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Buch

In einer fernen, bedrohlichen Zukunft: Der nördliche Konti- nent Yerrup mit seiner einst hoch entwickelten Zivilisation liegt unter Schlamm und Eis begraben, während der südliche Erdteil Ifrik von Dürre und Kriegen heimgesucht wird. In dieser traurigen Welt begibt sich Dann, als Bürgerkriegs- general eine legendäre Gestalt, auf eine abenteuerliche Suche.

Allein reist er nach Norden und muss mit ansehen, wie die Gletscher schmelzen und das Land langsam versinkt. Wird es ihm gelingen, die Kultur und das Wissen seiner Vorfahren zu retten? Nur mit Hilfe des ehemaligen Kindersoldaten Griot, der Tochter seiner geliebten Schwester Mara und des treuen Schneehunds Ruff fi ndet Dann schließlich einen Weg.

Doris Lessings Roman, in dem sie die Geschichte der Ge- schwister aus »Mara und Dann« fortführt, ist eine beklem- mende Fabel, die ebensoviel über unsere gegenwärtige Welt erzählt wie über die Zukunft, der wir entgegengehen.

Autorin

Doris Lessing, 1919 im heutigen Iran geboren und auf einer Farm in Südrhodesien aufgewachsen, lebt seit 1949 in Eng- land. 1950 veröffentlichte sie dort ihren ersten Roman, in Deutschland hatte sie ihren großen Durchbruch mit »Das goldene Notizbuch« (1978), das seitdem zu ihrem Hauptwerk gezählt wird. Doris Lessing ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart, ihr umfangreiches Werk umfasst Lyrik, Prosa und autobiographische Schriften.

Doris Lessing bei btb

Ben in der Welt. Roman (72741)

Unter der Haut. 1919 - 1949. Autobiographie (72045) Schritte im Schatten. 1949 -1962. Autobiographie (72276) Und wieder die Liebe. Roman (72067)

Shikasta. Roman (Canopus-Zyklus 1/ 72734)

Die Ehen zwischen den Zonen Drei, Vier und Fünf. Roman (Canopus-Zyklus 2/ 72773)

Die sirianischen Versuche (Canopus-Zyklus 3/ 72813) Canopus im Argos (Canopus-Zyklus 4, 5/ 72812) Mara und Dann. Roman (73141)

Ein süßer Traum. Roman (73391)

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Doris Lessing

Die Geschichte von

General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund

Roman

Aus dem Englischen von Barbara Christ

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-100

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifi zierte Papier Munken Print liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

1. Aufl age

Genehmigte Taschenbuchausgabe November 2007

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © 2005 by Doris Lessing

Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2006 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg www.hoca.de

Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: akg-images

Druck und Einband: Clausen & Bosse, Leck KR · Herstellung: BB

Printed in Germany ISBN 978-3-442-73687-4 www.btb-verlag.de

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D

ie kleinste Bewegung, zu welcher Seite auch immer, nur eine Handbreit – und Dann würde fallen.

Er lag ausgestreckt da wie ein Taucher und krallte sich an einer hervorstehenden, zerbröckelnden schwarzen Fels- nase fest, der Spitze eines Vorsprungs, an dessen Unterseite Wind und Wasser Teile weggerissen hatten, sodass er aus der Ferne wie ein dunkler Finger aussah, auf den Wasserfall gerichtet, der über eine schwarze Felskante stürzte und sich darunter in Nebelschleier und wirbelnde, verwehte Gischt auflöste, die Dann hypnotisierte: Klippen unter tosendem Weiß. Der Lärm machte ihn taub, und Dann bildete sich ein, Stimmen zu hören, die ihm aus dem Tosen etwas zu- riefen, obwohl er wusste, dass es die Schreie der Seevögel waren. In seinem Blickfeld gab es nichts als weiße Schleier aus stürzendem Wasser, doch wenn er den Kopf von den Armen hob und geradeaus sah, hingen niedrige Wolken aus Schnee und Eis in der Ferne, jenseits des Golfs, über dem er schwebte. Weiß, weiß auf weißem Grund, und Dann at- mete frische Seeluft, die den dumpfen, modrigen Geruch des Zentrums aus seinen Lungen fegte. Nur wenn er das Zentrum und seine sumpfige Umgebung verließ, wurde ihm klar, wie sehr er diesen Geruch verabscheute, wie auch den Anblick des sumpfigen Landes, nichts als Grau und tristes Grün und fahl schimmerndes Wasser. Er kam an diesen

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Ort, weil die Luft dort frisch und belebend war und weil ihm das Wirbeln des Wassers neue Kräfte gab. Schwarz und Weiß, und über ihm das kalte Blau des Himmels. Und wenn er bis zur äußersten Spitze der Felszunge kroch, die Arme auf beiden Seiten herabhängen ließ und nach unten blickte, sah er in der Tiefe glitzerndes, wogendes Wasser, vom Him- mel blau gefärbt.

Die Felsspitze konnte zerbröckeln und abstürzen, und er mit ihr: Dieser Gedanke wirkte berauschend auf ihn.

