann von den Autoren auf ihre spezifische Lebenswelt bezogen personifi- ziert dargestellt werden. Man unterscheidet zwischen der angeborenen Querschnittlähmung, bei der eine Fehlbildung des Rückenmarks zugrunde liegt, und der erworbenen Querschnittlähmung in Folge einer Schädigung des Rückenmarks (vgl. Kaltenborn 2007, S. 107). Wir haben uns bei der Auswahl der Autoren bewusst dafür entschieden, Menschen mit angebo- rener Querschnittlähmung (Spina bifida) und mit erworbener Quer- schnittlähmung durch Unfälle, neurologische Krankheitsbilder und Folgen anderer Grunderkrankungen in die Gruppe der Menschen mit Quer- schnittlähmung einzubeziehen. Dies zeigt erneut die große Spannweite und ermöglicht eine differenzierte Betrachtungsweise einer großen Grup- pe von Menschen.

Als Querschnittlähmung wird ein aus einer Schädigung des Rückenmark- querschnitts resultierendes Lähmungsbild mit Ausfall motorischer, sensib- ler und vegetativer Bahnen bezeichnet. Die systematische Einteilung der verschiedenen Formen der Querschnittlähmung wird von der Höhe der Schädigung der einzelnen Rückenmarkssegmente bestimmt. Lähmungen des Halsmarks, bei der alle vier Gliedmaßen betroffen sind, werden als Tetraplegie bezeichnet. Alle anderen Lähmungen mit der Beteiligung der unteren Extremitäten werden Paraplegie genannt. Eine weitere Unter- scheidung ist die zwischen einer spastischen und einer schlaffen Lähmung.

Mit Plegie wird allgemein eine zentrale, komplette motorische Lähmung ganzer Gliedmaßen oder einzelner Gliedmaßenabschnitte bezeichnet. Bei der Querschnittlähmung wird der Begriff weiter gefasst und umfasst die gelähmten Körperabschnitte unterhalb der Rückenmarkläsion mit den da- zugehörigen Extremitäten (vgl. Gerner 1992, S. 3). Neben der vollständigen Querschnittlähmung, bei der das Rückenmark in seiner Kontinuität unter- brochen ist, gibt es auch die unvollständige, bei der noch gewisse, insbe- sondere sensible Restsymptome erhalten sind (vgl. Schade 1994, S. 273).

Die sogenannte inkomplette Querschnittlähmung beinhaltet eine Auf- rechterhaltung von motorischen und sensorischen Funktionen nach der Rückenmarkschädigung. Eine abschließende Diagnose, welche Funktionen nach einer spinalen Schockphase wieder vorhanden sind, dauert mehrere Wochen bis Monate an.

»It has now been shown in many centers that 60 %65 % of patients with cervical spine injuries and tetraparesis have incomplete cervical lesions. Almost 100 % of patients admitted to hospital 68 hours after lumbodorsal injury with paraplegia have complete lesions, yet some 50 % have some root sparing« (Bedbrook 1981, S. 24).

Teil I Einführung

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Dies macht die Einteilung und Abschätzung der Funktionen und der Fä- higkeiten der Personen, insbesondere bei der Alltagsbewältigung, schwie- rig, da trotz eines bestimmten Querschnittsniveaus in Form der Läsions- höhe die einzelnen Ausbildungsformen der Querschnittlähmung stark variieren und sehr individuell sind. Eine grobe Einteilung und Klassifizie- rung lässt sich anhand der folgenden Graphik ablesen. Dabei ist zu be- rücksichtigen, dass bei einer inkompletten Querschnittlähmung die moto- rischen und sensorischen Funktionen in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sein können und diese Formen der Querschnittlähmung nur individuell am Einzelfall beschreibbar sind.

