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Beethovens Metronomisierungsproblem

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Academic year: 2022

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(1)

Ludwig J. Grepmair

Beethovens Metronomisierungsproblem

Einleitu ng : Das Problem

Enthusiastisch begrüßte Beethoven die Erfindung des ersten brauch­

baren Metronoms (Metzger 1985). Er schwankte jedoch, wie auch andere bedeutende Komponisten " . . . to his own incredulous irri- · tation . . . " (Donington 1980, S. 675) in der Fixierung des Grund­

tempos seiner Kompositionen. Bei extrem genauer Fixierung von Kompositionen kommt ein Verlust des Spontanen, Quasi-Impro­

visatorischen derselben hinzu (Adorno 1984, Gülke 1985, S. 44f.).

Nach zäher Auseinandersetzung mit dem Gegenstand resignierte Beethoven:

"Es ist dummes Zeug, man muß die Tempos fühlen. hohl der Teufel allen Mechanismus."

(Beethoven, zitiert nach Frotscher 1984, S. 45)

Theoretischer Ansatz : Bezugssystem-Theorie nach Wi lhelm Witte Im Alltag werden ganz selbstverständlich Gegebenheiten mit "ab­

soluten Eigenschaften" etikettiert. Auch Musiker sprechen gleich dem Bild vom "kleinen" Elephanten und der "großen" Maus vom

"langsam" interpretierten Presto und "schnell" gespielten Largo.

Solcherlei "absolute Eigenschaften" sind phänomenal absolut, funktional jedoch relativ: Sie resultieren aus der Einordnung in ein unmerkliches kognitives Maßsystem (Bezugssystem). Bezugssysteme entstehen durch Vorerfahrungen mit Elementen eindimensionaler Steigerungsreihen, wie verschieden langen Bleistiften, verschieden hohen Tönen usf., und sind mnestisch, d. h. im Gedächtnis stabi­

lisiert. Elemente gleicher Art organisieren sich hierin zu einer Stei­

gerungsreihe nach Ähnlichkeit zu ihren "Polen", den Extremen und

(2)

Grenzen der Ähnlichkeitsreihe. (Vgl. Witte 1960, 1966, 1971, 1975 .) Experiment A: Mnestisch stabile Bezugssysteme?

Ausgangspunkt war die Beobachtung, daß sich Musiker in der Auf­

führungspraxis alter Musik bezüglich ihrer Temponahme sicher fühlen, dagegen unsicher bei zeitgenössischer Musik. Dazu paßt, daß Theodor W. Adorno (1963, zitiert nach Bastian 1985, S. 407) die allgemein mangelnde Hörfähigkeit der Rezipienten bei Neuer Musik u. a. mit dem Verlust stabiler Bezugssysteme erklärt. Es galt also, zunächst die Annahme der Existenz mnestisch stabiler Bezugssysteme musikalischer Tempi für Satzbezeichnungen bei alter Musik (wie Andante, Allegro etc.) zu prüfen.

Grundgedanke des Experiments ist, daß interindividuelle Beur­

teilungsübereinstimmung eine notwendige Voraussetzung mnestisch stabiler Bezugssyteme darstellt. Hierzu wurde eine Intervallbestim­

mung (Polbestimmung) der individuellen Systeme von Versuchs­

personen durchgeführt.

Methode

Versuchspersonen:

Versuchspersonen waren 18 Oberstufenschüler des Musikgymna­

siums der Regensburger Domspatzen. Sie alle waren Klavierspie­

ler, deren "technisches Können" am Klavier sehr verschieden war aufgrund ihrer Spezialisierung aufs Klavier oder andere Instrumen­

te. Wegen der profunden musikalischen Ausbildung im Musikgym­

nasium konnte dagegen bei allen von vertiefter musikalischer Emp­

findung ausgegangen werden.

Apparaturen:

Zur Registrierung der Tempobeurteilungen wurde ein mechani­

sches Metronom verwendet. Die Vpn wurden an das Klavier eines Übungsraumes des Gymnasiums gebeten.

158

(3)

Reizmaterial:

Die erste Notentextseite des von M. Clementi (1752-1832) kompo­

nierten Allegros der Sonatine in C, op. 36 Nr. 1 wurde den Vpn am Klavier vorgelegt. Dieses Allegro, ein "Klassiker des Anfängers", ist allen Domspatzen, auch denen des Experiments, wohlbekannt - mnestische Stabilisierung konnte vorausgesetzt werden.

