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Die Bedeutung von Musik für den Menschen

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Academic year: 2022

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Matrikelnummer: 755075 betreut durch:

Andrea Krajewski

Abgabedatum: 09.11.2020 Abgabedatum: 09.11.2020 Hochschule Darmstadt

Fachbereich Media Interactive Media Design Wintersemester 2020/21 Wintersemester 2020/21

Die Bedeutung von

Musik für den Menschen

MUSIZIEREN ALS GRUNDBEDÜRFNIS

Charlotte Großmann

(2)

Abstract

DE Musik spielt eine Rolle in allen vergangenen und aktuellen Kulturen und

Musizieren hat viele positive psychologische und biologische Auswirkungen auf die Musizierenden. Es ist eins der wichtigsten Hobbys von Jugendlichen. Kann diese deutliche Präsenz der Musik dadurch erklärt werden, dass Musizieren ein

Grundbedürfnis des Menschen ist? Durch die Betrachtung der Bedürfnistheorie Maslows, der Selbstbestimmungstheorie und des Modells der Gewaltfreien

Kommunikation wurden drei definierende Aspekte von Grundbedürfnissen gefunden:

Allgemeingültigkeit (das Bedürfnis lässt sich bei allen Menschen wiederfinden), Flexibilität (das Bedürfnis kann auf unterschiedliche Weisen befriedigt werden) und Selbstzweck (das Bedürfnis dient nicht der Befriedigung eines anderen,

zugrundeliegenden Bedürfnisses). Anhand der Forschungsergebnisse konnte die Erfüllung der ersten beiden Aspekte durch Musik gezeigt werden. Für den dritten Aspekt ließen sich jedoch keine überzeugenden Argumente finden. Die These der Forschungsarbeit ist somit als falsifiziert einzustufen. Weitere Untersuchungen, die vor allem Nicht-Musiker und Menschen mit gestörter oder alternativer

Musikwahrnehmung im Fokus haben, könnten interessante Erkenntnisse zu diesem Aspekt liefern.

ENG Music plays a role in all past and present cultures and making music has many positive psychological and biological effects on the musicians. It is one of the most important hobbies of young people. Can this significant presence of music be explained by the fact that making music is a basic human need? By considering Maslow's theory of needs, self-determination theory and nonviolent communication, three defining aspects of basic needs were found: Generality (the need can be found in all people), flexibility (the need can be satisfied in different ways), self-purpose (the need does not serve the satisfaction of a underlying one). The research has

suggested that music could fulfil the first two aspects. However, no convincing arguments could be found for the third aspect. The thesis of the research paper is therefore to be considered falsified. Further investigations, focusing mainly on non- musicians and people with disturbed or alternative music perception, could provide interesting insights into this aspect.

(3)

Inhaltsverzeichnis 2

Inhaltsverzeichnis

Abstract ... 1

Inhaltsverzeichnis ... 2

Zitierweise ... 4

Abgrenzung ... 5

Methode... 5

Glossar & Abkürzungen ... 6

Einleitung ... 7

Bedürfnisse ... 9

Musik ... 12

Definitionsansätze ... 12

Aspekte der Musik ... 13

Definition ... 15

Grenzen der Musik ... 15

Musiker*in ... 16

Wahrnehmung ... 18

Hörsinn ... 18

Sehsinn ... 20

Somatosensorischer Sinn ... 21

Illusionen ... 22

Wirkung ... 25

Gehirnstruktur ... 25

Neuroplastizität ... 27

Physiologie ... 28

Psychologie ... 30

Transfereffekte ... 32

(4)

Gemeinschaft ... 33

Verlust und Mangel ... 36

Amusie und musikalische Anhedonie ... 38

Diskussion ... 40

Allgemeingültigkeit ... 40

Flexibilität ... 41

Selbstzweck ... 42

Fazit ... 45

Literaturverzeichnis ... 46

Abbildungsverzeichnis ... 53

Anhang 1: Fehler der Bedürfnispyramide ... 54

Anhang 2: Texte in populärer Musik ... 56

Erklärung ... 57

Erklärung zur Archivierung ... 57

(5)

Zitierweise 4

Zitierweise

Zitiert wird nach APA American Psychological Associtation, 7th ed. (German) Zitiert wird nach den Richtlinien der American Psychological Association (APA). Im Text wird entweder indirekt oder direkt zitiert. Die verwendeten Zitate werden in runden Klammern mit dem Nachnamen des/der Autor*in, der Jahreszahl und ggf.

der Seitenzahl gekennzeichnet.

Zitation im Text

Indirektes Zitieren: Bei indirekten Zitaten wird der gelesene Inhalt mit eigenen

Worten zusammengefasst. Die Quelle wird mit der Angabe des Nachnamens des/der Autor*inn/en und der Jahreszahl zitiert.

z. B.: (Zhang et.al., 2020)

Direktes Zitieren: Textteile werden wortwörtlich aus der Quelle entnommen. Diese werden durch Anführungszeichen („“) markiert. Neben der Angabe des Nachnamens und der Jahreszahl wird zusätzlich auch die Seite angegeben, auf der sich die zitierte Textstelle befindet.

z.B.: (Zhang et.al., 2020, S. 340)

Ausnahmefälle

Wenn sich zwei verschiedene Autoren einen Nachnahmen teilen, werden zusätzlich die abgekürzten Vornamen angegeben.

z.B.: (A. C. Lehmann & Kopiez, 2018) und (C. Lehmann & Kopiez, 2018, S. 58)

Bei Quellen die sich dieselben Autor*innen und Jahreszahl teilen, wird der Jahreszahl alphabetisch ein Buchstabe angehängt.

z.B: (Schlaug et al., 1995a) und (Schlaug et al., 1995b)

Das Literaturverzeichnis ist alphabetisch nach den Nachnamen der Autor*innen geordnet. Vor- und Zweitnamen werden nur abgekürzt aufgeführt.

z. B.: Zhang, J. D., Susino, M., McPherson, G. E. & Schubert, E. (2020). The definition of a musician in music psychology: A literature review and the six-year rule. Psychology of Music, 48(3), 389–409. https://doi.org/10.1177/0305735618804038

(6)

Abgrenzung

Die Forschungsarbeit soll die Bedeutung des Musizierens für den Menschen

untersuchen. Dabei wird der Fokus explizit auf das Musizieren gelegt anstatt auf das reine Musik hören. Auch wird nicht die Bedeutung des Musizierens auf die

Menschheit, im Sinne von Kultur oder Evolution betrachtet, sondern die Bedeutung für ein Individuum. Es soll außerdem nicht nur um professionelle Musiker*innen gehen oder um Menschen die Musizieren als ihr Hobby betrachten, sondern um alle Menschen und damit auch um die, die sich als unmusikalisch betrachten.

Methode

Zunächst sollen verschiedene gängige Theorien zu Bedürfnissen vorgestellt werden, um daraus Merkmale zu erschließen, welche die Bestimmung eines

Grundbedürfnisses ermöglichen. Im Weiteren soll der Begriff der Musik und des/der Musiker*in definiert werden. Wahrnehmung und Wirkung von Musik beim

Musizieren sollen umfassend vorgestellt werden. Auf Grund dieser Erkenntnisse soll diskutiert werden, ob Musik und Musizieren die Anforderungen eines

Grundbedürfnisses erfüllt. Die verwendeten Informationen stammen aus

veröffentlichten, wissenschaftlichen Quellen und in wenigen Einzelfällen aus nicht wissenschaftlichen Primärquellen.

(7)

Glossar & Abkürzungen 6

Glossar & Abkürzungen

SDT Self-Determination Theory. Zu Deutsch

Selbstbestimmungstheorie. (Schneider, 2019) Basiert auf der Annahme, dass die Motivation für jegliche Handlungen von drei psychologischen Grundbedürfnissen abhängig ist. Soziale

Verbundenheit, Autonomie und Kompetenz. (Deci & Ryan, 2004, S. 8-9)

Melodiekontur Beschreibt den Verlauf, also die aufeinander folgenden Tonhöhen, einer Melodie. (Altenmüller & Schuppert, 2018, S. 573)

Kon-/Dissonanz Bezeichnet den Zusammenklang verschiedener Töne. „Der Ausdruck Konsonanz bezeichnet das Zusammenpassen,

Dissonanz das Auseinanderstreben von Tönen.“ (Dahlhaus, 1996)

Neuroplastizität „Der Begriff Neuroplastizität beschreibt die allgemeine Fähigkeit unseres zentralen Nervensystems, sich im Laufe des Lebens an Umwelteinflüsse und neue Anforderungen anzupassen.“

(Altenmüller et al., 2018, S. 10)

Affekt Unter einem Affekt wird meist „ein intensives, relativ kurz dauerndes Gefühl“ verstanden. (Eschenbeck, 2016)

Parasoziale Abgeleitet von parasozialer Interaktion (Horton & Wohl, 1956, S. 215) Eine parasoziale Beziehung existiert nur im Bewusstsein einer Person. Die Beziehung besteht zwischen dieser Person und einem fiktiven oder nicht persönlich bekannten Individuum.

Beziehung

(8)

Einleitung

Musik ist ein weltweites und zeitübergreifendes Phänomen. Bislang wurde keine Kultur entdeckt, in der Musik nicht auf die ein oder andere Weise vertreten war oder ist. (Altenmüller, 2018, S. 49) Die ältesten bisher gefundenen Instrumente sind Flöten aus Knochen und Elfenbein, die auf ein Alter von etwa 40.000 Jahren geschätzt werden. (Altenmüller, 2018, S. 40) Es ist aber durchaus im Rahmen des Möglichen, dass es noch viel früher Instrumente gab, die aus vergänglicheren Materialien hergestellt wurden. (C. Lehmann & Kopiez, 2018, S. 58) In der modernen westlichen Welt ist Musik, seitdem sie nicht mehr an bestimmte Orte und Situationen gebunden ist (beispielsweise an das Opernhaus und den Besuch einer Aufführung), nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken. Dabei wird sie häufig als Hintergrundmusik zu

anderen Aktivitäten abgespielt (Sloboda & O'Neill, 2001) und zählt zu den wichtigsten Hobbys von Jugendlichen. (Heye & Knigge, 2018, S. 192) Sie ist aber auch im

öffentlichen Leben kaum zu vermeiden, etwa in allerlei öffentlichen Gebäuden (Kaufhausradio, Fahrstuhl-/Lobbymusik, Wartezimmer), auf der Straße

(Straßenmusiker*innen, Kirchenglocken, die Musik vorbeifahrender Autos) und in den Medien (Film-/Hintergrundmusik, Intros oder Jingles). Es ist jedoch nicht nur die Musik, die uns täglich begleitet, auch das Musizieren ist ein ständiger Begleiter.