Graphik Querschnittlähmung (eigene Abbildung)

Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

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Die Halsmarkschädigung (C1-C4) ist durch eine komplette Lähmung des Zwerchfells gekennzeichnet und macht eine Beatmung unabdingbar. Schä- digungen des unteren Halsmarks (C4-C8) erlauben eine eingeschränkte, jedoch eigenständige Atmung. Je tiefer die Lähmungshöhe, umso größer sind die Überlebenschancen und die Möglichkeit auf ein eigenständiges Leben. Ab einer Läsionshöhe unterhalb von C5 ist es beispielsweise mög- lich, die Schultern zu heben und den Arm im Ellenbogengelenk zu beu- gen. Bei der Brustmarkschädigung ist im Bereich von Th1 bis Th5 die Atmung zum Teil eingeschränkt, wobei die oberen Extremitäten eine voll- ständige Funktionsfähigkeit aufweisen. Die gesamte Rumpf- und Bauch- muskulatur sowie die Beine sind von der Lähmung betroffen. Schädigun- gen im Bereich des mittleren bis unteren Brustmarks (Th6 bis Th12) weisen unterschiedlich erhaltene Funktionen im Bereich der Rumpf- und Bauchmuskulatur auf und somit auch Unterschiede in der Sitzbalance und Sitzstabilität. Bei der Schädigung des Lumbalmarks ist vereinzelt und je nach Läsionshöhe (L5) eine Gehfähigkeit möglich. Bei einer Lähmung des Sakralmarks sind insbesondere die Blase, der Mastdarm und die Genitalor- gane von der Lähmung betroffen (vgl. Gerner 1992, S. 6 f.).

Die Ausprägung einer Querschnittlähmung ist dynamisch zu verstehen.

Nach der Rückenmarksverletzung kommt es zu einem spinalen Schock, der wenige Tage bis zu acht Wochen anhält. In dieser Zeit kommt es zu einem Komplettausfall der motorischen, sensiblen und vegetativen Funktionen unterhalb der Schädigungsstelle. Die Folgen sind eine schlaffe Lähmung der Muskulatur, der Verlust aller Reflexe, der Verlust der Wärmeregula- tion, Kreislaufstörungen und eine stark verminderte Blasen- und Darmtä- tigkeit (vgl. Kampmeier 2006, S. 205). Im Verlauf der Rehabilitationsphase ist es insbesondere bei der inkompletten Querschnittlähmung möglich, dass einzelne sensorische und motorische Funktionen in Abhängigkeit der Form der Schädigung des Rückenmarks sowie der betroffenen Nerven zu- rückkehren. Die Regeneration des Rückenmarks kann bis zu zehn Monate nach dem Bruch der Wirbel und der Verletzung des Rückenmarks erfolgen und viele Menschen mit Querschnittlähmung erhalten einen Teil der Funk- tionen unterhalb der Wirbelschädigung zurück. Pro Jahr werden circa 1.000 Menschen von einer Querschnittlähmung in Deutschland betroffen.

Davon sind circa 70 % Männer, 26 % Frauen und 4 % Kinder bis 16 Jahre.

Circa 65 % der Wirbelsäulenverletzungen haben eine Paraplegie zur Folge, 35 % eine Tetraplegie (vgl. Kampmeier 2006, S. 199). Die Zahl der Men- schen, die mit Spina bifida geboren werden, geht seit Jahren aufgrund der verbesserten Pränataldiagnostik sowie der Vorsorge mit Folsäure vor und während der Schwangerschaft zurück (vgl. Stein/Ermert 2016).

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Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes waren am 31.12.2013 17.031 Menschen von einer Querschnittlähmung betroffen, dies entspricht einem Prozentsatz von 0,2 % im Gesamtdurchschnitt der so genannten

»Schwerbehinderten Menschen« (vgl. Statistisches Bundesamt 2014, S. 10).

»Der Körper steht auf Grund unseres Leibseins alternativlos im Mittelpunkt unseres Weltkontaktes. Menschliche Entwicklung wie auch menschliches Leben und Lernen sind ohne ihn nicht zu denken« (Fischer 2007, S. 275).

Mit der Erkenntnis, dass der Körper nicht mehr »funktioniert« wie er soll- te und eventuell nicht mehr aussieht wie er sollte, geht ein individueller Veränderungsprozess einher.

»But disease itself is a loss of predictability, and it causes further losses: inconti- nence, shortness of breath or memory, tremors and seizures, and all the other›fai- lures of the sick body. Some ill people adapt to these contingencies easily; others experience a crisis of control. Illness is about to live with lost control« (vgl. Frank 1995, S. 30).

