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Timurs langer Schatten

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128 IP März /April 2014

© Henning Kettel

Marko Martin | Hans Magnus Enzens- berger empfahl einmal, keine Oden mehr zu lesen, sondern Kursbücher – sie wären genauer. Wer heute nach Usbekistan reist, sollte jedoch mit al- tertümlichen Übermittlungsgenres wie Herrscherchroniken durchaus vertraut sein. Sie erklären nämlich auch die Gegenwart. Zwar ist es nicht mehr das Reich von Dschingis Khan und Timur, dem nach dem Tod der Leitwölfe blutige Diadochen-Kämpfe drohen. Dennoch ist Usbekistan, von der westlichen Politik jahrelang ho- fiert als angeblicher Hort der Stabili- tät (und Stützpunkt für den Einsatz in Afghanistan), längst in innere Tur- bulenzen geraten, sichtbar am einst so homogenen Herrscherhof von Taschkent. Wenn also Gulnara Kari- mowa, die in Ungnade gefallene ältes- te Tochter des Dauerpräsidenten Islam Karimow, plötzlich den allmäch- tigen Polizeichef schilt und nach De- mokratie ruft, obwohl sie Teil des milliardenschweren Raffke-Clans ge- wesen ist, geht es wohl allein darum, das Terrain zu sondieren, welches der seit 1990 diktatorisch regierende Vater aus Altersgründen nicht mehr vollständig zu kontrollieren vermag.

Von Palastintrigen und innerfamiliä-

ren Morden, vom wachsamen Beob- achterauge des großen Bruders China, dem sich im letzten Drittel des 19.

Jahrhunderts auch der russische Zar zugesellt hatte, um dem angloindi- schen Einfluss einen Riegel vorzu- schieben, berichten in abgewandelter Form die alten Chroniken.

Solcherart Lektüre hat einen wei- teren Vorteil: Sie ist offiziell erlaubt, und wer sich in der Öffentlichkeit darin vertieft, wird keine kritischen Polizistenblicke kassieren. Der Indivi- dualreisende sollte sich dennoch dar- auf einstellen, bei Nachfrage sofort die Liste seiner zuvor gebuchten Ho- tels zu präsentieren, damit der Staat die geplante Route einsehen kann.

Zwar werden westliche Ausländer nicht mehr als mutmaßliche Spione gehenkt, doch ist auch kein Reisender

„einfach so“ unterwegs im Lande der Karimows. Was begründet wird mit der Unterbindung islamistischer Um- triebe, entpuppt sich bald als Überwa- chungsprogramm für die gesamte Ge- sellschaft. Wer im überraschend be- grünten und gepflegten Taschkent unterwegs ist, muss damit rechnen, dass auf jeden freundlichen Blick und auf jede herzliche „How you?“-Frage die zweckgerichtete Neugier eines Brief aus … Taschkent

Timurs langer Schatten

Usbekistan geriert sich als Hort der Stabilität. Doch der Kampf um die Macht hat begonnen

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IP März /April 2014 129

„Karimologie“: Die Lehr- sätze des Präsidenten sind Prüfungsstoff

Brief aus … Taschkent

üblicherweise mittelalten, meist schnauzbärtigen und in der Kleidung recht sowjetisch anmutenden Herrn folgt, der plötzlich auftaucht und „in- teressierte Fragen“ stellt.

Da die Foltergefängnisse, von denen in den Berichten etwa von Human Rights Watch regelmäßig zu lesen ist, sich nicht im Stadtzentrum befinden, muss man wohl zumindest diese Herren vom Dienst nicht über- mäßig fürchten, sondern kann ihre Pseudo-Reiseführersprüchlein sogar recht gut nutzen. Sinn für autoritäre Kontinuität ist dem Staat jedenfalls nicht abzusprechen. Wie in allen us- bekischen Städten existiert auch in Taschkent ein „Amir Timur-Platz“

mit der überlebensgroßen Statue des zum Nationalhelden erkorenen Kriegsherren des 14. Jahrhunderts.

Auf dem gleichen Sockel hatten zu kommunistischen Zeiten zuerst Sta- lin und danach Marx und Engels ge- thront, was im übrigen bereitwillig erzählt wird und sogar – in unfreiwil- ligem Humor – als Beleg gilt für einen Bruch mit der alten Sowjetmentalität.

Weshalb aber hat man sich nicht Timur-Enkel Ulugh Beg (1394–1449) als Nationalhelden auserkoren, einen klugen Wissenschaftler und Forscher, dessen astronomische Entdeckungen sogar von den Autoritäten im briti- schen Greenwich gewürdigt werden?

Weshalb wurden einheimische Histo- riker verpflichtet, den eher klein- wüchsigen Gewaltherrscher in ihren Studien auf 1,80 Meter zu strecken und Usbekistan, das bis zu seiner Gründung als Sowjetrepublik 1924 niemals als Staat existiert hatte, in spekulativen Jahrhundertschritten immer älter zu machen? Vielleicht

bekäme man ja eine Antwort, wäre man Student oder Lehrender an der Taschkenter Universität: Wie in allen Schulen des Landes sind auch dort die Lehrsätze und Bücher des Präsiden- ten integraler Unterrichts- und Prü- fungsstoff, von einigen Vorwitzigen auch „Karimologie“ genannt.

Was aber, wenn dahinter dennoch die identitätsstiftende Idee einer auto- ritären Modernisierung stünde, die sich positiv von islamistischem Funda- mentalismus und

von den Verwer- fungen im südlich gelegenen Afgha- nistan abheben würde? Immerhin

ist Usbekistan mit Bodenschätzen reich gesegnet und könnte aus seiner geostrategisch interessanten Lage eini- gen Profit ziehen.

Dieser jedoch wandert in die Ta- schen des Präsidenten-Clans, und auch die strenge staatliche Kontrolle der muslimischen Freitagspredigten dient weniger säkularer Toleranz – ohnehin ist der hiesige Islam eher all- tagskulturell anstatt rigid-religiös – als der Stabilisierung einer kleptokrati- schen Diktatur. Einer Diktatur, in deren innersten Machtzirkel – ganz wie die jahrhundertealten Chroniken berichten – der Kampf um Einfluss- sphären und Pfründe nun beginnt.

Marko Martin lebt als freier Autor in Berlin. Zuletzt erschien der Erzählband „ Die Nacht von San Salva- dor“ (Die Andere Bibliothek).

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