• Keine Ergebnisse gefunden

Max Webers Begriffspolitik

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Max Webers Begriffspolitik"

Copied!
27
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Max Webers Begriffspolitik

Aufsätze aus zwei Jahrzehnten Kari Palonen

Politics-Debates-Concepts l 6

Politik-Debatten-Begriffe

(2)

Wissenschaftlicher Beirat:

Alan Finlayson (East Anglia, Großbritannien) Olivia Guaraldo (Verona, Italien)

Irène Herrmann (Genève, Schweiz) José María Rosales (Málaga, Spanien) Quentin Skinner (London, Großbritannien)

Patricia Springborg (Bolzano, Italien, und Berlin, Deutschland) Willibald Steinmetz (Bielefeld, Deutschland)

Nadia Urbinati (New York, USA) Ole Waever (Kopenhagen, Dänemark)

Politics-Debates-Concepts Politik-Debatten-Begriffe Herausgegeben von Prof. Dr. Claudia Wiesner Prof. Dr. Kari Palonen Band 6

BUT_Palonen_5380-2.indd 2 10.05.19 13:50

(3)

Aufsätze aus zwei Jahrzehnten

Max Webers Begriffspolitik

Kari Palonen

(4)

© Cover picture: Haeferl (http://commons.wikimedia.org)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8487-5380-2 (Print) ISBN 978-3-8452-9519-0 (ePDF)

1. Auflage 2019

© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019.Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

BUT_Palonen_5380-2.indd 4 10.05.19 13:50

(5)

Inhaltsverzeichnis

Ursprüngliche Publikationen 7

Abkürzungen für die Weber-Editionen 9

Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

1. 11

I Begriffe als Politikum

Max Weber als Begriffspolitiker

2. 27

Die Umstrittenheit der Begriffe bei Max Weber

3. 49

Die Verzeitlichung der Begriffe bei Max Weber

4. 67

Max Webers politischer Begriff der „Objektivität“

5. 89

II Politik der Begriffe

Politik statt Ordnung Figuren der Kontingenz bei Max Weber

6. 119

Zur Rhetorik des Berufspolitikers.

Historische und idealtypische Betrachtungen im Anschluss an Max Weber

7.

135 Macht als Chance.

Zur Geschichte von Max Webers politischer Innovation 8.

159 Herrschaft und Rhetorik bei Max Weber

9. 173

Herrschaftspolitik

10. 185

Was hätte Max Weber zu Hannah Arendt gesagt?

Reflexionen zu Hannah Arendts Kritik der repräsentativen Demokratie

11.

197 Der Begriff des Parlamentarismus bei Max Weber

12. 217

(6)

III Weber bei den Politikern

Parlamentarisches Bretterbohren.

„Max Weber“ in Plenardebatten 13.

233

Personen- und Begriffsverzeichnis 267

Inhaltsverzeichnis

6

(7)

Ursprüngliche Publikationen

1 Zum Geleit – Das Denken in Chancen (Originalbeitrag) I Begriffe als Politikum

2. Max Weber als Begriffspolitiker. Etica & Politica/Ethics & Politics. 2005, 2. https://www.openstarts.units.it/bitstream/10077/5342/1/Palonen_E

%26P_VII_2005_2.pdf (Creative Commons license (CC BY-NC-SA 2.5 IT) http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.5/it/)

3. Die Umstrittenheit der Begriffe bei Max Weber. Archiv für Begriffsge- schichte, Sonderheft 1, Gunter Scholz (Hg.) Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. (2000), 145-159.

4. Die Verzeitlichung der Begriffe bei Max Weber. In: Jussi Kurunmäki und Kari Palonen (Hg.) Zeit, Geschichte und Politik /Time, History and Politics. Zum achtzigsten Geburtstag von Reinhart Koselleck, Jyväskylä Studies on Education, Psychology and Social Research, 223 , 2003, 85-104.

5. Max Webers politischer Begriff der ‚Objektivität‘. Unveröffentlicher Vortrag am Warburg-Haus, Universität Hamburg 28.11. 2006, aktuali- siert 2017.

II Politik der Begriffe

6. Politik statt Ordnung. Figuren der Kontingenz bei Max Weber. In:

Hans J. Lietzmann (Hg.) Moderne Politik. Politikverständnisse im 20.

Jahrhundert. Opladen: Leske+Budrich, 2001, 9-23.

7. Zur Rhetorik des Berufspolitikers. Historische und idealtypische Be- trachtungen im Anschluss an Max Weber. In: Michael Edinger und Werner J. Patzelt (Hg.) Politik als Beruf. Politische Vierteljahrsschrift Son- derheft, 44/2010, 51-69.

8. Macht als Chance. Zur Geschichte von Max Webers politischer Inno- vation. In: Carola Häntsch (Hg.) Philosophieren im Ostseeraum. Beiträge des Nord- und osteuropäischen Forums für Philosophie. Wiesbaden: Harra- sowitz Verlag, 2004 161-172.

9. Herrschaft und Rhetorik bei Max Weber. Vorgänge. Zeitschrift für Bür- gerrechte und Gesellschaftspolitik, Jg. 41, Heft 160, 2002, 59-67.

(8)

10. Herrschaftspolitik. Besprechung von Wolf-Dieter NARR, Niemands- Herrschaft. Eine Einführung in Schwierigkeiten, Herrschaft zu begreifen.

Herausgegeben von Uta v. Winterfeld. Soziologische Revue Jg, 39, 2016, 571-582.

11. Was hätte Max Weber zu Hannah Arendt gesagt? Reflexionen zu Han- nah Arendts Kritik der repräsentativen Demokratie. In: Symbole, Re- präsentation, Institution. Festschrift Gerhard Göhler, Hg. Hubertus Buch- stein und Rainer Schmalz-Bruns. Baden-Baden: Nomos 2006,

199-213.,

12. Der Begriff des Parlamentarismus bei Max Weber. In: Zur kritischen Theorie der politischen Gesellschaft. Festschrift für Michael Th. Greven zum 65. Geburtstag, Hg. Olaf Asbach, Rieke Schäfer, Veith Selk und Alexander Weiß. Springer VS-Verlag: Wiesbaden 2012, 195-206.

III Weber bei Politikern

13. Parlamentarisches Bretterbohren. Max Weber in Plenardebatten (Ori- ginalbeitrag)

Ursprüngliche Publikationen

8

(9)

Abkürzungen für die Weber-Editionen

GASS Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Hg. Marianne Weber. Tübingen: Mohr, 1924 [1988].

GASW Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Hg. Marianne Weber. Tübingen: Mohr 1924 [1988].

GAW Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hg. Johannes Winckelmann.

Tübingen: Mohr 1922 [1973].