Menschen mit Querschnittlähmung entwickeln individuelle Bewältigungs- strategien, um mit diesen Veränderungen umzugehen. Dieser Prozess wird dabei von einem Team aus Fachkräften begleitet. Diese Begleitung ist nicht nur bei einer erworbenen Querschnittlähmung wichtig, sondern auch von Geburt an bei Menschen mit Spina bifida. »Es ist a priori un- nütz, eine Reflexion über die Entwicklung der Identität anzustellen, ohne diese an Strukturen und Funktionen des lebendigen Körpers zu binden«

(Praschak 2011, S. 192). Die Körperwahrnehmung und die leibliche Ent- wicklung gehören auch bei Kindern zur Entwicklungsförderung und sind für die Stärkung des Selbstbildes unabdingbar.

In Deutschland gibt es zahlreiche Kliniken, die auf die Akutversorgung, Rehabilitation und lebenslange Nachsorge der Menschen mit Querschnitt- lähmung und anderen Rückenmarksschädigungen spezialisiert sind. Diese werden zusammenfassend als Querschnittzentren bezeichnet. Insbesonde- re für Menschen mit plötzlich erworbener Querschnittlähmung bieten die Zentren eine erste Orientierung und Vorbereitung auf ein verändertes Le- ben.

Der Betroffene erlebt die Tage nach dem Unfall wie in einem Trancezu- stand. Alles, was ihm in der Klinik wiederfährt, alle umfangreichen medi- zinischen Maßnahmen, das dreistündliche Umbetten, die künstliche Er- nährung, die ungewohnte Passivität, die unbekannte Umgebung, der ungewohnte Tagesablauf, das Fehlen einer Intimsphäre, das Ausgelie- fertsein, das Spüren des Verlustes von Körperfunktionen, der Verlust des Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

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Gefühls für Zeit und Dauer, hervorgerufen durch die Wirkung der Medi- kamente und die Tag und Nacht gleichmäßig intensive Aktivität um ihn herum, die Ungeheuerlichkeit der gesamten Situation im Vergleich zum Alltag vorher verschmelzen sich zu einem tiefen Gefühl der Entfremdung, zu einer Art Unwirklichkeitserleben (Sturm 1979, S. 29).

Dies führt dazu, dass Menschen mit Querschnittlähmung mit existen- ziellen Ängsten konfrontiert werden, vorrangig dabei ist die Angst vor dem Tod. Die Dauerüberwachung und die Intensität von Pflege und ärztli- cher Betreuung lassen sie den Ernst ihres körperlichen Zustandes erahnen.

Die Querschnittlähmung wird als Angriff auf die individuelle Existenz er- lebt. Dieser Angriffwird schicksalhaft erlebt und ist mit dem Tod verbun- den (vgl. ebd., S. 28). Mit diesen allgemeinen Erfahrungswerten lässt sich die erste Zeit im Querschnittzentrum beschreiben. Für Menschen mit Spi- na bifida liegen diese Erfahrungen häufig lange zurück. Sie erleben die Phase der Ungewissheit, der Angst verbunden mit zahlreichen Operatio- nen meist in der frühen Kindheit.

Über diese medizinische Erstversorgung und pflegerische Leistungen hinaus übernehmen die Querschnittzentren zahlreiche weitere Aufgaben.

Dazu gehören eine psychologische Betreuung, die physische Rehabilitation, die Ermöglichung eines weitestgehend selbstständigen Lebens, sozialarbei- terische Unterstützung bei der Wohnungssuche und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt und eine lebenslange medizinische Nachsorge. Dies ist Teil der Eingliederung von Menschen mit Behinderung in das gesellschaft- liche Leben und ist Bestandteil staatlicher Sozialpolitik, die im sozialen Sicherungssystem verankert ist. Dieses unterliegt dem Fürsorgeprinzip und hat sich als eigenständiges Politikfeld im Rahmen der Behindertenpolitik entwickelt. Die Inhalte dieses Feldes werden unter dem Begriffder Rehabi- litation subsumiert und umfassen alle Leistungen des Sozialgesetzbuch SGB IX zur Eingliederung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung oder von Menschen, die von Behinderung bedroht sind, im Bereich des Ar- beitslebens und in der Gesellschaft (vgl. Wansing 2006, S. 112). Die Selbst- ständigkeitserhaltung von Menschen mit Querschnittlähmung ist das Hauptziel der Rehabilitation. Dafür wird unter anderem Unterstützung bei der Beantragung einer persönlichen Assistenz und bei der Wiedereinglie- derung in den ersten Arbeitsmarkt geboten, die sich bis hin zu einer Ko- operation mit Fahrschulen, die eine Erlangung einer Fahrerlaubnis mit ei- nem entsprechend umgerüsteten PKW ermöglichen, erstreckt.