Manche üben täglich an einem Instrument, andere singen, summen oder klopfen zur laufenden Musik oder erstellen „Alltagsimprovisationen“ und „Kritzeleien in Tönen“

wie Tüpker es nennt. (Tüpker, 2006, S. 148) Es geht dabei um eher kurze musikalische Momente im Alltag, beispielsweise das spontane Summen einer ausgedachten Melodie oder das ungeduldige Klopfen eines Rhythmus mit den Fingern.

Interessanterweise gibt es, obwohl Musik so allgegenwärtig ist, kaum Musik, die nicht Anspruch darauf legt Kunst, beziehungsweise ein Werk zu sein, oder eines zu

rezitieren. Es gibt keine Alltagsversion von Musik, wie es bei anderen Kunstformen der Fall ist: Bewegung/Tanz, Sprache/Poesie, Kritzelei/Malerei. Musizieren ist so stark mit dem Erschaffen von Kunst assoziiert, dass es sogar den Begriff unmusikalisch gibt, zu dem es kein Pendant in den anderen künstlerischen Disziplinen gibt. (Tüpker, 2006, S. 146–147) Dabei ist Musikalität den Menschen wohl angeboren, so können Kinder verschiedene Sprachen an deren Rhythmus auseinanderhalten (Sallat, 2018, S. 127–129) und bevor sie Emotionen in der Sprache verstehen, diese im Gesang erkennen. (Doherty et al., 1999)

(9)

Einleitung 8

Für manche Menschen scheint Musik und Musizieren ein klaren Bedürfnis zu sein und wissenschaftliche Untersuchungen zeigen die vielfältigen positiven Auswirkungen von Musik auf sowohl Psyche als auch Körper. Bekannt ist auch, dass sowohl

gemeinsames auch als alleiniges Musizieren verschiedene Bedürfnisse zum Beispiel nach Gemeinschaft befriedigen kann. Die Frage ist jedoch, ob Musik nur eine Art Alleskönner in Sachen Bedürfnisbefriedigung darstellt oder ob die einzigartige Zusammenstellung der Wirkungen von Musik sie zu einem eigenen elementaren Bedürfnis macht.

(10)

Bedürfnisse

Was ein Bedürfnis ist, ist in der Wissenschaft weder einheitlich definiert noch klar zu sinnverwandten Begriffen abgegrenzt. Der Duden definiert den Begriff wie folgt:

„Wunsch, Verlangen nach etwas; Gefühl, jemandes, einer Sache zu bedürfen, jemanden, etwas nötig zu haben“

„[materielle] Lebensnotwendigkeit; etwas, was jemand [unbedingt] zum Leben braucht“ (Online Duden).

Im Dorsch – Lexikon der Psychologie wird es etwas konkreter:

„[…] ein [Bedürfnis] kann als Zustand oder Erleben eines Mangels, verbunden mit dem Wunsch ihn zu beheben, definiert werden. Dabei dürften in der [wissenschaftlichen] Literatur meist [Bedürfnisse] gemeint sein, die ein Lebewesen zu seiner Erhaltung und Entfaltung braucht, […].“ (Metz-Göckel, 2019)

Eine der bekanntesten Bedürfnistheorien stammt wohl von Maslow, dessen Theorie häufig in der Bedürfnispyramide dargestellt wird. Im Wesentlichen definiert Maslow verschiedene Bedürfniskategorien und argumentiert, dass diese hierarchisch

aufgebaut sind. Zu den Bedürfniskategorien zählen grundlegende physiologische Bedürfnisse (wie z.B. Nahrung) und die Sicherheitsbedürfnisse zu denen

Zugehörigkeit und Liebe, Achtung, Selbstverwirklichung, Wissen und Verstehen, und ästhetische Bedürfnisse gehören. (Maslow, 1978 S.3) Die Bedürfnispyramide ist jedoch nur ein vereinfachtes Modell und ist nicht mit der Bedürfnistheorie von Maslow gleichzusetzen. So vermittelt die Pyramide den Anschein einer klaren aufeinander aufbauenden Bedürfnisstruktur, bei der erst die jeweils untere Stufe erfüllt werden muss, bevor sich die Bedürfnisse der nächsten Stufe zeigen. Auch werden häufig fälschlicher Weise die grundlegenden physiologischen Bedürfnisse dem Begriff Grundbedürfnisse gleichgesetzt, wie eine Online-Bildersuche umgehend bestätigen kann. (Siehe Anhang 1) Tatsächlich bezeichnet Maslow alle genannten

Bedürfniskategorien als Grundbedürfnisse, die zwar hierarchisch angeordnet sind, aber nicht starr in dieser Struktur festgelegt sind. Bedürfnisse aus den verschiedenen Kategorien können auch gemeinsam auftreten oder in vertauschter Reihenfolge.

(11)

Bedürfnisse 10

„Zwar haben die meisten Menschen, die wir beobachtet haben, die Grundbedürfnisse ungefähr in der Rangordnung, die angedeutet wurde. Doch es gab eine Anzahl von Ausnahmen.“ ⁠⁠(Maslow, 1978, S. 62) Es kann beispielsweise vorkommen, dass das Bedürfnis nach (Selbst-)Achtung vor dem Bedürfnis nach Liebe eintritt oder der Drang nach Kreativität bei besonders kreativen Menschen stärker ist und somit in der Hierarchie früher vorkommt. (Maslow, 1978, S. 62) Die hierarchische Anordnung richtet sich nach der Dringlichkeit der Grundbedürfnisse, wie Maslow am Beispiel des Hungers zeigt: „Der Drang, Gedichte zu schreiben, das Verlangen nach einem neuen Auto, das Interesse an Geschichte, der Wunsch nach einem neuen Paar Schuhe sind im Extremfall vergessen oder werden zweitrangig. Für den, der äußerst und

gefährlich hungrig ist, existieren keine anderen Interessen als Nahrung.“ (Maslow, 1978, S. 50)

Den Unterschied zwischen Bedürfnissen und Grundbedürfnissen sieht Maslow darin, dass Bedürfnisse immer nur ein Mittel zum Zweck sind, um ein oder mehrere

tieferliegende (Grundbedürfnisse) zu befriedigen. So kann das bewusste Bedürfnis eines Individuums beispielsweise ein Auto kaufen zu wollen bei einem auf das Grundbedürfnis Achtung zurückgeführt werden, bei einer anderen Person auf Zugehörigkeit und bei wieder einer anderen auf sowohl Achtung, Zugehörigkeit als auch auf Selbstverwirklichung. Diese tieferliegenden Gründe sind dem Individuum meist nicht bewusst. (Maslow, 1978, S. 39-40) Hier zeigt sich auch, dass sich die Grundbedürfnisse von Person zu Person auf sehr unterschiedliche Weise erfüllen lassen. Zwischen verschiedenen Kulturen werden die Unterschiede noch deutlicher:

„In der einen Gesellschaft erhält man Selbstachtung, indem man ein guter Jäger ist; in einer anderen als großer Medizinmann oder mutiger Krieger oder als emotionslose Persönlichkeit […]“. (Maslow, 1978, S. 40) Maslow erhebt nicht den Anspruch das seine Bedürfnistheorie auf alle Menschen und Kulturen anwendbar ist, behauptet aber, dass die von ihm definierten „Grundbedürfnisse […] allgemeiner menschlich [sind] als die oberflächlichen Wünsche oder Verhaltensweisen.“ (Maslow, 1978, S. 64)

Die fundamentalen Bedürfnisse die Rosenberg für sein Modell der Gewaltfreien Kommunikation annimmt, sind seiner Meinung nach für alle Menschen gültig.

Unterschiede liegen in den Handlungsstrategien, mit denen sie erfüllt werden.

(Rosenberg, 2004, S. 9)

(12)

Bei Rosenberg werden die Grundbedürfnisse in Überkategorien zusammengefasst, beispielsweise „Nahrung für den Körper“, „Integrität“, „Spiel“ und „Feiern“. Zur Überkategorie „Feiern“ gehört unteranderem das Bedürfnis die Verluste geliebter Menschen feierlich zu begehen. (Rosenberg, 2004, S. 8-9) Die

Selbstbestimmungstheorie (eng. Self-Determination Theory ; im Weiteren SDT) findet drei konkrete psychologische Bedürfnisse, die als Grundlage der Motivation für jegliches Handeln definiert werden: Kompetenz („competence“), Autonomie

(„autonomy“) und soziale Eingebundenheit („relatedness“) (Deci & Ryan, 2004, S. 6) Kompetenz bezeichnet dabei das Gefühl einen sinnvollen Effekt auf das soziale Umfeld zu haben und Gelegenheiten zu finden, in denen die eigenen Fähigkeiten ausgeübt werden können. Soziale Eingebundenheit bezieht sich darauf, sich

zugehörig, sicher und akzeptiert von anderen sowie in der eigenen Gemeinschaft zu fühlen. Die Autonomie bezeichnet das Gefühl für das eigene Verhalten selbst

verantwortlich zu sein. Es geht jedoch nicht darum, unabhängig zu sein, sondern vielmehr um die Übereinstimmung der eigenen Taten mit den eigenen Werten. Ob die Taten auf Anweisung oder Wunsch erfolgen ist dabei unbedeutend. (Deci & Ryan, 2004, S. 6) Auch diese Theorie vertritt die Ansicht, dass die Grundbedürfnisse für alle Kulturen und Entwicklungsstufen des Menschen gelten, sich jedoch auf verschiedene Weisen äußern können und befriedigen lassen. Die Grundbedürfnisse werden als notwendig für das Wachstum und Wohlbefinden der Psyche gesehen und ein gesunder Mensch strebt ohne sich dessen notwendigerweise bewusst zu sein nach der Erfüllung diese Bedürfnisse, beziehungsweise fühlt sich zu Situationen

hingezogen, die die Erfüllung der Bedürfnisse versprechen. (Deci & Ryan, 2004, S. 7)

(13)

Musik 12

Musik

Definitionsansätze

„Musik ist die produktive Gestaltung des Klingenden, das als Natur- und Emotionslaut die Welt und die Seele im Reich des Hörens in begriffsloser Konkretheit bedeutet, und das als Kunst in solchem Bedeuten vergeistigt zur Sprache gelangt kraft einer durch Wissenschaft (Theorie) reflektierten und geordneten und daher sinnvollen und sinnstiftenden Materialität. […]“

(Dahlhaus & Eggebrecht, 1995)

So wie Bedürfnis keine einheitliche Definition hat, ist auch Musik von

unterschiedlichen Seiten verschieden, und oft eher schwammig, definiert worden. Oft wird dabei auf Aspekte der Musik wie Rhythmus und Melodie eingegangen.