GPS Gesammelte politische Schriften, Hg. Johannes Winckelmann. Tübingen:

Mohr 1921 [1971].

MWG I/4 Max-Weber-Gesamtausgabe, Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volks- wirtschaftspolitik: Schriften und Reden 1892–1899, Hg. Wolfang J. Mommsen und Rita Aldenhoff. Tübingen: Mohr 1993.

MWG I/6 Max-Weber-Gesamtausgabe. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums. Hg. Jürgen Deininger. Tübingen: Mohr 2006.

MWG II/5 Max-Weber-Gesamtausgabe, Briefe 1906–1908, Hg. Wolfang J. Momm- sen und M. Rainer Lepsius. Tübingen: Mohr 1990.

MWG II/6 Max-Weber-Gesamtausgabe, Briefe 1909–1910, Hg. Wolfang J. Momm- sen und M. Rainer Lepsius. Tübingen: Mohr 1994.

MWG II/9 Max-Weber-Gesamtausgabe, Briefe 1915–1917, Hg. Gerd Krumreich und M. Rainer Lepsius. Tübingen, Mohr, 2008.

MWG III/7 Max-Weber-Gesamtausgabe, Allgemeine Staatslehre und Politik. Mit- und Nachschriften 1920, Hg. Gangolf Hübinger. Tübingen: Mohr 2009.

MWS I/8 Max-Weber-Studienausgabe, Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik, Schriften und Reden 1900-1912, Hg. Wolfgang Schluchter und Wolfgang Schwendtker.

Tübingen: Mohr 1999.

MWS I/10 Max-Weber Studienausgabe, Zur Russischen Revolution, Schriften und Reden 1905–1912, Hg. Wolfgang J. Mommsen und Dittmar Dahlmann. Tübin- gen: Mohr 1996.

MWS I/15 Max-Weber-Studienausgabe, Zur Politik im Weltkrieg, Schriften und Re- den 1914–1918, Hg. Wolfgang. J. Mommsen und Gangolf Hübinger. Tübingen:

Mohr 1988.

MWS I/16 Max-Weber-Studienausgabe 1/16, Zur Neuordnung in Deutschland, Schriften und Reden 1918–1920, Hg. Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwendtker. Tübingen: Mohr 1991.

MWS I/17 Max-Weber-Studienausgabe, Wissenschaft als Beruf, Politik als Beruf, Hg.

Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter und Birgitt Morgenbrod. Tübin- gen: Mohr 1994.

MWS I/19 Max-Weber-Studienausgabe. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen I.

Hg. Ekkhard Otto und Julia Offermann. Tübingen: Mohr 2008.

(10)

PE Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, Hg. Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, Bodenheim: Athenäum 1904/5/1920 [1993].

PE I Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus I, Hg. Johannes Winckelmann. Gütersloh: Siebenstern 1920 [1969].

PE II Protestantische Ethik II, Kritiken und Antikritiken, Hg. Johannes Winckel- mann. Gütersloh: Siebenstern 1978.

WuG Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe. Hg. Johannes Winckelmann.

Tübingen: Mohr 1922 [1980].

Abkürzungen für die Weber-Editionen

10

(11)

Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

„Jeder von uns … in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft“, schreibt Max Weber in Wissenschaft als Beruf (Weber 1919b, 8).

Heute wissen wir, dass dies im Fall von Weber selbst nicht zutrifft. Der Name Max Weber und sein Werk sind heute bekannter als zu seinen Leb- zeiten (1864-1920). Zwar war er schon damals in vielfacher Hinsicht in deutschsprachigen akademischen und öffentlichen Debatten präsent, aber sein Werk wurde zum erheblichen Teil erst postum publiziert bzw. für ein breiteres Publikum zugänglich gemacht.

Fast hundert Jahre nach seinem Tod wird Max Weber in vielen Ländern in den verschiedensten Zusammenhängen zitiert. Er ist ein Klassiker meh- rerer Disziplinen, ein wahrer akademischer Mehrkämpfer, welche heute so nicht mehr entstehen, wie es Weber selbst vorausgesagt hat. Zugleich ist er weiterhin ein brauchbarer Lieferant von unzähligen Stichworten und Bon- mots, die aus dem Zusammenhang seines Werks gerissen zu beliebigen Themen in aktuellen Kontexten anwendbar bleiben.

Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist eine profes- sionelle Weber-Forschung entstanden, und man kennt heute den Textkom- plex „Max Weber“ viel besser als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Max- Weber-Gesamtausgabe (+Studienausgabe), eine kritische Edition mit umfas- senden Kommentaren, wird demnächst mit bislang unveröffentlichten Briefen und Vorlesungsunterlagen vervollständigt, Die alten Editionen sind in digitalisierter Form verfügbar. Für die internationale Debatte ist die von Sam Whimster in London seit 2001 herausgegebene Zeitschrift Max Weber Studies der primäre Referenzpunkt. Zum 150. Geburtstag Webers wurden zwei umfassende Biographien (Käsler 2014; Kaube 2014) veröffent- licht. Konferenzen, Tagungen und Workshops zu Weber werden regelmä- ßig veranstaltet.

Webers internationale Berühmtheit hat auch ihre Tücken. „Jeder“

scheint zu wissen, was Weber geschrieben hat. Vor allem in anglophonen Ländern (skandinavische Länder eingeschlossen) ist ein Textbook-Bild von

„Max Weber, the German sociologist“, kanonisiert worden. Dieses Bild geht einher mit der Vorstellung, Weber habe etwa eine fertige „Bürokratie- theorie“ oder „Legitimationstheorie“ entworfen, die dann scheinbar leicht

1.

(12)

empirisch zu „widerlegen“ ist. Webers Begriffe und Fragestellungen blei- ben jedoch Teil vieler Debatten. Trotzdem ist es nicht einfach, den einst er- lernten Textbook-Weber los zu werden. Heute besteht im Weber-Verständnis eine breite Kluft zwischen den akademischen Generalisten und den Webe- rologen. Die zweitgenannten kennen seine Texte und Kontexte genauer und haben seit den achtziger Jahren die Professionalisierung der For- schung vorangetrieben.

Die deutschsprachige Rezeption Webers hatte immer auch eine politi- sche Dimension. Mit Wolfgang J. Mommsens Dissertation Max Weber und die deutsche Politik (1959, ergänzte Version 1974) wurde Weber, der zuvor als ein Liberaler gepriesen worden war (s. Heuss 1958), zum Nationalisten und Vertreter der „plebiszitären Führerdemokratie“. Mommsen interpre- tierte Parlamentarismus bei Weber als bloße Führerauslese und kritisierte, Weber habe den Parlamentarismus zugunsten des direkt gewählten Reichs- präsidenten aufgegeben und sei damit zum Vorläufer Carl Schmitts gewor- den (zur Kritik z.B. Anter 2016, 145-150). Obwohl Mommsen viel für die Kontextualisierung des Weberschen Werks getan hat, ist er das Beispiel ei- nes traditionellen Historikers, der weder detaillierte Textanalyse betreibt noch die Rhetorik der Begriffsanwendung studiert (s. Palonen 2001).

