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Sachgebiet: Asylrecht BVerwGE: ja Fachpresse: ja

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Sachgebiet:

Asylrecht

BVerwGE: ja Fachpresse: ja

Rechtsquelle/n:

AsylG § 13 Abs. 1, § 26 Abs. 1 bis 3 und 5 Satz 1 und 2, §§ 26a, 29 Abs. 1 Nr. 2 und 3, § 31 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4

EMRK Art. 8

GRC Art. 4, 7 und 24

RL 2011/95/EU Art. 3, 23 Abs. 2

RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. a

Titelzeile:

Internationaler Familienschutz in Deutschland auch bei Flüchtlingsstatus in einem anderen EU-Mitgliedstaat

Stichworte:

Unzulässigkeit; Schutzgewährung; internationaler Schutz; Zuerkennung; internatio- naler Familienschutz; Weiterwanderung; Asylantrag; Sekundärmigration; Lebens- verhältnisse; Kollisionsnorm; Umkehrschluss; analog; Rangverhältnis; Vorrang; An- wendung; Miterfassung; Familieneinheit; Familienverband; Schutzstatus, einheitli- cher; Familienangehöriger; Familienasyl; Verfolgungsvermutung; Integration;

Rechtsstatus, einheitlicher; Verfahrensvereinfachung; Minderjährigenschutz; Ge- meinsames Europäisches Asylsystem; Anreiz; Wertungswiderspruch.

Leitsatz:

Die Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Eu- ropäischen Union hindert nicht die Zuerkennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familienschutzes. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG findet in Fällen des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG keine An- wendung.

Urteil des 1. Senats vom 17. November 2020 - BVerwG 1 C 8.19

I. VG Magdeburg vom 23. Oktober 2017 Az: VG 8 A 413/17 MD

II. OVG Magdeburg vom 19. Februar 2019 Az: OVG 4 L 201/17

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IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 1 C 8.19 OVG 4 L 201/17

Verkündet am 17. November 2020

Amtsinspektorin

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

In der Verwaltungsstreitsache

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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts

auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2020

durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,

die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp für Recht erkannt:

Das Revisionsverfahren wird eingestellt, soweit die Be- klagte die Revision zurückgenommen hat.

Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewie- sen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Ge- richtskosten werden nicht erhoben.

G r ü n d e : I

Der Kläger wendet sich gegen die auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützte Ableh- nung seines Asylantrags mit dem Ziel der Zuerkennung des internationalen Fa- milienschutzes nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG als unzu- lässig.

Der Kläger ist eigenen Angaben zufolge somalischer Staatsangehöriger. Er ist Vater dreier in den Jahren 2006, 2007 und 2008 geborener Kinder.

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Auf seinen aus Dezember 2013 datierenden Antrag wurde ihm in Italien inter- nationaler Schutz zuerkannt. Einen im Oktober 2015 im Bundesgebiet gestellten weiteren Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) auf der Grundlage des § 27a AsylG a.F. als unzulässig ab. Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg. Im August 2017 begehrte der Kläger im Hinblick auf den Umstand, dass das Bundesamt seinen drei Kindern im Juni 2017 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hatte, die Zuerkennung in- ternationalen Familienschutzes. Mit Bescheid vom 31. August 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers erneut, nunmehr auf der Grundlage des

§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, als unzulässig ab.

Auf die von dem Kläger erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht den Be- scheid aufgehoben. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sei wegen des bestehenden Anspruchs des Klägers aus § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 AsylG nicht anwendbar.

Die Norm erfasse nur den eigenen Anspruch des Ausländers auf Gewährung in- ternationalen Schutzes, nicht hingegen auch einen abgeleiteten Anspruch auf internationalen Familienschutz. § 26 AsylG solle eine rasche und einheitliche Entscheidung ermöglichen, Verwaltungsaufwand vermeiden und Behörden und Verwaltungsgerichte entlasten. Die Norm sei zudem dazu bestimmt, den Fami- lienverband zu schützen und integrationsverstärkend zu wirken. Sie ziele gerade auf eine Gewährung internationalen Schutzes in demselben Mitgliedstaat, wes- halb dem Umstand der Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat nur ein minderes Gewicht beizumessen sei. Aus § 31 Abs. 4 AsylG lasse sich nicht schließen, dass § 26 AsylG nicht Vorrang gegenüber § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu- kommen solle.

