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REZENSIONSTEIL Bernd Gregor
Der Sexus, die Silbe und das Genus
Rezension von: Kopeke, Klaus-Michael: Untersuchungen zum Genussystem der deutschen Gegenwartssprache. - Tübingen: Niemeyer
(1982). IX, 268 S. ( = Linguistische Arbeiten. 122).
Nachdem sich nach einer sehr regen wissenschaftlichen Diskussion um die Moti- vierbarkeit der Genusklassenzugehörigkeiten der deutschen Substantive der Konsensus herausgebildet hatte, daß es (zumindest) synchronisch gesehen im Deutschen kein durchgängiges Regelsystem der Genuszuordnung gibt, hatte das wissenschaftliche Interesse an der Genusproblematik schon vor längerer Zeit sehr deutlich nachgelassen. Seit einiger Zeit jedoch kommen von neuen wissenschaftlichen Fragestellungen, Sichtweisen und Ideen wieder Anregungen zum erneuten Nachdenken über diese grammatische Kategorie. - So liegt mit dem Buch von Klaus-Michael Kopeke jetzt eine Studie vor, die mit einem origi- nären phonologisch ausgerichteten Ansatz nachzuweisen versucht, daß sich ent- gegen bisherige Auffassung doch ein Regelsystem für die Deutschen Genera erstellen läßt.
L K. hat die Zielsetzung, die Hypothese zu verifizieren, daß zur Kompetenz des nativen Sprechers des Deutschen ein Regelsystem gehört, das den Genuszuord- nungen der deutschen Substantive zugrundeliegt und somit auch schon den Kindern zum Spracherwerb dient. Er stützt diesen Gedanken zunächst durch eine Reihe von Zitierautoritäten, bei denen er Aussagen zur (partiellen) Regel- haftigkeit des deutschen'Genussystems findet (Kap. 1).
Den Kern seiner eigenen Analyse bildet dann aber die Gruppe der deutschen Substantive, deren Genus sich nach bisherigem Wissen nicht in Regeln fassen läßt: die einsilbigen Nomina. Mit der Wahl phonologischer Kriterien als Basis des Regelsystems setzt er sich dabei deutlich von der bisherigen Forschung ab.
An die Behandlung der Phonologic der einsilbigen Substantive in Kap. 2 schließt sich in Kap. 3 eine ausführliche Darstellung der genuszuordnenden Re- geln an, die in Kap. 4 zu einem System hierarchisiert werden. Diese Hierarchisie- rung dient im folgenden in erster Linie einer maschinellen Genuszuordnung zu knapp 1500 deutschen Substantiven, die am Ende des Buchs in sehr umfangrei;
chen Anhängen dokumentiert ist.
Zeitschrift für Sprachwissenschaft 4,1 (1985), 102-106
© Vandenhoeck & Ruprecht, 85 ISSN 0721-9067
Rezensionsteil 103 . 2. Vorrangiges Interesse kommt an dieser Arbeit natürlich dem Novum zu, pho- nologische Kriterien als Basis der Genuszuordnung anzusetzen, während man bisher bei den bestehenden Regularitäten fast ausschließlich von semantischen
< und morphologischen Kriterien ausgegangen war. Und so ist man sehr gespannt auf die Argumentation, mit der K. diesen Ansatz begründet.
Man sucht diese Begründung jedoch vergeblich. K. verzichtet auf eine Beweis-
• fuhrung und begnügt sich hinsichtlich der sprachlichen Kompetenz mit der lapi- daren Feststellung, daß Kinder ja auch in anderen sprachlichen Bereichen (pho- nologische) Regeln aufstellten: „Warum sollten Kinder also gerade bei der .Ge- nuszuweisung eine Ausnahme machen?" (S. l).-Außerdem geht es ihm ohnehin nicht um das tatsächliche Regelsystem des nativen Sprechers des Deutschen, sondern um ein „theoretisches Konstrukt", das „ein im Prinzip angemessenes Abbild des grammatischen Wissens des native speakers" darstellen könnte (S. 2).
Bei der Bewertung dessen, was K. für „angemessen" hält, muß man allerdings den Stellenwert berücksichtigen, den bestimmte Eleganz- und Einfachheitskrite- rien in der Generativen Transformationsgrammatik haben, wie auch, daß man in dieser Schule extrinsische Regelanordnung keineswegs scheut. (K. übernimmt zwar einiges aus diesem Forschungsparadigma, die Arbeit ist jedoch nicht ei- gentlich „generativistisch".)
Aber auch ohne explizite Begründung ist es natürlich nicht allzu schwer, den Gedankengang nachzuvollziehen, der dazu geführt hat, für das Genus einsilbi- ger Substantive phonologische Kriterien anzusetzen, wenn andere Kriterien ver- sagen. Einige Fragen und Probleme hätten jedoch in diesem Zusammenhang unbedingt diskutiert werden müssen, da sonst ein falscher Eindruck entsteht.
Dazu gehört in erster Linie die Wahl der phonologischen Einheit Silbe als Grundeinheit der Korpuswahl. Denn ohne weitere Erklärung scheint nach die- sem Vorgehen die Trennlinie der Motivierbarkeit des Genus mit dem Kriterium der Einsilbigkeit zusammenzufallen.
Dies ist jedoch so nicht richtig. Die Grundeinheit der morphosyntaküschen Kategorie Genus ist das Morphem, und die Morphemgrenzen decken sich kei- neswegs immer mit den Silbengrenzen (vgl. König - König-in vs. Kö.nig, Kö.ni.gin). Und so gibt es im Deutschen eine ganze Reihe von Wörtern, die aus mehr als einer Silbe bestehen, aber ebenso „willkürliche" Genuszuordnung ha- ben wie die einsilbigen (z.B. Abend, Hammer, Sichel, Wasser).
Es hätte also auf jeden Fall statt „einsilbig" heißen müssen „einmorphe- misch", es sei denn, man geht davon aus, daß im Regelsystem des kompetenten Sprechers unterschiedliche Regeln für ein- und mehrsilbige Wörter vorliegen, wobei allerdings bei den mehrsilbigen dann zu unterscheiden wäre zwischen den einmorphemischen und den mehrmorphemischen (deren Genus ja motiviert werden kann, z. B. Freiheit, Schultag usw.).
Doch nun zu den phonologischen Regeln selbst. Ihre Bewertung kann hier nur nach Plausibilitätsgesichtspunkten erfolgen, da man ja auf keine deduktive Herleitung Bezug nehmen kann. Hierbei scheint es mir vor allem wesentlich zu
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sein, nicht aus den Augen zu verlieren, daß ein Regelsystem der sprachlichen Kompetenz nicht Selbstzweck ist, sondern den Spracherwerb bzw. die Sprachbe- hcrrschung erleichtern soll, indem es anhand bestimmter Kriterien Redundan- zen kennzeichnet und als solche ausweist: Der Hebel darf nicht schwerer sein als die Last.
Und wenn man dann liest, mit welchem Aufwand an Inlaut-, Anlaut-, Stand- by-Regeln usw. Korrelationen mit den Genusklassen erst möglich werden, und wenn man dazu berücksichtigt, daß diese phonologischen Regeln erst im genau festgelegten Zusammenspiel mit semantischen und morphologischen Regeln die richtigen Genera zuweisen - allerdings nur in rund zwei Dritteln der Fälle -, dann wird ein Grad an Komplexität deutlich, der für mich eindeutig gegen die Annahme phonologischer Regeln spricht.
So gibt es beispielsweise eine Regel, daß langer Inlautvokal mit maskulinem oder neutralem Genus korreliert (S. 95); es sind also noch weitere Regeln nötig, die dann jeweils das eine oder das andere dieser beiden Genera eindeutig festle- gen. - Bedingt durch die extrinsische Regelanordnung erhält aber nicht jedes Substantiv mit langem Inlautvokal maskulines oder neutrales Genus. Bei einer (weiblichen) Personenbezeichnung dominiert nämlich der Sexus, bei Substanti- ven mit dem Pluralallomorph -en demgegenüber dieses flexivische Kriterium (S. 111). So müßte beispielsweise die Bahn nach der phonologischen Regel mas- kulin oder neutral sein; weil es aber im Plural Bahn-en heißt, erhält das Wort feminines Genus. (Es bedingt übrigens wohl eher das Genus die Deklination als umgekehrt.)
Aus anderer Sicht wird diese Komplexität der Regeln außerdem fragwürdig, wenn man Köpckes eigene Aussage hinzunimmt, daß ein zahlenmäßig fast iden- tisches Ergebnis bei der Computeranalyse hätte erzielt werden können mit der einen Regel: „weise grundsätzlich das Maskulinum zu" (S. 116).
Man hätte hier Abhilfe schaffen können - und ich schlüpfe dazu einmal in die Rolle des advocatus diaboli-, hätte man mit der Konzeption der Universalgram- matik und der Markiertheit gearbeitet. Man müßte dabei die maskuline Genus- zuordnung als die unmarkierte ansehen, der die neutrale und - vor allem - die feminine Genuszuordnung als die markierten gegenüberstehen. Man könnte dann die maskuline Genuszuordnung der nicht zu lernenden, weil angeborenen, Universalgrammatik zuschreiben, die beiden anderen Genera müßten dagegen sprachspezifisch gelernt werden (oder so ähnlich). - Dieser Ansatz hätte zumin- dest den Vorteil der geringeren Komplexität; über die Tragweite eventuell damit verbundener sexistischer Implikaturen bin ich mir allerdings nicht im klaren.
Weiteres Bewertungskriterium eines Regelsystems neben seiner Plausibilität und der Erfassung eines bestimmten Korpus ist natürlich seine Produktivität.
Denn wenn die Kompetenz des nativen Sprechers tatsächlich dieses Regelsystem enthält, dann müßte damit auch die Genuszuordnung neuer Wörter bewerkstel- ligt werden, da bei ihnen ja grundsätzlich eine Einpassung in das vorhandene System erfolgt.
