Spracherwerb und Prosodie
HS Spracherwerb
Dozent: Prof. Dr. Jonathan Harrington Referentin: Christiane Pötzl
26. 06. 2007
Gliederung
(1) Grundfrage
(2) Theorie des „Phonological bootstrapping“
(3) Prosodie und Spracherwerb
(1) Versuchsreihe von Jusczyc et al (2) Versuche von Christophe et al
(4) Kritik von Gerken
(5) Zusammenfassung
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(1) Inwiefern ist die Erkennung prosodischer Grenzen für den
frühkindlichen Spracherwerb wichtig?
• Können Kinder diese Grenzen überhaupt erkennen?
• An Kinder gerichtete Sprache ist deutlicher
segmentiert, als an Erwachsene gerichtete
Sprache.
(2) Phonological Bootstrapping
= Die Hypothese, dass die rein phonologische Analyse eines
Sprachsignals es Kindern erlaubt, mit dem
Aufbau des Wortschatzes und der Synatx
ihrer Muttersprache zu beginnen.
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(3) Prosodie und Spracherwerb (3.1) Versuchsreihe von
Jusczyc et al
Fragestellung: Können Kinder schon Signale wahrnehmen, die Sprache
segmentieren?
• An Kinder gerichtete Sprache ist genauer segmentiert, als an Erwachsene gerichtete Sprache
• Früherer Versuch hat gezeigt, dass Kinder
aufmerksamer zuhören, wenn Pausen an
Satzgrenzen gemacht werden, als wenn
diese Pausen fehlen
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• 2 Versuche, um herauszufinden, ob Kinder sensibel für Grenzmarker sind:
– Stimuli: Spontansprache einer Mutter an ihr
Kind mit unterschiedlichen Pausen
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– Coincident = segmentiert an
Hauptphrasengrenzen (vor Hauptverb des Prädikats)
– Noncoincident = segmentiert im Prädikat
– Kinder: Im ersten Versuch durchschnittlich 9 Monate alt, im zweiten Versuch 6 Monate – Ergebnis: 9 Monate alte Kinder bevorzugen
die „Coincident“-Version, sind also sensibel
für die Grenzmarker, 6 Monate alte Kinder
können nicht unterscheiden
• Versuche 3 & 4:
– Problem: Die „Coincident“-Versionen hatten aufgrund der Satzstellung die Pause immer weiter vorne, als die „Noncoincident“-
Versionen Pausen in NP setzten, da hier die „Noncoincident“-Variante die Pause weiter vorne hat.
– Kinder im Alter von 9 Monaten
– Neue Stimuli nötig, da in den Äußerungen der
Mutter an ihr Kind zu viele Fragen waren und
nicht genügend bzw. zu kurze NP selbe
Mutter liest aus einem Buch vor
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– Ergebnis: entspricht dem aus den ersten beiden Versuchen, ist aber deutlicher
– Erklärung: vorgelesene Sprache schwankt
nicht so sehr in der Frequenz und längere NP, die sowieso von Kindern bevorzugt werden
(wie aus einem Vorversuch bekannt) – Versuch 4 wie Versuch 3 nur mit an
Erwachsene gerichteter Sprache. Liefert
dasselbe Ergebnis, nur ein bisschen weniger
eindeutig
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• Versuch 5:
– Die Stimuli aus Versuch 4 wurden verfremdet, da die Versuchspersonen diesmal
Erwachsene waren Kenntnis der
Wortbedeutungen soll das Ergebnis nicht beeinflussen
– Versuchspersonen müssen bestimmen, welche Pausensetzung natürlicher klingt
– Die Erwachsenen liefern dasselbe Ergebnis, wie die Kinder, nur mit etwas geringerem
Prozentsatz
Zusatzfeststellung nach diesen 5 Versuchen:
Vor Grenzen fällt die Tonhöhe und Silben
werden verlängert
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• Versuch 6:
– Neue Frage: Beeinflusst das Vorhandensein bzw. die Stellung bestimmter Morpheme die Segmentierung, oder reicht die Prosodie
alleine
– Stimuli: Sowohl die spontansprachlichen, als auch die Vorlesestimuli wurden wie in
Experiment 5 verfremdet
– Versuchspersonen: Kinder im Alter von 9
Monaten
– Ergebnis: „Coincident“-Varianten bevorzugt, am liebsten ist den Kindern die „Coincident- Storybook“-Variante
– Deutung: Die Vorgelesene Sprache variiert in Tonhöhe und Dauer, die Spontansprache nur in der Tonhöhe
– Folgerung: Je mehr Variation in Tonhöhe und Dauer, desto deutlicher werden die Grenzen wahrgenommen. Vielleicht können 6-
monatige Babies doch Unterschiede erkennen und Versuch 2 scheiterte an der schlechten