Die Umorientierung der politologischen Weber-Forschung ist vor allem das Verdienst von Wilhelm Hennis, der mit seinen Buch Max Webers Frage- stellung (1987) auch einen Linksweberianer wie Wolf-Dieter Narr begeister- te (private Mitteilung an KP). Hennis distanzierte sich von Weber als So- ziologen und Rationalitätstheoretiker und las Weber als Nietzscheaner im Kontext zeitgenössischer Debatten, thematisierte Begriffe wie Lebensfüh- rung und Menschentum bei Weber. Hennis bezog Weber auch auf die „repu- blikanische“ Tradition der politischen Urteilskraft, wie John Pococks The Machiavellian Moment (1975) sie vertritt. Der jung gestorbene Historiker Detlef Peukert (1989) hat den nietzscheanischen Aspekt in Webers Wissen- schaftstheorie ebenfalls mit Recht betont.

Max Weber fand Formeln für Begriffe wie Staat, Herrschaft oder Macht, die zu Gemeinplätzen in der akademischen Literatur seit dem Zweiten Weltkrieg wurden. Es ist das Verdienst der historisch und kontextuell ori- entierten neueren Weber-Forschung, einen neuen Fragekomplex in Bezug auf das Werk Webers erschlossen zu haben: Wozu und wie sind Webers Formeln entstanden? Gegen welche Konventionen und Traditionen pole- misiert Weber mit diesen Formeln?

Für meine Studien haben mir die Weber-Deutungen von Hennis und anderen (etwa Scaff 1989, Colliot-Thélène 1990 und 1992, Llanque 2000) vor allem zur Abgrenzung vom textbook-Weber geholfen. Mit meiner be- 1. Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

12

(13)

griffsgeschichtlichen und rhetorischen Sicht, zusammen mit historischen (s. Palonen 1985, 2006) und idealtypischen Studien zum Politikbegriff (Pa- lonen 2003a sowie andere Aufsätze in Palonen 2007, s. auch Wiesner, Haa- pala, Palonen 2017) habe ich vermocht, mir ein eigenes Profil unter den Weberologen zu schaffen. Ich benutze eine Webersche politische Einbil- dungskraft, die politologisch mit Idealtypen und Gedankenexperimenten operiert. Dabei stelle ich Fragen, wie: Welche Arten von Sprechakten und rhetorischen Schachzügen sind Webers eigene Formulierungen? Welche weiteren Chancen für die Umbildung der Begriffe enthalten sie?

Meine Weber-Bücher

Die hier veröffentlichten Studien sind Nebenprodukte meiner drei Bücher zu Weber: Das ‚Webersche Moment‘. Zur Kontingenz des Politischen (1998);

Eine Lobrede für Politiker. Kommentar zu Max Webers ‚Politik als Beruf‘

(2002a) sowie „Objektivität“ als faires Spiel. Wissenschaft als Politik bei Max Weber (2010b). Das gemeinsame Thema dieser Bände ist, grob gesprochen, der handlungs- und kontingenztheoretische Politikbegriff.

‚Das Webersche Moment‘ entwirft eine Art Makroperspektive zur Ge- schichte der Politik als kontingenter Aktivität. Im Verständnis des Begriffs der Kontingenz, der sich seit den achtziger Jahren eines zunehmenden aka- demischen Interesses erfreut, bildet Weber, so meine These, einen Wende- punkt im Verständnis und in der Ausnutzung der Kontingenz von Begrif- fen und Handlungen. Wenn Pocock in The Machiavellian Moment die Über- windung der fortuna durch virtù behandelt, so hat für Weber die Bürokrati- sierung als universelle Tendenz die fortuna marginalisiert. Als Gegenge- wicht zu dieser Tendenz entwirft Weber mit dem Begriff der Chance ein an- deres Bild von der Kontingenz, das es ihm ermöglicht, sowohl die Kontin- genz des Handelns und der Politik zu verstehen als auch ein Denken gegen die Bürokratisierung zu entwerfen. Das Buch bietet eine Perspektive zur Weberschen Wende als eines Momentums im politischen Denken, das die Bedeutung des Chancenbegriffs für die politische Theorie des 20. Jahrhun- derts aufzeigt.

Die Lobrede enthält eine detaillierte Lektüre von Webers Politik als Beruf und analysiert den Politikbegriff aus der Sicht des Politikers. Das Buch zeigt die Vielfalt der Zugänge zur Thematisierung der Politik, wie sie in der kleinen Schrift zu finden sind. Der Titel weist darauf hin, dass die Schrift den idealtypischen Politiker nicht nur beschreibt, sondern ihn auch im Sinne der epideiktischen Rhetorik aufwertet. Berufs- und Gelegenheits- 1.

1. Meine Weber-Bücher

(14)

politiker sind bei Weber nicht nur analytische Kategorien, sondern auch Wertbegriffe, vor allem als Gegenfiguren zum Beamten und Experten.

Das „Objektivität“-Buch entwirft eine handlungstheoretische Sicht auf die Wissenschaft als Sonderfall der Politik im Sinne der Betonung der Kon- tingenz und des Wertes von Debatten. Weber betont die Allgegenwart und den heuristischen Wert akademischer Streitigkeiten um Begriffe, Theorien und Fakten. Er fordert dazu auf, akademische Debatten offen auszutragen und im Sinne des fair play -Prinzips zu verstehen, wobei ihm als Muster die parlamentarische Geschäftsordnung und Debattenkultur britischer Prä- gung dient. Ansätze für eine „parlamentarische“ Erkenntnis- und Wissen- schaftstheorie findet man im Umfeld des Westminster-Parlamentarismus seit der Renaissance, etwa bei John Stuart Mill und Walter Bagehot (dazu Palonen 2016). Niemand hat jedoch die akademischen Kontroversen nach dem fair play-Modell so eindeutig interpretiert wie Weber.

Mein Aufsatzband A Political Style of Thinking. Essays on Max Weber (Pa- lonen 2017b) präsentiert einige der Leitgedanken dieser drei Bücher in englischer Sprache. Das Englische ist zur lingua franca der akademischen Welt geworden, und dies prägt auch die Debatten über Weber. Schon die Übersetzungen der Weberschen Schriften sind umstritten und wurden in letzter Zeit revidiert. Die Abfolge der Aufsätze in dem Band erlaubt es dem Leser, die Entwicklung meines Denkens mit und über Weber relativ genau verfolgen. Neuerdings sind weitere Beiträge zu Webers Werk entstanden (s.

