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Die Spur der Steine

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Academic year: 2022

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Die Sprache der Steine

i

Grenzen provozieren Grenzerfahrungen. Sie schließen ein; sie schließen aus. Je schärfer ihre Linien gezogen sind, desto größer die Schatten des Trennenden. Ereignishaft wird dadurch der Übergang, in dem sich vielfältige Probleme – mit ebenso vielen Geschichten – spiegeln lassen.

Ein junger Autor, fast noch ein Debütant, sogleich mit Preisen bedacht, Davide Longo (Jg. ‘71) hat sich diesen narrativen Ort mit einer bemerkenswerten und durchdringenden Schreibweise erschlossen. Oben in den Bergen Piemonts, an der Grenze zu Frankreich, entlädt sich deren Konfrontation in einem Mord. Der Kriminalfall als Träger einer Geschichte ist inzwischen beliebt; Beispiele erübrigen sich. Auf die Aufklärung kommt es an; sie gibt Gelegenheit, das Lebensbedrohliche dahinter aufzudecken. Den Vordergrund nehmen zunächst die „passeurs“ ein. Sie üben den unehrenwerten Beruf des Schleusers aus. Das Syndikat, draußen in der Ebene der Stadt, vermittelt die Illegalen, die über den Unort der Berge nach Frankreich wollen. Als Cesare seinen Berufsschüler und Freund Fausto erschossen und aufgequollen in einem Gebirgsbach findet, raucht er noch mehr als sonst. Gefahr und Tod sind zwar stets ihre Begleiter. Aber auch sie haben ihre Ordnung.

Werden sie aktiv, muss eine gravierende Störung stattgefunden haben.

Gewiss, die Polizei untersucht. Für ihre Logik gibt es an diesem Außenort jedoch kein Durchkommen. Er ist nur von innen, von Cesare zu verstehen. Seine Ermittlungen haben – fatalen – Erfolg: er stößt dabei an seine eigenen Grenzen. Im Gegensatz zu den äußeren sind sie allerdings unüberwindlich. Aus Freundschaft hatte er den Auftrag Francos zu Ende geführt. Nachts, beim Übergang, an der unwegsamsten Stelle, wird er beschossen.

Es gelingt ihm, sich dem Täter zu nähern. Lautlos ersticht er ihn; wortlos, geradezu verabredungsgemäß, nimmt dieser den Tod hin. Es ist sein alter Weggefährte Ettore. Er wollte verhindern, dass Cesare hinter den Mord an Franco kommt. Also kein Berufsverbrechen; verratene Liebe und Ehre, mithin Gängiges der Kriminalunterhaltung, sind der Grund.

Doch das wäre höchstens die halbe, die uneigentliche Geschichte, lediglich narrative Logistik für das, was sie eigentlich bewegt. Denn effektiv liegt sie so gar nicht vor; sie wird ungleich mehr vorenthalten als ausgebreitet. Was sie (und ihren Autor) auszeichnet, ist eine entschiedene, fast manieristisch insistierende Kunst des Verschweigens. Sie wirkt vor allem durch das, wie sie etwas nicht sagt. Gleicht darin einem sensiblen neorealistischen Dokumentarfilm (den Longo selbst pflegt); der zeigt, aber selbst kaum kommentiert.

Dieser erzähltechnische Kunstgriff hat jedoch Methode: er betreibt geradezu

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Ethnographie, weil er die Schweigsamkeit des Landes und der Leute zu einem Stilprinzip macht. Aus gutem Grund: es ist eine sterbende Welt. Mit ihr geht eine elementare Seh- Sprache verloren, die es versteht, sich jenseits der Worte zu verständigen. Natürlich hat dort oben jeder Gefühle, heftige, archaische; aber sie werden nicht geäußert. Nahezu wortlos drin- gen die Figuren in den Körper der anderen ein; mit Gedanken, Waffen, sexuell.

Warum auch viel Worte machen? Hier bestimmt die Natur die Syntax des Lebens. Ihre

„bellezza“ aber, sagt der Autor, „è sempre crudele“. Sie ist mithin keineswegs menschenfreundliches Biotop. Respekt vor dem Lebenswillen fordert sie ein, mehr nicht, den Tod eingeschlossen. Und die Bereitschaft, auf ihre stumme Sprache der Fatalität einzugehen, d.h. auf zerfallende Hütten, dürftige Kost, verwaiste Familien, Einsamkeit, Stille, grundlose Erwartung. Eine dritte Grenze zieht sich durch diese Welt am Rande: oben die wenigen, die es mit der Natur noch aufnehmen; unten die, die glauben, sich ihrer Unerbittlichkeit entziehen zu können. Cesare, der Grenzgänger, weiß am Ende nicht mehr, wo er hingehört. Er hatte das Syndikat unten verdächtigt und verraten, und wartet nun oben, mit dem Rücken zur Tür, bis sie kommen und ihn auch physisch erledigen. Steine, gibt der (italienische) Titel zu verstehen, lassen sich nicht zum Sprechen bringen – es sei denn, sie werden einem aufmerksamen Roman in den Mund gelegt.

i DAVIDE LONGO: Der Steingärtner. Roman. Aus dem Italienischen von Suse Vetterlein. Berlin (Verlag Klaus Wagenbach) 2007. – Original: Il mangiatore di pietre. Mailand (Marcos y Marcos) 2005.

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