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.»^ Zur Überprüfung der Produktivität wähle ich hier eine der einfachsten und i^, · einsichtigsten Regeln der Arbeit, nämlich die postulierte Korrelation zwischen
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; Genus und Sexus. Nach K. erhalten Personenbezeichnungen das Genus nach
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/s}dem Sexus der bezeichneten Personen (S. 75), und man kann wohl davon ausge- hen, daß auch englische Lehnwörter, die Personen bezeichnen, unter diese Regel
;
:· fallen.
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:Hier treten jedoch erhebliche Schwierigkeiten auf. Die Regel stimmt zwar für
;···< einige Wörter wie den Boy und die Queen, einer nicht unbeträchtlichen Reihe p·' würde sie jedoch falsches Genus zuweisen (z. B. heißt es das Girl und der Va)np,
L
- die beide unzweifelhaft weibliche Personen bezeichnen); und - nur nebenbei
•
K-· gesagt - auch viele „mehrsilbige" Wörter fallen nicht unter diese Regel (z. B. das Playmate und das Groupie). Da es gerade bei dieser Regel nicht sinnvoll er-
···-" scheint, ihren Geltungsbereich auf deutsche Erb- und Neuwörter einzuschrän- ' - ken, muß zumindest ihre Produktivität, wenn nicht gar ihre Gültigkeit, sehr :
C:~ stark angezweifelt werden (vgl. Gregor 1983).
•'.- Zum Schluß noch ein allgemeines Wort zur Korrelation von phonologischen
;
·: Regeln und Genus: Es gibt im Bereich der Phonologie des (Standard-)Deutschen '·-<· sehr große Variation (Neutralisation von Oppositionen, freie Varianten usw.), so -'·.·. daß erst eine sehr starke Homogenitätsannahme die erforderlichen kategori- :
ssehen Regeln ermöglicht. Die Notwendigkeit solcher Idealisierungen entfernt : jeden phonologischen Ansatz jedoch zwangsläufig weit von der Realität, denn .· ^ die Genusunterschiede und Genusschwankungen in der Sprache verschiedener Sprecher sind sehr viel geringer als die signifikanten Unterschiede ihrer phonolo-
·.·.:;.. gischen Systeme. Auch Variablenregeln, Implikationsskalen u. ä. können diese
>r· Erscheinung wohl nicht erfassen.
3. K. legt eine Regelsystem vor, das einerseits einem Teilbereich der Kompetenz
; ·;' des nativen Sprechers des Deutschen gerecht werden soll und andererseits einer r-· maschinellen Korpusanalyse. Die versuchte Synthese, die wohl vor allem als
> * Begründung durch den Computer gedacht ist, bringt erhebliche Nachteile für -.: beide Bereiche. Bei der Computeranalyse hätte mit einer einzigen Regel in etwa ,;·;·' dasselbe Ergebnis erzielt werden können, so daß hier der ganze Regelkomplex
r
nur hinderlich ist. Für die Darstellung der Kompetenz ist andererseits die Aus- ..
:-
:richtung auf die maschinelle Überprüfung zu realitätsfern, da sie Komplexitäten .-;. und Abstraktionen (bzw. auch Vereinfachungen) zuläßt, die die Sprachbeherr-
i- schung so nicht kennt.
Auf der Suche nach einem allgemeinen Regelsystem scheint K. entgangen zu ' sein, daß Chomsky selbst seit 1967 mit der Lexicalist Hypothesis auf neue Mög-
~ lichkeiten im Verhältnis zwischen Generalität und Idiosynkrasie hingewiesen
'.'".. hat (veröffentlicht als Chomsky 1970), die vor allem von Jackendoff (1975) gera-
de auch im Hinblick auf Informationsverteilung beim Spracherwerb weiter aus-
gebaut wurde. Die dabei verwendeten Redundanzregeln scheinen mir sowohl für
eine Modellierung des Spracherwerbs als auch für eine formale Beschreibung
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Bernd Gregordes deutschen Genus sehr viel geeigneter als eine komplexe Hierarchie allgemei- ner Regeln (mit den dabei immer auftretenden „Ausnahmen").
Der entscheidende Schritt nach vorn ist K. nicht gelungen. Schade um die vertane Gelegenheit,
Literaturnachweis
[Chomsky 1970] Chomsky, Noam: Remarks on nominalization. - In: Readings in English Transformational Grammar. Ed. by Roderick A. Jacobs and Peter S. Rosenbaum. - Waltham/Mass.: Ginn 1970. S. 184-221.
[Gregor 1983] Gregor, Bernd: Genuszuordnung. Das Genus englischer Lehnwörter im Deut- schen. - Tübingen: Niemeyer 1983. ( = Linguistische Arbeiten. 129).
[Jackendoff 1975] Jackendoff, Ray: Morphological and semantic regularities in the lexicon.
- In: Language 51 (1975), 639-671.
Eingereicht am 15.1.1984. Neu eingereicht am 10.6.1984
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Rezension von: Children thinking through language. Ed. by Michael Beveridge. - London: Edward Arnold 1982. X, 272 S.
^ Der Band, der mit einem Vorwort von Dan L Slobin versehen ist, enthält 10 ifc. Beiträge vorwiegend englischer Autorinnen und Autoren, die sich in unter- schiedlicher Weise mit der kognitiven und sprachlichen Entwicklung des Kindes, '*- vor allem mit den Beziehungen zwischen Denken und Sprechen beschäftigen.
Dabei wird insbesondere immer wieder auf die wichtige Rolle des Gesprächs- bzw. Interaktionskontextes und der Kommunikation für die kognitive und sprachliche Entwicklung hingewiesen. Dies impliziert u. a. eine wiederholte Aus- einandersetzung mit Piaget und seiner Tradition. Die Berücksichtigung des In- teraktionskontextes ist zwar nicht völlig neu - immerhin liegen inzwischen z. B.
eine Reihe von Untersuchungen der Mutter-Kind-Interaktion vor -, aber in den Beiträgen dieses Bandes werden etliche neue Aspekte behandelt.
Zu den einzelnen Beiträgen:
1. E. V.M. Lieven: Context, process and progress in young children's speech
Die Autorin vertritt die These, der Gegenstandsbereich der Spracherwerbsfor- schung werde dadurch verzerrt, daß er in verschiedene Gebiete aufgeteilt sei, die nicht aufeinander Bezug nähmen (z.B. „communicative skills*4, „language structure", „semantics", „cognition", „social influences", „cognitive underpin- nings", „input" „generation of formal linguistic rules"). Dadurch blieben Fak- toren außer acht, die für die Beantwortung entscheidender Forschungsfragen wichtig wären. So sei es z. B. notwendig, die ganze Komplexität der sozialen Umgebung des Kindes angemessen zu berücksichtigen, wenn man quantitative und qualitative Unterschiede beim Spracherwerb erforschen wolle. Es reiche nicht aus, nur sprachliche Merkmale von Mutter und Kind (wie z. B. MLU) zu korrelieren. Bei dem vorgeschlagenen Vorgehen könne sich zeigen, daß Kinder zwar oberflächlich gesehen strukturähnliche Äußerungen produzieren, diese aber verschiedenartig verwenden. L. zeigt dies u. a. am Beispiel von drei Kindern und ihrer Art, über Besitz zu reden. Die Prozeduren, die von den Kindern zur Erzeugung ihrer Äußerungen verwendet werden, müßten also stets im Zusam- menhang mit der sozialen Umgebung der Kinder gesehen werden, die es ihnen in Zeilschrift für Sprachwissenschaft 4,1 (1985), 107-112
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unterschiedlichem Maße ermöglicht, Sprache selbständig und routiniert zu ver- wenden. Die punktuellen Beispiele werden überzeugend vorgetragen. Es bleibt aber zunächst bei ad-hoc-Erklärungen - die Frage nach einem Gesamtmodell des Spracherwerbs wird nicht beantwortet.
2. Allayne Bridges: Comprehension in context
Bridges - laut Inhaltsverzeichnis die Autorin dieses ohne Verfassernamen abge- druckten Beitrags - beklagt, daß in der Spracherwerbsforschung seit den 60er Jahren die Ontogenese syntaktischen Verstehens bei Vorschulkindern relativ vernachlässigt worden sei. Sie erhofft sich von diesem Gebiet einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage, welche elementaren Prozesse der Interpre- tation von Sprache zugrundeliegen. Sie prüft zunächst kritisch bislang übliche Analysemethoden und kommt zu dem Ergebnis, daß sie durch die Datengrup- pierung wichtige Informationen über die mögliche Koexistenz von Antwort- Strategien oder -Mustern verdeckt haben. Sodann diskutiert sie vier elementare Antwort-Muster, die als Interpretationsbasis von Vorschülern postuliert wer- den: (1) primitive approaches, (2) event probability, (3) spatial arrangement, (4) order of mention. Sie macht deutlich, daß Kinder beim Verstehensprozeß Informationen aus verschiedensten Bereichen verwenden, wobei die syntakti- sche Information wahrscheinlich nicht die wichtigste ist. Es sollten daher insbe- sondere pragmatische Aspekte näher untersucht und mit den semantischen und syntaktischen zusaminengesehen werden. Sie schließt mit einem Katalog von Fragen und Forderungen.
3. N.H. Freeman/C.G. Sinha/J.A. Stedmon: All the cars - which cars? From word meaning to discourse analysis
Ausgehend von klassischen Beispielen dafür, daß Kinder die Bedeutung von Äußerungen mißverstehen, weisen die Autoren nach, daß man dort allenfalls dann von Mißverständnissen sprechen kann, wenn man ausschließlich die sprachliche Form der Äußerung als Informationsquelle ansieht. Bezieht man jedoch außersprachliche Informationen aus dem Gesprächskontext mit in die Analyse ein, so erscheinen die Antworten der Kinder nicht mehr als fehlerhaft, sondern als durchaus plausibel. Durch entsprechende Experimente konnte nachgewiesen werden, daß selbst bei Erwachsenen ähnliche Mißverständnisse wie bei den Kindern vorkommen, d.h. daß sie die „topic-comment-Struktur"
der Äußerung eher aus dem Referenz-Rahmen als aus der Subjekt-Prädikat-- Anordnung erschließen. Insofern erscheint es den Autoren als besonders wich-
Rezensionstcil 109 tig, daß bei jedem Verstehensexperiment tatsächlich zunächst eine gemeinsame Referenz-Basis geschaffen wird. Insgesamt wird deutlich, daß die Beschränkung auf sprachliche Untersuchungsaspckte und die Vernachlässigung außersprachli- cher zu erheblichen Fehlschlüssen im Blick auf die Verstehensleistungen von Kindern fuhren kann.