Durchführung:

Die Vpn wurden einzeln untersucht. In einer "Einfindungsphase"

lasen die Vpn den Notentext und spielten ihn am Klavier. Dann sollten sie das Allegro im "optimalen Tempo" spielen (das für dieses Allegro musikalisch - nicht entsprechend dem technischen Könnens­

stand am Klavier - als ideal angesehen wurde) und das vor sich be­

findliche Metronom ins selbe Zeitmaß setzen (ohne dabei auf die Metronomskala zu sehen). Jetzt stellte der Vl das Metronom vom Punkt des jeweils "idealen" (Zeitmaßes) aus sukzessiv Grad für Grad schneller, ließ die Vpn synchron dazu Klavier spielen und urteilen, ob das Tempo "noch irgendwie vertretbar" sei für dieses Allegro. So wurde der "obere" Pol eruiert, und entsprechend der

"untere" Pol ("langsam-" bzw. "schnell-Grenze"). Schließlich schätz­

ten sich die Vpn selbst hinsichtlich technischen Könnens am Kla­

vier ein. Dazu waren folgende Kategorien vorgegeben: "schlechter",

"mittel", "besser" bezüglich Gymnasiumsdurchschnitt.

Abb. 1 stellt die gewonnenen Daten graphisch dar. An der Ab­

szisse ist die Temposkala, an der Ordinate die Vpn entsprechend ihrer Gruppenzugehörigkeit in technischer Hinsicht aufgetragen. Die horizontalen "Balken" markieren die individuellen System-Weiten, die dunklen Stellen darin die "idealen Tempi".

Wie unmittelbar aus Abb. 1 ersichtlich, besteht weder hinsicht­

lich Weite noch Lage der Systemumfänge interindividuelle Über­

einstimmung. Dabei wurde von den Vpn jedes Tempo außerhalb des jeweiligen Umfangs als "absolut falsch" angesehen ! Mit den Systemweiten variiert auch die Wahl der "idealen Tempi". Die Vpn erleben ihre Tempowahl als ausschließlich vom musikalischen

(4)

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Physikalische ( gleichabständige ) Skala

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Abb. 1: Tempo - Bezugssysteme der Versuchspersonen (physikalisch gleichabständige Skala)

(5)

Empfinden bestimmt. Dafür sprechen sowohl Äußerungen der Vpn als auch, daß alle Vpn das Allegro erhelblich schneller über die eruierte Obergrenze hinaus spielen konnten. Deutlich akzelerieren jedoch Pole und "ideale Tempi" je nach Gruppenzugehörigkeit bezüglich Technik.

Diskussion der Befunde von Experiment A

Die Vpn verfügten also nicht über ein Bezugssystem musikalischer Tempi (sensu Witte) für das vorgegebene Allegro. Der Informa­

tionsgehalt aus Notentext und Satzbezeichnung "Allegro" hinsieht- . lieh des Tempo heißt etwa "vermeide die langsamsten Tempi".

Anzunehmen ist, daß dieses unerfreuliche Ergebnis allgemein gül­

tig ist für alle Satzbezeichnungen wie Allegro, Andante, Presto etc . . Die Konversation von Musikern über "schnelle", "langsame",

"zu langsame" Tempi sowie die Kommunikation von Komponisten zu Interpreten durch eine Satzbezeichnung entbehrt offenbar der Grundlage. Der von Musikern unbemerkte Einfluß der "Technik"

aufs Tempo läßt vermuten, daß Virtuosen zu übereilten Tempi neigen. Die Spielpraxis einiger Virtuosen scheint dies zu bestätigen, bei anderen kommen vermutlich "mäßigende" intervenierende Variablen hinzu.

Experiment B: Probleme der Tempofixierung

In diesem Experiment urteilen die Vpn als Rezipienten. Behandelt werden Fragen der Tempofixierung. Die einzelnen Versuchsfragen lauten:

1 . Nimmt die Interpretationsweise von Instrumentalisten neben dem tatsächlichen (physikalischen) Tempo Einfluß auf die phä­

nomenale Schnelligkeit?

2. Bewirkt intensive theoretische und praktische musikalische Aus­

bildung eine Verfeinerung der Tempowahrnehmung?