Zur Begründung ihrer Revision führt die Beklagte im Wesentlichen aus, der Umstand, dass der Gesetzgeber eine Kollisionsnorm allein für § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG, nicht jedoch auch für die weiteren Unzulässigkeitstatbestände geschaffen habe, lasse erkennen, dass bei diesen § 26 AsylG kein Vorrang gebühren solle.

§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG trage dem Gedanken Rechnung, dass ein Ausländer, der bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz erlangt habe, keiner weiteren Schutzanerkennung mehr bedürfe. Dem 3

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Zweck des Familienasyls, allen Angehörigen der Flüchtlingsfamilie zu einer ra- schen Integration und einem einheitlichen Rechtsstatus zu verhelfen, könne ge- genüber dem zentralen Ziel des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, der Unterbindung von Sekundärmigration, kein durchgreifendes Gewicht zukom- men. Antragstellern solle es nicht möglich sein, die zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten getroffene Zuständigkeitsbestimmung infrage zu stellen und sich durch illegale Weiterwanderung den schutzgewährenden Mitgliedstaat aus- zusuchen. Die zuständigkeitsbestimmenden Vorgaben der Art. 9 und 10 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 würden unterlaufen, dürfte der Betreffende nach erfolgreichem Abschluss seines Asylverfahrens in dem gewünschten Mit- gliedstaat, in dem Familienangehörige ihren Aufenthalt genommen hätten, er- neut ein Asylverfahren betreiben. Keine Bedeutung für die Auslegung des Ver- hältnisses zwischen § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und § 26 AsylG komme dem für die Anwendung des Familienasyls herangezogenen Gedanken der Verfahrenser- leichterung zu, da der für die Überprüfung der Anwendungsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu betreibende Aufwand keinesfalls höher, vielmehr regelmäßig niedriger als derjenige für die Prüfung des § 26 AsylG sei.

Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil.

Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat erklärt, sich nicht an dem Verfahren zu beteiligen.

II

Der Senat entscheidet über die Revision mit Einverständnis der Verfahrensbe- teiligten auf der Grundlage einer im Einklang mit § 102a VwGO durchgeführten mündlichen Verhandlung.

1. Das Revisionsverfahren ist nach Maßgabe des § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1,

§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit die Beklagte ihre Revision nach Maßgabe des § 140 Abs. 1 Satz 1 VwGO zurückgenommen hat.

2. Im Übrigen ist die Revision der Beklagten unbegründet. Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig ist rechtswidrig und verletzt den Kläger 6

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in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Rechtsauffassung des Ober- verwaltungsgerichts, der Unzulässigkeitstatbestand der Gewährung internatio- nalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union sei wegen des bestehenden Anspruchs des Klägers auf internationalen Familien- schutz nicht anwendbar, steht mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) im Einklang.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind das Asylge- setz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 165 der am 27. Juni 2020 in Kraft getretenen Elften Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhand- lung oder Entscheidung des Tatsachengerichts eintreten, sind zu berücksichti- gen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten münd- lichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Ent- scheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Rechtslage zugrunde le- gen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts allerdings nicht geändert.

Die Unzulässigkeit eines Asylantrages bei Schutzgewähr durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) steht einer (er- neuten) Schutzgewährung "aus eigenem Recht" wegen dem Ausländer im Her- kunftsland selbst drohender Gefahren entgegen (a), hindert aber nicht die Zuer- kennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familienschutzes nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG (b). Dabei ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass der Kläger die geschriebenen Voraussetzungen sowohl des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als auch des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG für die Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz erfüllt.

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a) Einem Ausländer, dem - wie hier dem Kläger - bereits in einem anderen Mit- gliedstaat der Europäischen Union internationaler Schutz zuerkannt wurde, ist im Falle seiner Weiterwanderung in das Bundesgebiet internationaler Schutz wegen begründeter Furcht vor Verfolgung oder der Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, grundsätzlich nicht ein weiteres Mal zuzuerkennen.

Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Aus- länder bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ge- währt hat. Die Norm setzt Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie

2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internatio- nalen Schutzes (ABl. L 180/60) (im Folgenden: RL 2013/32/EU) in nationales Recht um. Danach können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationa- len Schutz gewährt hat. Die Regelung bezweckt, die Zuerkennung asylrechtli- cher Schutzstatus in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union auszu- schließen und unerwünschte Sekundärmigration zu vermeiden beziehungsweise einzudämmen.