»Die Zielsetzungen und die Aufgaben der Rehabilitation orientieren sich nicht län- ger an einem paternalistischen Modell, wonach der Mangel an Partizipation durch ein Hilfesystem kompensiert wird. Vielmehr sollen barrierefreie Infrastrukturen ge- Teil I Einführung

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schaen und die Unterstützung individueller Ressourcen und Handlungskompeten- zen gewährleistet werden« (Krope/Latus/Wolze 2009, S. 11).

Menschen mit Querschnittlähmung verbringen während ihrer Erstrehabili- tationen mehrere Monate bis hin zu einem Zeitraum von über einem Jahr in den Rehabilitationszentren und dieser Ort wird in einer wichtigen Phase ihres Lebens zu einer Art Heimat. Dementsprechend fallen die Empfindun- gen häufig ambivalent aus gegenüber ihrer Entlassung und einem Leben in einer häufig ungewissen Zukunft, mit einer neuen Wohnumgebung und ei- ner anderen Lebenssituation als vor der Querschnittlähmung.

»Jacks1quote again reinforces the safety, security and sense of belonging that the participants felt during their stay in the QENSIUS. While the participants were pleased to return home to their loved ones, they seemed to feel that they were sacri- ficing their care and amity in doing so they were now entirely »on their own«.

There is no doubt that this loss appeared to make adjustment to Spinal Cord Injury post-hospital discharge more dicult« (Dickson/Ward/OBrian 2011, S. 467).

Diese Übergänge zu gestalten stellt für die meisten Menschen mit Quer- schnittlähmung eine große Herausforderung dar, nicht zuletzt, da sich durch die Querschnittlähmung häufig die Lebenswelt verändert.

»Die Lebenswelt ist die alltägliche Wirklichkeit, in der der Mensch lebt und in der er handelt. Sie umfasst Natur-, Sozial- und Kulturwelt. Die alltägliche Lebenswelt ist intersubjektiv und damit sozial« (Hedderich 2003, S. 50).

Durch ihre Intersubjektivität ist die Lebenswelt immer in Abhängigkeit mit dem bestehenden sozialen Umfeld zu betrachten, in dem sich die Per- son bewegt. Menschen, die in ihrem Lebensverlauf eine Querschnittläh- mung erwerben, bewegen sich bereits vor dieser in ihrem individuellen Lebensumfeld. Wie sich ihre Lebenswelt nach der erworbenen Beeinträch- tigung verändert, ist auch von diesem Lebensumfeld abhängig. Die Le- bensweltorientierung geht von einem Spannungsfeld von Grundbedürfnis- sen und gegebenen Verhältnissen aus, die häufig ambivalent erscheinen.

In diesem Spannungsverhältnis entwickeln die Menschen Bewältigungs- strategien, um mit den vielfältigen Aufgaben und lebensweltlichen Ver- hältnissen zurecht zu kommen (vgl. Thiersch 2005, S. 66 f.). Dazu entwi- ckeln sie vielfältige Strategien, um sich an dieses Lebensumfeld mit ihrer Beeinträchtigung anzupassen und in die zuvor gemeinsam geteilte Lebens-

1 Zusammenfassung diverser Leitfadengestützter Interviews einer kanadischen Studie zum Thema »Widereingliederung in das soziale Umfeld nach einer erworbenen Querschnittlähmung«.

Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

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welt wieder »hineinzupassen«. »In dem Wissen, dass die Normali- tätskategorie ›nichtbehindert‹unerreichbar ist, wird in andere Kategorien wie Arbeit, Sport, Sexualität umso mehr Potenzial investiert« (Lüke 2006, S. 134). Ob die Anpassung an die Lebenswelt durch diese Strategien ge- lingt, ist individuell und abhängig von diversen anderen Faktoren des so- zialen Umfelds, wie die allgemein geteilte Einstellung gegenüber Men- schen mit Beeinträchtigung. Dabei ist die eigene Selbstwahrnehmung in der Interaktion mit anderen ein nicht zu unterschätzender Faktor, wie in der Studie von Dickson, Ward und O’Brian deutlich wird.