Palonen 2016b, 2017a,c), ebenso wie Weber-inspirierte Schriften zum Par- lamentarismus (Palonen 2018a,b).

Begriffspolitik mit Chancen

Die hier veröffentlichten Aufsätze sind nicht bloße Nebenprodukte zu Bü- chern. Sie vertiefen vielmehr den Blick auf die Grundsätze und Praktiken des spezifisch Weberschen Umdenkens der Begriffe.

Der erste Teil „Begriffe als Politikum“ thematisiert, wie Weber als Nomi- nalist den konventionellen Gebrauch von Begriffen zu akzeptieren scheint, dabei jedoch zugleich die vorherrschenden Interpretationen verwirft und mit seiner eigenen Sicht ersetzt. Mit einem von Quentin Skinner (1996, 2007) bekannt gemachten und aus Antike und Renaissance stammenden rhetorischen Schemas kann man sagen, dass Weber ein paradiastolisches Umschreiben der Begriffe betreibt (vgl. Palonen 2004).

Der Begriff der Chance gibt uns den begrifflichen Schlüssel zu dieser rhetorischen Umprägung. Der Begriff der Chance bietet für Weber das Me- 2.

1. Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

14

(15)

dium, den gängigen Begriffsgebrauch zu dekonstruieren und den natura- listischen, essentialistischen, substantialistischen, kollektiven und zeitlosen Charakter der Begriffe abzustreiben. Weber macht diese Strategie gelegent- lich explizit, etwa bezüglich der Begriffe Staat und Herrschaft.

Aus Webers Sicht sind Begriffe als Chancenkomplexe zu verstehen. Am deutlichsten wird dies in den von ihm selbst umgearbeiteten ersten Kapi- teln von Wirtschaft und Gesellschaft (Weber 1922, jetzt neu herausgegeben im Band MWG/MWS I/23, s. auch Weber 1913). Mit lexikalischer Absicht im Kontext des Gesamtwerks Grundriss der Sozialökonomik präsentiert Weber die eingeführten Begriffe als eine systematische Reihe von Chancen- typen, d.h. der jeweils mit dem Begriff thematisierten Art der idealtypi- schen Möglichkeiten des Handelns und dessen begrifflichen Grenzen.

Wenn er z.B. Macht als amorph beschreibt und sie damit von der Herr- schaft unterscheidet, wird der Unterschied zwischen den Chancentypen so dargestellt, dass Macht auf diffusere, unstrukturierte Situationen des Han- delns hinweist. Dagegen verweist Herrschaft auf einen Sonderfall der Macht, der durch eine asymmetrische Struktur der Chancen unter den Be- teiligten gekennzeichnet ist. Im Rahmen von Herrschaft stehen den Betei- ligten oder den Betroffenen Chancen des Zum-Gehorsam-Bringens bzw.

der Gehorsamsverweigerung in verschiedenen Graden zur Verfügung.

Carl Schmitt hat früh die Bedeutung der Chance für die Webersche Be- griffsbildung erkannt. In einer Fußnote zu Legalität und Legitimität schreibt er:

Das Wort Chance bleibt hier unübersetzt. Es gehört eigentümlich zur Denkweise und Mundart eines liberalen Zeitalters, der freien Konkur- renz und der expectation und trifft die Mischung von Glücksfall und Gesetzesmäßigkeit, Freiheit und Berechenbarkeit, Willkür und Haft- barkeit, wie sie dieser Ära charakteristisch ist. … In der Soziologie Max Webers kommt ‚Chance‘ besonders häufig vor (Schmitt 1932, 30).

Die Stelle verweist auf den entscheidenden Unterschied zwischen Schmitt und Weber sowohl in der Situationsdeutung – für Schmitt ist das „liberale Zeitalter“ im Jahr 1932 obsolet – als auch im Verständnis der Kontingenz des Handelns. Schmitt ist ein Denker der Eindeutigkeit, um die im Zitat beschriebenen Qualitäten der Chance aus der Begriffsbildung überwinden sollen (s. auch Palonen 2011). Weber hätte die Schmittschen Beschreibun- gen seines Chancenbegriffs keineswegs für zutreffend gehalten. Bei Schmitt bleibt Chance eine Restgröße des Verstehens, für Weber bildet sie den Schlüssel zum Verständnis der Kontingenz des Handelns.

2. Begriffspolitik mit Chancen

(16)

Wenn Weber Begriffe als Chancenkomplexe umschreibt, so sieht er sie aus der Sicht der Akteure. Begriffe sind keine Gebote zum „richtigen Den- ken“, sondern verweisen auf den spezifischen Horizont dessen, was mit einem Begriff zu tun möglich ist. Sie sind keine deklarativen Festsetzun- gen, sondern Interpretationsangebote, da sowohl die Geschichte offen ist als auch die Begriffsanwendung dem Streit ausgesetzt ist.

Nach Reinhart Koselleck hat Weber den Herrschaftsbegriff „soziologisch neutralisiert“ (1979, 128). Diese Neutralisierung kann man auch in Webers Diskussion der Chancenbegriffe feststellen und zwar im Sinne einer Ent- parteilichung, die zu gegensätzlichen Zwecken benutzt werden kann. Ein- deutige Bestimmungen des „So-und-nicht-anders-Gewordenseins“ (Weber 1904, 171) sind für Weber stets nur einzelne Zustände oder Situationen, nicht aber Begriffe wie Staat, Herrschaft, Freiheit oder Politik. Für diese idealtypischen Begriffe ist kennzeichnend, dass sie durch die Webersche Prozedur der Neutralisierung gehen und damit auf einen Horizont der Chancen verweisen, der ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Anwen- dungsweisen enthält. Wenn etwa der Staat ein Chancenbegriff ist, dann macht weder die Apologie des Staates noch dessen Verdammung Sinn.

Diese Qualität ist ein Vorteil der Weberschen Umprägung der Begriffe.

Wie auch Koselleck betont, macht die vielseitige Anwendbarkeit solcher

„Grundbegriffe“ sie zum Streitobjekt. Begriffe „besetzen“ kann man höchs- tens kurzfristig. Die Art der Anwendung der im Begriff sich versteckenden Chancen ermöglicht den Streit um sie. In diesem Sinne kann man von un- terschiedlichen Stilen und Kompetenzen in der Ausnutzung der von Be- griffen eröffneten Chancen sprechen.