„Musik sind bewusst gestaltete, in der Zeit gegliederte und nichtsprachliche akustische Ereignisse in sozialen Zusammenhängen." (Altenmüller, 2018, S. 9)

„Musik hat etwas mit Ton und Melodie, Klang und Klangfarbe, Harmonie und Rhythmus, sowie mit komplexen hieraus gebildeten Strukturen zu tun.“

(Spitzer, 2014, S. 17)

Klangmuster welche sich in Länge und Tonhöhe unterscheiden. Sie werden zu emotionalen, sozialen, kulturellen und kognitiven Zwecken produziert. (Gray et al., 2001)

Es gibt jedoch auch einen anderen Ansatz, den beispielsweise Tüpker vertritt. Aus einer Sammlung Erfahrungsberichte über musikalische Momente im Alltag, kommt sie zu folgendem Schluss: „objektiv gibt es keine Musik“. (Tüpker, 2006, S. 160)

„Es liegt am Einzelnen, ob eine bestimmte Kombination von Klängen und Geräuschen als Musik wahrgenommen wird oder zur Musik gestaltet werden kann. Und es liegt dann an den anderen Subjekten, ob sie dieses Erleben teilen“ (Tüpker, 2006, S. 156)

Musik kann nach dieser Definition in Klängen und Geräuschen gehört werden, wie Gesichter in Gegenständen und Mustern erkannt werden können. So wie einige Gesichter nicht von allen Menschen sofort gesehen werden, so werden auch nicht alle Klangkulissen (bestimmte Musikgenres oder Tierlaute) von allen Hörer*innen als Musik wahrgenommen.

(14)

Parncutt & Kessler wiesen darauf hin, dass es auch deshalb schwierig ist, eine

allgemeingültige Definition für Musik zu finden, da „ […] viele Sprachen kein Wort für Musik in einem allgemeinen und übergreifenden Sinne haben, sondern lediglich Wörter für verschiedene musikalische Aktivitäten.“ (Parncutt & Kessler, 2006, S. 9) Selbst im MGG Lexikon (Musik aus Geschichte und Gegenwart), eines der

umfangreichsten Musiklexika der Welt, existiert kein Eintrag über Musik an sich. Es gibt nur Einträge die Musik in einem bestimmten Kontext beleuchten, zum Beispiel

„Musik und Mathematik“ oder „Musik und Bildende Kunst“. (vgl. (Lütteken))

Aspekte der Musik Töne und Klangfarbe

Gegenstände erzeugen Töne oder umfassender formuliert Schallereignisse. Dieser lässt sich physikalisch gesehen in zwei Kategorien einteilen: Töne und Rauschen. Ein reiner Ton (Sinuston) ist eine Sinuswelle, die Luftteilchen schwingen hier gleichmäßig.

Beim Rauschen schwingen die Teilchen ungeordnet in zufälligen Bewegungen. Jeder Ton, also jede Schwingung, ist darin enthalten (vergleichbar mit weißem Licht, in dem alle Farben enthalten sind). (Spitzer, 2014, S. 27) Instrumente sind besonders gut darin, Töne zu erzeugen, allerdings hört sich derselbe Ton (beispielsweise der Kammerton A (440 Hz)) auf verschiedenen Instrumenten unterschiedlich an. Dafür sorgt die Klangfarbe. Diese wird erheblich von den Obertönen beeinflusst, die mit dem Sinuston mitschwingen. Die Zusammenstellung der Obertöne variiert von Instrument zu Instrument. Perkussionsinstrumente erzeugen keinen Ton, sondern streng genommen ein Rauschen. Die Klangfarbe ist auch hier von den Obertönen beeinflusst, aber auch von den Schallwellen, die am präsentesten im Rauschen sind und von der Länge der einzelnen Töne. (Spitzer, 2014, S. 35–38)

Melodie und Harmonie

Mit Melodie wird der Verlauf der charakteristischen Töne eines Musikstücks

bezeichnet. Dabei werden die Tonhöhe und die Tonhöhenunterschiede (Intervalle) zwischen aufeinanderfolgenden Tönen betrachtet. Harmonie beziehungsweise Harmonik betrachtet den Zusammenklang mehrerer gleichzeitig auftretender Töne.

(15)

Musik 14

Wenn mehrere Tön gut zusammen klingen werden sie als harmonisch oder

konsonant klingend bezeichnet. Erwähnenswert ist, dass es Harmonien im Sinne von gleichzeitigen, nicht im Oktavabstand gespielten Tönen eigentlich nur in der

abendländischen Musik gibt. (Malm, 1996, S. 15)

Da Perkussionsinstrumente keine Töne von sich geben, wird bei reiner perkussiver Musik (z.B. Trommelmusik) nicht von Melodie und Harmonie gesprochen.

Rhythmus

„[Rhythmus] ist in Tanz, Musik und Versdichtung wirksam als eigenständig zeitliches, im jeweiligen Gesamtphänomen integriertes Ordnungs- und Gestaltungsprinzip. Im Begriff der Ordnung ist dabei das Moment der Regelmäßigkeit […], im Begriff der Gestaltung das Moment der Spontaneität enthalten.“ (Dahlhaus & Eggebrecht, 1995, S. 803)

„Rhythmus bezeichnet die Ordnung der Bewegung oder Zeiten, die dem menschlichen Sinn unmittelbar deutlich und faßlich ist und deren

Wahrnehmung sich mit dem Gefühl des Wohlgefallens verbindet.“ (Seidel, 1994, S. 258)

Ein weiterer nicht eindeutig definierter Begriff ist Rhythmus. Einigkeit besteht darin, dass es um eine Art organisierten Fortlauf geht „organized fluency“ wie Sachs es bezeichnet. (Sachs, 1952, S. 13) Denn Rhythmus ist nicht auf Musik beschränkt. Der Körper beispielsweise operiert auch mit Hilfe eines Rhythmus. Herzschlag, Atmung und Laufen passieren rhythmisch. (Spitzer, 2014, S. 213) In der Musik enthält der Rhythmus zwei Faktoren. Den Puls der Musik (auch Metrum oder Grundschlag) und die Längen der einzelnen Noten. (Ibbotson & Morton, 1981)

Abbildung 1: Rhythmus und Puls der ersten Takte von „Zum Geburtstag viel Glück“. (Eigene Darstellung)

(16)

Definition

In Anbetracht der vorgestellten Definitionen und der verschiedenen Aspekte von Musik soll folgende Definition für diese Forschungsarbeit gelten.

Musik bezeichnet Schallereignisse, die von einem Individuum mit Absicht aneinandergereiht wurden; oft um sich auszudrücken.

Schallereignis, als inklusiver Begriff alternativ zu Geräusch, da Musik und Geräusche nicht nur über das Gehör wahrgenommen werden (siehe Kapitel: Wahrnehmung).

Absicht, bedeutet, dass die Aneinanderreihung der Schallereignisse von einem Individuum mit Bewusstsein erstellt worden sein muss. Es heißt nicht unbedingt, dass die Geräusche von demselben Individuum auch erzeugt wurden.

Aneinandergereiht, denn ein einzelnes Geräusch ist noch nicht Musik, sondern eben nur ein Geräusch. Die Aneinanderreihung kann auch in Gedanken passieren, was die Ansicht unterstützt, dass auch zufällige Geräusche als Musik wahrgenommen werden können.

Oft um sich Auszudrücken. Musik im künstlerischen Kontext, wie Tüpker es beschreibt drückt häufig eine Bestimmte Meinung oder Gefühle aus. (Tüpker, 2006) Beim

Musizieren wird auch vom Musizierenden verlangt, Ausdruck in das Musikstück zu legen. Die „Alltagsimprovisationen“ scheinen allerdings ohne die Absicht etwas ausdrücken zu wollen auszukommen. (vgl. Tüpker, 2006)

Grenzen der Musik

Nun, da die Definition von Musik für diese Forschungsarbeit festgelegt ist, sollen zur Verdeutlichung einige Grenzbereiche der Musik eingeordnet werden.

Experimentelle Musik

Werke die komplett aus Pausen bestehen, wie 4‘33‘ (welches nur 4 Minuten und 33 Sekunden Stille enthält) können nicht als Musik betrachtet werden, da hier keine Schallereignisse aneinandergereiht werden.

Musikstücke, die aus scheinbar nur aus Lärm bestehen, wie es im Genre Noise der Fall ist, sind als Musik zu verstehen. (Vgl. Blut Und Nebel (Bianchi, 2018))

(17)

Musik 16

Künstliche Intelligenz

Wenn die von einer künstlichen Intelligenz komponierte Musik auch von einem Computer, anstatt von Menschen (ab)gespielt wird, handelt es sich erst einmal nicht um Musik. Wenn die Hörer*innen die Geräusche als Musik wahrnehmen, können sie als Musik betrachtet werden. Sollte die künstliche Intelligenz als ein Individuum mit Bewusstsein betrachtet werden, können die erzeugten Geräusche auch ohne die Wahrnehmung der Hörer*innen als Musik bezeichnet werden.