3. Sind Tempo-Bezugssysteme erlernbar?

(6)

Methode

Angewendet wurde die Methode des absoluten Urteils nach Wever und Zener (1928). Einzelne Elemente von Steigerungsreihen werden sukzessive in Zufallsreihenfolge zur Absolutbeurteilung vorgegeben.

In diesem Experiment standen hierzu die drei Kategorien "1" (eher langsam), "m" (mittel) und "s" (eher schnell) zur Verfügung.

Versuchspersonen:

Die Versuche wurden an Gruppen zu je ca. 20 Vpn durchgeführt, insgesamt an n = 100 (unbezahlten) Vpn.

- drei Gruppen mit Domspatzen der 8. und 9. Klassen, die als Ex­

perten angesehen wurden (x = 1 4,6 Jahre), im folgenden be­

zeichnet mit "Dom 9"

- eine Gruppe Regensburger Domspatzen der 5. Klasse (x = 10,5 Jahre): "Dom 5"

- eine Gruppe Gymnasiasten eines Neusprachlichen Gymnasiums bei München der 9. Klasse (x = 1 5,2 Jahre): "KHG 9"

Apparaturen:

Für die Einspielurig des unterschiedlichen Reizmaterials auf Kassette, sowie dessen Wiedergabe vor den Vpn wurde ein Kassettenrekorder mit Verstärker und Boxen verwendet.

Reizmaterial:

Die dargebotenen Elemente bestanden aus den ersten vier Takten des von Experiment A bekannten Allegros. Dieser Abschnitt wurde verschieden variiert dargeboten:

1 . In zwei Systemreihen - "1" von = 132 bis 1 84 M.M.

- "s" von = 144 bis 200 M.M.

jede Reihe abgestuft in 15 Elementen.

2. - in einer von einer Virtuosin (Frau Prof. Pirner von der Musik­

hochschule München) auf dem Flügel eingespielten Fassung "P"

- in einer von einem programmierbaren Synthesizer mechanisch auf Kassette eingespielter Fassung "C".

162

(7)

3. die Temporeihen wurden in verschiedenen Zufallsreihenfolgen dargeboten.

Durchfü,hrnng:

Die Versuche wurden gruppenweise durchgeführt. In je einem Ver­

suchsdurchgang waren die 15 Elemente einer Temporeihe mit "l",

"m", oder "s" zu beurteilen. Hierzu wurden die Elemente mit ei­

nem Kassettenrekorder vorgespielt.

, Ein Überblick über die Versuchsdurchgänge verschafft Tabelle 1.

Durchgänge Ergänzungen

"Cl I Dom 9" Darbietungsreihe a, Gruppe: Dom 91, n

=

20

"Cl II Dom 9" Darbietungsreihe b, Gruppe: Dom 91, n

=

20

"Cl III Dom 9" Darbietungsreihe a, Gruppe: Dom 91, n

=

20

"Cs I Dom 9" Darbietungsreihe a, Gruppe: Dom 92, n

=

19

"Cs II Dom 9" Darbietungsreihe b, Gruppe: Dom 92, n

=

19

"Cs III Dom 9" Darbietungsreihe a, Gruppe: Dom 92, n

=

18*

"Pl I Dom 9" Darbietungsreihe a, Gruppe: Dom 93, n

·=

20

"Pl II Dom 9" Darbietungsreihe c, Gruppe: Dom 93, n

=

20

"Pl III Dom 9" Darbietungsreihe a, Gruppe: Dom 93, n

=

20

"Cl I Dom 5" Darbietungsreihe a, Gruppe: Dom 5, n

=

20

"Cl I KHG 9" Darbietungsreihe a, Gruppe: KHG 9, n

=

21

Tabelle 1: Bezeichnungen der Durchgänge und Ergänzungen.

* Eine Versuchsperson lieferte im dritten Durchgang ein nicht aus­

wertbares Protokollblatt ab.

(8)

Befunde

Die einzelnen Hypothesen werden in Auswertung und Ergebnissen im folgenden getrennt erörtert.

H 1 : Der Tempoeindruck der Vpn ist Funktion des physikali­

schen Tempos und der Interpretationsweise. Für die Prüfung der Hypothese wurden Durchgänge miteinander verglichen, bei wel­

chen die Vpn-Gruppen (bezüglich Alter und musikalischer Aus­

bildung) und die System-Reihen konstant waren - verschieden jedoch die Art der Einspielung: "P" (Virtuosin) vs. "C" (Synthe­

sizer). Verglichen wurden die Durchgänge "Cl I Dom 9", "Cl III Dom 9" mit "Pl I Dom 9" und "Pl III Dom 9".