Stimuliauswahl…
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• Versuch 7:
– Wie Versuch 2 nur mit den Stimuli aus vorgelesener Sprache
– Selbes Ergebnis: 6 Monate alte Kinder sind
noch nicht sensibel für sprachsegmentierende Signale
– Vermutung: Bessere Kenntnis der Muttersprache nötig
– Unterstützung für diese Vermutung: Im Alter von 6 Monaten verlieren Kinder die
Möglichkeit, nicht-muttersprachliche
phonetische Kontraste zu erkennen
Zusammenfassung der Versuchsreihe
• Im Alter zwischen 6 und 9 Monaten entwickelt sich die Fähigkeit, Signale wahrzunehmen, die Sprache
segmentieren
• Kinder sind dann sensibel für akustische Signale, die im Einklang mit Phraseneinheiten stehen (dies gilt sowohl für Subjekt- als auch für Prädikatphrasen)
• Dies ist unabhängig von phonetischer Information
• Tonhöhe und –dauer sind hierfür sehr wichtig
• All das trägt dazu bei, dass grammatische Grundsätze entstehen
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(3.1) Versuche von Christophe et al
Problem der Wortfindung, wenn die Bedeutung noch nicht bekannt ist
4 Quellen:
- Distribution - Phonotaktik - Wortgestalten
- prosodische Grenzsignale
Beispiel Funktionswörter (leicht zu finden):
- Teilen weltweit bestimmte phonologische, statistische und akustische Eigenschaften - Typische Distribution (an syntaktischen
Grenzen)
- Funktionswörter an prosodischen Grenzen
Rudimentäre Satzanalyse möglich
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Beispiel der Wortgrenzen
• Vorversuch zum Test der prosodischen
Segmentationshypothese: Können französische Neugeborene zwischen französischen Stimuli mit und ohne prosodischer Grenze
unterscheiden?
• Ergebnis des Vorversuchs: Sie können
unterscheiden, aber wegen der Endbetonung im Französischen könnte das Ergebnis verfälscht worden sein
• Neuer Versuch mit Spanisch (flexible
Wortbetonung)
• Stimuli: 2-silbige CVCV-Wörter mit und ohne phonologische Phrasengrenze (aus Sätzen isoliert); erste Silbe betont, zweite Silbe unbetont „lati“ aus gelatina und Manuela timida
• Teilnehmer: Kinder im Alter von 2-4 Tagen in ruhig-aktivem Zustand
• Experimentelle Wechsel (zwischen Grenzwörtern und Grenzlosen) und Kontrollwechsel (innerhalb einer
Kategorie)
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• Ergebnis: Kinder treffen eine
Unterscheidung, können also die Grenzen wahrnehmen. Dies vereinfacht die
lexikalische Segmentation, also das Aufspalten in einzelne Wörter
• Nach dem Versuch wurden die
prosodischen Eigenschaften der Stimuli verglichen:
– Länge: /t/ im Stimuli mit Grenze bedeutend länger
– Tonhöhe: /a/ vor der Grenze höher
– Energie: /a/ und /t/ lauter gesprochen, wenn
Grenze vorhanden
Problem des Erkennens der Reihenfolge von Kopf und
Komplementen
• Spracherwerb wird erleichtert, wenn Kinder die Reihenfolge von Kopf und Komplementen
kennen, bevor sie Wortbedeutungen kennen
• Der sog. „head-direction-parameter“ steht in
Zusammenhang mit der Prosodie, es kann also festgestellt werden, ob in einer Sprache die
Prominenz rechts oder links gelagert ist
(kopfinitial wie Englisch und Französisch &
kopffinal wie Türkisch und Japanisch)
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• Wird die Prominenz erkannt, kann über die Reihenfolge von Kopf und Komplementen entschieden werden
• Um die Prominenz zu erkennen, müssen die Grenzen zwischen phonologischen Phrasen erkannt werden
• Vorrausgesetzte Annahmen für den Versuch dazu:
– Phonologische Phrasengrenzen sind im Sprachfluss signalisiert
– Das menschliche Sprachzentrum kann diese Grenzen ab dem Alter von 9 Monaten
wahrnehmen
Versuch mit 2 Sprachen, die sich bezüglich des Kopfes unterscheiden:
• Sprachen: Französisch (Kopfinitial) und Türkisch (Kopffinal), beide Sprachen gleichen sich in allen anderen, die Prosodie beeinflussenden Faktoren
• Stimuli: Satzpaare, die identisch sind bezüglich:
Silbenanzahl, Positionen der Wortgrenzen,
Wortbetonungen, phonologischen Phrasen und
intonalen Phrasengrenzen. Die Sätze wurden
phonemisch angeglichen.