Sprache

Die Abgrenzung zu Gesprochenen ist nicht klar definiert. Es könnte argumentiert werden, dass es sich beim Sprechen, im Gegensatz zur Musik um eine absichtliche Aneinanderreihung von Schallereignissen handelt, die immer die Absicht verfolgen sich auszudrücken. Der Unterschied liegt jedoch deutlicher darin, dass es bei der Literatur vor allem um den Inhalt der Sätze geht, deren Bedeutung durch

Satzmelodie, Reime und Rhythmus emotional verstärkt wird. In der Musik liegt die Bedeutung vorrangig in diesen Aspekten, die Bedeutung der Wörter ist dabei

zweitrangig. Das zeigt sich deutlich an der Beliebtheit von rein instrumentaler Musik, Musik mit fremdsprachigen Texten, redundanten und/oder sinnfreien Texten. (Siehe Anhang 2)

Musiker*in

Die Bezeichnung Musiker*in gibt nicht wie in anderen Fällen, beispielsweise bei Anwält*in oder Ärzt*in eine Auskunft über den Beruf, sondern bezeichnet viel mehr eine soziale Rolle. Ob dieser Begriff auf eine Person passt ist meist von deren eigener Einschätzung abhängig. Die Selbsteinschätzung ist dabei meist vom eigenen Können und der quantitativen Erfahrung abhängig. (Pape, 2007, S. 245–246) Deshalb ist„[i]n der Forschungspraxis […] zu[r] Erfassung des professionellen oder

amateurbezogenen Status die Selbsteinschätzung der Musiker[*innen] in den Kategorien Amateur, Semiprofi und Profi üblich geworden“ (Pape, 2007, S. 249)

(18)

Bei einer Review verschiedener Wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema Musik wurde untersucht, ob es einen Konsens dabei gibt, ab wann eine Person als Musiker*in bezeichnet werden kann. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass im Schnitt Personen mit mindestens 6 Jahren Erfahrung musikalischer Aktivität als Musiker*innen gelten.

Sie üben mindestens eine Stunde in der Woche und sind im Hochschulalter oder älter. (Zhang et al., 2020)

In dieser Facharbeit heißt „Musizieren“ eine Tätigkeit zu vollführen, die Musik, gemäß der Definition im vorherigen Kapitel, als Resultat hat. Demnach bezieht sich

Musizierende auf alle Menschen, während sie musizieren, es wird keine

Unterscheidung zwischen Berufsmusikern und musikalisch ungebildeten Menschen gemacht. Wenn eine Differenzierung nötig wird, soll zwischen Berufsmusiker*innen, professionellen Musiker*innen, Laienmusiker*innen und nicht-Musiker*innen

unterschieden werden.

Berufsmusiker*innen dient das Musizieren als Haupteinnahmequelle.

Professionelle Musiker*innen stehen mit ihrer Musik in der Öffentlichkeit (entweder durch Auftritte oder durch Aufnahmen ihrer Musik) und musizieren auf einem sehr hohen Qualitätsstandard. Es ist jedoch nicht ihre Haupteinnahmequelle.

Hobbymusiker*innen betrachten die Musik als ein Hobby, üben regelmäßig und versuchen dabei auf ein selbst festgelegtes Qualitätslevel zu kommen.

Nicht-Musiker*innen musizieren vor allem, wenn sie allein sind oder zusammen mit anderen oder zu Liedern singen, pfeifen, summen oder klopfen.

Die Grenzen zwischen diesen vier Kategorien sind fließend.

(19)

Wahrnehmung 18

Wahrnehmung

„Der Körper ist die Basis unseres [...] musikalischen Empfindens, der Wahrnehmung und der spontanen Bewertung“ (Kleinen, 2007, S. 449) Musik kann über verschiedene Wege wahrgenommen werden. Gesunde Menschen hören Musik zum größten Teil, aber sie können auch bei sehr tiefen und lauten Tönen die Schallwellen fühlen. Hörgeschädigte Menschen dagegen können auch leisere und höhere Töne fühlen. Das Gehirn kann auch eigenständig in Form von Illusionen Musik spielen. Entweder ausgelöst durch andere Reize, wie bei der Synästhesie, gedanklich wie bei Ohrwürmern oder sehr realistisch, wie bei akustischen Halluzinationen.

Hörsinn

Um die erzeugten Schallereignisse zu hören, benötigt der Mensch das Ohr.

Das Schallereignis versetzt die Luftteilchen in Schwingung, welche durch das äußere Ohr an das

Trommelfell gelangen. Dieses nimmt die Bewegung auf und überträgt sie an die Gehörknöchelchen im Mittelohr. Die Gehörknöchelchen verwandeln durch ihre mechanische Bewegung den Schall in Flüssigkeitsschall im Innenohr.

(Siehe Abbildung 2) Dort wird unter

anderem die Basilarmembran in Schwingung versetzt. Auf der Basilarmembran sitzen Haarzellen, die durch die Auslenkung der Schwingung leicht geknickt werden und so einen elektrischen Impuls erzeugen. Diese Impulse werden über den Hörnerv an das Gehirn geleitet. Da die Basilarmembran je nach Frequenz des Tons an einer anderen Stelle maximal ausgelenkt wird, kann jeder Haarzelle ein bestimmter Frequenzbereich zugeordnet werden. (Altenmüller, 2018, S. 130–143)

Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung des menschlichen Gehörs.

(Eigene Darstellung)

(20)

„Die[se] räumliche Anordnung der für die Tonhöhenanalyse zuständigen neuronalen Elemente bleibt in der gesamten Hörbahn erhalten und lässt sich auch in der

Hörrinde des Großhirns nachweisen." (Altenmüller, 2018, S. 134)

Die meisten Menschen besitzen ein relatives Gehör, welches ihnen, wenn es trainiert ist, ermöglicht, die Tonhöhenunterschiede zwischen verschiedenen Tönen benennen zu können. (Altenmüller, 2018, S. 179) Eine Besonderheit ist das absolute Gehör (engl.

perfect pitch). „Darunter versteht man die Fähigkeit, Tonhöhen ohne einen zuvor gehörten und benannten Vergleichston korrekt zu benennen. Diese kategoriale Zuordnung der Tonhöhe erfolgt sehr rasch, gelingt bei den typischen

Absoluthörer[*innen] auch bei Sinustönen und wird nur bei extrem hohen oder tiefen Tönen unsicher.“ (Altenmüller, 2018, S. 178) Mit einem relativen Gehör ist die gleiche Melodie in einer anderen Tonlage, je nach Gehörbildung, nicht zu unterscheiden oder zumindest ohne Probleme wiederzuerkennen. Für ein absolutes Gehör sind es zwei gänzlich verschiedene Melodien. Beim Musizieren kann das absolute Gehör sogar hinderlich sein, da bei Instrumenten mit anderer Stimmung oder

transponierten Stücken die erwarteten Töne nicht mit dem erzeugten Klang

übereinstimmen. (Altenmüller, 2018, S. 179) Ein absolutes Gehör entsteht anders als der Name nahelegt nicht dadurch, dass das Gehör physisch in der Lage ist Tonhöhen genauer zu unterscheiden. Es ist vielmehr so, dass Menschen mit absolutem Gehör die Tonhöhen in ihrem Langzeitgedächtnis einspeichern können. (Schlemmer &

Hemming, 2018, S. 594)

Zum Musizieren ist das Hören der Töne insoweit wichtig, dass es eine direkte Rückmeldung über den Klang der Musik erlaubt. Diese kann zur unmittelbaren Anpassung der Spielweise genutzt werden. Bei Instrumenten mit festgelegten Tonhöhen (wie Klavier, Gitarre oder einigen Perkussionsinstrumenten) kann die Lautstärke und die Art des Anschlags variiert werden. Bei anderen Instrumenten, die stufenlose Töne erlauben (wie die meisten Seiteninstrumente, die Stimme oder die Zugtrompete) kann zusätzlich noch die Tonhöhe korrigiert werden. Das eigene Gehör ist allerdings nicht unbedingt repräsentativ für den erzeugten Klang. So klingt die eigene Stimme für einen selbst anders als für alle anderen. Das hat vor allem zwei Gründe.

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Wahrnehmung 20

Einerseits breiten sich höhere Frequenzen geradliniger aus als tiefere, weswegen vom Schall, der den Mund verlässt, eher die tieferen Frequenzen das eigene Gehör

erreichen. Andererseits wird der Schall der eigenen Stimme zusätzlich noch über die Vibration der Knochen an das eigene Ohr geleitet. Je höher die Frequenz desto schlechter funktioniert diese Knochenleitung. (Spitzer, 2014, S. 279–280) Die Knochenleitung wird nicht nur von der eigenen Stimme verwendet, sobald der Körper einer Schwingung ausgesetzt ist, die auch den Schädelknochen zum

Schwingen bringt, werden diese Impulse direkt an das Innenohr geleitet. (Schmidt &

Lang, 2007, 348-249)

Deutlich wird dieser Effekt auch bei Instrumenten, die eine direkte Verbindung mit dem Schädel haben, beispielsweise bei Blasinstrumenten (Brockt, S. 100) oder der Violine. (Rosanowski & Eysholdt, 1996, S. 514)

Sehsinn

Um Musik wahrzunehmen wird der Sehsinn nicht benötigt. Beim Musizieren spielt er jedoch insofern eine Rolle, dass beim Erlenen und Üben eines Instruments und üben eines neuen Musikstücks meist die Augen verwendet werden, um die Noten zu lesen oder die Haltung und Position des Körpers, beziehungsweise einzelner Körperteile zu ermitteln und zu korrigieren. (Altenmüller, 2018, S. 241–242) Beim Musizieren mit anderen wird oft auf visuelle Signale reagiert. So werden beispielsweise im Orchester im Normalfall die Signale des Dirigenten nur visuell gegeben. In kleineren klassischen Musikgruppen wird der Beginn der Aufführung auch über eine Bewegung eines der Gruppenmitglieder deutlich gemacht.

Für Solist*innen spielt der Sehsinn mit steigender Erfahrung eine immer geringere Rolle, da sie Musikstücke zu großenteilen auswendig spielen und sich mehr auf die somatosensorische Rückmeldung verlassen. (Altenmüller, 2018, S. 242)

Vor allem Nicht-Musiker und Musizierende, die vor sich hin singen, pfeifen, trommeln oder auf einem Instrument improvisieren, sind nicht auf das Sehen angewiesen.