4. James Russe!: Proposiiional attitudes
R. geht der Frage nach, wie Kinder die Fähigkeit erwerben, elementare logisch- mathematische Urteile zu fallen, und wie sie dabei von der falschen zur richtigen Antwort gelangen. Dabei vertritt er die These, daß sich die Einstellung kleiner Kinder zu ihren verbalen Aussagen - R. verwendet hierfür den philosophischen Terminus 'prepositional attitude* - radikal von der Erwachsener unterscheidet.
Eine Reihe verschiedenartiger Experimente, an denen stets jeweils zwei Kinder gleichzeitig beteiligt waren, machen für R. deutlich, daß der soziale Kontakt und die Interaktion zwischen den Kindern eine wichtige Voraussetzung für die ko- gnitive Entwicklung darstellt. Denn auf diese Weise erhalten die Kinder die Möglichkeit, ihre jeweiligen „prepositional attitudes" zu überprüfen und ggf. zu revidieren. Dieser Vorgang ist nach R. nicht mit dem gleichzusetzen, den Piaget in seiner Equilibrationstheorie als Überwindung des Egozentrismus beschreibt.
5. Cathy Vnvin: The contribution ofnonvisual communication systems and language to knowing oneself
Mit ihrem Beitrag wendet sich die Autorin unter Hinweis auf Lacan und Jakob- son gegen drei Annahmen, die sie innerhalb der Entwicklungspsychologie weit- verbreitet sieht; (l) den Primat des visuellen Systems, (2) das Prinzip des kogni- tiven Primats, (3) die Annahme eines vorgeformten rationalen Subjekts. Ge- stützt auf (vor allem eigene) Untersuchungen der Sprachentwicklung blindgebo- rener Kinder zeigt sie detailliert auf, daß die Annahme, das Fehlen des Gesichts- sinnes bedinge eine EntwicklungsVerzögerung, in Frage gestellt werden muß.
Aufgrund der Benutzung alternativer Kommunikationssysteme und des intensi- ven kommunikativen Umgangs der Eltern mit ihren Kindern läßt sich eine Ent- wicklung beobachten, die deutliche Parallelen zu der von nicht-behinderten Kindern aufweist. Für die Autorin ist dies ein Hinweis darauf, wenn nicht ein Beweis dafür, daß in erster Linie der interaktive Rahmen mit seinen sozialen und kommunikativen Routinen die Grundlage für die sprachliche, soziale und ko- gnitive Entwicklung des Kindes darstellt.
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6. Valerie Walkerdine: From context to text: a psychosemiotic approach to abstract thought
Die Autorin wendet sich gegen die Ansicht, abstraktes Denken sei als eine Eigen- schaft oder Qualität anzusehen, die sich im Geist des Kindes entwickelt. Sie vertritt stattdessen die These, daß das Denken kleiner Kinder sich nur im diskur- siven Kontext der Alltagspraxis entwickelt, in dem die Kinder verschiedene dis- kursive Muster („formats") erwerben bzw. schaffen. W. wendet sich explizit gegen einen dualistischen Ansatz: der Kontext darf keinesfalls als etwas angese- hen werden, was außerhalb des Denkens existiert. Die Autorin beschreibt an- hand einer Reihe von Beispielen, insbesondere aus dem elementaren Mathema- tikunterricht, wie das Denken schrittweise vom Kontext abstrahiert. Dieser Vor- gang läßt sich nach W. nicht so erklären, daß die Kinder bereits im Besitz kogni- tiver Fertigkeiten seien, die nur aus dem Kontext abgelöst werden müßten, son- dern so, daß die Kinder verschiedenartige interaktive Fähigkeiten entwickeln (für deren Charakterisierung W. auf theoretische Konzepte Jakobsons zurück- greift).
7. Michael Be vertage/Chris Brierley: Classroom constructs: an interpretive approach to young childrens language
Die Autoren stellen eine Untersuchung vor, die durch teilnehmende Beobach- tung und interpretative Verfahren aufdecken sollte, wie Kinder in der Vorschule ihren gemeinsamen Erfahrungsraum sehen, d.h. welcher Konstrukte sie sich bedienen, um die sie umgebende Realität (Situation Klassenraum mit entspre- chenden Aktivitäten) zu verstehen. Die interpretative Beschreibung dieser Kon- strukte stützt sich auf eine Reihe von Vorarbeiten, insbesondere auf die „Perso- nal Construct Theory" von George Kelly, und gelangt zu sechs bipolaren Kon- strukten (my/not my, unsupervised/supervised, doing/listening, together/alone, home/school, can/can't), die von allen untersuchten Kindern benutzt wurden - allerdings jeweils in unterschiedlicher Ausprägung. Je nachdem wie stark und in welcher Konstellation die einzelnen Konstrukte miteinander korrelieren, erge- ben sich unterschiedliche Konstrukt-Systeme. Die Autoren geben hierfür drei Beispiele, die sie als Beleg dafür anführen, daß ein solcher Kind-zentrierter An- satz einen größeren diagnostischen Wert besitzt als die üblicherweise von Leh- rern (mit jeweils eigenen Kategorien) vorgenommene Beurteilung.
8. Peter Lloyd: Talking to some purpose \ ^
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Der Autor berichtet über zwei Untersuchungen, die er bei Vorschulkindern !
{durchführte, deren Aufgabe darin bestand, in einem Experiment sukzessive die j ,
Rezensionsteil 111 Lerner· und die Lehrerrolle zu übernehmen. Jeweils zwei Kinder mußten mitein- ander kommunizieren, um -jedes für sich - vorgegebene Objekte zu ordnen.
Durch die Ergebnisse wird vor allem die Egozentrismus-Hypothese Piagets in Frage gestellt: Kinder der untersuchten Altersgruppe waren überwiegend in der Lage, erfolgreich miteinander zu kommunizieren, was nach L.'s Meinung auch durch die adäquate Aufgabenstellung bedingt war. Diese sollte auch als Modell (Kind als Tutor) systematisch in der Schule erprobt werden.
9. P. H. Ligh/R.E. Remingtofi/D. Porter: Substitutes for speech?
Nonvocal approaches to communication
In diesem Beitrag wird der Versuch beschrieben, autistischen bzw. geistig behin- derten Kindern, die weder produktiv noch rezeptiv Sprache verwenden konnten, ein anderes Kommunikationssystem - zumindest in Ansätzen - zu vermitteln.
Als für solche Kinder besonders geeignet erscheint ein System, das im wesentli- chen von Premack entwickelt wurde und das gegenüber der Zeichensprache eine Reihe von Vorteilen besitzt. Im Rahmen eines Trainingsprogramms wurde ver- sucht, die Kinder so zu konditionieren, daß sie einige Symbole bzw. Symbolrei- hen zur Kennzeichnung von Objekten bzw. Sachverhalten produzieren konnten.
Tests ließen u. a. erkennen, daß die Kinder die gelernten Symbole auch generali- sierend gebrauchten. Wie die Autoren selbst abschließend bemerken, kann die im Titel gestellte Frage allerdings noch nicht beantwortet werden, da in den angewandten Trainingsprogrammen alltägliche pragmatische Aspekte und Funktionen der Kommunikation ausgeblendet waren.
W. Ricliard P. Brinker: Contextual contours and the development of language
Dieser Beitrag bezieht sich ebenfalls im wesentlichen auf die Sprachentwicklung retardierter Kinder. Eines seiner erklärten Ziele ist es, herauszufinden, wie Kon- texte konstruiert werden, um die Botschaften von Kindern zu verstehen. Theo- retisch lassen sich nach B. für dieses Verstehen vier Informationsbereiche unter- scheiden: (1) der Erfahrungshintergrund des Kindes, (2) die Kommunikations- situation (mit ihren Gegenständen und Ereignissen), (3) die Interpretationser- fahrung des Zuhörers (in Bezug auf das betreffende Kind), (4) die Klarheit der Botschaft (was immer das heißen mag). In seiner Darstellung behandelt B. vor allem den Erfahrungshintergrund des Kindes sowie die Frage der Repräsenta- tion von Erfahrung, wobei er die Notwendigkeit betont, mit Luria u. a. zwischen erstem und zweitem Signalsystem zu unterscheiden. Zentrales Problem ist auf allen Ebenen für B. das der InterSubjektivität.
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Die Beiträge zeigen insgesamt, wie sich innerhalb der Entwicklungs-Psycho- linguistik ein Wechsel der Orientierung vollzieht. Die Ausweitung des Untersu- chungsrahmens, die Einbeziehung und Berücksichtigung des Interaktionskon·
texts wird weitgehend für notwendig gehalten, und diese Notwendigkeit wird mit plausiblen Beispielen belegt. Dieser Wechsel impliziert einerseits eine Aus- einandersetzung mit „klassischen" Theorien und Konzepten und andererseits eine Suche nach neuen methodischen Ansätzen, wobei es schwerfällt, die bislang als verbindlich geltenden Standards zu erreichen oder beizubehalten. Als sym- ptomatisch kann der Beitrag von Beveridge und Brierley angesehen werden, in dem mehrfach versucht wird, den gewählten Ansatz (teilnehmende Beobach- tung, interpretatives Verfahren) zu rechtfertigen. Fast alle Beiträge lassen deut- lich werden, daß allenfalls punktuelle Ergebnisse aus dem neuen Objektbereich vorliegen, ein Gesamtkonzept aber noch fehlt, so daß die Klage im letzten Bei- trag durchaus berechtigt erscheint: in den Studien zur sprachlichen und kommu- nikativen Entwicklung des Kindes finden wir. oft eine klare Beschreibung der Bäume, aber kaum eine Beschreibung des Waldes.