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• Vortest mit Erwachsenen
• 16 Kinder: monolingual Französisch, 62.5 Tage alt
• Jedes Kind hört 2 Stimuliwechsel:
experimentelle Wechsel (zwischen den
Sprachen) und Kontrollwechsel (innerhalb einer Sprache)
• Kinder zeigen Reaktion beim
experimentellen Wechsel
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• Also: vor Ende des ersten Lebensjahres wird prosodische Information
wahrgenommen. Es wird erkannt, ob eine Sprache kopfinitial oder kopffinal ist
• Die Prosodie wird benutzt, um die Syntax der Muttersprache herauszufinden
• Vorteil: Da dies geschieht, bevor den
Wörtern Bedeutungen zugeordnet werden, kann nach dem Erlernen der Bedeutungen gleich an der Bedeutung ganzer Sätze
gearbeitet werden
(4) Kritik von Gerken
• Prosodie und Syntax stehen nicht in
perfekter Beziehung zueinander:
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• Prosodie kann die Hierarchie eines Satzes
nicht zeigen:
• „Phonological bootstrapping“ ist also keine ausreichende Hypothese stattdessen:
„prosodic Phonology“
• Prosodic Phonology:
= Die syntaktische Struktur beeinflusst die Satzprosodie nur indirekt über eine
unabhängige prosodische Struktur, welche flacher und weniger detailliert ist, als die syntaktische Struktur.
Sie beruht auf hierarchischen Strukturen
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• Bezug auf Jusczyc:
– Die Beispielsätze von Jusczyc waren
hauptsächlich so gebaut, dass Prosodie und Syntax zusammenfielen
– Es wurde kein Vergleich von lexikalischer NP und Pronomen-Subjekt vorgenommen
– Neuer Versuch mit Kontrast lexikalische NP
und Pronomen:
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• Versuch:
– Frage: entscheidet die syntaktische, oder die prosodische Struktur über prosodische
Veränderungen?
– Stimuli:
– Laut bootstrapping-Theorie entscheidet die
syntaktische Struktur direkt über das Produzieren von prosodischen Grenzen, also sollten die Kinder länger den Sätzen zuhören, die die Pausen zwischen
Pronomen und Verb haben, als denen, die die Pause nach dem Verb haben
– Laut Prosodic Phonology müsste gelten: prosodische Grenzen bestimmen die Produktion von
Grenzsignalen, nicht die Syntax. Also sollten die Kinder bei Sätzen mit Pronomen nicht den Satz mit der Pause nach dem Subjekt bevorzugen, da hier zwar eine syntaktische, aber keine prosodische Grenze liegt.
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– Ergebnis:
• bei lexikalischer NP wurde die Version mit der
Pause nach dem Subjekt bevorzugt (Anmerkung:
hier kommen zur Pause noch die Unterschiede in Tonhöhe und Dauer dazu)
• bei den Sätzen mit Pronomen gab es keinen
Unterschied, es wurde keine Version bevorzugt Unterstützt die Prosodic Phonology (Die
Pronomen-Sätze wurden als einzelne phonologische Phrase gesprochen)
• Also: Wenn prosodische Grenzen mit
syntaktischen Grenzen zusammenfallen, können Kinder sie auch erkennen, sonst nicht!
(5) Zusammenfassung
Das Erkennen prosodischer Phrasen für den
frühkindlichen Spracherwerb ist insofern wichtig, als…:
… es hilft, sytaktische Strukturen zu erkennen (in den Fällen, in denen prosodische und
syntaktische Grenzen zusammenfallen)
… dadurch grammatische Grundsätze entstehen
… Wörter gefunden und Wortgrenzen festgestellt werden können
… die Entscheidung, ob die Muttersprache
kopfinitial oder –final ist, getroffen werden kann
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(6) Quellen
• Christophe, A., Guasti, M. T., Nespor, M., & van Ooyen, B. (2003). Prosodic structure and syntactic acquisition: the case of the head-complement
parameter. Developmental Science, 6, 213-222.
• Christophe, A., Mehler, J. & Sebastián-Gallés, N. (2001). Perception of prosodic boundary correlates by newborn infants. Infancy, 2, 385-394.
• Christophe, A., Guasti, M. T., Nespor, M., Dupoux, E., & van Ooyen, B.
(1997). Reflections on prosodic bootstrapping: its role for lexical and syntactic acquisition. Language and Cognitive Processes, 12, 585-612.
• Gerken L Prosody's role in language acquisition and adult parsing. J Psycholinguist Res. 1996 Mar;25(2):345-56.
• Gerken, L., Jusczyk, P. W., & Mandel, D. R. (1994). When prosody fails to cue syntactic structure: 9-month-olds’ sensitivity to phonological versus syntactic phrases. Cognition, 51, 237–265.
• Jusczyk, P. W., Kemler-Nelson, D. G., Hirsh-Pasek, K., Kennedy, L., Woodward, A., & Piwoz, J. (1992). Perception of acoustic correlates of major phrasal units by young infants. Cognitive Psychology, 24, 252–293.