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Somatosensorischer Sinn

„Eventually I managed to distinguish the rough pitch of notes by associating where on my body I felt the sound with the sense of perfect pitch I had before losing my hearing. The low sounds I feel mainly in my legs and feet and high sounds might be particular places on my face, neck and chest.“ (Glennie, 2015)

„In der Wahrnehmung von Musik bei hörgeschädigten Menschen werden Fühlmusik und Hörmusik unterschieden.“ (Salmon, 2006, S. 117) Der Begriff Fühlmusik soll verdeutlichen, dass Menschen Schallwellen auch fühlen können und diese Art der Musikrezeption je nach Ausprägung des Resthörvermögen bei der Wahrnehmung von Musik überwiegt. Dieses Fühlen der Musik erfolgt über den sogenannten Vibrationssinn. „Beim […] Vibrationssinn wirken mehrere Sinnessysteme zusammen:

Der haptische Sinn (greifen, tasten) und der taktile Sinn (Oberflächensensibilität der Haut), der vestibulare Sinn (Gleichgewichtsorgane im Innenohr) und der

kinästhetische Sinn (Propriozeptoren in Gelenken, Muskeln, Sehnen; auch Tiefensensibilität genannt).“ (Reidel-Mathias, 2005, S. 67)

Die Vibrationen können auf verschiedene Weisen im Körper wahrgenommen werden.

Einerseits kann ein direkter Körperkontakt mit einem den Schall leitenden

Gegenstand aufgenommen werden. Das ist entweder direkt die Schallquelle, es wird also das Instrument berührt oder dies gelingt über andere Gegenstände, wie den schwingenden Fußboden, Wände oder Luftballons. Wenn es keinen Körperkontakt zu einem schwingenden Objekt gibt, kann auch die Resonanz in den Hohlräumen des eigenen Körpers gespürt werden, etwa in der Brust oder dem Bauch. (Reidel-Mathias, 2005, S. 67-68) Bei den meisten Instrumenten hat der/die Musiker*in direkten

Körperkontakt mit dem Instrument und der Schall wird direkt zum Körper

weitergeleitet. Die spürbaren Schallwellen als auch der kinästhetische Sinn an sich geben erfahrenen Musiker*innen, selbst wenn sie sich selbst weder hören noch sehen können, die Möglichkeit, Rückmeldung über ihr Spiel zu erhalten und es bei Bedarf anzupassen.

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Wahrnehmung 22

Solche Fälle entstehen beispielsweise in einem Orchester, wo der eigene Klang sich mit dem der gesamten Stimmgruppe vermischt und die Augen eher auf die Noten, den/die Dirigierende/n oder den/die Stimmführende/n gerichtet sind, als auf das eigenen Instrument. (Altenmüller, 2018, S. 239–240) Auch geübte Sänger können die kinästhetische Wahrnehmung der Stimmbänder nutzen (Altenmüller, 2018, S. 180), um darüber die gesungenen Tonhöhen identifizieren und gegebenenfalls zu korrigieren.

Illusionen Synästhesie

Synästhesie ist ein, bei mindestens 1% der Bevölkerung auftretender, angeborener neurologischer Effekt, bei dem ein oder mehrere Sinne verknüpft sind. So sind beispielsweise die einzelnen Buchstaben des Alphabets mit bestimmten Farben verbunden. Die Verknüpfung verläuft dabei in der Regel nur in eine Richtung.

Buchstaben rufen in diesem Beispiel also Farben hervor, die gleichen Farben jedoch keine Buchstaben. (Simner et al., 2006, S. 1024–1030) Bei Synästhesien, die mit Musik oder Geräuschen verbundenen sind, ist das Gehör meist der auslösende Faktor, sodass beispielsweise synästhetische Farben oder Gerüche zu bestimmten Klängen wahrgenommen werden. Für Musiker*innen ist diese Erfahrung eine starke

Bereicherung. (Marks, 2005) Aus Cytowic’ und Eaglemans Tabelle der prozentualen Verteilung von verschiedenen Formen von Synästhesie lässt sich erschließen, dass etwa 66% der Synästhesien durch Geräusche ausgelöst werden. Synästhesien die die Wahrnehmung von Geräuschen als Folge haben, machen hingegen nur 3% aus.

(Cytowic & Eagleman, 2011, S. 24) Demnach ist es nicht verwunderlich, dass es nur sehr wenige wissenschaftlich Untersuchungen zu synästhethischen Geräuschen gibt.

Eine Veröffentlichung zu diesem Thema stammt von Saenz und Koch aus 2008. Die Studie untersuchte vier Teilnehmer, die allesamt durch kontinuierliche Bewegungen oder blinkende Lichter Geräusche in Form von Klopfen, Rauschen oder Piepsen wahrnahmen. Die Geräusche traten passend zu der Bewegungen auf und waren deutlich von real existierenden Geräuschen unterscheidbar. (Saenz & Koch, 2008)

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Ähnliche Erfahrungen macht auch Evelyn Glennie. Sie berichtet über sich selbst:

„If I see a drum head or cymbal vibrate or even see the leaves of a tree moving in the wind then subconsciously my brain creates a corresponding sound.“ (Glennie, 2015)

Glennie ist eine Musikerin, die seit ihrer Jugend hochgradig schwerhörig ist. (Glennie, 2015) Der an Synästhesie erinnernde Effekt trat erst nach ihrer Schwerhörigkeit auf, und ist demnach nicht der Synästhesie zuzuordnen.

Akustische Halluzinationen

Akustische Halluzinationen die Musik beinhalten sind nach Spitzers Einschätzung eher selten und kommen vor allem bei Hirnschädigungen, Erkrankungen des Gehörs, psychiatrischen Erkrankungen und in extrem seltenen Fällen als Nebenwirkung bei Medikamenten vor. (Spitzer, 2014, S. 204) Altenmüller widerspricht Spitzer und behauptet musikalische Halluzinationen träten häufiger auf. Vor allem bei Menschen,

„die im Alter schwerhörig oder taub werden. Hier erklärt man sich die Entstehung […]

durch ein Enthemmungsphänomen. Wenn Neurone, die musikalische

Gedächtnisinhalte kodieren, wegen der Ertaubung keine Anregung von außen mehr erfahren, beginnen sie auf eigene Faust die Melodien zu produzieren.“ (Altenmüller, 2018, S. 119) Die musikalischen Halluzinationen können dabei sehr verschieden auftreten. Sie können tagelange Halluzinationen von immer denselben in Gänze auftretenden Musikstücken sein oder immer wiederkehrende einzelne Melodieteile.

(Spitzer, 2014, S. 204–205; Altenmüller, 2018, S. 117–118)

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Wahrnehmung 24

Ohrwurm

„Ohrwürmer sind eine Spezialform des musikalischen Gedächtnisses.“

(Altenmüller, 2018, S. 116)

Ein Ohrwurm ist ein markanter Musikausschnitt, der im Langzeitgedächtnis

gespeichert ist und teilweise wesentlich später, unwillentlich, wieder aufgerufen wird.

(Schlemmer & Hemming, 2018, S. 596) Häufig geschieht dies in „Phasen reduzierter kognitiver Aktivitäten, zum Beispiel bei monotonen Hausarbeiten und in

Wartephasen, oder auch in Situationen, in denen eigentlich Musik erwartet wird, seltener in Stresssituationen.“ (Schlemmer & Hemming, 2018, S. 597) Es wird vermutet, dass in solchen Phasen „das kreative Umherschweifen von Gedanken in Gang gesetzt [wird], um Abhilfe zu generieren. Dabei werden im Gedächtnis bereits gespeicherte Informationen bzw. Lösungen konsultiert. Besonders leicht [...] werden dabei musikalische Inhalte abgerufen, und ein ‚Ohrwurm‘ entsteht.“ (Schlemmer &

Hemming, 2018, S. 599) Bei Menschen, die eine starke körperliche oder emotionale Reaktion auf Musik zeigen passiert dies öfter. (Schlemmer & Hemming, 2018, S. 600)

Subjektive Rhythmisierung

Nicht nur Musik als Ganzes kann als Illusion auftreten, auch Rhythmen können unbewusst in Geräuschfolgen gehört werden. Es kommt dazu, dass die akustischen

„[…] Reize [gruppiert werden], obwohl es rein physikalisch […] keinen Grund [dazu]

gibt.“ (Spitzer, 2014, S. 216) Das Phänomen tritt auf, solange die einzelnen Reize einen bestimmten Bereich der Dauer einhalten und sich innerhalb der sogenannten psychischen Gegenwart abspielen. Einer Zeitspanne von, je nach Situation,

wahrscheinlich 2-10 Sekunden. Eine Abfolge regelmäßiger und gleichförmiger Klopfgeräusche wird also ohne objektiven Grund als Gruppierung von jeweils zwei oder drei Geräuschen wahrgenommen, bei dem das jeweils erste Geräusch der Gruppe betont ist. (Spitzer, 2014, S. 216)

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Wirkung

Gehirnstruktur

Eine Frage die von der Musikwissenschaft noch nicht ausreichend geklärt werden konnte, ist die Frage danach, wo Musik im Gehirn verarbeitet wird und inwiefern Musik und Sprache zusammenhängen.

Abbildung 3: Darstellung der aktiven Gehirnareale bei verschiedenen musikalischen Leistungen. In Anlehnung an (Spitzer, 2014, S. 310)

Bekannt ist, dass Musizieren eine Vielzahl an Bereichen im Gehirn aktiviert. Denn die Musik wird nicht nur im Zuge der Wahrnehmung verarbeitet, auch Motorik, Emotion und Gedächtnis spielen eine Rolle. (Spitzer, 2014, S. 208) Bewiesen ist auch, dass

„[...]Musizieren mehr als die Summe von Einzelleistungen [...]“ ist. (Spitzer, 2014, S. 309) Das konnte in einer schon etwas älteren Studie gezeigt werden. Es wurde das Gehirn von zehn Pianist*innen untersucht, während sie vom Blatt spielten. Zur Kontrolle und Identifikation der jeweiligen Gehirnareale wurden auch die einzelnen Aktionen untersucht, dazu gehörte unter anderem das Noten Lesen, ohne zu spielen, Spielen ohne Noten zu lesen, und Musik hören ohne Noten zu lesen oder zu spielen.