Jenes Wasser, das sich über die Felsen ergoss, er kannte es – am Tag zuvor hatte er noch im Meer gebadet. Es war kalt und besaß einen hohen Salzgehalt, und jenes Meer dort un- ten war ebenfalls kalt und salzig, aber weniger konzentriert, denn auch an dem mit Schnee und Eis bedeckten Ufer, das jenseits der Fälle aus Meerwasser begann, strömte an vielen Stellen Wasser hinein. Dort unten gab es nur Brackwasser – trotzdem konnte Dann beobachten, dass Seevögel über die Wellen zu der felsigen Barriere flogen und hinab zu jenem anderen Meer glitten, zu dem Meer in der Tiefe dort unten, also war es für sie offenbar auch ein Meer. Er hatte sich ge- fragt, wie Fische aus dem gefährlichen, salzigen Ozean in je- nes andere, tiefer gelegene Meer gelangten, denn er ging da- von aus, dass kein Fisch, der von den Wellen zum Rand des Ozeans und zu den Felsen getragen und schließlich von den weißen Kaskaden mitgerissen wurde, einen so langen, atem- losen, wirbelnden Sturz überleben konnte. Doch ob sie das schafften oder nicht – Fische gelangten auch auf andere Weise in das tiefer gelegene Meer: Die stürzenden Wasser- massen versprühten Unmengen von Schaum, der Klumpen bildete, die um vieles größer waren als Dann. Und in diesen Klumpen befanden sich Fische.

Zusätzlich zum Brausen des Wassers war nun ein lau- tes Krachen zu hören: Dann wusste, was das war. Ein Ge- steinsbrocken hatte sich vom felsigen Kamm gelöst und

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stürzte nun, hinter den weißen Nebeln verborgen, in die Tiefe, prallte an versteckten Vorsprüngen ab und würde schließlich tief unten landen, wo er nicht mehr zu sehen war, in den Wassern vor dem Ufer des Mittleren Meeres.

Dann wusste: Dieser Abgrund war einmal ein Meer gewe- sen, dieser Kessel, der so riesig war, dass er geradezu un- endlich wirkte. Er hatte das auf den alten Karten und Glo- ben in Chelops gesehen. Auf der Farm hatte er sogar nachzubauen versucht, was er noch in Erinnerung hatte, einen Globus, auf dem das Mittlere Meer zu sehen gewesen war, darunter Ifrik und darüber die Eismassen von Yerrup, eine weiße Fläche mit einem blauen Rand ganz oben. Er hatte das weiße Leder einer Ziege über ein Gestell aus Zweigen gespannt. Das Gebilde war unregelmäßig, und doch hatten er und Mara auf diese Weise jenen alten Ma- hondi-Globus wiedererschaffen. Und nun blickte er dort- hin, wo das Eis war, obwohl er sich diese Gegenden eher vorstellte, als dass er sie sah – er wusste, dass sie dort lagen.

Und das Eis schmolz. Das Schmelzwasser ergoss sich in den Ozean und stürzte schließlich über die frühere Küste des Mittleren Meeres in die Tiefe, in jenes Meer, das dort ganz unten lag. Von überall her ergoss sich Eiswasser in die- ses Meer, über Klippen, die sich so ungeheuer ausdehn- ten, dass er es nicht erfassen konnte. Wie lange würde es dauern, bis es voll gelaufen war? Er wusste, dass der gewal- tige Kessel einmal voll gewesen war und dass sich die Ober- fläche des Mittleren Meeres etwa dort befunden hatte, wo er gerade lag. Dann versuchte, sich dieses riesige Loch vol- ler Wasser vorzustellen, als Meer, dessen Spiegel beinahe dem des Westlichen Meeres entsprach – er versuchte es, aber es gelang ihm nicht. Denn was er sah, war überaus ein- drücklich und gegenwärtig – die steilen dunklen Flanken des Abgrunds, die zum Mittleren Meer hin abfielen und mit Gras und anderen Pflanzen bewachsen waren.

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Weil ihn dieser Ort so faszinierte, kam er schon seit Wo- chen immer wieder, um an dieser Stelle zu liegen, den don- nernden Wasserfall zu betrachten, ihm zuzuhören und die saubere, salzige Luft tief einzuatmen. Er hatte sich in alle Richtungen umgesehen und das Meer bestaunt, das dort unten lag. Doch inzwischen staunte er nicht mehr, denn er kannte es: Er war selbst dort unten gewesen.

Der zierliche, feingliedrige junge Mann wirkte eher wie ein Junge und wäre aus der Ferne durchaus mit einem Vogel zu verwechseln gewesen, und in jenen Wochen hätte je- der Beobachter gestaunt, wie leichtsinnig er sich an diesem gefährlichen Ort verhielt. Der Nebel sorgte für Böen und Windstöße, die Gischt und Schaumklumpen mit sich führ- ten, doch Dann versuchte nicht einmal, Vorsicht walten zu lassen – manchmal setzte er sich auf und ließ sogar die Beine über dem Abgrund baumeln oder streckte die Arme aus. Reckte er sich einem Windstoß entgegen, der ihn mit- reißen konnte? Und so geschah es auch: Er wurde hochge- hoben und zu Boden geschleudert, landete auf einem lan- gen, glitschigen Felshang und rutschte ab, bis er in einer grasbewachsenen Spalte hängen blieb. Unterhalb davon fie- len ebenfalls nasse Felsen steil ab, und wieder wurde er vom Wind hinuntergefegt. Die Felsen waren glatt wie Glas, ein Werk des Wassers: Das Wasser war über Zeiträume, die Dann sich nicht einmal vorstellen konnte, darübergeflos- sen und hatte sie abgeschliffen. Er war zwar abgerutscht, doch die feste Kleidung hatte seinen knochigen Körper und die dünne Haut über den Knochen geschützt. Noch während Dann weiterrutschte und sich manchmal sogar überschlug, hielt er Ausschau nach einem Weg oder irgend- einer anderen, bequemeren Möglichkeit zum Abstieg und glaubte, so etwas wie einen Pfad zu erkennen. Er wusste, dass manche Leute diesen langen, gefährlichen Abstieg wagten, um wohlschmeckenden Fisch aus dem sauberen,

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tiefer gelegenen Meer zu holen, denn davon hatte er gehört.