Die formale Unparteilichkeit des Chancenbegriffs bei Weber hängt mit seinem auf Kontingenz und Umstrittenheit bezogenen Politikbegriffs zu- sammen. Mit Politik meint Weber – wie der erste Abschnitt von Politik als Beruf (Weber 1919a, 35) es sagt – weder eine richtige Policy, noch die beste Polity, sondern das Handeln als solches, das Politiktreiben, das durch die Politisierung der Situation bzw. der jeweiligen Ordnung aufgrund der da- rin offenen und sichtbar gemachten Chancen ermöglicht worden ist.

Chance, Kontingenz, Kampf, Macht, Handeln und Politik sind bei Weber unterschiedliche Facetten desselben Begriffskomplexes. Trotzdem kann man nicht von einer Neutralität der Begriffe sprechen. Wir finden bei Weber durchaus eine Bewertung: Handeln ist in der Regel besser als Nicht-Handeln; Politik ist besser als ein Dulden, das dadurch entsteht, dass das Politiktreiben und die Politisierung der Situation anderen überlassen wird.

1. Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

16

(17)

Dieser Wertunterschied gilt jedoch nicht in jeder beliebigen Situation.

Man kann sich vielmehr extreme Grenzsituationen vorstellen, in denen eben das Nicht-Handeln als Politik zu verstehen ist. Dies gilt etwa für Si- tuationen, in denen allen Handlungsalternativen die Gefahr droht, zur Komplizenschaft mit einem Regime bzw. als Hang zum Martyrium ver- standen werden kann. Wenn Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem (1963/64) schreibt, dass unter der NS‑Herrschaft für die Judenräte das Nichts-Tun besser gewesen wäre als die Komplizenschaft oder der selbst- mörderische Widerstand, so kann man dies aus der Weberschen Sicht durchaus nachvollziehen. Auch das Nicht-Handeln enthält Chancen.

Wenn Max Weber alle politisch zentralen Begriffe als Chancenkomplexe versteht, so betreibt er mit diesen Begriffen Politik. Seine Umprägungen der Begriffe enthalten erstens Operationen von Formalisierung im Sinne der Offenheit für verschiedene Standpunkte, Entsubstanzialisierung, Ent- naturalisierung usw., die als eine Kritik oder sogar als eine Absage an den gängigen Begriffsgebrauch gelesen werden können. Mit der idealtypischen Zuspitzung der Begriffe betont Weber die Kluft zwischen den Begriffen und der „realen Welt“ und zerstört die Illusion, dass Begriffe der Realität entsprechen. Seine Wirklichkeitwissenschaft (1904, 170) setzt eine Distanz zwischen dem Begriffenen und den Begriffen, zwischen der unerschöpfli- chen Realität und den Begriffen ihrer Interpretation voraus. Damit vermei- det Weber sich vor der irrigen Vorstellung, „zutreffende“ Begriffe gefunden zu haben, und betont hingegen die Wandelbarkeit der Begriffe als Voraus- setzung ihres Verstehens.

Die idealtypischen Begriffe Webers sind jedoch keine rein logisch-analy- tischen Konstrukte, sondern enthalten einen historischen Kern. Sie sind in einem bestimmten Kontext entstanden bzw. umgeprägt worden. Wie es die die Begriffsgeschichte später ebenfalls betont, sind bei Weber Begriffe nicht an bestimmte Worte gebunden. Begriffliche Veränderungen können auch innerhalb eines scheinbar stabilen Wortgebrauchs stattfinden. Deswe- gen setzt das genaue Verständnis der Weberschen Begriffe einen Bezug auf den weiteren zeitgenössischen Wortgebrauch voraus. Die Trennung zwi- schen Sphären- und Handlungsbegriffen der Politik, die vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert vonstatten ging, ist hier ein gutes Beispiel (s.

Palonen 2006). Bei Weber sind beide Aspekte des Politikbegriffs vorhan- den. Es geht letztlich nur darum, wofür die Forschenden sich interessieren (für den ‚Kommunikationsraum Politik‘ s. Steinmetz Hg. 2005 und Stein- metz u.a. Hg. 2013).

Mit der situationsbezogenen Formalisierung der Begriffe unternimmt der Begriffspolitiker Weber einen doppelten Eingriff. Einerseits bietet er 2. Begriffspolitik mit Chancen

(18)

eine neue Antwort auf die Fragestellung seiner Zeitgenossen. Andererseits gibt er der Agenda der Begriffsdebatten eine neue Wendung. Hier kann Webers Umprägung des Staatsbegriffs exemplarisch angeführt werden (see Palonen 2017b, ch. 9.). Vielfach wird Weber eher als ein Stichwortlieferant verstanden und die konstitutive Bedeutung des Chancenbegriffs für seine begriffspolitische Agenda-Setting nicht genug beachtet.

Webers Umdenken der Begriffe

Die in Kapiteln 2. bis 5. veröffentlichten Beiträge diskutieren die Grundsät- ze und die Eigenart der Weberschen Begriffsbildung. Sie sind im Kontext meiner Studien zu Reinhart Kosellecks und Quentin Skinners begriffsge- schichtlichen Ansätzen entstanden (s. Palonen 2003b, 2004 und Beiträge in Palonen 2014a). Insbesondere mit dem dritten und vierten Kapitel zur Umstrittenheit bzw. Verzeitlichung der Begriffe wollte ich Weber zu einem frühen Vertreter der begriffsgeschichtlichen Forschung machen, was ich auch im Titel des Buchs Die Entzauberung der Begriffe (Palonen 2004) zu veranschaulichen versucht habe. Die Begriffsgeschichte der „Kulturwissen- schaften“, die Weber betreibt, beruht auf einer taktischen Bescheidenheit, die die Eigenart seiner Begriffsrevisionen und Begriffsumstellungen herun- terspielt.

Das zweite Kapitel veranschaulicht, wie Max Weber eine aktive Begriffs- politik betrieben hat. Mit Koselleck gesprochen: Weber ist selbst ein „Fak- tor“ der Begriffsgeschichte gewesen. Dies wird im Kapitel mit unterschied- lichen Beispielen veranschaulicht, und zwar nicht nur mit politischen und akademischen Grundbegriffen, sondern auch mit „Demagogie“ und „An- archie der Produktion“. Als Begriffspolitiker griff Weber immer die zeitge- nössische politische Situation an und war bestrebt, mit der Kritik und Um- prägung der Begriffe die Agenda der Debatten um sie neu zu setzen.

Im Gegensatz zur Begriffsgeschichte, wie sie von den meisten Kollegin- nen und Kollegen in der History of Concepts Group praktiziert wird, verste- he ich Begriffsgeschichte als Ansatz zum politischen Denken (s. Palonen 2002b,c, 2010a). Die Verbindung zu Skinner und Koselleck wird in den Ka- piteln 3 und 4. explizit. In ihnen wird deutlich, wie Weber mit linguisti- schen Mitteln eine andere Art der Verzeitlichung der Begriffe betrieben hat wie sie später auch von Koselleck praktiziert wurde (s. auch Palonen 2008).