Abb. 2 und Abb. 3 zeigen zwei der verglichenen Durchgänge in Form von Gruppen-Häufigkeitspolygonen.

Urteilshäufigkeit n a 20 20

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Abbildung 2: Polygon des Durchgangs "Cl I Dom 9".

Die Elemente sind hierin nach Tempoausprägung auf den Ab­

szissen angetragen, die Urteilshäufigkeiten auf den Ordinaten. Die durchgezogenen Linien stehen für die Mittel-Urteile, die dunkel schraffierten für die Langsam-Urteile und die hellschraffierten Linien für die Schnell-Urteile. Die Schnittpunkte der Linien be­

stimmen die Zäsuren zwischen den Kategorial-Abschnitten.

164

(9)

PL I Dom 9 Uneilshäufigkeit n � 20

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 1 0 1 1 1 2 1 3 1 4 1 5 Element Nr.

1 32 1 35 1 38 1 41 1 44 1 48 1 52 1 5 6 16() 164 168 172 1 76 1 00 1 8 4 MM •

Abbildung 3: Polygon des Durchgangs "Pl I Dom 9"

Bereits optisch ist im "Interpreten-Durchgang" eine stärkere Ausprägung des "Schnell-Bereichs" und eine geringere des "Langsam­

Bereichs" feststellbar. Im chi2-Test waren entsprechend die Diffe­

renzen der Kategorialurteils-Häufigkeiten bei allen vier vergleich­

baren Durchgängen mit ex: = 0.1 und ex: = 0.025 signifikant ver­

schieden. Hl wurde angenommen.

H2: Die Domspatzen als Experten nehmen musikalische Tempi differenzierter wahr als gleichaltrige Gymnasiasten eines Neusprach­

lichen Gymnasiums.

Hierzu wurden die Durchgänge "Cl I Dom 9" und "Cl I KHG 9"

verglichen. Identisch sind in diesen Durchgängen die Elementvor­

gaben, verschieden jedoch die Vpn-Gruppen: "Experten" vs.

"Laien".

Die Gruppen-Polygone unterschieden sich optisch nicht erkennbar.

Eine genauere Prüfung der Hypothese mittels dem wenig sensiblen

"Labilitätsindex" von Forner (1974) & Bräuer (1971) befriedigte nicht. So war es notwendig, einen sogenannten "falsche-Urteile-Index"

(f.U.I.) zu entwickeln; dieser definiert sich ganz einfach aus dem Quotient

(10)

Summe falscher Urteile

= X 100

Summe aller Urteile

Die von den Vpn selbst angegebenen Bereichszäsuren bestimmen hierbei, was ein "falsches" Urteil ist: alle s- und m-Urteile sind im 1-Bereich des Gruppen-Durchgangs. Analoges gilt für die anderen Bereiche. Der Wert lautet für die Experten f. U. I. = 19.67 und für die Laien f. U. I. = 20. Natürlich war die Differenz im chi2-Test nicht signifikant, H2 kann also nicht bestätigt werden.

H3: Domspatzen der 8. und 9. Klasse nehmen musikalische Tempi differenzierter wahr als jüngere Domspatzen der 5. Klasse (durchschnittliche Altersdifferenz: 4,2 Jahre).

Der Vergleich der entsprechenden Durchgänge (Cl I Dom 9 mit Cl I Dom 5) erbrachte ein zur vorigen Hypothese analoges Ergebnis.

Die f. U. I.'s lauteten 1 9,67 für die 9. Klasse und 18,67 für die 5. Klasse.

H<:Alle Vpn-Gruppen "lernen" im Verlauf des Experiments die verschiedenen Tempo-Be�ugssysteme (Temporeihen) für das unter­

suchte Allegro.

Bereits nach der Darbietung der ersten beiden Elemente (im Bsp. der Abb. 4 die Elemente Nr. 2 und Nr. 5) urteilen die Vpn

Urteilshäufigkeit n • 1 9 20

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2 3 4 5 6 7 8 9 1 0 1 1 1 2 1 3 1 4 1 5 Element Nr.

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Abbildung 4: Polygon des Durchgangs "Cs I Dom 9".

166

(11)

CS II Dom 9 Urteilshäufigkeit n - 19

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Abbildung 5: Polygon des Durchgangs "Cs II Dom 9".