Als Dann sich schließlich an einem Busch festklammerte, blieb ein ziemlich großer Schaumklumpen neben ihm lie- gen, den der Busch aufgehalten hatte. Darin sah er kleine Fische zappeln. Wenn sie nicht bald das Wasser erreichten, würden sie nicht mehr lange zappeln. Also schob Dann einen Arm in den Schaum hinein, damit er an ihm haftete, und rutschte und stürzte dann weiter über den glitschigen Fels, immer weiter, bis er unten angekommen war, an dem tiefer gelegenen Meer, das genauso lebhaft war wie das Westliche Meer, aus dem es sich speiste – aber nur zum Teil, denn auch aus den Eisklippen strömte Wasser. Allerdings gab es hier nur kleine Wellen, keine großen Brecher wie am Westlichen Meer.

Als Dann den Schaum von sich geschleudert hatte, schaukelte dieser auf dem Wasser, und er konnte sehen, wie kleine bunte Fische durch die Wellen davonschwammen.

Von hier aus nahm der große weiße Wasserfall, der von hoch oben herabstürzte, die Hälfte des Himmels zu seiner Linken ein. Dann suchte sich einen leicht zugänglichen Fel- sen, hockte sich hin und starrte auf das Meer, auf jenes Mitt- lere Meer, das einst diesen ganzen gewaltigen Raum ein- genommen hatte – er wusste, dass er nur einen winzigen Teil des westlichen Ufers sah und dass dort, wo er hockte, einmal schon fast der Meeresgrund gewesen war. Und so würde es auch irgendwann wieder sein. Aber wann? Es strömte viel Wasser herein, Salzwasser und kaltes aus dem Eis, und doch ragten hinter ihm die Klippen ungeheuer weit empor.

Dann zog seine Kleider aus und glitt ins Wasser, um zu fischen, mit nichts weiter als seinen zehn Fingern. Es gab viele Fische in allen Größen. Während er zwischen ihnen umherschwamm, sammelten sie sich um ihn, bedrängten und schubsten ihn und hatten überhaupt keine Angst. Er

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schlang beide Arme um einen großen scharlachroten Fisch, stieß die Finger in seine Kiemen und hievte ihn mühsam aus dem Wasser auf einen flachen Stein, wo er japste, bis er tot war. Dann hatte sein Messer im Gürtel stecken. Er schnitt den Fisch in Streifen, die er auf einen Busch spießte, um sie in der Sonne zu trocknen. Er hatte nichts dabei, was als Ta- sche oder Beutel dienen konnte, und es war ein großer Fisch. Dann blieb noch eine Weile, bis die Sonne hinter der großen Klippe gesunken war, über die das Wasser stürzte.

Es bestand die Gefahr, dass er im Dunkeln den gefähr- lichen, felsigen Hang hinaufklettern musste, und er suchte sich in den Rissen zwischen den Felsen einen Weg nach oben. Es dauerte lange, und als er oben ankam, war es dun- kel. Er ging zurück zum Zentrum und in sein Zimmer, wo- bei er es vermied, der alten Frau und den Bediensteten zu begegnen. Es fiel ihm schwer, die drückende, feuchte Luft in seinen Lungen zu ertragen.

Schon früh am nächsten Tag stieg er den Hang zum Mitt- leren Meer hinunter, und diesmal hatte er einen Sack für die Fischstreifen dabei. Aber der Fisch war fort. Jemand oder etwas hatte ihn mitgenommen. Dann sah sich aufmerksam um, versuchte, sich klein und unsichtbar zu machen, und hockte sich hinter einen Felsen, um dort zu warten. Doch er konnte nichts und niemanden sehen. Er beschloss, nicht ins Wasser zu gehen, um einen zweiten Fisch zu holen, weil es denkbar war, dass ihn der unsichtbare Dieb nicht mehr herauskommen ließ. Die Sonne stand hoch über ihm, und es war heiß. Deshalb sprang er in Ufernähe doch kurz ins Wasser und sah von dort spröde weiße Haarsträhnen, die sich in einem Busch verfangen hatten. Die Haare hingen im oberen Teil des Buschs. Sie mussten von einem ziemlich großen Tier stammen. Dann kletterte an den Flanken des Abgrunds zu seiner Felsspitze zurück und dachte, dass es ein großer Unterschied war, ob man sich allein glaubte oder

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ob man erkannte, dass man es nicht war und vielleicht sogar beobachtet wurde.