Die neuerliche Prüfung und Gewährung internationalen Schutzes im Falle eines Begehrens um Schutz vor Verfolgung oder vor Abschiebung oder einer sonsti- gen Rückführung in einen anderen Staat ist nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG grund- sätzlich ausgeschlossen, wenn dem Ausländer wegen diesem selbst drohender Verfolgungs- oder anderer Gefahren internationaler Schutz bereits in einem an- deren Mitgliedstaat zuerkannt wurde. In einer solchen Konstellation ist der Schutzberechtigte regelmäßig auf die Schutzgewährung durch den zuerkennen- den Mitgliedstaat der Europäischen Union verwiesen.

Dies gilt dann nicht, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mit- gliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarteten, den Schutzberechtigten der ernsthaften Gefahr aussetzten, eine unmenschliche oder erniedrigende Behand- lung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 [ECLI:EU:C:2019:296], Ibrahim 13

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u. a. - Rn. 101 und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed u. Omar - Rn. 34 ff.; vgl. auch BVerwG, Urteile vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 17 und 19 und vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 - InfAuslR 2020, 402 Rn. 23 ff. und 27). Hierzu fehlt es vorliegend an tat- sächlichen Feststellungen.

b) Die Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hindert indes nicht die Zuerkennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familien- schutzes, weil § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG keine Anwendung findet (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Mai 2020 - 10 LA 104/20 - juris Rn. 16 ff.; OVG Münster, Urteil vom 9. Ok- tober 2019 - 11 A 2229/19.A - juris Rn. 31 ff.; VG Bremen, Urteil vom 18. Sep- tember 2020 - 2 K 3087/17 - juris Rn. 24; VG Düsseldorf, Urteil vom 27. Mai 2020 - 22 K 16758/17.A. - juris Rn. 26 und 36, Beschluss vom 5. September 2016 - 22 L 2884/16.A - juris Rn. 19 ff. und Gerichtsbescheid vom 21. Mai 2019 - 22 K 16904/17.A - juris Rn. 34 f.; VG Lüneburg, Urteil vom 15. März 2017 - 8 A 201/16 - juris Rn. 21 ff.; a.A. VG Berlin, Urteil vom 3. Dezember 2018 - 23 K 323.18 A - juris Rn. 18 ff.; VG Hannover, Urteil vom 22. März 2018 - 13 A 12144/17 - juris Rn. 26). Dieses Normverständnis ist das Ergebnis einer Ausle- gung beider Vorschriften (aa). Eine ausdrückliche gesetzliche Kollisionsrege- lung steht ihm nicht entgegen (bb). Es steht zudem im Einklang mit Art. 3 RL 2011/95/EU (cc).

aa) Während Wortlaut (1) und Gesetzessystematik (2) keine eindeutigen Rück- schlüsse auf das Verhältnis beider Normen zulassen, streiten die historisch-ge- netische (3) und die teleologische (4) Auslegung gegen eine Anwendbarkeit des

§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG.

(1) Die grammatische Auslegung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wie auch des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG lässt einen eindeutigen Schluss auf ein Rangverhältnis beider Normen nicht zu.

Ein umfassender Vorrang des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG folgt auch nicht aus dem Umstand, dass § 29 Abs. 1 AsylG die Unzulässigkeit eines "Asylantrags" regelt 17

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und der Begriff des Asylantrags sowohl nach dem natürlichen als auch nach dem normativen Sprachgebrauch offen für die Einbeziehung der Zuerkennung des internationalen Familienschutzes ist. Für den Anwendungsbereich des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist indes zu bedenken, dass der unionsrechtlich geprägte Be- griff des Asylantrages das nationale Rechtsinstitut des internationalen Famili- enschutzes nicht in den Blick nimmt.

(2) Auch die Gesetzessystematik vermittelt kein eindeutiges Bild.