Eingereicht am 6.12.1983
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Christian Lehmann
Rezension von: Dimmendaal, Gerrit Jan: The Turkana language. - Dordrecht, Holland & Cinnaminson, U.S.A.: FORIS 1983. xviii, 496 S. ( = Publications in African Languages and Linguistics. 2).
L Dieses Buch basiert auf einer an der Universität Leiden vorgelegten Doktor- - arbeit. Die Dnickvorlage ist maschinenschriftlich, aber nicht ohne Aufwand mit kleiner Schreibtype (12 Zeichen pro Zoll) hergestellt und wurde im Offset so stark verkleinert, daß die Buchstaben nur zwei Drittel so hoch sind wie die in dieser Rezension, was zu lesen nicht jedermanns Sache ist.
Turkana wird von etwa 250000 Menschen im Nordwesten Kenias gespro- chen. Die genetische Zugehörigkeit ist wie folgt: Nilo-Saharanisch - Ostsuda- nisch - Nilotisch - Ostnilotisch - Teso-Gruppe - Turkana. Die Sprachstruktur
; läßt sich in groben Zügen so charakterisieren: Der durch Derivations- und Fle- xionsprä- und suffixe am Nomen und besonders am Verb erreichte Synthesegrad ist recht hoch. Die morphologische Technik ist ausgeprägt fusionierend bzw.
flektierend und sowohl in Derivation als auch in Deklination und Konjugation äußerst reich an Allomorphie und Unregelmäßigkeit. Es gibt nur wenige Adjek- tive; dafür treten Stative Verben ein. Das finite Verb kongruiert mit dem Subjekt (bzw. mit dem Objekt, wenn dieses 1. oder 2. PS. und das Subjekt 3. PS. ist) in
: Person und Numerus, die Attribute mit dem Bezugsnomen in Genus, Numerus : und Kasus. Im Sprachvergleich auffallig ist, daß von allen Nomina ausgerechnet
die Personalpronomina kein Genus haben. Der nominale Numerus weist so- wohl äquipollente Singular-Plural-Paradigmen als auch markierte Singulative . and markierte Kollektive jeweils gegenüber Nullformen auf. Die elementare Satzkonstruktion ist akkusativisch (wie wohl in ganz Afrika), mit der Besonder- heit, daß von den grammatischen Kasus der Nominativ im Ausdruck markiert ist, während der unmarkierte Kasus für das Objekt, das Prädikatsnomen und : andere absolute Verwendungen eintritt. Für Genitiv, Ablativ, Instrumental und
1 gelegentlich auch Lokativ gibt es eine einzige Präposition. Die Konstituenten- stellung ist, besonders auf den unteren Ebenen, ziemlich starr und folgt in allen Relationen dem Ordnungsprinzip 'Übergeordnetes - Abhängiges'. Die vom , Verb regierten Aktanten folgen diesem gemäß einer „Prominenzhierarchie", so i daß menschliche (usw.) Aktanten vor nicht-menschlichen (usw.) Aktanten kom- i men. Daher ist die Hauptkonstituentenstellung im gewöhnlichsten Falle VSO, bei prominentem Objekt und niedrigstehendem Subjekt jedoch VOS. Nominal- syntagmen (NSen) und Adverbialien können durch Topikalisierung und Fokus- sierung an den Satzanfang gelangen. Die Phonologie weist lexikalische und : grammatische Töne (Hoch- und Tiefton) auf, wobei epimorphemische Töne
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4 Christum Lehmann
und Tonmustcr grammatische Kategorien wie Kasus am Nomen und Tempus am Verb ausdrucken können. Die Tonologie ist ihrerseits maximal kompliziert.
Außerdem gibt es Vokalharmonie bezüglich des Merkmals 'advanced tongue root'.
2. Beschreibungen des Turkana von transafrikanistischem Interesse waren bis- her spärlich. Zu nennen sind hier nur Heines Kapitel über das Turkana in Heine 1980: 37-97 und Bests (1983) Texlsammlung; beide Werke enthalten auch ein Wörterbuch. Dimmendaal (D) hat sein Material in Feldforschungsaufenthalten von insgesamt einem knappen Jahr Dauer unter persönlichen Entbehrungen erhoben. Er legt hier die erste umfassende Beschreibung des Turkana vor, die weit über bisherige Publikationen hinausgeht und Phonologic, Morphologie, Syntax und funktioneile Satzperspektive gleichermaßen abdeckt. D hat keine theoretischen Ambitionen, sondern versteht seine Arbeit als „datenorientiert*' (2). Ein theoretischer Ansatz ist nicht auszumachen; es fließen Elemente der älteren Transformationsgraminatik und der funktionalen Grammatik ein.
S. 346 heißt es: „the purpose of this study is to provide data for comparative research, instead of proving a particular theoretical point."
Das Buch ist folgendermaßen unterteilt: 1. „Introduction", wo sich außer Bemerkungen über das Buch auch solche über das Turkana und seine Sprecher finden. 2. „Phonology". Hier werden die Phonemklassen und die phonologi- schen Regeln, denen sie unterliegen, besprochen, ferner die Tonologie und die Silbenstruktur. 3. „Sentence structure" enthält einen ersten Überblick über die Struktur des einfachen Satzes, in dem syntaktische, semantische und pragmati- sche Relationen, Verbvalenz und Kasus, Verbal- und Nominalsatz nej>st Erwei- terungen und die schon erwähnte Prominenzhierarchie (d.i. ungefähr die aus Comrie 1981 bekannte 'animacy hierarchy') eingeführt werden. 4. „The verb and its functions" handelt die Derivations- und Flexionsmorphologie des Verbs ab. 5. „The noun phrase" beschreibt die nominalen Wortarten und ihre Fle- xionskätegorien (Genus, Numerus und Kasus), die Derivation deverbaler No- mina sowie die Syntax der Determinantien und Attribute, einschließlich der Relativsätze. 6. „Adjuncts" hat zu tun mit der Syntax von Adverbialien inkl.
Adverbialsätzen, soweit sie zum Satznukleus (i. S. v. Pinkster 1972:91-95) gehö- ren. 7. „Extended and derived sentences" behandelt noch einmal einfache und komplexe Adverbialien, diesmal jedoch als topikalisierte oder „extraponierte"
Zusätze außerhalb der Satzgrenzen; außerdem Koordination. 8. „Contrastive emphasis". 9. „Question and negation". 10. „Defective verb paradigms". Es folgen zwei morphologisch analysierte und übersetzte Texte, die Bibliographie und ein mit 27 Lemmata im Vergleich zum Umfang des Buches leider viel zu magres Sachregister.
Wie man sieht, ist hier an fast alles Wesentliche gedacht. Von Kap. 4 bis 9 waltet die Logik eines Fortschreitens von den kleinsten zu immer komplexeren syntaktischen Einheiten, die einer fortlaufenden Lektüre entgegenkommt.
Rezensionsteil 115 Überall werden morphologisch analysierte und übersetzte Beispiele in wohldo- sierter Menge gegeben. Die Beschreibung ist weder weitschweifig noch knapp und, da sie nicht mehr als linguistischen common sense voraussetzt, im allgemei- nen leicht zu verstehen. Gelegentliche Differenzierung nach Dialekten und ver- gleichende Ausblicke auf die Struktur verwandter Sprachen geben der Beschrei- bung etwas diachronische Tiefe. Insgesamt also ein abgerundetes Buch.
3. Von den Schwächen der Arbeit springen zunächst Äußerlichkeiten in die Au- gen. Auf den ersten 250 Seiten habe ich über 150 Druckversehen, Orthogräphie- (inkl. lnterpunktions-)fehler sowie grammatische Lapsus gezählt. Der englische Stil (und es ist zweifellos eine Schande, daß nicht-anglophone Wissenschaftler gezwungen sind, auf Englisch zu publizieren) ist alles andere als elegant.
Jedes niederländische waarbij (22 „wobei") wird durch engl. whereby („wodurch") wieder- gegeben („When pronominal reference occurs in associative constructions, whereby the possessor is a pronominal form, the pronominal possessor forms follow the noun possess- ed." (260). Das Zitat zeigt gleichzeitig die gelegentliche pleonastische Umständlichkeit und die Vorliebe fur to occur^ das weitgehend to be verdrängt; ständige Wendung: „a distinction occurs between..."). In with neutralisieren sich fast alle englischen Präpositio- nen, vor allem in („Gapping occurs with co-ordinated sentences", 411), aber auch from („The absence of the gender prefix with the prepositions", 348), to („it is not ungrammati- cal to add a number suffix in the plural with the nouns based on class 2 verbs", 283), by („the question particle is marked with nominative tone", 431), as („Compound nouns [...]
occur with personal names", 294), o/(„The predominant pattern with ideophones is:", 381) und sogar 0 („As with basic verbal sentences, a verbal relative clause is always verb- initial.", 308). Dieser Idiolekt treibt manchmal schwer verständliche Blüten, z. B.: „con- trary to the system with affirmative verb forms, only one perfective form occurs with negative perfective forms." (444), wo wahrscheinlich gemeint ist: während es zwei affirma- tive perfektive Verbformen gibt, gibt es nur eine negative. Die Strukturunterschiede zwi- schen selbständige Satz und Relativsatz bestehen u.a. (309) „in the insertion of temporal adverbs in relative clauses with such an adverb, which is obligatory for relative clauses, but impossible with full sentences with an adverb of time". Nach den Beispielen zu urteilen, bedeutet dies, daß Temporaladverbien in Relativsätzen unmittelbar hinter das Relativpro- nomen und damit vor das finite Verb zu stehen kommen, was in Hauptsätzen nicht möglich ist. Zu der sprachlichen Schludrigkeit kommen sachliche Versehen wie „suffix" (251) statt prefix und „nominative" (264) statt locative.