Als Dann die Farm verlassen hatte und zum Zentrum ge- kommen war – was schon ziemlich lange her sein musste, mindestens einen halben Sonnenkreis –, hatte er festge- stellt, dass der Mann, der sich Prinz Felix nannte, nicht mehr lebte und dass die alte Frau, Felissa, verrückt genug war, ihn für einen Eroberer zu halten, der mit der Absicht zurückgekehrt war, sie zu inthronisieren. Sie besaß ein altes Stück Metall, einen Schild, der wer weiß wie alt und mit einem Bild versehen war – eine Frau, die auf einem hohen Stuhl saß, während andere um sie knieten. Dann wollte von ihr wissen, was für ein Metall das war, aus welcher Zeit es stammte und aus welchem Raum in den Museen sie es ge- nommen hatte, aber sie heulte nur und jammerte, er sei von königlichem Geblüt und müsse seinen rechtmäßigen Platz einnehmen – an ihrer Seite. Er hatte es dabei belassen.

Schließlich war ein junger Mann aufgetaucht, der eben- falls von der Farm kam und Arbeit suchte. Er hieß Griot, und Dann erinnerte sich an seine grünlichen Augen, die ihn schon seit der Zeit in Agre verfolgten. Griot war un- ter Dann Soldat gewesen, unter dem Agre-General Dann.

Und er war Dann tatsächlich von Agre bis zur Farm gefolgt, und von dort zum Zentrum. Griot hatte zu Dann gesagt:

»Als du nicht zur Farm zurückgekommen bist, habe ich ge- dacht, dass du hier vielleicht etwas für mich hast.« Hier hieß im Zentrum, und er sprach das Wort aus, als hätte er Großes vor. Die beiden jungen Männer hatten dagestanden und einander betrachtet, und während Griot voller Erwartung war, wäre Dann am liebsten davongelaufen. Nicht, dass er Griot nicht gemocht hätte – er war ihm bisher einfach nicht aufgefallen. Griot war ein gedrungener junger Mann mit ausgeprägten Gesichtszügen und grünlichen Augen, die auffallend waren, weil man Augen von dieser Farbe selten

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sah. Dann erklärte ihm, dass es im Zentrum genügend Platz gebe und inzwischen schon alle möglichen Leute in ihm Schutz gefunden hätten. Das Zentrum war viel größer, als er und Mara bei ihrem ersten Aufenthalt angenommen hat- ten. Dass es sehr geräumig war, sah man auf den ersten Blick, aber wie weitläufig und verwinkelt es tatsächlich war, merkte man erst, wenn man sich besser auskannte. Von Zimmern gingen andere Zimmer ab, winzige Wendeltrep- pen verbanden Räume, die übereinander lagen, und halb verfallene Flügel, die aufgegeben worden waren, beherberg- ten inzwischen wieder Bewohner, die unbemerkt bleiben wollten und sich dort verbargen. Auf der Meerseite gab es jenseits der großen steinernen Umfassungsmauer Gebäude, die lange nach der Gründung des eigentlichen Zentrums errichtet worden waren, doch die versanken mittlerweile in den Sümpfen. Aus diesem Grund wirkte das Zentrum oft kleiner, als es war. Es stand auf der einzigen Anhöhe, die es in weitem Umkreis gab, doch seit die Erwärmung der Tundra eingesetzt hatte, waren die Sümpfe auf dem Vor- marsch, und das Wasser stieg langsam an. Manche Orte an den Grenzen des Zentrums waren schon überflutet. Seit wann mochte das so sein? Doch welchen Sinn hatte diese Frage, wenn man mit einem Boot über ganze Städte hin- wegfahren konnte, deren Dächer man glänzen sah, wäh- rend die Einheimischen sagten: »Mein Großvater hat ge- sagt, dass sich sein Großvater an die Stadt erinnern konnte, als ihre Dächer noch aus dem Wasser ragten.«

Und doch waren er und Mara vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam im Zentrum gewesen, und Dann hätte schwö- ren können, dass einige feuchte Stellen seinerzeit noch tro- cken gewesen waren. Vielleicht ging es inzwischen immer schneller, und es dauerte nicht mehr wie früher Generatio- nen, bis eine Stadt im Schlamm versank?

Er hatte zu Griot gesagt, dass er, Dann, keine Gesell-

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schaft suche. Es fiel ihm schwer, so etwas in dieses er- wartungsvolle Gesicht hinein zu sagen. Griot hatte ge- antwortet, er sei handwerklich geschickt und habe viele Fähigkeiten; er werde Dann nicht zur Last fallen. Dann wollte wissen, wo Griot so viel gelernt hatte, und hörte eine Geschichte, die seiner eigenen nicht unähnlich war: Griot war sein Leben lang vor Kriegen und Invasionen auf der Flucht gewesen, und natürlich vor der Dürre. Daraufhin sagte Dann, Griot könne einen wertvollen Beitrag leisten:

Jeden Tag kamen mehr Kriegsflüchtlinge aus dem Osten ins Zentrum, aus Ländern, von denen Dann kaum je gehört hatte. Er hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Welt nicht nur aus Ifrik bestand. Auf dem Ziegenfell mit der skizzierten Weltkarte war Ifrik seinerzeit Mittelpunkt ge- wesen, darüber befand sich das Mittlere Meer und darüber Yerrup mit seinen Eismassen. Und westlich davon lag das Westliche Meer. Damit hatte es sein Bewenden gehabt. Doch inzwischen konnte er sich schemenhaft vorstellen, dass sich jenes zentrale Ifrik weiter nach Osten ausdehnte – wo es nichts gab als Krieg. Und Griot konnte den Flüchtlingen seine Fertigkeiten beibringen und dafür sorgen, dass sie sich benahmen und nichts aus den Museen stahlen. Griot freute sich. Er lächelte: Dieses ernste Jungmännerlächeln hatte Dann noch nie gesehen.