Wenn alle Aktivitäten gleichzeitig ausgeführt wurden, wurde ein Teil des Gehirns aktiv, der bei keiner der anderen Einzelleistungen aktiv wurde. (Siehe Abbildung 3) Es machte dabei keinen Unterschied, ob die gehörte Musik von den Teilnehmer*innen selbst erzeugt wurde oder von einer anderen Quelle abgespielt wurde. Die aktiven Areale überlappten sich außerdem teilweise mit denen, die für die

Sprachverarbeitung zuständig sind, waren aber nicht identisch mit ihnen. (Sergent et al., 1992)

(27)

Wirkung 26

Bei Untersuchungen beim Singen, konnte beobachtet werden, dass auch hier viele aktive Areale mit denen, die beim Sprechen aktiv sind, übereinstimmen. Dazu

gehören motorische Areale, die die Bewegungen sowohl vorprogrammieren als auch steuern und Areale zur Kontrolle und Wahrnehmung des Gesangs. Beim Singen schien allerdingt die rechte Gehirnhälfte wichtiger zu sein, während es beim Sprechen die linke ist. (Spitzer, 2014, S. 278–279). Interessanterweise scheinen

Menschen, die sich nicht viel mit Musik auseinandersetzen, diese eher in der rechten Gehirnhälfte zu verarbeiten und eher emotional und ganzheitlich wahrzunehmen.

Musikexpert*innen nehmen Musik dagegen tendenziell analytisch wahr und

verarbeiten sie eher in der linken Gehirnhälfte. (Bever & Chiarello, 1974) Ein weiterer Unterschied zwischen erfahrenen Musiker*innen und Nicht-Musikern besteht darin, dass Instrumentalist*innen wahrscheinlich nur durch die Instrument-spezifische Bewegung ihre Hörrinde aktivieren können. Bei Pianist*innen konnte dieser Effekt bestätigt werden. Die Hörrinde wurde aktiv, wenn die Pianist*innen nur ihre Finger bewegten als würden sie Klavier spielen. Umgekehrt wurde auch der motorische Kortex aktiv, wenn die Musiker*innen Klaviermusik nur zuhörten. (Bangert, M., Parlitz, D., & Altenmüller, E., 1999)

In einer Reihe von Studien konnten einzelne Teilaspekte von Musik den jeweilig wichtigeren Gehirnhälften zugeordnet werden. Melodien werden demnach eher rechts, Rhythmen eher links verarbeitet. Genauer betrachtet ist die Wahrnehmung von Intervallen eher linkshemisphärisch und die Kontur der Melodie eher

rechtshemisphärisch. Im Falle des Rhythmus konnte in weiteren Studien gezeigt werden, dass der Grundpuls eher rechts verarbeitet wird, während der eigentliche Rhythmus links verarbeitet wird. (Spitzer, 2014, S. 200) Auch die Wahrnehmung von Dis- und Konsonanz konnte in verschiedenen Studien bestimmten Hirnarealen zugeordnet werden. Der Bereich für Dissonanz steht in enger Verbindung zu einem anderen Areal, welches für die Verarbeitung negativer Affekte zuständig ist, was erklären könnte, warum dissonante Musik als unangenehm empfunden wird. Das für die Konsonanz zuständige Areal ist auch für die Verarbeitung von Regeln und

Affekten zuständig. Es ist deutet darauf hin, dass die konsonante Musik die

Erwartungen an Regeln erfüllt und dadurch positive Emotionen weckt. (Blood et al., 1999)

(28)

Die Untersuchungen zeigen, dass die emotionale Bewertung von Musik mit der Kon-/Dissonanz zwar zusammenhängt, jedoch ist bekannt, dass die emotionale Bewertung von Musik vor allem in einer anderen Gehirnregion stattfindet. (Spitzer, 2014, S. 395)

Über die Lokation von Musik im Gehirn lassen sich keine allgemeinen Aussagen treffen, da sich das Gehirn individuell mit den Erfahrungen, die der Mensch macht, entwickelt. Bei vielen Dingen, die der Mensch lernt, wie z.B. der Muttersprache, ist die Erfahrung sehr ähnlich. Die allermeisten Menschen lernen ihre Muttersprache

praktisch fehlerfrei innerhalb desselben Lebensabschnitts. Deshalb können

allgemeine Aussagen über die Verarbeitung der Sprache im Gehirn gemacht werden.

Bei der Musikbildung ist das jedoch anders. Nicht nur die Art der Musik, der der Mensch ausgesetzt ist, kann stark variieren, auch der Zeitpunkt des Erlernens und Vertiefens musikalischen Wissens, und die Frequenz des Musik-Hörens/-Machens ist nicht standardisiert. Dementsprechend sind auch die musikalischen Leistungen im Gehirn sehr individuell repräsentiert. (Spitzer, 2014, 197-198)

Neuroplastizität

Beim häufigen Musizieren reagiert das Gehirn mit strukturellen Anpassungen. So zeigte sich, dass langjährige Musiker*innen eine Verdickung eines Faserbündels haben, welches beide Gehirnhälften miteinander verbindet. (Schlaug et al., 1995b) Dieses Faserbündel sorgt für die Zusammenarbeit zwischen den beiden

Gehirnhälften. (Ridding et al., 2000) Schlaug und Kollegen schlossen darauf, dass die Verdickung dadurch entsteht, dass beim Musizieren die Zusammenarbeit der

Gehirnhälften durch die Koordination unterschiedlicher Bewegungen beider Hände trainiert wird. Auch andere Teile des Gehirns sind bei Musiker*innen stärker

ausgeprägt, das absolute Gehör beispielsweise ist mit der Größe einer bestimmten Windung im linken Schläfenlappen in Verbindung gebracht worden (Schlaug et al., 1995a) und selbst einzelne Finger, Töne oder Klangfarben sind nach längerem Musikunterricht besonders stark im Gehirn repräsentiert. Besonders stark tritt der Effekt auf, wenn der Unterricht schon im Kindesalter beginnt. (Altenmüller & Schlaug, 2015, S. 241)

(29)

Wirkung 28

Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass bei Menschen, die vor dem 12. Lebensjahr mit dem Spielen eines Streichinstruments beginnen, das

somatosensorisches Areal im Gehirn vergrößert ist, welches die Empfindungen der linken Hand verarbeitet. (Elbert et al., 1995)

Altenmüller und Schlaug argumentieren, dass die durch Musik ausgelösten neuroplastischen Vorgänge viele Vorteile mit sich bringen können. Nicht nur um beschädigte sensomotorische Gehirnstrukturen zu verändern oder

wiederherzustellen, sondern auch um den neurohormonellen Status, als auch kognitive und emotionale Prozesse bei Gesunden und neurologisch Erkrankten zu beeinflussen. (Altenmüller & Schlaug, 2015, S. 238)

Physiologie

Blood und Zatorre konnten in ihren Studien zeigen, dass Musik neuronale

Belohnungs- und Gefühlssysteme aktiviert, die sonst nur auf biologisch relevante Reize, wie Nahrung und Sex reagieren. Ein bekannte Möglichkeit diese Systeme auf künstliche Weise zu aktivieren ist die Einnahme von Drogen. Die Autor*innen sind der Meinung, dass die Fähigkeit der Musik, ein solch intensives Vergnügen zu erzeugen und körpereigene Belohnungssysteme zu aktivieren nahe legen würde, dass Musik von erheblichem Nutzen für das geistige und körperliche Wohlbefinden sein kann obwohl sie für das Überleben der menschlichen Spezies nicht unbedingt notwendig ist. (Blood & Zatorre, 2001, S. 11823) So konnten auch Salimpoor und Kollegen ein Jahrzehnt später zeigen, dass der Körper mit einer Ausschüttung von Dopamin reagiert, wenn Musik gehört wird, die dem Individuum gefällt. (Salimpoor et al., 2011) Nicht beim Hören von Musik, sondern beim Musizieren, werden zusätzlich

Endorphine freigesetzt. Endorphine sind köpereigene Opiate die bei körperlichen Schmerzen, körperlichen oder psychischem Stress produziert werden. Sie betäuben den Schmerz und hellen die Stimmung auf, außerdem entspannt das Hormon und sorgt dafür, dass Vertrauensbeziehungen leichter eingegangen werden können. Als bekanntestes Mittel, um die Endorphin-Produktion anzuregen gilt Sport, da hier der Körper unter Stress gesetzt wird. (Gamble et al., 2016, S. 81–82) Bei einer Reihe von Testsituationen, in denen die Schmerzempfindungsgrenze der Proband*innen getestet wurde, konnte gezeigt werden, dass Kälte länger ausgehalten wurde, wenn die Teilnehmer*innen Musizierten als wenn sie nur Musik zuhörten.

(30)

Den Effekt erklärten sie damit, dass beim Musizieren, ähnlich wie beim Sport, der Körper unter Stress gestellt wird und dadurch die Endorphin-Ausschüttung angeregt wird. (Dunbar et al., 2012, S. 84–86)

Neben dem Anstieg von Endorphinen wurde auch die Produktion anderer Hormone und physiologische Reaktionen beim Musizieren untersucht, die untersuchte Disziplin ist dabei meist der Gesang. So konnten Studie beispielsweise zeigen, dass die

Produktion von Immunoglobulin A, einer bestimmten Klasse Antikörper, sich

steigerte. Das Protein stärkt das Immunsystem und wurde beim Singen, unabhängig von den durch die Musik induzierten Emotionen, vermehrt produziert. (Wendrich &

Brauchle, 2011) An einer Untersuchung von 6 Hobby-Sänger*innen konnte gezeigt werden, dass die Werte für Serotonin, Noradrenalin, Beta-Endorphin nach dem Singen höher waren als davor. Der Adrenalinpegel senkte sich. Es konnte allerdings kein erhöhter Dopaminspiegel festgestellt werden. Der Autor betonte jedoch, dass nur im Falle des Noradrenalins das Ergebnis signifikant war. (Biegl, 2004, S. 246) Zur Ausschüttung von Oxytozin, einem Hormon, welches mit sozialen Erlebnissen in Verbindung gebracht wird, gibt es einige Studien, die sich teilweise stark

widersprechen. Kreutz findet in seiner Studie eine Erhöhung des Oxytozin-Level bei Sänger*innen nach einer Chorprobe im Vergleich zu einer nicht singenden

Kontrollgruppe. Wobei Kreutz auch darauf hinweist, dass es zu viele Unterschiede zwischen den beiden Gruppen gab, als dass der Effekt eindeutig auf den Gesang zurückzuführen wäre. (Kreutz, 2014) Eine andere Studie aus 2017 kommt zu

entgegengesetzten Ergebnissen. Der Oxytozin-Wert der Chorsänger*innen war nach der Probe deutlich verringert. Wenn die Sänger*innen solo sangen, stieg der Wert leicht an. Die Autor*innen begründen die Funde damit, dass die Produktion von Oxytozin mit dem Erleben von Stress, beziehungsweise Erregung, in Verbindung stehen und die Sänger*innen beim Sologesang aufgeregter waren als im Chor. Die Autor*innen weisen darauf hin, dass vorsichtig mit der Annahme umgegangen werden sollte, dass alle sozialen Erlebnisse einen messbaren Anstieg an Oxytozin bedeuten. (Schladt et al., 2017) Eine aktuellere Studie findet gar keine

physiologischen Auswirkungen, wie die erhöhte Ausschüttung von bestimmten Hormonen nach dem Singen, obwohl die Teilnehmenden von positiven

psychologischen Auswirkungen berichteten.