Der Umstand, dass § 29 Abs. 1 AsylG die Unzulässigkeit eines "Asylantrags" re- gelt, ohne danach zu differenzieren, ob der Antrag auf dem Antragsteller im Herkunftsland drohende Gefahren oder auf den Schutzstatus eines Stammbe- rechtigten gestützt wird, könnte allerdings für eine Anwendbarkeit des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG spre- chen. Der Begriff "Asylantrag" knüpft an § 13 Abs. 1 AsylG an. Danach liegt ein Asylantrag vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise ge- äußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Ver- folgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des

§ 4 Abs. 1 AsylG droht. Im nationalen Recht wird das auf die Zuerkennung des internationalen Familienschutzes gerichtete Begehren als von der Stellung eines Asylantrags gleichsam automatisch miterfasst angesehen, ohne dass es eines ge- sonderten Antrags bedarf (vgl. in diesem Zusammenhang bereits BVerwG, Ur- teil vom 25. Juni 1991 - 9 C 48.91 - BVerwGE 88, 326 <328>). Auch hier gilt in- des, dass sich § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf den in einem anderen Mitgliedstaat ge- währten internationalen Schutz bezieht, bei dessen Gewährung gerade nicht auch über das Bestehen des nur nach nationalem Recht der Bundesrepublik Deutschland zugebilligten nationalen Familienschutzes entschieden worden ist.

(3) Gegen die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG streitet hingegen mit starkem Gewicht die histo- risch-genetische Auslegung des § 26 AsylG, die darauf weist, dass den Angehöri- gen der (Klein-)Familie des Schutzberechtigten die Herstellung der Familien- einheit auf der Grundlage eines einheitlichen Schutzstatus ermöglicht werden 21

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sollte, und nicht erkennen lässt, dass insoweit zwischen Angehörigen, die schutzlos sind, und solchen, denen bereits in einem anderen Staat internationa- ler Schutz zuerkannt wurde, differenziert werden sollte.

Das Institut des Familienasyls wurde in der Bundesrepublik Deutschland rich- terrechtlich begründet. Eine gesetzliche Vorschrift, die den asylrechtlichen Sta- tus des Stammberechtigten auf dessen Ehegatten und Kinder erstreckte, fand sich zunächst nicht (BVerwG, Urteil vom 29. April 1971 - 1 C 42.67 -

BVerwGE 38, 87 <88>). Dass in der Praxis der Anerkennungsbehörden und Verwaltungsgerichte in gewissem Umfang auch Angehörigen des Flüchtlings, vor allem der Ehefrau und den abhängigen minderjährigen Kindern, der Status des ausländischen Flüchtlings zuerkannt wurde, gründete in dem Gedanken des Familienschutzes, der sich im nationalen und internationalen Recht durchzuset- zen begann, und in der Erfahrung, dass vielfach diejenigen, die von einem Flüchtling abhängig sind, im Verfolgungsland ebenfalls Verfolgungen, zumin- dest aber schweren Beeinträchtigungen ausgesetzt sind, insbesondere dann, wenn in dem Land ein totalitäres System herrscht (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 1965 - 1 C 5.62 - Buchholz 402.22 Art. 1 GK Nr. 14 S. 8). Politische Verfolgung einzelner Mitglieder einer Familie ist oftmals durch die übergreifenden mittel- baren Wirkungen der Verfolgungsmaßnahme und den häufig alle Familienmit- glieder einschließenden Verfolgungsgrund gekennzeichnet. Die Verfolgungs- maßnahme wirkt kraft der gegenseitigen Abhängigkeit sehr oft in die persönli- chen und wirtschaftlichen Beziehungen der Familienmitglieder hinein. Eine sol- che mittelbare Wirkung einer gegen einen anderen gerichteten Verfolgungs- maßnahme kann zur Verfolgungsmaßnahme auch gegen den Drittbetroffenen werden (BVerwG, Urteil vom 27. April 1982 - 9 C 239.80 - BVerwGE 65, 244

<249 f.>). Bei der prognostischen Einschätzung der dem Ehegatten oder den minderjährigen Kindern eines politisch Verfolgten drohenden Verfolgung wurde von einer Regelvermutung des Inhalts ausgegangen, dass immer dann, wenn Fälle festgestellt worden sind, in denen ein Staat Repressalien gegen die Ehefrau oder die (minderjährigen) Kinder im Zusammenhang mit der politi- schen Verfolgung des Ehemannes oder Vaters ergriffen hat, auch der Ehefrau oder den Kindern, über deren Asylanspruch im konkreten Fall zu entscheiden ist, das gleiche Schicksal mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1985 - 9 C 35.84 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 34 S. 101).