4. Einen weiteren Stein des Anstoßes bietet die Terminologie. Die Beschreibung ordnet sich, wie gesagt, in kein theoretisches Modell ein und ist im Prinzip auch jedem Linguisten verständlich, wenn nicht eine ganze Reihe von Termini in ziemlich unkonventioneller Weise benutzt würden, manche etablierten Termini im gegebenen Zusammmenhang fehlten und überhaupt nicht selten begriffliche Konfusion herrschte. Es folgt eine Liste solcher terminologischer und begriffli- cher Ungereimtheiten.
Ein 'complement' ist gemäß Matthews 1981 und der gesamten von ihm reprä- sentierten grammatischen Tradition eine durch die Valenz des übergeordneten Glieds bestimmte Ergänzung, während ein 'adjunct' eine valenzunabhängige, freie Erweiterung ist. In diesem Sinne benutzt auch D die Termini gelegentlich
116 Christian Lehmann
(313,339). Der von ihm bewußt eingeführte Gebrauch ist freilich ein ganz ande- rer. Gemäß S. 54 f. gehören zum „core" eines Satzes das finite Verb, Subjekt und Objekte. Dazu treten zunächst „adjuncts", worunter, wie in Kap. 6 ausgeführt wird, alle möglichen, dem Verb mehr oder minder nahe stehenden Adverbialien zu verstehen sind, darunter auch Satzglieder, die nach gängigem Sprachge- brauch (z. B. lokale oder temporale) Komplemente sind. Zu dem aus „core" plus
„adjuncts" bestehenden Satz kann nun noch ein „complement" treten (in den Konstituentenstrukturdiagrammen S. 55 sinnigerweise durch das Kategorial- symbol COMP als Kokonstituente von S' repräsentiert), worunter „sentence level adverbs" fallen, aber, wie aus Kap. 7 deutlich wird, auch linksversetzte Topics und „chömeurs". Um die Verwirrung komplett zu machen, hat das Kap. 6 („Adjuncts") die Abschnitte 6.1 „Locative complements" und 6.3 „Time complements"; damit sind, nach den Daten zu urteilen, lokale bzw. temporale Adverbialien gemeint. S. 348 heißt es: „Whether the locative complement functions as an adjunct or as a sentence level adverb is explicitly marked in Turkana." Man wünschte, es wäre so (Evidenz für diese Behauptung wird nicht gegeben), denn die Kriterien der Unterscheidung bleiben in diesem Buch (wie auch sonst nicht selten) unklar. Die als 'adjuncts' geführten lokalen Adverbia- lien z. B. von S. 347, Bsp. (1) haben zweifellos dieselbe syntaktische Funktion (eines Komplements) wie die als 'sentence level adverbs' geführten von S. 391, Bsp. (4) f.
Verben werden eingeteilt (59) in „state", „process" und „action verbs". Die Klassenzugehörigkeit eines Verbs wird bestimmt von inhärenten semantischen Merkmalen (103), die sich anscheinend nicht in Strukturmerkmalen nieder- schlagen, welche operationalisierbare Kriterien abgeben könnten. So^verstehe ich nicht, wieso 'graze' (76) und 'scratch oneself (139) Stativ sein sollen, 'fear' (62) dagegen ein Prozeß verb, und ebenso 'search' (103) und 'go' (139), die man naiverweise für Handlungsverben halten würde. 'Be dark' und 'be black' wieder- um sind dynamisch (381), also Prozeß- oder Handlungsverben. Da erlahmt das Verständnis. Da in Kap. 4.9.2 mit morphologischen Prozessen der Stativienmg und Dynamisierung von Verben gerechnet wird, die mindestens zum Teil Fle- xionsprozesse sind, ist die Einteilung in ZuStands-, Prozeß- und Handlungsver- ben wohl doch nicht (nur) lexikalisch bedingt.
Die semantischen Funktionen der verbalen Aktanten hängen hauptsächlich von der Klassenzugehörigkeit des Verbs ab. Das Subjekt eines Stativen Verbs wird „Essive" genannt (59); mit diesem Terminus wird gemeinhin die adverbiale Funktion dessen bezeichnet, was in der Schulgrammatik Prädicativum heißt.
Das Objekt eines Stativen Verbs dagegen wird „Proclaimed" genannt (60), wel- cher Terminus völlig undurchsichtig bleibt.
Ganz problematisch ist der Begriff der Konfiguration. D setzt voraus, daß das Verb mit dem Objekt statt dem Subjekt kongruiert, wenn es auf der Prominenz- hierarchie höher als das Subjekt steht. Das gilt aber nicht für gewisse oblique- Aktanten, die man im übrigen als indirekte Objekte ansehen möchte, z.B. den
Rezensionsteil 117 Possessor in einer als Existenzprädikation strukturierten Besitzprädikation (vgl.
lat. Paulo Über es/) .oder das Agens beim Zustandspassiv (vgl. lat. Paulo Über emptus est und unten B1). Aus der Nicht-Kongruenz schließt D (81), daß „the noun phrase does not bear a direct syntactic relation to the verb." Hieraus folgt wieder, daß „a configuration of constituents occurs which cuts across the consti- tuent structure.*4 Die Schlußfolgerung ist (405): „the language lacks a clearcut syntactic structure at least in surface structures and, instead, allows configura- tions of categories of different syntactic levels." Diese Argumentation, -hat Schwächen. Erstens, wenn eine gewisse erwartete syntaktische Relation nicht vorliegt, folgt nicht, daß gar keine syntaktische Relation vorliegt. Dasselbe gilt zweitens, wenn man, wie D, überhaupt keine syntaktische Analyse der betreffen- den Konstruktion gemacht hat. Drittens aber ist die eingangs gemachte Voraus- setzung fraglich, daß das Verb mit allen bzgl. der Prominenz überlegenen indi- rekten Objekten, oder überhaupt mit indirekten Objekten, kongruiert. Beispiele für Kongruenz mit einem Aktanten, der in der Übersetzung als indirektes Objekt erscheint, gibt es nämlich nur von Verben, die eine applikative, von D „dative"
genannte Ableitung aufweisen (z. B. 'Agens gib -APPL-t Benefaktiv Patiens'). Es kann durchaus sein, daß diese Derivation in Wahrheit das Verb transitiviert, also den Benefaktiv zum direkten Objekt macht. Dann wäre Kongruenz des Verbs mit obliquen Aktanten auf direkte Objekte beschränkt, und in den beiden ange- führten Konstruktionen ohne Kongruenz könnte man ohne weiteres mit einem indirekten Objekt rechnen.
Was diese Sache nun wieder vollends verwirrt, ist das Dazwischenkommen von Chomskys (z.B. 1981) Begriff der 'configurational vs. non-configurational languages', der ungefähr Sprachen mit bzw. ohne VP-Konstituente' besagt. Der hier angenommene Begriff von Konfiguration ist also Ds Begriff ziemlich genau entgegengesetzt. Da nun l\irkana keine VP hat, ist es eine non-konfigurationelle Sprache (405), die (s. o.) syntaktische Konfigurationen zuläßt!
Auch Ds Gebrauch der Termini 'auxiliary' und 'copula* ist in der allgemeinen Sprachwissenschaft (für die Afrikanistik erlaube ich mir kein Urteil) nicht ver- traut. Die Kopula ist ein grammatisches Wort (meist ein Verb), das in Sätzen mit nominalem Prädikat dieses mit dem Subjekt verbindet. Ein Auxiliar ist ein grammatisches Wort (meist ein Verb), das mit einer infiniten Verbform zusam- men ein finites Verb ergibt. Was dagegen in diesem Buch „copula" heißt (411 f.), sind Partikeln der Bedeutung 'mit', 'und', Oder', die man vielleicht Konnektive nennen würde. Die Kopula dagegen wird hier (74) als „auxiliary" eingeführt, allerdings, um die Sache zu komplizieren, in dem „Auxiliaries" überschriebenen Kap. 4.7 nicht behandelt. Dort erscheinen stattdessen Verben modalen ('like'), aspektuellen ('finish') und temporalen ('still', d.i. 'andauern') Charakters, die, soweit ich erkennen kann, sich mit den semantisch abhängigen Propositionen in syntaktisch völlig regelmäßiger Weise verbinden und also keine Auxiliare sind.
Da Auxiliare analytische Konstruktionen bilden, paßt ihr Fehlen im Turkana, das ich hier konstatiere, zu dem synthetischen Charakter seiner Morphologie.
118 Christian Lchmunn
D kann sich nicht recht entschließen, ob Turkana nun ein Passiv hat oder nicht. Zunächst (63) heißt es: „Turkana does not have a real passive, that is, a noun phrase with the label Objective cannot become the subject of a basic sen- tence." Der Sinn der Einschränkung 'basic' bleibt offen; da passivische Kon- struktionen i.allg. in dem von D angedeuteten Sinne als abgeleitet betrachtet werden, sind sie natürlich eo ipso nicht „basic**. Als passivisch in Frage kommt eine von D „resultative** genannte Konstruktion, von der es (158) heißt: „Al- though the resultative form may have functioned as a passive form with Stative meaning originally, it synchronically no longer functions as such.4* Wie verträgt sich das mit der Beobachtung (200): „The causative can also be combined with the passive verb form*1, oder der eine bestimmte Art von Sätzen betreffenden Bemerkung (84): „these sentences cannot be passivized'*? S. 196 heißt es schließ- lich: „the passive (or impersonal active, as it is called here)". Auch das ist nicht richtig. Was D „impersonal active** nennt, umfaßt eine „Stative** und eine „dy- namische" (132) Konstruktion, illustriert durch die beiden folgenden Beispiele (l 59, leicht verbessert):
Bl. e-rem-enT a-kine
3-spear-RES F-goat(N) 'the goat is speared1
B 2. -a-rem-j a-kine*
3-PA-spear-V F-goat 'the goat is speared'
(3: subject 3.ps., RES: resultative, F: feminine, N: nominative, PA: past, V:
voice). Für die durch B l exemplifizierte, S. 132 als „Stative impersonal active"
eingeführte Konstruktion wird ab S. 158 der Terminus *resultative' benutzt. Nur um den möglichen passivischen Charakter dieser Konstruktion kann es über- haupt gehen, denn in B 2 liegt fraglos eine aktive Konstruktion vor, da das Patiens im Objektskasus (Absolutus) steht. Dieser Satz bedeutet wörtlich: *un- spezifiziertes Agens hat Ziege erlegt'. Er ist in keinem Sinne intransitiv, wie S. 134 behauptet wird. In B l dagegen steht das Patiens im Nominativ. Die Bezie- hung zwischen B 2 und B l widerlegt somit die oben zitierte Behauptung, daß „a noun phrase with the label Objective cannot be the subject of a basic sentence"
(falls die überhaupt falsifizierbar ist; s. o.). Das Agens kann in solchen Konstruk- tionen, wie schon erwähnt, als (eine Art) indirektes Objekt angeschlossen wer- den. Mithin ist kein Grund zu sehen, warum die von D „resultativ" genannte Kategorie (was'nach üblichem Sprachgebrauch ohnehin eine Aktionsart, keine Konjugationskategorie ist) nicht ein (statives) Passiv sein soll.
