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Der Herr aller Bedürfnisse

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Selten sind die heilen Vorstellungen vom Leben auf dem Lande so bestialisch zerstört worden wie in Salvatore Niffois Roman „Die barfüssige Witwe“. Im Grunde war bereits seit der Erfindung Arkadiens klar, dass sie nur Wunschbilder zivilisationsmüder Städter sind. Wer sie also erneut so malträtiert, muß mehr und anderes im Sinn haben als nur Desillusionierung.

Davon zeugt bereits die Anlage der Handlung. Sie beginnt mit einer barbarischen Bluttat:

„An einem Junimorgen brachten sie ihn (...), abgeschlachtet und mit Axthieben zerlegt wie ein Schwein“. Und schließt spiegelbildlich: „Man hörte nur die Axthiebe, die ihn in Stücke hackten(...). Babbu Grisone schlug ihm mit einem Beil den Kopf ab“. Das Ende wiederholt den Anfang; ein Teufelskreis hat sich geschlossen. ‚Alles bleibt gleich’, heißt es am Schluß;

‚nie wird sich etwas ändern’ – und provoziert die Frage, auf die alles angelegt ist: warum es so ist. Aufgeworfen wird sie im Hinterhof Sardiniens. Dort erscheint das Leben und Zusammenleben jahrhundertealt, wie abgesenkt auf das Naturvorkommen des Menschen. Als Fallstudie dient der Lebenslauf der Mintonia S. Früh zeigt sich, dass in dem Mädchen ein Ungeist wohnt – verglichen mit ihrer Umgebung, die im baren Überleben aufgeht: sie lernt, von sich aus, lesen und schreiben.

Als Kind dieses Milieus nimmt sie jedoch gleichzeitig die elementaren Lektionen auf, die der Herr aller Bedürfnisse, der Körper erteilt. Und so kommt es, wie Romane es gerne mögen:

sinnlich wie sie ist, wird sie, frühreif, eins mit Micheddu, body schlechthin, beau der Gegend, der anderen die Rippen bricht, um seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Kann Glück auf diesem kreatürlichen Boden gedeihen? Seine unheiligen Triebe ließen nicht lange auf sich warten. Um die dralle, aber kinderlose Frau des Brigadiere war unter den jungen Männern ein genitaler Wettlauf in Gang gekommen, wem es zuerst gelingt, sie zu schwängern. Bei aller Liebe zu Mintonia musste Micheddu auch auf diesem Gebiet seine Stärke beweisen.

Sein Sieg aber löst korrespondierend einen Aufstand der anderen Körper aus. Er frisst die ohnehin geringe zivile Vernunft auf und macht sie zur ‚Sklavin der Leidenschaft’(Kant). Der Brigadiere, gedeckt von der Diktatur des Duce, lastet Micheddu alle öffentlichen Schandtaten an, einschließlich eines (politischen) Mordes, den er nicht begangen hat. Der Verfolgte geht in den Untergrund, wird, seinem Naturell gemäß, zum Rebell und endet durch die faschistischen Erfüllungsgehilfen doch so, wie das Naturgesetz der Triebnatur es vorsieht. Es kennt nur zwei archaische Eckwerte: zeugen und töten. Es ist, als ob die anthropologischen Paten Hobbes und Rousseau auf der Freiluftbühne Sardiniens noch immer ihren Grundsatzstreit aufführten.

Die Tragödie muß deshalb ihren dialektischen Fortgang nehmen, weil Mintonia, die Witwe, auch im übertragenen Sinne barfüssig, trotz aller Belesenheit von ihrer

(2)

Erdverbundenheit nicht loskommt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihrem seelischen Tod den entsprechenden leibhaftigen Ausdruck verleihen würde. In einer animalischen Vollzugseinheit von Geschlechts- und Blutakt ersticht sie den Brigadiere. Das Selbstopfer ihres Körpers sollte ihr das kreatürliche Recht geben, den seinen ihrer Liebe und Ehre zu opfern. Ob sie dabei aber ihrerseits schwanger werden musste? Hier hat offenbar etwas zuviel literarische Symmetrie über die Wahrscheinlichkeit gesiegt, womöglich mit einem Seitenblick auf den erfolgreichen Roman von Goliardia Sapienza „In den Himmel stürzen“ (FAZ v.

16.7.2005).

Erst dieses heillose Ende lässt offenbar werden, warum keine andere Lösung möglich war:

zwischen Leben und Tod fehlt eine verbindende Idee fürs Lebenlassen. Die beiden zuständigen Institutionen, Kirche und Staat, dienen eigentlich nur ihren Dienern zur Erfüllung ihrer niederen Bedürfnisse. Der Ortsgeistliche, ein gefundenes Fressen für jede Mißbrauchsdebatte, wird ebenso umgebracht wie der Brigadiere, der Vertreter des Staates.

Und dann doch, wie das Negativ eines dunklen Fotos, ein Anflug dessen, wie es anders wäre.

Mintonia sucht ihr Heil in einer doppelten „Entfernung von der Gegenwart“: auf der Überfahrt in die Fremde Argentiniens schreibt sie ihre Geschichte auf, um der Entfremdung von sich näher zu kommen. Fünfzig Jahre später schickt sie ihre autobiographische Beichte ihrer – barfüssigen – Cousine, in der Hoffnung, ihr unseliges Leben würde ein Zeichen für

„Vergebung“, Veränderung setzen. Denn die kreatürlichen Lebenszwänge könnten, in einer Geschichte Sprache geworden, auf höherer Ebene „noch einmal geboren“ werden. Ein diskretes Plädoyer für Bildung und Kultur als dem Medium, das Leben lebenswert macht.

Niffoi trägt es in einer raffinierten, ebenso rauen wie einfühlsamen Sprache vor. Man merkt ihr an, dass der Autor selbst unter den Leuten lebt, die er erfindet.

iSALVATORE NIFFOI: Die barfüßige Witwe. Roman. Aus dem Italienischen von Andreas Löhrer;

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011.

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