»Despite the commonality of such accounts, one participant (Jack) did acknowledge that he could have been overly sensitive to other peoples reactions to his SCI. The following account highlights a potential discrepancy between his interpretation of other people’s reactions and their actual reactions and implies that it is Jack’s own self-consciousness that may shape his interpretation of other peoples reactions:

Wed go into a restaurant but I felt really out of place, I was in a wheelchair. You felt really out of place and you felt folk were looking at you, terrible. But I mean when Id been out before and seen somebody in a wheelchair just a fleeting glance and no more and you’ll think about it when you’re in a wheelchair and you think everybodys actually staring at you« (Dickson/Ward/OBrian 2011, S. 470 f.).

Daran anschließend ist das Thema der Abgrenzung von anderen Men- schen mit Beeinträchtigung für viele Menschen mit Querschnittlähmung sehr präsent. Claudia Bruner beschreibt in ihrer wissenschaftlichen Studie zum Thema Dekonstruktion von Körper und Behinderung, wie sie selbst als Mensch mit Beeinträchtigung in bestimmten Situationen befangen auf die Präsenz von geistig- oder mehrfachbehinderten Menschen reagiert.

Dieser von ihr als Abwehrimpuls bezeichnete Vorgang resultiert aus der Vorstellung von Außenstehenden in dieselbe Schublade gesteckt zu wer- den wie Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung und somit einer Wahrnehmung ausgesetzt zu sein, die zwischen körperlichen und anderen Behinderungen nicht oder nicht hinreichend genug differenziert (vgl. Bru- ner 2005, S. 14). Dickson, Ward und O’Brien kommen in ihrer qualitativen Studie zu ähnlichen Forschungsergebnissen.

»They also reported a wider assumption that if a person appeared physically impai- red, then they were also mentally impaired one participant claiming (Todd) if their bodys broken then their brains broken. Consequently, participants reported a feeling of being invisible people would talk to whoever accompanied them in their wheelchair as opposed to them directly: You get angry, you know, and go

»Why do they act the way they act?« It’s just condescending you, patronising.

They’re not even talking down to you, they’re talking over you. (…) Just talking over the top of you all the time, you know. Youre not existing(Ian)« (Dickson/Ward/

OBrian 2011, S. 470).

Teil I Einführung

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Dieser Aspekt verdeutlicht die Anstrengungen, die insbesondere Men- schen mit einer erworbenen Beeinträchtigung auf sich nehmen, um sich ihrem sozialen Umfeld und ihrer Lebenswelt (wieder) anzupassen. Dabei sind die Normalitätsstrukturen deutlich, denen die Betroffenen entspre- chen möchten, eine Stigmatisierung mit der Kategorie »Mensch mit Be- hinderung« soll unter allen Umständen vermieden werden. Menschen mit Spina bifida hingegen haben von Beginn an durch den Besuch einer Son- derschule, spezieller Freizeit- und Sportvereine, durch lange Krankenhaus- aufenthalte eine gesellschaftliche Sonderrolle, die dann zu einer Lebens- welt innerhalb der Community von Menschen mit Beeinträchtigung führt, wie die biografisch geführte Studie von Radke (2009) zeigt.

Im deutschen sozialwissenschaftlichen Diskurs zur sozialen Exklusion wird der Faktor Behinderung wenig beachtet, was in Anbetracht des ver- gleichsweise hohen Anteils an Menschen mit (Schwer-)Behinderung, von fast zehn Prozent, an der Gesamtbevölkerung überrascht (vgl. Wansing 2006, S. 78). Dabei ist die Rolle von Menschen mit Beeinträchtigung in der Gesellschaft gekennzeichnet durch »einen elementaren Widerspruch zwi- schen offizieller Entlastung für ihre Abweichung von der Norm einerseits und tatsächlicher Diskriminierung mit Zuweisung einer besonderen, ab- weichenden Rolle andererseits« (Cloerkes 2007, S. 166). Neben diesen Stig- matisierungsmechanismen einerseits werden andererseits ebenso häufig eigene Erfahrungen der Ausgrenzung und Isolierung auf Menschen mit Beeinträchtigung projiziert. Dies erklärt die Schuldgefühle, die Menschen ohne Beeinträchtigung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung entwi- ckeln, und die zu einer Reaktionsbildung in Form von Überfürsorglichkeit führen können (vgl. Lenzen 2005, S. 1395). Diese diversen Formen des ge- sellschaftlichen Umgangs mit Menschen mit Beeinträchtigung, die häufig unbewusst und nicht intendiert erfolgen, prägen die Exklusionserfahrun- gen von Menschen mit Beeinträchtigung.