Nach der Lobrede hatte ich keine Absicht, ein weiteres Buch zu Weber zu schreiben. Doch kann man aus den Kapiteln 2. und 5. entnehmen, wie ich mich veranlasst sah, der Frage nachzugehen, warum Weber den Begriff der 3.

1. Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

18

(19)

„Objektivität“ aufgriff, obwohl er ihn ganz anders verstand als seine akade- mischen Zeitgenossen. In dem hier als Kap. 3 veröffentlichten Aufsatz war ich noch der Ansicht, dass Weber besser ohne „Objektivität“ ausgekom- men wäre. Erst später habe ich erkannt, dass er auch diesen Begriff um- prägt. In dem als Kapitel 5. veröffentlichten Vortrag von 2006 habe ich erst- mals den Objektivitätsaufsatz näher untersucht und diejenigen rhetori- schen Strategien thematisiert, mit denen Weber den Begriff der Objektivi- tät prozedural nach dem Muster des Westminster-Parlamentarismus um- deutete. In meinem Objektivitätsbuch (2010b) habe die Interpretation schließlich systematisiert und erweitert (zu weiteren Zwischenstufen s. die Kapitel 10. bis 12. in Palonen 2017b).

Die Kapitel 6. bis 11. enthalten Aufsätze zu einzelnen Begriffen Webers.

Bei diesen Texten handelt es sich ursprünglich um Konferenzbeiträge oder Auftragsarbeiten. Die einzelnen Beiträge konzentrieren sich jeweils auf einen Begriff und nähern sich diesem aus jeweils unterschiedlichen Debat- tenzusammenhängen her an. Ein „Lexikon der Weberschen Begriffe“ woll- te ich nie schreiben. Dieses Buch enthält jedoch Ansätze zu einem solchen Lexikon mit einigen für Politik und Politikwissenschaft zentralen Begriffen (s. auch mehrere Kapitel in A Political Style of Thinking).

Seit den frühen 80er Jahren bildet der Politikbegriff das Hauptthema meiner begriffsgeschichtlichen Studien. „Politik statt Ordnung“ (Kap. 6.) bietet eine Reflexion zum Weberschen Moment, wobei ich hier Webers Ori- ginalität als Autor und seinen Einfluss auf die Geschichte des Politikbe- griffs hervorhebe. Dies vertieft noch einmal die Diskussion zu Webers Bei- trag bezüglich einer Neuorientierung des Chancen- und Kontingenzden- kens.

Daran schließt thematisch, obwohl werkgeschichtlich auf die Lobrede verweisend, das 7. Kapitel über den Weberschen Begriffs des Berufspoliti- kers an. Darin zeigt sich schon mein Interesse am letzten Drittel des 19.

Jahrhunderts als einer Zeit, in welcher die Chancen zum Durchbruch der Demokratisierung und Parlamentarisierung entstanden. In diesem Kontext vollzieht sich ein Umdenken der Begriffe der Demokratie, des Parlamenta- rismus und der Politik überhaupt (s. Palonen 2006, 2008, 2012). Mit mei- nem Interesse für den Parlamentarismus habe ich auch Webers Schema zu historischen Typen des Berufspolitikers revidiert (s. auch Kap. 5 in Palonen 2017b).

Der Macht-Aufsatz (Kap. 8) geht zurück auf den Entstehungskontext des Weberschen Moments. Hier diskutiere ich neben Webers bekannter Umkeh- rung der Bismarckschen Realpolitik eine Urquelle seiner Chancendiskussi- on, nämlich die Debatten um die „objektive Möglichkeit“ unter Histori- 3. Webers Umdenken der Begriffe

(20)

kern, welche die Kehrseite des Chancenbegriffs bildet. Der Herrschaft-Auf- satz (Kap. 9) bezieht sich auf meine These, dass Weber seit seiner Jugend eine enge Verbindung zur klassischen Rhetorik hatte. Den Herrschaftsbe- griff hat er nicht nur im Sinne der Chance umgedeutet und mit dem Be- dürfnis nach Herrschaftslegitimation verknüpft, womit er eine themati- sche Verbindung zur Rhetorik etabliert. Die Rezension zu Wolf-Dieter Narrs Niemands-Herrschaft (Kap. 10.) betont, wie formal Webers Staats- und Herrschaftsbegriffe als Chancenbegriffe sind, weswegen diese Begriffe zur Polemik für oder gegen den Staat wenig geeignet sind.

Das Kap. 11. zur repräsentativen Demokratie (auch auf Englisch in Palo- nen 2017b) hat seinen Ursprung in zwei Vorträgen zu Hannah Arendts po- litischem Denken. In einem Gedankenexperiment zu Webers möglicher Antwort auf Arendt konfrontiere ich Arendts räte- und direktdemokrati- schen Ideale mit Webers Polemiken aus seinen Wahlrechts- und Parlamen- tarismusschriften, kombiniert mit Frank Ankersmits Gegenüberstellung der mimetischen und ästhetischen Begriffe der Repräsentation. Kap. 12 hat Webers Parlamentarismuskonzeption zum Thema. Ich weise ihm im An- schluss an seine Parlamentsschrift eine Gegnerschaft gegen die Einengung des Parlamentarismus zum Regierungssystem zu, wie sie in der Nach- kriegspolitologie üblich war und ist. Im Gegensatz dazu hebe ich Webers rhetorische Komponente hervor, welche den Parlamentarismus mit einer Kritik der Beamtenherrschaft verbindet, wodurch die politische Bedeutung seiner parlamentarischen Umdeutung des Objektivitätsbegriffs verdeut- licht wird.

Im letzten Kapitel unternehme ich ein weiteres Gedankenexperiment.

Mit den jetzt online verfügbaren parlamentarischen Plenardebatten unter- suche ich die dort geschehende Weber-Rezeption und –Interpretation.

„Max Weber“ wird in Plenardebatten aller von mir analysierten westeuro- päischen und nordamerikanischen Parlamenten (Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweiz, Schweden und Vereinigte Staaten) mehr oder weniger häufig zitiert. Dies zeigt, dass Weber längst nicht mehr bloß ein akademischer Autor, sondern längst auch ein Teil einer breiteren politi- schen Debatte ist. Dies zeigt auch die Gegenprobe: In den britischen Parla- mentsdebatten bis 2005 werden Carl Schmitt und Jürgen Habermas über- haupt nicht zitiert, Hannah Arendt nur einmal, Max Weber immerhin achtmal.

Wo, wann und in welchen Zusammenhängen wird Weber in Parlamen- ten zitiert? Was wird von ihm zitiert? Wie wörtlich wird von ihm zitiert?