Urteilshäufigkeit n = 1 8 1 8

1 6 1 4 1 2 1 0 8 6 4 2 0

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Abbildung 6: Polygon des Durchgangs "Cs III Dom 9".

in sämtlichen Durchgängen im Sinne der vorgegebenen Tempo­

reihen. Sämtliche Polygone folgen der von Witte prognostizierten Äquidistanz der Kategorialabschnitte, was graphisch ersichtlich war, und auch ein Vergleich der durch Vektorenrechnung (nach Gruber-Kubowitsch und Kubowitsch 1983) ermittelten empiri­

schen Zäsurstellen mit den nach Heller (1959) berechneten theo­

retisch erwarteten Zäsurstellen bei drei Kategorien ergab.

(12)

Diskussion der Befunde von Experiment B

Die Interpretation oder "Auffassung" einer Komposition bestimmt den Tempoeindruck des Hörers mit. Musikern ist es ein geläufiger Tatbestand, daß man das Tempo schneller (oder langsamer) "ma­

chen" kann. Entgegen der Annahme· der Musiker und im Gegensatz zum Sachverhalt bei anderen musikalischen Parametern (Kormann·

1 98 5) wird das musikalische Tempo nicht inzidentell "gelernt".

Die Annahme von H4 bestätigt die Gültigkeit von Wittes Bezugs­

systemtheorie auch für musikalische Tempi. "Richtig" werden die Elemente entsprechend ihrem "Ort" auf den Temporeihen beurteilt.

Gesamtdiskussion

Mit Experiment A wurde die Existenz individueller Tempo-Bezugs­

systeme nachgewiesen (durch die Existenz von Systemweiten) - mit Experiment B stellte sich zudem die Richtung des funkti­

onalen Zusammenhangs von "idealem Tempo" mit Systemweite und Lage heraus, denn

1 . richteten die Vpn ihre Urteile auf die Systemreihen der Ele­

mente aus,

2. kovariierten die idealen Tempi in Experiment A mit den zuge­

hörigen Systemen.

Allgemeiner Musikermeinung zufolge soll das Vortragstempo einer Komposition einem alleinigen "Bezugspol", einem fiktiven

"idealen Tempo", möglichst nahe kommen. Die angestellten Schluß­

folgerungen hingegen entpuppen den vermeintlichen Bezugspol

"ideales Tempo" als auf unscheinbare Pole bezogen und sich ein­

stellend. Die vorgefundenen Verhältnisse lassen sich aufs beste mit Zimmers ( 1 980) Anwendung der Theorie unscharfer Mengen von Zadeh ( 1 97 5) auf Wittes Bezugssystem-Theorie vereinbaren.

In Zimmers Modell gehören die Elemente eines Bezugssystems jeder Kategorie an und nehmen nach Grad ihrer Bereichszugehö­

rigkeit Werte zwischen O und 1 an (s. Abb. 5 ).

168

(13)

? .::: Po[

i ::: idealos Tempo

0 p i p

Temposkala

Abb. 5: Tempobezugssystem der Musiker bzw. Zugehörigkeits­

funktion zur Menge akzeptierter Tempi

Das "ideale Tempo" wird als "guter" bzw. "bester Vertreter"

möglicher Tempi aufgefaßt. Der in Abb. 5 schraffierte Bereich entspricht den dem Bewußtsein zugänglichen und im Vortrag ge­

wählten Tempi, vermutlich auch der Größenordnung sog. variab­

ler Metronomangaben (Goebels 1961, Sp. 235).

Folgerungen für die Musikpraxis

Für die Komponisten folgt, daß Temposchwankungen bei der Fest­

legung eines "Ideal-Tempos" noch nicht besagen, es bestehe keine begründete Tempo-Vorstellung. Erst das Herausfinden, ob die Be­

zugssystem-Pole eines Komponisten zeitlich überdauernd in etwa konstant sind, kann diese Frage beantworten. Um mehr als die grobe Richtung ihrer Tempovorstellung �itzuteilen, sollten T(omponisten bei Temponotationen ihre Bezugssystem-Pole an­

geben. Der Einfluß der Interpretationsweise auf den Tempoein-

(14)

druck legt auch eine Angabe über die Tempoauffassung nahe, z. B.

in den drei Kategorien "Langsamer-Machen", "Tempoauffassung identisch mit tatsächlichem Tempo", "Schneller-Machen".