»Sequenzen von bereits eingenommenen Positionen in der Vergangenheit () wer- den als Prognose für Erfolg oder Misserfolg, d. h. für Relevanz oder Irrelevanz der Person, in die Entscheidungszukunft verlängert. Weil es keine Parallelisierung zwi- schen Dierenzierungsformen und Inklusionsformen mehr gibt, mit der soziale Zugehörigkeiten und daran gebundene Möglichkeiten festgelegt sind, orientiert sich Inklusion an der personalen Vergangenheit, der Biografie als Inklusions- und Exklu- sionsgeschichte« (Bommes/Scherr 2000, S. 129).

Für die soziale Ausgrenzung in der Lebenslaufdimension bedeutet dies, dass Personen nicht nur aufgrund der aktuellen Lebenssituation ausge- schlossen werden, sondern auch aufgrund ihrer Zukunftsprognose. Ihre Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

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personale Vergangenheit und die Form der Adressierung in gesellschaftli- chen Institutionen und Organisationen sind Faktoren für den Verlauf der Karriere und für die aktuelle und zukünftige Position der Menschen mit Beeinträchtigung (vgl. Wansing 2006, S. 68). Diese Position umfasst alle Lebensbereiche wie die berufliche Zukunft oder das Eingehen einer Part- nerschaft.

Bei der Analyse des Entstehens von Behinderungen sollten die Entwick- lung, die individuellen Besonderheiten, Eigenschaften, Fähigkeiten, Bedürf- nis- und Interessenslagen, die Ausprägung von Gefühlen und Strebungen und das Selbstwertgefühl des Menschen in die Betrachtung mit einbezo- gen werden. Damit werden die persönlichkeitspsychologischen Aspekte von Behinderung deutlich. Die Tätigkeiten der Menschen mit Quer- schnittlähmung in ihren Lebensfeldern, des Arbeitens und Lernens, der sozialen Beziehungen, Interessen, Gestaltung der Freizeitführung des all- täglichen Lebens und Lebensplanung bieten eine Grundlage für die Refle- xion über Behinderung. Die subjektiven Begriffe der Menschen werden sichtbar, wie die Frage: Fühlen sie sich selbst behindert? (vgl. Suhrweier 1997, S. 212). Menschen mit Beeinträchtigung sind sich ihrer Leistungen bewusst, ihnen fehlt es jedoch an Verständnis und Anerkennung aus der Umwelt. Sie verknüpfen sich als Person, aus ihrer Selbstsicht, mit Attribu- ten wie Stolz, Kompetenz, persönlicher Leistung und Erfolg. Es geht da- rum, die subjektive Seite des alltäglichen Erfolges für das Umfeld sichtbar zu machen (vgl. Kulmer 2000, S. 374). Dabei ist es für Menschen mit Querschnittlähmung von besonderer Bedeutung, die Stigmatisierung auf- grund ihrer Beeinträchtigung zu überwinden und als gleichwertig, kompe- tente Person anerkannt zu werden. Dabei wird als entscheidender Faktor deutlich, dass der Umgang mit der Querschnittlähmung sehr individuell ist und von allen Autoren die Querschnittlähmung in ihrer Bedeutung für den Lebensverlauf stark divergiert.

Jeder von ihnen ist dabei Experte für sein eigenes Leben. Experte zu sein beschreibt die spezifische Rolle einer Person als Quelle von Spezial- wissen über die zu erforschenden sozialen Sachverhalte (vgl. Gläser &

Laudel 2009, S. 12). Gerade in der Forschung und in der Arbeit mit Men- schen mit Beeinträchtigungen ging es bisher meist eher um die Integra- tion, als um die Inklusion, dass Menschen mit Beeinträchtigungen die wahren Experten in Bezug auf ihre Beeinträchtigung und ihr Leben sind, wird oft nicht wahrgenommen (vgl. PH-Heidelberg 2017). Der Begriff»Ex- perten in eigener Sache« umfasst in seiner sozialwissenschaftlichen Di- mension alle Bereiche des Lebens von Menschen mit Beeinträchtigung.