Später beobachtete er Griot, als er sich mit ungefähr hun- dert anderen auf einem ebenen, vergleichsweise trockenen Gelände befand. Es waren nicht nur Jungen und Männer dabei, denn unter den Flüchtlingen gab es auch Frauen, und Griot brachte allen bei, wie man exerzierte, mar- schierte, rannte. Sie trugen Waffen. Ob sie aus den Museen stammten?

Dann sagte zu Griot: »Wer zum Soldaten ausgebildet wird, will auch kämpfen, hast du daran gedacht?«

Zunächst wirkte Griots Gesichtsausdruck stur wie im-

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mer, doch schließlich erkannte er offensichtlich, dass Dann mehr zum Ausdruck gebracht hatte, als er selbst annahm.

Griot nickte und sah Dann in die Augen. Was für ein Blick, und wie viel er forderte.

»Du warst General in Agre«, sagte Griot leise.

»Ja, das stimmt, ich kann mich auch an dich erinnern, aber jetzt will ich nicht mehr kämpfen.«

Und auf einmal hatte Dann den Eindruck, von diesem beunruhigenden Blick durchleuchtet zu werden, durch und durch. Griot musste nicht sagen: Ich glaube dir nicht.

»Es ist wahr, Griot.«

Eines war wirklich seltsam – immer wieder wurde von ihm erwartet, dass er in der Phantasie der Leute eine Leer- stelle füllte, in ihre Träume passte.

Er sagte: »Griot, als Mara und ich herkamen, trafen wir auf zwei irre Alte, die wollten, dass wir eine neue Mahon- di-Dynastie begründeten. Sie nannten uns Prinz und Prin- zessin, betrachteten uns als ein Paar für die Zucht. Und in mir sahen sie den, der ihre Armee aufstellen würde.«

Griot wandte den Blick nicht von Danns Gesicht: Er suchte nach etwas, das Dann nicht aussprach.

»Ich meine es ernst«, sagte Dann. »Ja, ich war General;

und ich glaube, ein guter. Aber ich habe oft gesehen, dass Leute getötet oder gefangen genommen wurden.«

»Warum wollten die Alten, dass du eine Armee anführst?

Wozu?«

»Ach, die waren irr. Um alles zu erobern. Um ganz Tundra zu unterwerfen – ich weiß es nicht.«

Griot sagte: »Es wird immer getötet, und immer fliehen Leute vor irgendeinem Krieg. Und es gibt immer wieder neue Kriege.«

Als Dann nichts sagte, stellte Griot eine Frage, die für ihn offensichtlich entscheidend war: »Was willst du also ma- chen – Sir?«

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»Ich weiß es nicht«, sagte Dann. »Nein, wirklich nicht.«

Griot sagte nichts dazu. Er hatte begriffen, was Dann ge- sagt hatte, doch was er daraus schloss, hätte Dann sicher nicht überzeugt.

Schließlich sagte Griot: »Also gut. Was die Flüchtlinge angeht, so tue ich, was ich kann. Manche sind gar nicht übel. Manchmal kann ich noch etwas von ihnen lernen.

Und ich kümmere mich um die Lebensmittelvorräte. Im Unteren Meer gibt es viel guten Fisch – nicht den schlam- migen Dreck aus den Sümpfen hier. Und ich werde uns Saatkörner besorgen, die ich im Wasser wachsen sah. Und es gibt ein Sumpfschwein, das wir züchten können.«

Dann begriff, dass Griot damit bestimmte Aufgaben übernahm, aber eigentlich fand, dass Dann dafür zuständig war.

»Danke, Griot«, sagte er daraufhin.

Griot salutierte und ging.

Dieser Gruß – er gefiel Dann keineswegs. Mit ihm war zwischen ihnen eine Art Pakt geschlossen, weil Griot es so wollte.

Diese Begegnung zwischen den beiden jungen Männern lag ein paar Wochen zurück.

Dann versuchte, Griot aus dem Weg zu gehen und mög- lichst nicht darauf zu achten, was er tat.

An jenem Tag, als Dann die Tierhaare entdeckt hatte, die an dem Busch hingen, legte er sich ausgestreckt auf seine Fels- spitze und dachte an die Farm und an Kira, die mit seinem Kind schwanger war. Bald würde es zur Welt kommen.

Und Maras Kind auch. Dass er zur Farm zurückkehren könnte, hatte Griot interessanterweise nicht erwartet, ob- wohl er lange genug dort gewesen war, um zu wissen, was vorging und wer zu wem gehörte. Aber das war ohnehin ein Witz: Mara gehörte zu Shabis, also würde Dann nicht

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zurückkehren. Der Gedanke an Kira schmerzte ihn. Wie er sie liebte – und wie er sie hasste. Liebe? Er liebte Mara, also sollte er nicht dasselbe über Kira sagen. Kira faszinierte ihn.