Durch ". . . die Kenntnis der Gesamtserie plus größenbezogene Beschäftigung mit der Serie . . . " (Gierlatzek et al. 1 982, S. 3 ) steht nunmehr dem Instrumentalisten eine Methode zur Verfügung, das Tempo zu üben. Die Komposition soll also in Tempi gespielt werden, die in zufälliger Reihenfolge auf der Reihe möglicher Be­

zugssystem-Tempi liegen. Natürlich ist noch zu erproben und zu untersuchen, ob das Gelernte überdauernd sein würde. Vergleich­

bares wird unspezifisch von Musikern bereits praktiziert: so rät der Pianist Andor Foldes (Foldes 1986), sich möglichst viele Darbietungen eines gerade studierten Werkes anzuhören, da so Stil, Dynamik, Tempo und Schattierung größere Bedeutung ge­

winnen würden. Die Vorteile des vorgeschlagenen Verfahrens sind offensichtlich: die ganze "Tempo-Gestalt" ist mitteilbar, die Inter­

pretationsfreiheit nicht genommen, aber in konkreten Grenzen gehalten. Bereits Adorno (1984, S. 440) bemerkte, daß " . . . die Gehalte des dargestellten Werkes" "Grenzen" bestimmen, inner­

halb derer sich die Freiheit der Interpreten bewegt, so sie nicht

"offene Willkür" werden soll.

Mit der neuen Methode versucht der Interpret nicht mehr wie bisher üblich " . . . den Sinn des Componisten aus dem Inhalte zu errathen . . . " (Quantz 1789, S. 111, § 2), also das "richtige Tem­

po" aus dem Notentext zu schließen, vielmehr stellt hier das "Tem­

pobezugssystem" eine weitere Hilfe dar, den Geist der Komposi­

tion nachzuspüren.

Zusammenfassung

Untersuchungsgegenstand ist die Schwierigkeit der Komponisten, ihre Werke zu metronomisieren, sowie die der Interpreten, dem

"Gedanken" von Tempo und Komposition nachzuspüren.

Den experimentellen Zugang ermöglichen Wittes (1960, 1966)·

170

(15)

Bezugssystemtheorie und Wever und Zeners ( 1 928) Methode des absoluten Urteils.

In Experiment A spielen Musiker ein Allegro am Klavier in ver­

schiedenen Tempi und beurteilen deren Eignung zur Interpreta­

tion.

In Experiment B hören "Laien" und "Musiker" einen Ausschnitt des nämlichen Allegro in Kombinationen verschiedener Tempi und Interpretationsweisen. Die Darbietungen werden hinsichtlich der Tempi absolut beurteilt.

Es gibt bisher keine Methode des Tempoübens. Die Ergebnisse besagen, daß das musikalische Tempo auch nicht inzidentell gelernt wird.

Die Tempobezugssyteme der Interpreten stimmen mangelhaft überein und sind auch Funktion der technischen Beherrschung des Instruments, die Tempowahrnehmung wird im Lauf musika­

lischer Ausbildung nicht differenzierter, das Tempogedächtnis ist fragwürdig. Weitere Ergebnisse sind, daß die Tempowahrnehmung auch durch die Interpretationsweise beeinflußt wird, also kom­

plexer als gemeinhin angenommen ist, und daß, da Systemweiten existieren und verschiedene Bezugssysteme "gelernt" werden, das

"ideale Tempo" einer Komposition ein "guter Vertreter" geeig­

neter Tempi (sensu Zimmer 1 980) ist, der sich, funktional von unscheinbaren Polen abhängig, einstellt. Das Problem der Metro­

nomisierung wird im Licht der Ergebnisse und der Bezugssystem­

theorie gesehen. Vorgeschlagen wird eine Methode des Metronomi­

sierens und des Tempoübens.

Summary

There are two experiments reported. Experiment 1 shows that musicians have a different frame of reference for the tempo of a musical piece. Experiment 2 shows that the assessment of the musical tempo is very complex depending on general factors of musical interpretation.

(16)

Literatur

Adorno, T. W. ( 1 984) -Zum Problem der Reproduktion. Gesammelte Werke/Theodor W . Adorno. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1 9. 440-444.

Bastian, H. G. ( 1 985) -Zeitgenössische Musik. In: H. Bruhn, R. 0erter, H . Rösing (Hg.) , Musikpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsse/begriffen. München : Urban & S chwarzen­

berg. 406-4 1 3 .

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