D diagnostiziert noch eine weitere Diathese, das Medium, das sich morpholo- gisch kaum von den beiden genannten unterscheidet und im weiteren (136,157)
„factitive** genannt wird. Nach den wenigen Beispielen zu urteilen (die Katego- rie wird nirgends systematisch behandelt), handelt es sich tatsächlich um ein Medium. Faktitiv hatten wir bisher eigentlich immer deadjektivische Verben wie schwärzen genannt, die das Machen zu dem, was das zugrundeliegende Adjektiv
Rezensionsteil 119 bedeutet, ausdrücken. Zu allem Überfluß werden ab S. 288 auch noch gewisse Verbalnomina, im wesentlichen Nomina Acti wie 'song' von 'sing', als „factiti- ves" bezeichnet. Diese haben weder morphologisch noch, wie D (323) selbst zu erkennen scheint, semantisch etwas mit der faktitiv genannten Diathese zu tun.
Durch das ganze Buch ziehen sich die seltsamen Bezeichnungen „infinitive -verb" (z.B. 95) oder auch „verb infinitive" (106) vs. „conjugated verb", womit Infinitiv' vs. 'unites Verb' gemeint ist (auch der Infinitiv ist eine Konjugations- form). Man muß solche unkonventionelle Terminologie wohl gutwillig akzeptie- ren. Ist man nicht gutwillig, kann man auch auf eine Fehleinschätzung der Sach- lage schließen. Das wäre z. B. der Fall auf S. 95 f., wo behauptet wird, daß „Tur- kana is a highly agglutinative language." In Wahrheit ist lurkana nichts weniger als das; es ist im Gegenteil eine stark fusionierende bzw., im traditionellen Sinne, flektierende Sprache. D aber belegt seine Behauptung mit einem Beispiel einer maximal komplexen Verbform, die insgesamt zwölf Affixe hat. Woraus man schließen kann, daß er nicht einer Fehleinschätzung erlegen ist, sondern Synthe- tisch' meint, wenn er 'agglutinative' sagt.
Die Kap. 5.1 und 5.3.1 handeln, wenn man den verwendeten Terminus 'pro- nouns' zum Nennwert nehmen dürfte, von Pronomina. Tatsächlich handeln sie ausschließlich von Personalpronomina. Eines der Desiderata des Buches ist ein Kapitel, das die Pronomina im Zusammenhang analysierte. Hier sind sie, als pronominale Vertreter der verschiedenen nominalen Kategorien und Funktio- nen, verstreut über die Kapitel, welche „modifiers", „question"; „negation"
usw. behandeln.
Die Begriffe 'restriktiv4 vs. 'nicht-restriktiv' kennen wir im Zusammenhang mit Attributen (und Appositionen), insbesondere Relativsätzen. In dem Kapitel über Relativsätze verwendet auch D sie in dem geläufigen Sinne, wenn auch unverständlich ist, warum er S. 308 und 331 von „paraphrase" und „paraphras- tic" redet, wenn er offenbar 'nicht-restriktiv' meint. Der arglose Leser glaubt zunächst zu verstehen, was gemeint ist, wenn S. 217 gesagt wird, es gebe zwei Paradigmen von nominalen Kongruenzpräfixen „depending on whether the modifier is used in a restrictive or non-restrictive sense". Erst später merkt er, daß hier ein neuartiger, nirgends erläuterter Gebrauch der Termini vorliegen muß, wonach Nominalien (Substantive, Adjektive, Numeralia, Genitivattribu- te, Relativsätze) im wesentlichen dann restriktiv heißen, wenn sie attributiv, jedoch nicht-restriktiv, wenn sie substantivisch gebraucht werden.
Auf S. 202 und in Kap. 10 ist von defektiver Flexion die Rede. Prüft man die Paradigmen, stellt man fest, daß sie nicht im mindesten defektiv, sondern ledig- lich unregelmäßig sind. Auf S. 306 bleibt rätselhaft, was referentielle vs. nicht- referentielle Demonstrativa sein könnten. Verwirrenderweise kann ausgerechnet das referentiell genannte Paradigma in einer wirklich nicht-referentiellen Ver- wendung vorkommen, nämlich i. S. v. „wer auch immer" (308). S. 354 gibt es dann von Pronominaladverbien „a special referential form [...], i.e. an adverb with an anaphoric function".
120 Christian Lehmann
Das Interrogativpronomen heißt S. 435f. „question particle". Eine prototy- pisch durch die Körperteilbeziehung vertretene Relation wird S. 356 „partitive"
genannt. In Kap. 6.6 und 7.7 ist mit Bezug auf Konstruktionen wie in B3 von Extraposition die Rede.
B 3. ki-iruk-it' a-yorj ka' rjesi' we-go-A 1-I(N) with him
4he and i are going' (405, mit Nachbesserung. A: aspect)
Gestehen wir zunächst zu, daß der Terminus hier ungeläufigerweise nicht mit Bezug auf einen Nebensatz oder ein Attribut, sondern ein irgendwie koordinier- tes NS, in B3 das komitative Syntagma ka* \ verwendet wird. Für das Vorliegen von Extraposition würde man aber jedenfalls verlangen, daß eine Konstituente eines Syntagmas aus diesem entfernt, also von ihren Kokonsti- tuenten getrennt, und ans Ende eines umfassenderen Syntagmas verschoben wird. Nichts davon geschieht hier. D gibt kein einziges Beispiel eines in diesem Sinne extraponierten komitativen Syntagmas, dagegen mehrere (S. 366, Bsp. (3), S. 408, Bsp. (3)), wo der aus NS plus komitativer Erweiterung gebildeten Konsti- tuente weitere Satzkonstituenten folgen.
Große Analyseprobleme werfen die verbalen Aspekte auf, und zwar sowohl in der Morphologie als auch in der Semantik. D rechnet für das Turkana mit zwei Aspekten (Kap. 4.6.3), einem ingressiv-perfektiven und einem imperfektiven. Es werden keine Minimalpaare gegeben, und die Bedeutung/Funktion der beiden Aspekte wird in dem ganzen Buch nicht recht klar, auch weil sie in den Überset- zungen der Beispiele nicht unterschieden werden. Daß D die Funktion der be- treffenden Suffixe nicht wirklich herausbekommen hat, wird man ihm nicht vorhalten. Aber man ist verwirrt, wenn in Kap. 7.5 ein perfektiver und ein imper- fektiver Subtyp von Kausalsätzen eingeführt werden, die offensichtlich mit den gleichnamigen Verbalaspekten nicht das Geringste zu tun haben, denn beide Aspekte kommen in beiden Kausalsatztypen vor.
5. Ein anderer ungünstiger Aspekt des Buches ist das wiederholte Fehlen von Systematik, eine gelegentliche Unordnung in der Darstellung auf allen Ebenen.
Zur untersten Ebene gehören die zwanzig Fälle, in denen nicht erkennbar ist, welchen Bezug'ein Beispiel zum umgebenden Text hat. So heißt es z.B. auf S. 347: „modifiers following nouns are preceded by either a linker {ka'} (with demonstratives) or (a)} (preceding all other modifiers) when the complement as a whole indicates a source. A few examples may illustrate this:
(1) e-iboy-e-te " m-torja ä na-wuye 3-stay-A-pl people(N) of at-home 'the people are staying at home'
; Rezensionsteil 121 J (2) ki-jiam-i sua a-k-imüj a lo-kyen-o
i we-eat-A we(N) food of at-hearth - j 'we take our food at the. hearth/fire-place'"
j Wo sind da die ablativischen Komplemente und wo die Modifikatoren? Auf
" S. 86 ist die Rede von Subjektanhebung aus dem Nebensatz in den Hauptsatz.
j Sie wird illustriert mit einem Beispiel der Bedeutung „wir wollen dich nicht töten**, wo 'dich' in den Hauptsatz gehoben worden ist.
Ferner gibt es eine Reihe von Abschnitten, die nicht in das Kapitel gehören, in dem sie stehen. So wird das Kap. 4.6.l, das von der Personen/
Numeruskongruenz des Verbs handelt, von einem Abschnitt über den Konjunk- tiv beschlossen, der ins Kap. 4.9.7 gehört. In Kap. 8.4 „Emphasizing adjuncts**
gibt es S. 425 einen Passus über die Struktur instrumentaler Adjunkte (diesmal sind es wirklich welche), der mit Emphase nichts zu tun hat und ins Kap. 6.4 gehört.
In mehreren Kapiteln ist keine Ordnung erkennbar. In der Einleitung zu Kap. 6.9 „The subordinate clause" heißt es (373): „At least the following types of subordinate clauses occur:
(a) Clauses following a 'complementizing* verb (e.g. 'to want').
(b) Clauses following an auxiliary verb.
(c) Clauses indicating a purpose.