(31)

Wirkung 30

Die Autor*innen vermuten, dass die soziale Bindung beim gemeinsamen Singen erst nach größeren Zeitspannen als 30 Minuten eintritt und die psychologischen Effekte sowohl von der Gesangsaktivtät als auch der Dauer des Singens abhängig sind.

(Bullack et al., 2018)

Psychologie

Im Alltag auftretende Emotionen entstehen in der Regel durch Ereignisse, die für das Individuum möglicherweise Konsequenzen bedeuten. Werden die Konsequenzen als positiv eingeschätzt, entstehen positive Emotionen, werden die Konsequenzen als negativ betrachtet entstehen negative Emotionen wie Trauer und Wut. Durch Musik induzierte Emotionen unterscheiden sich davon insoweit, dass das Hören im

Normalfall keine Konsequenzen für den Menschen beinhaltet und sich die Emotionen unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ sind, positiv auf das Wohlbefinden auswirken. (Egermann & Kreutz, 2018, S. 626) Die in Musik transportierten Emotionen (zumindest Trauer, Freude und Angst) sind zudem unabhängig von Kultur und

Sprache verständlich (Fritz et al., 2009), sind aber wohl an die auditive Wahrnehmung geknüpft. Wie eine Studie zeigte, konnten die gehörlosen und hörbehinderten

Teilnehmer*innen die in den Filmmusiken verarbeiteten Emotionen nicht

wahrnehmen. Die positiven psychologischen Effekte des Musizierens zeigen sich auch in verschiedenen Studien, so fasst Gembris zusammen: „Musizieren […]

verschafft Lebensfreude und Glück, das Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, Herausforderungen, Zufriedenheit, Entspannung und das Gefühl von Wohlbefinden und Gesundheit, unabhängig von der persönlichen medizinischen Situation […].“ (Gembris, 2018, S. 238) Auf Musik im allgemeinen bezogen kommen Heye & Knigge zum folgenden Schluss: „Der aktuelle Forschungsstand identifiziert unter anderem die folgenden funktionalen Zuschreibungen der Nutzung von Musik[…]: Stimmungsregulation, Entspannung, Aktivierung, Begleitung von diversen Tätigkeiten, emotionales, assoziatives und/oder kognitives Involvement, soziale Distinktion, Impression-Management, Entwicklung und Ausdruck der eigenen Identität[…].“ (Heye & Knigge, 2018, S. 183)

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Musik wird positiv auf das Gefühlsleben aller Altersklassen. Eine Studie mit

Kindergartenkindern zeigte, dass diese nach gemeinsamem Singen und Tanzen in Zweiergruppen hilfsbereiter und kooperativer miteinander umgingen. (Kirschner &

Tomasello, 2010) Bei Grundschulkindern wurde die Reizbarkeit und die

darauffolgende Aggression untersucht, wobei die Forschungsergebnisse ergaben, dass die Kinder, die in der Schule zusammen musizierten, danach weniger reizbar und aggressiv waren. (Roden et al., 2016) Bei einer Umfrage zur, unter anderem, Wirkung des Singens auf das Wohlbefinden wurden Schüler*innen aus drei Schulformen befragt. Unterschieden wurden zwischen Schüler*innen aus allgemeinbildenden Gymnasien (die weder Sport noch Musik in ihrer Freizeit machten) Musikgymnasien und Sportgymnasien. Im Musikgymansium war die Teilnahme am Chor und im Sportgymnasium die Teilnahme an einem Sportkurs verpflichtend. Es zeigte sich, dass die Schüler*innen aus den Schulen mit Sport- oder Musik-Schwerpunkt ein höheres wahrgenommenes Wohlbefinden hatten. (Georgi et al., 2016) Bei Untersuchungen zum gemeinsamen Singen bei Erwachsenen konnten Kreutz und Georgi zeigen, dass die Tätigkeit für positive Affekte sorgte (Kreutz &

Georgi, 2018, S. 652) und auch bei Schladt und Kolleg*innen sorgte 20-minütiges Singen sowohl in der Gruppe, als auch Solo für ein höheres empfundenes

Wohlbefinden und eine Verringerung von negativen Gefühlen wie Trauer oder

Besorgnis. (Schladt et al., 2017) Verschiedene Studien mit Menschen von ca. 60 bis 90 Jahren zeigten positive Effekte des regelmäßigen Musizierens auf Arbeitsgedächtnis, motorisch-kognitive Fähigkeiten, Wortflüssigkeit, mentale

Verarbeitungsgeschwindigkeit, Depressionsneigung und die allgemeine Lebensqualität. (Gembris, 2018, S. 239–240)

Im Bereich der Musiktherapie legen qualitative Untersuchungen nahe, dass bei Menschen mit chronischen Schmerzen eine Gesangstherapie zu einer Verbesserung der Selbstverwaltung, Motivation, des Selbstwerts, Zugehörigkeitsgefühls und zu einer Verringerung von Isolation führen kann. (Bradt et al., 2016) Musizieren kann auch den Zugang zu Emotionen erleichtern, was helfen kann, Trauer zu überwinden (Sekeles, 1999). Es kann auch der Zugang zu den eigenen Emotionen

wiederhergestellt werden, was Menschen hilft, die an fortgeschrittener Depression leiden und über das „Gefühl der Gefühllosigkeit“ klagen (Spitzer, 2014, S. 433)

(33)

Wirkung 32

Bei einem bestimmten Zweig der Musiktherapie steht die Improvisation im

Vordergrund. „Die Improvisation aktiviert emotionales Erleben und ermöglicht ein Probehandeln auf musikalischer Ebene. Innere Bewegungen in Form von Gefühlen oder Gedanken werden durch Bewegungen an einem Instrument oder mit der Stimme nach außen getragen und können so ohne Sprache ausgedrückt werden.“

(Plahl, 2018, S. 701) Tatsächlich erleichtert Musik die emotionale Regulation, was dazu führt, dass emotionale Belastungen leichter verarbeitet werden können. (Plahl, 2018, S. 699) Das spiegelt sich auch in einer Untersuchung, bei der Kinder, die ein

Instrument lernten zu ihren Emotionen beim Musizieren befragt wurden. Die Ergebnisse zeigten, dass die Kinder, die nach einem Jahr noch immer ihr

Musikinstrument spielten, dieses zu einem großen Teil auch zu Emotionsregulierung verwendeten. (Friedrich et al., 2015)

Transfereffekte

Die Langzeitwirkung des Musizierens im Vor- und Grundschulalter auf andere Fähigkeiten ist nur in vereinzelten Studien zu dem Thema nachzuweisen. Die Ergebnisse waren teilweise jedoch entweder nicht direkt mit dem Musizieren zusammenzubringen, oder waren wenig relevant. Dies war der Fall bei Untersuchungen zur Intelligenz, Aufmerksamkeit,

Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und der Arbeitsgedächtnisleistung.

Nachgewiesen konnten allerdings positive Effekte auf die Sprach- und

Lesefertigkeiten, mathematische Leistungen, visuell-räumliche als auch verbale Gedächtnisleistung. (Degé & Roden, 2018, S. 163) So konnten verschiedene Studien zeigen, dass das phonologische Bewusstsein, welches das Erlenen von Lesen und Schreiben erleichtert, durch Musikunterricht gestärkt wurde. Zusätzlich verbesserten sich durch Musikunterricht auch die Lese-Rechtschreib-Fähigkeiten (Degé & Roden, 2018, S. 171–174), sowie bei Kindern im Vorschulalter der Wortschatz. (Moreno et al., 2011) Musizieren im Kindes- und Jugendalter hat zusätzlich langfristige positive Auswirkungen auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit von auditiven Reizen und die Spracherkennung im Kontext von Störgeräuschen. (Gembris, 2018, S. 241) Beim

Trainieren des Gehörs im Erwachsenenalter zeigen sich Verbesserungen der auditiven Wahrnehmung, „Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistungen, die über den Bereich der Musik hinausgehen.“ (Gembris, 2018, S. 241)⁠⁠(Gembris, 2018, S. 241)

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Auch bei Senioren sind solche Prozesse noch zu beobachten. Diese „[…] sind allerdings gegenüber Jugendlichen in der Intensität abgeschwächt und langsamer.

Dies ist unter anderem durch die […] verminderte Aktivität zahlreicher

Überträgerstoffe, insbesondere [von] Dopamin mit bedingt. […] Heute [wird davon ausgegangen], dass das aktive Musizieren derartige Alterungsprozesse verzögert, ja teilweise sogar rückgängig macht, da Wahrnehmung, Denken, motorische

Fertigkeiten geübt und positive Emotionen erzeugt werden.“ (Altenmüller et al., 2018, S. 12)

Gemeinschaft

„[Musik] kann nur in der Gemeinschaft entstehen und hat nur in der Gemeinschaft ihre eigentliche Funktion.“ (Spitzer, 2014, S. 339)

Beim Musizieren in Gruppen scheinen zwei Aspekte von besonderer Bedeutung zu sei. Einerseits die Möglichkeit auch sehr große Gruppen durch Musik synchronisieren zu können andererseits die, unter anderem auch daraus resultierende Möglichkein das Wir-Gefühl der Gemeinschaft zu stärken.