Ihre Stimme, wie sie sich bewegte, dieser langsame, träge, verführerische Gang … aber jeder, der mit ihr zusammen war, wurde gedemütigt. Er dachte daran, wie sie an jenem Abend, bevor er gegangen war, den nackten Fuß ausge- streckt hatte – und sie war ohnehin so gut wie nackt gewe- sen – und mit ihrer süßen, singenden Stimme gesagt hatte:

»Komm her, Dann.« Sie hatten sich gestritten. Sie stritten sich immer. Er stand ein paar Schritte von ihr entfernt und sah sie an und hätte nur zu gern getan, was sie verlangte:

auf allen vieren zu ihr hinzukriechen. Kira lag zurückge- lehnt da und streckte den nackten Fuß aus. Sie war schwan- ger, aber man sah es noch nicht. Sie wollte, dass er ihr den Fuß leckte. Und ihn verlangte danach, er gierte danach, er hatte Sehnsucht danach, sich ihr hinzugeben und mit dem Kämpfen aufzuhören. Aber er konnte es nicht. Sie hatte ihn angelächelt, mit ihrem maliziösen Lächeln, das ihn immer traf wie ein Peitschenhieb; sie hatte mit den Zehen gewa- ckelt und gesagt: »Komm, Dann« – doch er hatte sich um- gedreht und war davongerannt. Er packte ein paar Kleider und andere notwendige Dinge zusammen und verließ die Farm. Er verabschiedete sich nicht von Mara, er konnte es nicht ertragen.

Dann lag auf seinem brüchigen Felsvorsprung und wusste, dass es Zeit zum Aufbruch war. Er war ruhelos. War er denn nicht sein ganzes Leben lang auf den Beinen gewesen, war er nicht immer gegangen, Schritt für Schritt? Er musste wieder in Bewegung sein. Doch wenn er fortging, wenn er vom Zentrum fortging, würde er sich noch weiter von Mara entfernen. Es waren ein paar Tagesmärsche bis zu ihr an der Küste des Westlichen Meeres, das er von seinem Hoch- stand aus jeden Tag stundenlang betrachtete, wenn er zu-

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sah, wie sich das Wasser in Strömen aus Schaum donnernd über die Felsen ins Untere Meer ergoss. Die Wellen, die er gischtschäumend brechen sah, waren dieselben, die unter- halb der Farm ans Ufer schlugen. Und doch musste er fort.

Er sagte sich, dass es an Griot lag, der ihm ständig nach- spionierte, und dass es dort unten jetzt auch noch ein Tier gab, das ihn beobachtete. Er streckte sich und reckte den Hals über den Rand des Felsenfingers, weil er sehen wollte, ob irgendwo ein Tier war, das vielleicht noch mehr Fisch von ihm erwartete. Für einen Moment bildete er sich ein, etwas Großes, Weißes zu sehen, doch es war zu weit ent- fernt. Wenn das Tier Dann beobachtete, hielt es sich offen- bar versteckt. Dieser Gedanke machte ihn nervös, und er fühlte sich gefangen. Nein, er musste fort, er musste gehen, er würde Mara verlassen.

»Oh, Mara«, flüsterte er und schrie ihren Namen schließ- lich in das tosende Wasser. Er bildete sich ein, ihr Gesicht in den Formen zu sehen, die im Wasser erschienen. Ein Regenbogen überspannte die Felsen-Tore, und mit den Schaumklumpen trudelten kleine Regenbogen davon. Die Luft schien aus Licht und tosender Bewegung zu bestehen – und aus Mara.

Die Sorge lastete auf ihm, und er dachte daran, von die- sem Felsvorsprung zu rollen und sich fallen zu lassen.

Verließ er nicht auch Kira? Aber er dachte kaum an sie und an das Kind, das sie erwartete. Sein Kind. Sie hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihm zu sagen, dass sie schwanger war. »Ich glaube, ich würde mit dem Kind nicht viel zu tun haben, auch wenn ich ein guter Vater wäre, der dort herumsitzt und auf die Geburt wartet – zu der es sicher bald kommen wird.« Das war seine Ausrede. »Und außerdem wird Mara dafür sorgen, dass sich jemand um mein Kind kümmert, das weiß ich, und Shabis ist da, und Leta und Donna und mittlerweile wahrscheinlich auch an-

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dere.« Er fühlte sich unwohl dabei, mein Kind zu sagen, auch wenn es zutreffend war. Der Gedanke an Kira lag wie eine Barriere zwischen ihm und dem Säugling, der bald zur Welt kommen sollte.

Er stellte sich an den äußersten Rand des Felsenfingers, damit der Wind ihn davonwirbeln konnte. Die Luft blähte seinen Kittel, die Hose klatschte an seine Beine: Die Kleider wollten ihn dazu zwingen, zu fallen oder zu fliegen, und er spürte am ganzen Körper, dass der Wind an ihm zerrte und ihn anheben wollte. Er blieb aufrecht stehen, ohne zu fallen, ließ den Felsen hinter sich und kehrte zum Zentrum zurück.

Dort besuchte er die alte Frau, die ihn ankreischte, zusam- men mit ihrer Dienerin: zwei verrückte alte Frauen in einem übel riechenden Zimmer, die ihn ausschimpften.

Er suchte ein paar Sachen zusammen, steckte sie in sei- nen alten Sack, ging zu Griot und sagte ihm, er werde eine Weile unterwegs sein.