(d) Clauses attributing some feature to the main predication.
(e) Clauses resulting from an extra-position of specific categories from the core sentence."
Die Typen werden dann zwar der Reihe nach besprochen; aber was ist die Basis dieser Einteilung? Ist sie formal oder funktional? Wieso ist das Kapitel überhaupt „The subordinate clause" überschrieben, wenn hier nur ein Bruchteil aller Nebensatztypen behandelt wird, alle anderen (Kausal-, Konditional-, Re- lativ-, abhängige Fragesätze usw.) jedoch in anderen Kapiteln? Wenn man selbst keine Einteilungsbasis hat, jedoch, in diesem Falle, die traditionelle Begrifflich- keit verwendet, sollte man nicht auch deren Einteilung (z.B. Inhalts-, Attribut- und Adverbialsätze) übernehmen?
. Die Einteilung der Grammatik als ganzer in die oben § 2 aufgeführten Haupt- kapitel ist auch unsystematisch; aber das ist ein Punkt, in dem es keine commu- nis opinio über die richtige Lösung gibt. Klar scheinen mir immerhin die folgen- den beiden Mängel: Erstens, die Phonologie ist zwar von Morphologie und Syntax abzutrennen, steht aber sicherlich nicht auf einer hierarchischen Stufe mit deren Subkapiteln wie etwa „The noun phrase". Zweitens, das Kap. 10 „De- fective verb paradigms" müßte ein Teil des Kap. 4 „The verb and its functions"
sein. Dann bleibt die Einteilungsgrundlage der Kap. 3-9 zu besprechen. Es fallt auf, daß der gemeinsame Nenner einiger Kapitel klärlich ein konstituenten-
122 Christian Lehmann
slrukturcllcr ist, etwa für Kap. 5 „The noun phrase" und 6 „Adjuncts'*, und daß er es fur andere Kapitel qbenso zweifelsfrei nicht ist, etwa für Kap. 8 „Contrasti- vc emphasis'* und 9 „Question and negation". In den letzteren scheinen funktio- nale Kriterien obzuwalten. Ob eine Grammatik nach strukturellen oder funktio- nalen Gesichtspunkten aufzubauen ist, oder ob stets beide Gesichtspunkte gleichberechtigt zu berücksichtigen sind, darüber herrscht seit je Uneinigkeit.
Soviel scheint mir aber doch sicher, daß man nicht beide Gesichtspunkte unsy- stematisch in einer Grammatik mischen kann. Mehr dazu in Lehmann 1980.
6. Meine Kritik war bis hierhin überwiegend destruktiv, wobei sich allerdings in den meisten Fällen die Wege, es besser zu machen, dem Leser, der die Fehler sieht, von selbst nahelegen sollten. Trotz der genannten Schwächen halte ich The Ttvkana language nicht für ein schlechtes Buch. Man muß es an seinen eigenen Ansprüchen messen. D lehnt wiederholt jeglichen theoretischen Anspruch ab;
ihm genügt es, die Sprachfakten in einer ihnen angemessenen Weise darzustellen.
Charakteristisch für sein Vorgehen ist, daß er zwar an drei Stellen (104,441,447) von zwei in Opposition stehenden Gliedern eines Paradigmas behauptet, daß sie
„occur in mutually exclusive contexts", obwohl sie natürlich je in denselben Kontexten vorkommen, daß er aber, überkommene analytische Methodik durch sichere sprachliche Intuition ersetzend, doch zu einer im übrigen angemes- senen Beschreibung der Paradigmen kommt.
Ds Stärken liegen zweifellos in der Phonologic und Morphologie. Hier gelin- gen ihm detaillierte distributionelle Analysen und die Aufklärung zahlreicher Regularitäten und Subregularitäten. Er findet Muster im Dickicht der lexikali- schen und grammatischen Töne und deren mannigfacher Irregularitäten. Die morphologische Analyse von Wortformen treibt er bis in die submorphemischen Einheiten und findet auch für diese noch, wenn nicht Bedeutungen, so doch Ursprünge in ehemals bedeutungstragenden Einheiten. Besonders eindrucksvoll ist das Kap. 5.2, das die Genus- und Numerusdeklination beschreibt. Wie in Afrika und auch sonstwo häufig, zeigen die Genusaffixe gleichzeitig den Nume- rus an. Zusätzlich zu diesen Präfixen, die grundsätzlich äquipollente Oppositio- nen eingehen, haben aber die meisten Substantive auch noch Numerussuffixe, und zwar, wie schon in § l angedeutet, einige nur im Singular, andere nur im Plural, und wieder andere in beiden Numeri. Darüber hinaus gibt es eine Unzahl von phonologisch und morphologisch bedingten Allomorphen. Frühere Deskri- benten hatten das Handtuch geworfen und behauptet, man müsse die Genus- Numerusflexion für jedes Substantiv eigens lernen. D stellt alle vorkommenden Fälle zusammen und findet, wie nicht anders zu erwarten war, daß es Regelmä- ßigkeiten gibt; man muß nur die sich vermischenden phonologischen, morpho- logischen und semantischen Faktoren entwirren.
Meine konstruktive Kritik soll in einigen Beiträgen zur Analyse bestehen.
Turkana hat zwei Konjugationsklassen (Kap. 4.2.1). Die Verbstämme der zwei*
ten Klasse haben ein anlautendes it die der ersten Klasse haben es nicht. Der
Rezettsionsieil 123 Unterschied hatte ursprünglich eine semantische Grundlage, und das / hatte morphologischen Status; das ist aber heute nicht mehr so. An dieser Stelle ver- zichtet D auf die submorphemische Analyse und rechnet das i zur Wurzel der betreffenden Verben. Bei der Reduplikation von Verbwurzeln (Kap. 4.5.1) muß er den Konjugationsvokal daher mitreduplizieren. Der reduplizierte Stamm von j -ilam *step over* z. B. ist -ilani-a-latn (107). Die hier offenbar stattfindende Epen- these eines mit dem (letzten) Wurzelvokal identischen Vokals ist, wenn das an-
| lautende vorhanden ist, phonologisch völlig unplausibel; außerdem muß. D l nach dieser Epenthese auch noch das i durch eine Regel tilgen. Tatsächlich aber
: j gibt es keinerlei Evidenz dafür, daß das i wirklich mitredupliziert wird. Ferner
| lautet zu -icum 'stechen' das Nomen Acti a-cum-a-t * (F-stech-STAT-sc) 'Stich'.
v l Hier erkennt D (289) ein „example indicative of the separate morphological
! status of the initial high front vowel at some stage pre-dating Türkana". Aber für ' die synchronische Beschreibung muß er das / in der Ableitung wieder tilgen. Mit j scheint, die beiden Fälle zusammen genommen bieten hinreichende Evidenz i dafür, daß das /einen submorphemischen Status hat, also nicht zur Verbwurzel i gehört.
D erwähnt (307) „the historical relationship between the demonstratives and
! gender prefixes both on nouns and their modifiers", analysiert sie aber nicht.
Dabei drängen sich folgende Fakten auf, und zwar auf synchronischer Ebene:
Die distalen Demonstrativa für die drei Genera ergeben, um ein anlautendes y gekürzt, die substantivischen Genuspräfixe. Die proximalen Demonstrativa er- geben, mit geringen tonalen Abweichungen, die Genuspräfixe an Substantiven im Lokativ und an den kongruierenden Attributen. Ferner ist das proximale , Demonstrativum im Neutrum (und damit auch das Genuspräfix neutraler Sub- :; stantive im Lokativ und das neutrale Kongruenzpräfix) formgleich mit und, wie .' D (219) annimmt, grammatikalisiert aus einem Indeklinabile der Bedeutung 'der . » Ort', das D in den Beispielen uneinheitlich mit „at" oder „where" (265 f.) trans- :! morphemisiert, das aber stets lediglich die grammatische Bedeutung LOCUS
! hat. Das Morphem kommt u.a. in folgenden Konstruktionen vor (vgl. S. 216):
: B4. a i-irjok
LOCUS von N-Hund(G) 'towards the dog' (N: neutrum, G: Genitiv) B 5. nl-karf
LOCUS-POSS.l.SG 'to me1 (POSS: Possessivpronomen) B 6. a a lo-tsrj
von LOCUS von M.LOtC-Ameise 'from the soldier ant' (M: maskulinum, LOK: Lokativ)
In all diesen Fällen spricht D von einem „neuter gender marker" bzw. „neuter gender prefix", im letzten auch von einem „linker". Das verbaut aber den Weg . zum syntaktischen Verständnis dieser Konstruktionen, insbesondere des geniti- vischen (in B 5) bzw. „assoziativen" (in B4 und B 6) Verhältnisses, in dem sich
124 Christian Lehmann
das·lokalisierte Substantiv zu dem ni ' befindet. Hier ist überall ein Indekiinabile der Bedeutung LOCUS anzusetzen.
Die kongruenzfahigen Attribute kongruieren mit dem Bezugsnomen im Ge- nus, Numerus und, durch das Tonmuster, im Kasus. Die Universalpräposition a (s. § 1) schließt nicht nur Genitiv-, sondern auch Adjektivattribute, Quantoren und Relativsätze an. Wann und warum das aber geschieht, darüber führt D in die Irre. S. 217 heißt es: „When the noun phrase as a whole occurs in the locative case, [...] the various modifiers are preceded by a linker, which is {ka'} with demonstratives and {ä} with all other modifiers**. Das stimmt nicht, wie die Beispiele (7)-(9) auf S. 314 zeigen, wo NSen im Lokativ stehen, ihre Attribute jedoch direkt angeschlossen sind. Der „linker4* steht nur in Konstruktionen wie B 7 (und auch da offenbar nur fakultativ, nach einem Beispiel auf S. 335 zu schließen).