Wie beachtet man den Kontext der zitierten Formeln? Wie verwandeln sich 1. Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

20

(21)

seine Begriffe und rhetorische Pointen mit den Übersetzungen in andere Sprachen? Die kreative Interpretation im parlamentarischen Gebrauch der Begriffe zeigt sich am deutlichsten am Beispiel der Metapher des Bretter- bohrens am Ende von Politik als Beruf, was im deutschen Bundestag und im österreichischen Nationalrat die am häufigsten zitierte Weber-Stelle ist.

Zu dieser Ausgabe

Die Beiträge dieses Buches sind im Laufe von ca. 20 Jahren entstanden. Sie sind unter anderem durch meine zwei Akademieprofessuren der Finni- schen Akademie, mit den Projekten Polity, Contingency and Conceptual Change (1998-2003) und The Politics of Dissensus. Parliamentarism, Rhetoric and Conceptual History (2008-2012) sowie durch das von mir geleitete Fin- nish Centre of Excellence in Political Thought and Conceptual Change (2006-2011), alle an der Universität Jyväskylä beheimatet, ermöglicht wor- den. Noch als emeritus habe ich die Gelegenheit als Verbindungsperson der Universität im Niilo Kauppis Finnish Distinguished Professorship-Projekt Transformation of Concepts and Institutions of the European Polity (TRACE) zusammen mit Niilo, Taru Haapala und Claudia Wiesner mitzuarbeiten, wofür ich dankbar bin.

Dem Kapitel 5. liegt ein Vortrag zugrunde, den ich während eines Auf- enthaltes als Aby-Warburg-Stiftungsprofessor an der Universität Hamburg gehalten habe, wofür ich dem Warburg-Haus und meinem 2012 verstorbe- nen Kollegen Michael Th. Greven danke. Seit den achtziger Jahren disku- tierte ich insbesondere mit Sven Eliæson und Wolf-Dieter Narr viel über Max Weber, wofür ich ebenfalls sehr dankbar bin.

Die hier gesammelten Beiträge habe ich für die Publikation durchgese- hen und in einigen Fällen leicht modifiziert sowie die Literaturangaben gelegentlich aktualisiert. Ich habe die Texte insofern vereinheitlicht, dass alle Fußnoten in den Haupttext eingebaut, die Untertitel numeriert und die Publikationen Webers nach dem ursprünglichen Jahr der Veröffentli- chung zitiert worden sind. Ein eigenes, im Format vereinheitlichtes Litera- turverzeichnis für jedes Kapitel habe ich beibehalten und auch die Wieder- holung von Zitaten gelassen, um die Unabhängigkeit der Aufsätze beizu- behalten. Für die Sprachkorrektur danke ich Klaus Sondermann, für die Kapitel 1. und 13. Burkhard Conrad.

Zu dieser Ausgabe

(22)

Literaturverzeichnis

Anter, Andreas 2016. Max Weber und die Staatsrechtslehre. Tübingen: Mohr.

Arendt, Hannah 1963/64 [1990]. Eichmann in Jerusalem. Leipzig: Reclam.

Colliot-Thélène, Catherine 1990. ‘Max Weber, la leçon inaugurale de 1895, ou: Du nationalisme a la sociologie comparative’, Les cahiers de Fontenay 58/59, June, 103–121.

– 1992. Le désenchantement de l’État. Paris: Minuit.

Hennis, Wilhelm 1987. Max Webers Fragestellung. Tübingen: Mohr.

Heuß, Theodor 1958 [1971]. Max Weber und seine Gegenwart. In: GPS, Tübingen:

Mohr, vii-xxxi.

Käsler, Dirk 2014. Max Weber: Eine Biographie. München: Beck

Kaube, Jürgen 2014. Max Weber, Ein Leben zwischen Epochen. Berlin: Rowohlt.

Koselleck, Reinhart 1979. Vergangene Zukunft. Frankfurt/M: Suhrkamp

Llanque, Marcus 2000. Demokratisches Denken im Kriege. Berlin: Akademie-Verlag.

Mommsen; Wolfgang J. 1959/1974. Max Weber und die deutsche Politik (1890–1920).

Tübingen: Mohr.

Palonen, Kari 1985. Politik als Handlungsbegriff. Horizontwandel des Politikbegriffs in Deutschland 1890–1933, Helsinki: Societas Scientiarum Fennica

– 1998. Das ‚Webersche Moment‘. Zur Kontingenz des Politischen. Wiesbaden: West- deutscher Verlag

– 2001. Was Max Weber a Nationalist? A Study in Rhetoric of Conceptual Change.

Max Weber Studies 1, 196-214 (auch in 2017b).

– 2002a. Eine Lobrede für Politiker. Kommentar zu Max Webers ‚Politik als Beruf‘.

Opladen: Leske+Budrich.

– 2002b. History of Concepts as a Style of Political Theorizing. European Journal of Political Theory 1, 91-106.

– 2002c: Begriffsgeschichte und/als Politikwissenschaft. Archiv für Begriffsgeschichte 44, 221-234.

– 2003a: Four Times of Politics: Policy, Polity, Politicking and Politicization. Alter- natives 38, 2003, 171-186 (auch in 2017b).

– 2003b: Quentin Skinner. History, Politics, Rhetoric, Cambridge: Polity.

– 2004: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck. Münster: LIT.

– 2006. The Struggle with Time. A conceptual history of ‚politics‘ as an activity.

Münster: LIT

– 2007. Re-thinking Politics: Essays from a quarter-century, Kia Lindroos ed., Helsinki:

The Finnish Political Science Association.

– 2008. The Politics of Limited Times. The rhetoric of temporal judgment in parliamenta- ry democracies. Baden-Baden: Nomos.

– 2010a. Begriffsdebatten und Debattenbegriffe. Zeitschrift für Politische Theorie 2, 155-172.

1. Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

22

(23)

– 2010b. „Objektivität“ als faires Spiel. Wissenschaft als Politik bei Max Weber, Baden- Baden: Nomos.

– 2011. The State as a Chance Concept: Max Weber’s desubstantialization and neu- tralization of a concept. Max Weber Studies 11, 2011, 99-117 (auch in 2017b).

– 2012. Rhetorik des Unbeliebten. Lobreden auf Politiker im Zeitalter der Demokratie.

Baden-Baden: Nomos.

– 2014a. Politics and Conceptual Histories. Baden-Baden: Nomos & London: Blooms- bury.

– 2014b. The Politics of Parliamentary Procedure. The formation of the Westminster proce- dure as a parliamentary ideal type, Leverkusen: Budrich.