Wie diese scharfen grünen Augen ihm ins Gesicht starr- ten – in seine Gedanken hinein.

Und wie abhängig er, Dann, von Griot war – was das Ge- fühl noch verstärkte, gefangen und eingesperrt zu sein.

»Würdest du je zur Farm zurückkehren, Griot?«

»Nein.«

Dann wartete ab.

»Es ist wegen Kira. Sie wollte, dass ich ihr Diener bin.«

»Ja«, sagte Dann.

»Ich hatte genug davon.«

»Ja«, sagte Dann, der einmal ein Sklave gewesen war – und Schlimmeres.

»Diese Frau ist grausam«, sagte Griot und senkte die Stimme, als könnte sie mithören.

»Ja«, sagte Dann.

»Also gehst du jetzt weg?«

Als Dann schon ein paar Schritte gegangen war, hatte er

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plötzlich das Bedürfnis, sich umzudrehen, und sah Griots enttäuschtes Gesicht. Hatte er Griot irgendwelche Verspre- chungen gemacht? Nein, das hatte er nicht.

»Griot, ich komme zurück.«

»Wann?«

»Das weiß ich nicht.«

Dann zwang sich, Griots Nöte nicht zu beachten, und marschierte los.

Dann machte sich an der Küste des Mittleren Meeres auf den Weg in Richtung Osten. Eigentlich hatte er direkt am Wassersaum des Unteren Meeres gehen wollen, doch dann hatte er festgestellt, dass er unwirtlich und an vielen Stellen mit Schutt übersät war, der von Steinschlägen stammte. An der oberen Küste hingegen gab es eine Straße oder eher einen Weg, der zwischen den Sümpfen und dem jähen Ab- grund verlief. Den schalen Modergeruch des Zentrums hatte er nun hinter sich gelassen, doch der Gestank der Sümpfe war genauso schlimm: verrottende Vegetation und stehen- des Wasser. Beim Gehen dachte er an Mara und an die Ver- gangenheit. Sein Geist war voll von Mara und seinem Kum- mer, obwohl er die Nachricht von ihrem Tod noch gar nicht erhalten hatte. Sie war bei der Geburt ihres Kindes gestor- ben. Ein Bote von der Farm war zum Zentrum gerannt, doch Dann war schon fort gewesen. Griot hatte überlegt, ob er ihm den Boten nachsenden sollte, hatte dann aber ge- sagt, Dann sei fortgegangen. Griot war froh, dass er es Dann nicht sagen musste. In seiner Zeit auf der Farm hatte er gut beobachtet, und nichts war ihm entgangen. Er wusste, dass Mara und Dann sich sehr nahe standen: Man musste sie nur zusammen sehen. Er wusste, dass die beiden unter vie- len Gefahren zu Fuß durch ganz Ifrik marschiert waren – und er wusste aus eigener Erfahrung, was für ein starkes Band gemeinsam ausgestandene Gefahren sein konnten. Er

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hatte gesehen, dass Dann litt, weil Mara nicht zu ihm, son- dern zu ihrem Mann Shabis gehörte. Dann zu sagen, dass seine Schwester tot war – damit mochte sich Griot nicht beeilen.

Dann wollte das Zentrum – und damit die Vergangen- heit – hinter sich lassen, weil ihn der Kummer quälte. So viel glaubte er zu verstehen. So etwas war ganz normal. Na- türlich fühlte er sich verlassen, aber er würde darüber hin- wegkommen. Er hatte nicht die Absicht, im Unglück zu versinken. Nein, wenn er gehen konnte und wirklich in Be- wegung war, würde es ihm bald besser gehen. Doch er hatte sein Tempo noch nicht gefunden, seinen Rhythmus: Das war es, was er brauchte, diese Mühelosigkeit, wenn sich die Beine und der ganze Körper wie von selbst bewegten und er die Zeit ganz anders empfand als beim gewöhnlichen Sit- zen, Liegen und Herumgehen – und nie ermüdete. Für ihn war es wie eine Droge, so zu gehen, so wunderbar zu ge- hen, wie früher manchmal mit Mara, wenn sie ihr Tempo gefunden hatten.

Aber Mara war nicht bei ihm.

Er dachte immerzu an Mara – doch wann tat er das nicht? Sie war immer bei ihm, und der Gedanke an sie war wie ein klopfendes Herz, das sich in Erinnerung brachte:

Ich bin hier, hier, hier. Aber sie war nicht hier. Er ließ sich von seinen unsicheren Füßen bis zum äußersten Rand des Abhangs tragen, der am Unteren Meer endete, und stellte sich vor, wie ihre Stimme sagte: Dann, Dann, was hast du gesehen? – jenes alte Spiel aus Kindertagen, das ihnen so gute Dienste geleistet hatte. Was sah er? Er starrte in zie- hende Wolken. Wasser – wieder Wasser. Zu Beginn seines Lebens hatte es nur Staub und Dürre gegeben, und jetzt gab es Wasser. Am Fuß des steilen Hangs vor ihm war Wasser, Wellen schimmerten blau in der Ferne, und hinter ihm er- streckte sich der schilfige Moorboden mit den schreienden