Gruppensynchronisation

Sich synchron zu Musik zu bewegen ist eine Fähigkeit, die den Menschen von

anderen Säugetieren unterscheidet. Die einzigen anderen Tiere die dazu in der Lage zu sein scheinen sind nach heutigem Stand Kakadus und Papageien. (Altenmüller, 2018, S. 156) Dabei ist es noch ungeklärt, wozu diese Fähigkeit evolutionär betrachtet von Nutzen war. Die Synchronisation über Musik wird häufig für Arbeiten genutzt, bei denen viele Menschen präzise koordiniert werden müssen. So geschehen bei Marsch- oder Militärmusik oder auch Arbeitsliedern wie den Shantys. Der Vorteil von Liedern im Gegensatz zu gesprochenen Anweisungen ist einerseits die Lautstärke, die durch das Musizieren erreicht werden kann und zum anderen, der Fakt, dass die Bewegungen schon fast automatisch im erforderlichen Rhythmus geschehen und punktgenau ausgeführt werden können. (Spitzer, 2014, S. 224-225)

(35)

Wirkung 34

Das synchronisierte Verhalten mit anderen stärkt außerdem den

Gruppenzusammenhalt. In einer Meta-Studie von 42 Studien zum Effekt von Synchronität auf das soziale Verhalten von Menschen ergab die Analyse, dass im Vergleich zu nicht synchronisierten Situationen synchrone Bewegungen oder Lautäußerungen sich positiv auf prosoziales Verhalten, subjektive soziale Bindung, soziale Kognition (bspw. Aufmerksamkeit gegenüber anderen oder Erinnerung an andere) und positive Affekte auswirkte., wobei der Effekt auf das prosoziale Verhalten am deutlichsten Ausgeprägt ist. Die Gruppengröße spielt auch eine Rolle. Größere Gruppen verstärken den Effekt auf das Verhalten und den Affekt noch zusätzlich.

(Mogan et al., 2017) Diese Wirkungen sind wohl auch ausgelöst, wenn die anderen Personen nur virtuell anwesend sind. Eine Studie, die die Auswirkungen von

synchronem Verhalten auf Sympathie untersuchte, zeigte, dass eine andere Person nach synchronisiertem Verhalten sympathischer wahrgenommen wird, selbst wenn sie nur virtuell anwesend ist. Die Teilnehmer*innen der Studie wurden vor einen PC gesetzt, an dem sie synchron mit einer anderen Person klicken sollten. Die andere Person wurde durch ein Bild in der Ecke des Bildschirms dargestellt, auf dem die Bewegung zum Geräusch nicht sichtbar war (in Wirklichkeit wurden die Klicks nur vom Computer abgespielt und das Bild der anderen Person war ein aufgenommenes Video). Der einzige Referenzpunkt für die Synchronisation war das Geräusch der Klicks der anderen Person, welche über den PC zu hören waren. Die

Teilnehmer*innen stuften ihr Gegenüber signifikant als sympathischer ein als eine Kontrollgruppe, die angewiesen wurde, zwischen den Klicks der anderen Person zu klicken. Die Autor*innen weisen darauf hin, dass dieser Effekt möglicherweise erklärt, weswegen Menschen sich gerne mit aufgenommener Musik beschäftigen. (Launay et al., 2014)

(36)

Wir-Gefühl

Evolutionär könnte Musik dazu gedient haben Emotionen mit einer größeren Gruppe zu teilen. Als die Lebensgemeinschaften größer wurden, reichte das normale

Gespräch nicht mehr aus und es mussten andere Wege gefunden werden, sich mehreren Menschen mitzuteilen und die sozialen Bindungen zu stärken. (Gamble et al., 2016, S. 255–256) So zum Beispiel bei Fangesängen, wie sie bei Fußballspielen häufig auftreten.

Nach Rötter haben sie fünf Funktionen: „[…] Unterstützung der eigenen Mannschaft[;]

psychologische[...] Kriegsführung gegen die anderen[;] Ausdruck und […] Bewältigung der eigenen Emotionen[;] Abgrenzung der ‚echten Fans‘ gegenüber den

gegnerischen aber auch gegenüber dem ‚normalen‘ Publikum [und] Stärkung des

‚Wir-Gefühls‘.“ (Rötter, 2020, S. 162) Das solche Fangesänge kein Phänomen der Neuzeit sind, zeigt ein Bericht aus dem antiken Rom etwa 163-229 n.Ch., bei dem die Zuschauer eines Pferderennens in solche Gesänge verfallen waren. (Dio, 2012, LXXVI, 3-6) Im Falle von Fangesängen oder ähnlichen Situationen, wie bei einem

Gesangskonzert, bei dem die Zuschauer mitsingen, sind es sehr große Gruppen, die eher zufällig miteinander musizieren. Stärker untersucht sind kleinere regelmäßig zusammenkommende Musikgruppen, wie Orchester, Ensembles oder Bands. Hier gibt es meist eine/n Anführer*in, welche/r die Entscheidungsmacht trägt (Dirigent, Chorleiter, Erste Geige) (Spitzer, 2014, S. 342-343) aber auch die anderen Mitglieder haben eine feste, mit einem Titel versehene Rolle (z.B. Sopran oder Schlagzeuger*in).

(La Motte-Haber, 2007, 260-261) Es wird ein gemeinsames Ziel verfolgt und eine Gemeinschaft der gegenseitigen Wertschätzung gebildet, da jedes einzelne Mitglied den Gesamtklang beeinflusst. (Spitzer, 2014, S. 343) Das Wir-Gefühl wird zusätzlich auch durch zum Beispiel koordinierte Kleidung bei Auftritten gestärkt, wodurch sich auch von Außenstehenden abgegrenzt wird. Wie bei anderen

Gruppenkonstellationen auch, entsteht innerhalb einer Musikgruppe ein Gruppendruck, der sich durch die Anpassung der eigenen Meinung an die der Gruppe und/oder als Ablehnung gegenüber Neuem, seien es andere Personen oder Veränderungen (wie eine neue Musikrichtung), äußern kann. (La Motte-Haber, 2007, S. 261–264)

(37)

Verlust und Mangel 36

Verlust und Mangel

Zensur

„[…] a lack of music is symptomatic of a dysfunctional society.“

(Bailey, 2004, S. 24)

Musikzensur wird meist von Staaten ausgeübt, die oppositionelle Meinungen

unterdrücken möchten. Dabei wird meist Musik aus verpönten Kulturen verboten und die Musikproduktion und öffentliche Aufführungen stark kontrolliert. Die bisher wahrscheinlich stärkste Musikzensur entstand unter der Taliban-Regierung in

Afghanistan, wo jegliche Form von Musik verboten wurde. (Bailey, 2004, S. 19) Selbst das vor-sich-hin-Summen auf der Straße. (Hamilton, 2004, 23. Mai) Die Musikzensur bedeutete ein Verbot von Musikinstrumenten und der Geräusche, die sie von sich geben. Das einzige Instrument, welches nicht verboten wurde, war die

Rahmentrommel, die eine wichtige religiöse Bedeutung hat. Des Weiteren erlaubten die Taliban verschiedene Arten unbegleiteter religiöser Gesänge, da sie dies nicht als Musik definierten. Die Bevölkerung musizierte jedoch trotzdem im Geheimen und spielte verbotene Musik ab, sobald sie sich sicher fühlten. (Bailey, 2004)

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Einschränkungen

„I would rather play music, than walk again.“ – Clarence Adoo (Cormier, 2016)⁠⁠(Cormier, 2016)

Für Menschen, die sich viel mit Musik beschäftigen, wird das Bedürfnis nach ihr offensichtlich, sobald ihnen die Musik entzogen wird. Ein bekannter Fall ist Clarence Adoo. Er war ein langjähriger Trompetenspieler, der durch einen Autounfall vom Hals abwärts gelähmt wurde. In einem Interview mit der Washington Post sagt er,

Musizieren sei für ihn wie Essen oder trinken gewesen und er würde lieber wieder Musik spielen als wieder laufen zu können. (Cormier, 2016)

Der Hobbymusiker Joseph Bolz begleitete sich selbst filmisch bei einem

Selbstexperiment, bei dem er eine Woche auf jegliche Form der Musik verzichtete.

Das Video dazu veröffentlichte er auf YouTube unter dem Nutzernamen Joseph DeChangeman. Nicht nur verschlechterte sich durch den Entzug der Musik seine Stimmung, er berichtete auch über einen fehlenden emotionalen Ausgleich, unbewusstes Summen, Ohrwürmer und Musik in seinen Träumen. (Bolz, 2020)

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Amusie und musikalische Anhedonie 38

Amusie und musikalische Anhedonie

Amusie zeigt sich bei Menschen, die aus physisch nicht erklärbaren Gründen starke Probleme beim Musizieren haben und/oder Musik nicht richtig wahrnehmen. Ein selteneres Phänomen findet sich bei Menschen mit musikalischer Anhedonie, die Musik zwar normal wahrnehmen, aber emotional nicht auf sie reagieren.

Amusie

„Unter Amusien versteht man Störungen der Musikverarbeitung bei intaktem

Hörvermögen“ (Altenmüller & Schuppert, 2018, S. 570) Jede Komponente, aber auch Kombinationen von mehreren, die am Prozess des Hörens und Verstehens von Musik beteiligt ist, kann dabei von einer Störung betroffen sein. (Siehe Abbildung 4)

Beispielsweise kann auf einer frühen Verarbeitungsstufe die Tonhöhenwahrnehmung betroffen sein, oder auf einer späteren das Erkennen von Melodiekonturen.

(Altenmüller & Schuppert, 2018, S. 572)

Abbildung 4: Die Verarbeitungsschritte der Musikwahrnehmung. In Anlehnung an (Koelsch, 2005)

Dementsprechend kann sich Amusie auf unterschiedliche Weise äußern. Meist

können Betroffene verschiedenen Melodie oder Rhythmen nicht mehr erkennen oder auseinanderhalten. Es kann auch dazu kommen, dass nicht mehr zwischen

Klangfarben unterschieden werden kann. Dies erschwert es oder macht es sogar unmöglich, zwischen zwei Instrumenten oder auch zwischen Sprache und anderen Geräuschen zu differenzieren. Diese Störungen der Musikwahrnehmung zählen zur rezeptiven Amusie. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der expressiven Amusie um Störungen der Musikproduktion. Es kann zwischen drei Ausprägungen

unterschieden werden. Erstens Einschränkungen bei der mündlichen Wiedergabe von Melodien (singen, summen oder pfeifen). Zweitens Einschränkungen beim Notieren von Musik und drittens Einschränkungen beim Spielen eines Instruments. Amusien

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