B 7. a-ka m-torja a - -a-jiam-een-e-te m-tuna' of people of who-3-PA-eat-HAB-A-pl people Of people who ate people1 (310)
Hierzu bemerkt D: „The [agreement] markers are preceded by the linker {a}
when the noun phrase as a whole indicates a source or is a genitive complement"
(vgl. noch den in §5 zitierten Passus von S. 347). Das ist hinsichtlich des aus- schlaggebenden Kasus deskriptiv adäquater als die Behauptung von S. 217, aber immer noch nicht explanatorisch adäquat. Was hier wirklich vorliegt, ist Kasus- kongruenz des Attributs mit dem Bezugsnomen: der durch die Universalpräpo- sition a ausgedrückte Obliquus ist in die Kasuskongruenz einbezogen.
7. Die Beschreibung ist, wie gesagt, sehr detailliert und bietet auch Informatio- nen zu Kapiteln des Sprachsystems, die man in vergleichbaren Beschreibungen nicht selten vermißt. So enthält Kap. 5 einen Abschnitt über Onomastik und Kap. 6 je einen über Ideophone und Abtönungspartikeln. Nichtsdestoweniger wird über einige wichtige Bereiche des Sprachsystems nicht das Notwendige gesagt, vielleicht weil sie.wegen des uneinheitlichen Aufbaus der Beschreibung an verschiedenen Stellen verstreut behandelt werden. Mindestens die folgenden Desiderata verbleiben: 1) In der Phonologic kommt die Phnotaktik zu kurz (ein Teil findet sich fehlplaziert in Kap. 4.2.2); insbesondere fehlen Generalisierungen darüber, welche Tonmuster, lexikalisch und phonetisch, zugelassen sind. Es gibt auch keine Information über Suprasegmentalia (Satzintonation und -akzent).
2) In dem Kapitel über die Satzstruktur fehlen Angaben über avalente Verben (Witterungsverben u.a.). Die verstreuten Bemerkungen zu Prädikationen der Existenz und Lokalisation müßten zusammengefaßt werden. 3) Im Zusammen- hang mit dem zu schreibenden Kapitel über Pronomina (s. §4) wäre auch die Anapher zu behandeln. 4) Es fehlt ein Kapitel über Präpositionen. Die Rolle der Universalpräpostion (z.B. beim Lokativ) bleibt weitgehend dunkel.
Rezensibnsteil 125 5) Hinsichtlich der Nebensätze bleiben, bei Fehlen von Strukturmitteln (Asyn- dese), die Kriterien der Subordination unklar. Da in den Nebensätzen die ver- schiedenen Modi auftreten, sollte es auch darüber einen Abschnitt geben.
6) Man erfahrt nichts über direkte und indirekte Rede. Von den indirekten Fragesätzen werden nur die Wortfragen, nicht aber die Satzfragen behandelt.
Ich zähle diese Desideratax'hier auf, weil ich diesem Werk, das zweifellos das wichtigste Handbuch zur Turkanasprache werden wird, eine überarbeitete Auf- lage wünsche.
Literaturnach weis
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[Lehmann 1980] Lehmann, Christian: Aufbau einer Grammatik zwischen Sprachtypologie und Universalistik. - In: Wege zur Uni Versalienforschung. Sprachwissenschaftliche Bei- träge zum 60. Geburtstag von Hansjakob Seiler. Eds.: Gunter Brettschneider & Chri- stian Lehmann. - Tübingen: Narr 1980. S. 29-37.
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... \ Eingereicht am 29.2.1984
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Eckard Rolf
Rezension von: Siebert-Ott, Gesa Mären: Kontroll-Probleme in infiniten Komplementkonstruktionen. Tübingen: Narr 1983. 139 S.
(= Studien zur deutschen Grammatik. 22).
Ein kompetenter Sprecher/Hörer des Deutschen wird Sätze wie (1) und (2) so verstehen, daß er den Wärter (und nicht den Zoodirektor) als diejenige Person ansieht, die für die Freilassung der Löwen zu sorgen hat:
(1) Der Zoodirektor bittet den Wärter, die Löwen freizulassen.
(2) Der Wärter verspricht dem Zoodirektor, die Löwen freizulassen.
Ein Bemühen um die Rekonstruktion der semantischen Intuitionen, aus de- nen sich solche Satzinterpretationen ergeben, hat zunächst folgendes festzustel- len: Für Sätze der obigen Art ist kennzeichnend, daß der jeweilige Matrixsatz Verben wie befehlen, auffordern, beauftragen, versprechen, garantieren, beichten etc. enthält und daß der eingebettete Satz die Form einer infiniten Koraplement- konstruktion hat. Sodann ist hervorzuheben, daß das logische Subjekt der Kom- plementsätze bei deren Interpretation eine Rolle spielt, daß infinite Komple- mentkonstruktionen demnach unter Berücksichtigung einer sprachlich zwar nicht realisierten, aber dennoch mitverstandenen NP interpretiert werden.
Das Nichtvorhandensein einer solchen NP ließe sich dabei z. B. so erklären:
sie ist lediglich tiefenstrukturell gegeben, dann aber, und zwar unter Referenz- identität mit einer NP des Matrixsatzes, getilgt worden. Es wäre jedoch auch, wie es die neuere Konzeption der generativen Grammatik kennzeichnet, an eine basisgenerierte, aber nicht expandierende, leere NP zu denken; diese würde durch ein PRO-Element, d.h. durch ein Pronominalelement ohne phonetische Matrix, vertreten sein und dabei unter Referenzidentität mit einer NP des über- geordneten Satzes interpretiert werden. Der Satz (2) beispielsweise hätte demzu- folge (bei Auslassung hier irrelevanter Details) die folgende Struktur:
(3) [s Der Wärter verspricht dem Zoodirektor, [5 [
COMP Cs PRO [VP die Löwen freizulassen.]]]]]
Aber worauf ist die erwähnte Referenzidentität zurückzuführen? Welche Re- geln und Prinzipien sind für die Interpretation der sprachlich nicht realisierten Komplementsatz-N P verantwortlich?
Auf diese Fragen versucht Gesa Mären Siebert-Ott (S.-O.) in einer überarbei- teten Fassung ihrer Dissertation (Universität Köln 1982) eine neuartige Antwort
Zeitschrift für Sprachwissenschaft 4,1 (1985), 126-131
© Vandenhoeck & Ruprecht, 85 ISSN 0721-9067
Rezensionsteil 127 j zu geben. Dabei begreift sie das Verhältnis, das zwischen der für die Interpreta- j tion des oben genannten PRO-Subjekts ausschlaggebenden Matrixsatz-NP auf
| der einen Seite und diesem PRO-Element auf der anderen besteht, im Sinne der neueren Konzeption der generativen Grammatik als Ab/i/ro//-Relation. Die Theorie der Kontrolle aber ist nach Chomsky (1981: 5) eine der sechs Teiltheo- .rien, mit deren Hilfe - unter der Voraussetzung, daß syntaktische Strukturen generell als Projektionen des Lexikons anzusehen sind (Projektionsprinzip) - l sämtliche grammatischen Erscheinungen erfaßt werden sollen. S.-O. greift dem- nach in die Diskussion um eine für die gegenwärtige Konzeption der generativen Grammatik zentrale Theorie ein.
Die von S.-O. vertretene These besagt, daß es logisch-semantische Eigen- j Schäften, also Bedeutungsaspekte des Matrixverbs sind, die Kontrollerscheinun- j gen determinieren: von der Bedeutung des Matrixverbs hänge es ab, aufweiche l NP des übergeordneten Satzes das mitverstandene, lediglich mental präsente i Komplementsatz-Subjekt bezogen wird.
l Das Buch ist in acht Abschnitte unterteilt. Auf eine vor allem die Nennung der
:->j Hauptthese enthaltende Vorbemerkung (S. 9f.) folgt eine (besonders für einen
·*·;··' mit der Materie weniger vertrauten Leser) sehr informative und konzentrierte
! c Einführung in die Problemstellung (Abschnitt l, S.11-22). Die Abschnitte 2 ' (S. 23-45) und 3 (S. 46-61) sind einer kritischen Auseinandersetzung mit den L ~; bisherigen Behandlungen des Kontroll-Problems in der Literatur gewidmet. Im -:.·:· Abschnitt 4 beschäftigt sich S.-O. mit der Frage nach dem Stellenwert, der den vr hier relevanten Daten - in diesem Fall denjenigen Verben, die Subjektkontrolle ..: r verlangen (s. u.) - hinsichtlich der Aufrechterhaltung oder Verwerfung von Kon-
;;: ; troll-Theorien beizumessen ist (s.u.). In den Abschnitten 5 (S.68-100) und 6 r-lci (S. 101-111) begründet, illustriert und differenziert S.-O. ihre These anhand ei- te· j ner großen Anzahl von Beispielsätzen. (Die Wohlgeformtheit einiger dieser Bei-
?. | spielsätze mag möglicherweise kontrovers beurteilt werden.) Daß auch im Hin-
• , ! blick auf diejenigen Ausdrücke, mit denen infinite Komplementkonstruktionen rr;j i alternieren, Kontroll-Phänomene festzustellen sind, zeigt S.-O. im Abschnitt 6,
:-:; indem sie Sätze wie die folgenden anführt:
...g. (4) paulj verspricht Otto2, daß erj kommt. (S. 102) (Subjektkontrolle) ' (5) Paul empfiehlt Otto Entspannung. (S. 102) (Objektkontrolle) ,··;: Im Abschnitt 7 (S. 113-119) zieht S.-O. ein Fazit.
Was die bisherigen Analysen des Kontroll-Problems anbelangt, so unterschei- det S.-O. sfrw/rfwrorientierte und 6e</eH/t/wgsorientierte Vorschläge.
..,; Die als strukturorientiert bezeichneten Erklärungsversuche nehmen Bezug
"..^ auf eine konfigurationale Erscheinung, und zwar auf die Distanz zwischen der mitverstandenen Komplementsatz-NP, d.h. dem PRO-Element, und der als
«, Kontrollinstanz fungierenden NP des Matrixsatzes. Enthält der Matrixsatz eine
".'*. · Objekt-NP, dann übt diese aufgrund größerer Nähe den entsprechenden Erklä-