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Sumpfvögeln unendlich weit … nein, nicht unendlich. Ir- gendwo hörte er auf. Und Dann wusste, auf der anderen Seite der Wolkenberge im Norden gab es eine Küste, an der sich Eismassen türmten. Doch sehr viel entscheidender war die Frage: Dann, Dann, was weißt du? Er wusste, dass die gewaltige Leere des Golfs vor ihm einmal mit Wasser gefüllt gewesen war, dessen Spiegel sich etwa dort befunden hatte, wo er nun stand; Boote waren darauf gefahren, und an der Küste hatte es Städte gegeben. Er wusste, dass man auf dem trockengefallenen Meeresgrund Städte gebaut hatte, die in- zwischen unter Wasser lagen, wie auch auf den derzeit noch bewohnten Inseln – allerdings waren viele Einwohner be- reits fortgegangen oder gingen gerade, weil jeder wusste, wie schnell das Wasser stieg und dass man von ihm ver- schlungen werden konnte. Ob wirklich jeder davon wusste?

Nein – Dann hatte Leute getroffen, die zum Zentrum ka- men, ohne von alldem gehört zu haben. Aber er wusste es.

Er wusste es, weil die Mahondis es wussten, weil sie Bruch- stücke eines Wissens aus ferner Vergangenheit besaßen. »Es ist bekannt«, sagte man gewöhnlich, wenn man Kennt- nisse an andere weitergab, die sie nicht besaßen, weil sie aus einem anderen Teil von Ifrik stammten. »Es ist bekannt, dass …«

Es war bekannt, dass das Eis vor langer Zeit zunächst schleichend über Yerrup gekommen war und sich dann zu Bergen aufgetürmt hatte, und schließlich hatte das Eis durch seine Masse und Dichte all jene wunderbaren Städte an der Küste, die Dann jetzt gegenüberlag, in den großen, schon halb mit Schutt und Trümmern gefüllten Golf hineinge- schoben. Erst da hatten die Leute aus jener Zeit, wer im- mer sie gewesen waren, die Steine und Zementblöcke ge- nommen, aus denen die alten Städte bestanden hatten, und daraus neue Städte in der Gegend gebaut, die hinter ihm lag, doch dann hatte sich alles verändert: Das Eis begann

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zu schmelzen, und die Städte versanken. Seinerzeit war die Tundra zu Wasser geworden. Die Kälte, eine schreckliche Kälte hatte ganz Yerrup zerstört – doch wie kam es, dass dieses Meer, das Mittlere Meer, einmal ein Meer gewesen war, inzwischen aber kein Wasser mehr enthielt? »Es war bekannt«, dass irgendwann eine Trockenheit, verheerend und zerstörerisch wie das Eis, alles Wasser aus dem Mittle- ren Meer gesogen und einen trockenen Abgrund zurückge- lassen hatte, in dem man schließlich Städte baute. Doch das passte nicht zusammen – diese Teile passten nicht zu- sammen. In Danns Kopf befand sich eine Art Landkarte aus Wissensfetzen, die sich nicht zusammenfügten. Doch dies war alles, was er wusste, während er in die ziehenden schwarzen Wolken blickte und Seevögel schreien hörte, die zu dem tiefer gelegenen Meer hinuntersanken. In seinem Rücken lagen die Sümpfe, und dahinter gab es nur Büsche und Sand und Staub – Ifrik, das zu Staub vertrocknete. Er und Mara hatten all das zu Fuß durchquert, sie hatten Wüs- ten und Sumpfland durchquert, und nun war alles dabei, sich ins Gegenteil zu verkehren, obwohl man die langsamen Veränderungen kaum sehen konnte – man musste von ih- nen wissen.

Was weißt du, Dann? Ich weiß, dass das, was ich sehe, nicht alles ist, was man wissen kann. Ist das nicht nützlicher als das kindische: Was hast du gesehen?

Dann kehrte auf den Weg zurück und sah einen Mann auf sich zustolpern, der krank vor Erschöpfung war. Er blickte starr, und seine Lippen waren durch den keuchen- den Atem aufgesprungen, doch obwohl er so gut wie am Ende war, griff er nach dem Heft eines Messers, das in sei- nem Gürtel steckte – Dann sollte sehen, dass er ein Messer besaß. Dann tat instinktiv das Gleiche; seine Hand wollte nach seinem Messer greifen, doch er ließ sie sinken. Warum sollte er einen Mann angreifen, der nichts hatte, was er

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Doris Lessing

Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund Roman

Taschenbuch, Broschur, 288 Seiten, 11,8 x 18,7 cm ISBN: 978-3-442-73687-4

btb

Erscheinungstermin: Oktober 2007

Vom Überleben in einer verwüsteten Welt

Doris Lessings eindringlicher Appell zur Umkehr – in Zeiten der Klimaschutzdebatte hoch aktuell.

In einer fernen, bedrohlichen Zukunft: Der nördliche Kontinent Yerrup mit seiner einst hoch entwickelten Zivilisation liegt unter Schlamm und Eis begraben, während der südliche Erdteil Ifrik von Dürre und Kriegen heimgesucht wird. In dieser traurigen Welt begibt sich Dann, als Bürgerkriegsgeneral eine legendäre Gestalt, auf eine abenteuerliche Suche. Allein reist er nach Norden und muss mit ansehen, wie die Gletscher schmelzen und das Land langsam versinkt.

Wird es ihm gelingen, die Kultur und das Wissen seiner Vorfahren zu retten?

Referenzen

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