– 2016a. From Oratory to Debate. Parliamentarisation of deliberative rhetoric in West- minster. Baden-Baden: Nomos.

– 2016b. The Politics of Academic Freedom. Weber, Westminster and Contempo- rary Universities. Max Weber Studies 16, 149-174

– 2017a. The Parliamentary Model of Rhetorical Political Theory. In: Norbert Gutenberg and Richard Fiordo (eds), Rhetoric in Europe: Philosophical Issues.

Berlin: Frank & Timme, 157-178.

– 2017b. A Political Style of Thinking. Essays on Max Weber, Colchester: ECPR Press.

– 2017c. Rethinking the Westphalian Order during WW I. Max Weber on the Timeliness of the European Polity, Journal of Autonomy and Security Studies, 126-142

– 2018a. A comparison between three ideal types of parliamentary politics: repre- sentation, legislation and deliberation, Parliaments, Estates & Representation 38, 6-20.

– 2018b. Parliamentary Thinking. Procedure, Rhetoric and Time. PalgraveMacmillan.

Peukert, Detlev 1989. Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen: Vandenhoek &

Ruprecht.

Pocock, J.G.A. 1975. The Machiavellian Moment, Princeton: Princeton University Press.

Scaff, Lawrence 1989. Fleeing the Iron Cage, Berkeley, University of California Press Schmitt, Carl 1932 [1980]. Legalität und Legitimität, Berlin: Duncker & Humblot.

Skinner, Quentin 1996. Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, Cambridge:

Cambridge University Press.

– 2007. Paradiastole’. In: Sylvia Adamson, Gavin Alexander and Katrin Ettenhuber (eds), Renaissance Figures of Speech. Cambridge: Cambridge University Press, 147–163.

Steinmetz, Willibald (Hg.) 2005. „Politik“. Situationen eines Wortgebrauchs in Europa der Neuzeit, Frankfurt/M: Campus.

Steimetz, Willibald, Ingrid Gilcher-Holtey, and Hans-Georg Haupt (eds) 2013) Wri- ting Political History Today, Frankfurt/M: Campus.

Weber, Max 1904 [1973]. Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpoli- tischer Erkenntnis. In: GAW, 146–214.

Literaturverzeichnis

(24)

– 1913 [1973]. Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: GAW, 427–

474

– 1919a [1994]. Politik als Beruf. In: MWS 1/17, 35–88.

– 1919b [1994]. Wissenschaft als Beruf. In: MWS 1/17, 1–23.

– 1922 [1980]. Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Hg. Johannes Winckel- mann. Tübingen: Mohr.

Wiesner, Claudia, Taru Haapala and Kari Palonen 2017. Debates, Rhetoric and Politi- cal Action. Practices of Textual Interpretation and Analysis. London: Pal- graveMacmillan.

1. Zum Geleit: Max Weber – Denken in Chancen

24

(25)

I Begriffe als Politikum

(26)
(27)

Max Weber als Begriffspolitiker

Es ist ein Gemeinplatz, dass Max Weber zwischen Wissenschaft und Politik streng unterscheidet. Die Grundidee seiner Wertfreiheitsthese ist, dass un- ter Berufung auf Wissenschaft keine Politik betrieben werden, von ihr „ab- geleitet“ oder auch nur in deren Namen legitimiert werden kann. „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, son- dern nur, was er kann und – unter Umständen was er will“, heißt es im Ob- jektivitätsaufsatz (Weber 1904, 151). Dies bedeutet vor allem die Autono- mie der Politiker hinsichtlich einer Bevormundung durch die Wissen- schaft, deren Autonomie Weber wiederum gegen Eingriffe der Regierung und anderer Mächte verteidigt.

Politik und Wissenschaft treiben

Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Weber kann man jedoch auch von der performativen Seite der Tätigkeiten aus analysieren. Studiert man die Art der Handlungen der Akteure, dann werden weder Wissen- schaft noch Politik als Lebenssphären verstanden. Vielmehr fragt man: was tut dann jemand, der Politik bzw. Wissenschaft treibt?

Weber hat die performative Seite der Wissenschaftler nie eigenständig behandelt, während er dies hinsichtlich der Politiker explizit tat. Meiner These nach bildet der Webersche Idealtypus des Politikers auch ein Modell für die Tätigkeiten des Wissenschaftlers. Auch in der Wissenschaft geht es – um nur die berühmtesten der Weberschen Politik-Formeln zu notieren – zumindest bis zu einem gewissen Grade um das „Streben nach Machtantei- len und nach Beeinflussung der Machtverteilung“ (Weber 1919, 36), um

„langsames Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zu- gleich“ (ebenda, 88), um „Parteinahme, Kampf, Leidenschaft“ (ebenda, 53) oder um „Kampf, Werbung von Bundesgenossen und von freiwilliger Ge- folgschaft“(1918a, 232),.

Gegen den weit verbreiteten akademischen Anspruch, unpolitisch zu sein, kann man folgende Einsicht Carl Schmitt zitieren: „In Wahrheit ist es

… eine typische und besonders intensive Art und Weise, Politik zu treiben, dass man den Gegner als politisch, sich selbst als unpolitisch (d.h. hier wis- senschaftlich, gerecht, objektiv, unparteiisch usw.) hinstellt“ (Schmitt 1932,

2.

1.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

So fährt er fort: „das ist ja aus- geschlossen, hab’ ich doch nicht einmal die Candidatenliste Schumacher – Herkner – Troeltsch durchgesetzt, sondern mußte Herkner

Goldschmidt stand seit der Zeit, in der er im Haus der Großeltern Max Webers in Heidelberg gewohnt hatte (1862– 1870), in freundschaftlichem Kontakt zur Familie. Max Weber nahm

Das dritte Thema, dem Webers Interesse galt, war die künftige Gestal- tung Polens. Annexionen polnischer Gebiete lehnte er strikt ab. Die Pläne, Kurland unter deutsche

Die überlieferten Briefe repräsentieren nur ei- nen kleinen Teil der betreffenden Persönlichkeiten, unter anderem Georg von Below, Robert Michels, Friedrich Naumann, Johann

Als Max Weber zum Jahresbeginn 1909 das Angebot Paul Siebecks an- nahm, an der Herausgabe eines neuen „Handbuch(s) der politischen Öko- nomie" federführend mitzuwirken, begann

Januar Heidelberg Oskar und Paul Siebeck 418..

April 1911 schrieb er an Marianne Weber: „Ich muß ja jetzt ohnehin an allerlei Arbeiten gehen, die, für das ,Handbuch‘ bestimmt, Probleme aufrollen, aus denen dann et- was

Das heißt zugleich, daß die Vorträge nicht allein eine praktische Absicht verfolgten, sondern auch eine Summe gaben, und zwar eine Sum- me sowohl von Webers