Dazu gehört die eigene Lebenswelt selbstbestimmt zu gestalten, genauso Teil I Einführung

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wie politisch und gesellschaftlich eingebunden zu sein, in Bezug auf die Belange von Menschen mit Beeinträchtigung (vgl. Lormis 2016).

Seit vielen Jahren wird dieser Expertenstatus durch die Disability Studies manifestiert. Gegen die vorherrschende Betrachtungsweise von Behinde- rung richten sich insbesondere die Strömungen der Disability Studies, bei denen Wissenschaftler, die selbst mit einer Beeinträchtigung leben, den Diskurs über diesen Gegenstandsbereich maßgeblich bestimmen. Dabei ist aus einer interdisziplinär kritischen Sicht von Behinderung zu untersuchen, wie Lebenswelten von Männern und Frauen mit Beeinträchtigung erforscht und dargestellt werden können. Es ist zu betrachten, ob es Widerstand von den Betroffenen gegen die »Behindertenrolle« gegeben hat und wie sie die- sen umsetzen (vgl. Schönwiese 2005, S. 54). Es wird mit dieser Forschung ein Weg bestritten, der eine stärkere Einbeziehung von Menschen mit Be- einträchtigung und deren Perspektive in die Forschung fordert (vgl. Flieger 2003). Dieser Forderung schließt sich auch eine kultursoziologische Be- trachtungsweise des Gegenstandsbereichs der Behinderung an. »Vorzugs- weise Anwendungswissenschaften wie Medizin, Psychologie und Heil- und Sonderpädagogik haben sich bislang–und zwar vor allem im deutschspra- chigen Raum –für das Phänomen der Behinderung und die Lebenssitua- tion behinderter Menschen interessiert« (Waldschmidt 2005, S. 9). Es geht dabei auch um eine Implementierung des Forschungsgegenstands in weite- re Fachdisziplinen und eine breitere wissenschaftliche Aufstellung des Ge- genstands in anderen Forschungsfeldern. In diesen Sinngebungsprozess sind aus heutiger Sicht die wissenschaftlichen Expertisen von Menschen mit Beeinträchtigung unverzichtbar mitzudenken.

»Die Berücksichtigung der Perspektive Betroffener, ihrer Erfahrungen, ihres Wis- sens, ihrer Befürchtungen und Kritik, die Anerkennung der divergenten Perspekti- ven der Individuen sowie die Bemühungen um Verständigungdies wären wichtige Schritte in Richtung eines kulturellen Wandels, die einer der wichtigsten und grundlegendsten Forderungen der Behindertenbewegung nachkämen: Nichts über uns ohne uns« (Dederich 2007, S. 194).

Diese Einblicke in die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Querschnitt- lähmung führen dazu, dass Wissenschaftler und Fachkräfte unterschiedli- cher Fachrichtungen in ihren Sichtweisen und Einschätzungen bezüglich des Lebens mit einer körperlichen Beeinträchtigung vor neue Herausfor- derungen gestellt werden und die emanzipatorischen Bestrebungen nicht ignorieren können. Die partizipative Sozialforschung erkennt Menschen mit Querschnittlähmung als Experten für ihr eigenes Leben an und nutzt diese Perspektive, um eine gemeinsame Forschung auf Augenhöhe von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zu realisieren.

Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

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Menschen mit Querschnittlähmung als Experten in eigener Sache

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Die Methode des Storytellings in der partizipativen Sozialforschung

Jessica Lilli Köpcke

Gefesselt

Gefesselt am eisernen Stuhl

Überfällt mich an dunklen Tagen ein kaltes Gefühl.

Überwältigt von Erinnerungen an vergangene Zeiten Als ich noch laufen konnte und auf Pferden reiten.

Die Sehnsucht nach stundenlangem Wandern Über riesige Steine springen von einem zum anderen Als ich in Seen und Flüsse sprang

Und unter Wasser die Schwerelosigkeit als absolute Freiheit empfand.

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