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Mit Art. 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) schuf der Gesetzgeber in § 7a Abs. 3 AsylVfG a.F. erstmals eine gesetzliche Grundlage für das Familienasyl. Die Regelung zielte auf die "Entlas- tung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, da sie die Möglichkeit eröffnet[e], von einer u.U.

schwierigen Prüfung eigener Verfolgungsgründe der Familienangehörigen eines Asylberechtigten abzusehen". Sie wurde zudem als "sozial gerechtfertigt", weil der "Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten" förder- lich erachtet (BT-Drs. 11/6960 S. 29 f.). An dieser auf der gesetzlichen Vermu- tung einer Verfolgung basierenden Konzeption des Familienasyls hielt der Ge- setzgeber im Zuge der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes durch Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26. Juni 1992 (BGBl. I S. 1126) und der Schaffung des § 26 AsylVfG im Grundsatz fest (BT-Drs.

12/2718 S. 60). Mit der Zuerkennung von Familienabschiebungsschutz für enge Familienangehörige von Flüchtlingen, die (nur) nach § 60 Abs. 1 AufenthG an- erkannt waren, durch Art. 3 Nr. 17 Buchst. d des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der In- tegration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) stärkte er den in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten und dem internationalen Flüchtlingsschutz immanenten Gedanken der Famili- eneinheit und berücksichtigte er das Interesse an einem einheitlichen Rechts- status innerhalb einer Familie (BT-Drs. 15/420 S. 109; vgl. ferner BR-Drs.

22/03 S. 260 f.).

Die Neufassung des § 26 AsylG durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) diente der Um- setzung des Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie in nationales Recht. Zusätzlich zu den im nationalen Recht bewährten Schutzformen des Familienasyls und des Familienflüchtlingsschutzes wurde ein gemeinsamer Status bei subsidiär Ge- schützten und ihren Familienangehörigen eingeführt. Dies sollte die Rechtsan- wendung erleichtern und auch der Tatsache Rechnung tragen, dass bei Fami- lienangehörigen häufig eine vergleichbare Bedrohungslage wie bei dem Stamm- berechtigten vorliege (BT-Drs. 17/13063 S. 21). § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m.

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Abs. 1 bis 3 AsylG zielte darauf, den Familienangehörigen eines Schutzberech- tigten zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Familieneinheit und der Wahrung des Minderjährigenschutzes die gleichen Rechte wie dem Stammberechtigten zu vermitteln. Zur Erreichung dieses Zieles beschritt der Gesetzgeber nicht den Weg einer rein aufenthalts- und sozialrechtlichen Umsetzung; stattdessen ent- schied er sich nicht zuletzt im Interesse einer Verfahrensvereinfachung für eine unionsrechtlich überschießende asylrechtliche Umsetzung der Vorgaben des Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU (BT-Drs. 17/13063 S. 21).

Eine durch eine Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bewirkte Beschränkung des Kreises der durch § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG begüns- tigten Familienmitglieder auf solche, denen noch nicht in einem anderen Mit- gliedstaat der Europäischen Union Schutz zuerkannt wurde, steht mit dieser ge- setzgeberischen Konzeption nicht im Einklang. Die Gesetzesmaterialien enthal- ten keinen Anhaltspunkt dafür, dass die gewählte Art der Umsetzung der Vorga- ben des Art. 23 Abs. 2 i.V.m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU auf die hier in Rede stehende Fallgruppe anderweitig international Schutzberechtigter trotz auch insoweit bestehender Umsetzungspflicht keine Anwendung finden sollte und der Gesetzgeber diesen Personenkreis auf eine rein aufenthaltsrechtliche Umsetzung hätte verweisen wollen. Dafür spricht umso weniger, als die beste- henden Regelungen des Aufenthaltsgesetzes zum Familiennachzug nicht alle von den unionsrechtlichen Vorschriften zur Wahrung des im Aufnahmemit- gliedstaat anwesenden Familienverbands umfassten Fallgestaltungen abdecken dürften.

(4) Die teleologische Auslegung des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG unterstreicht das historisch-genetische Normverständnis (a). Sinn und Zweck des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gebieten keine abweichende Betrachtung (b).

(a) Der internationale Familienschutz nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG ist neben der Vereinfachung des Verfahrens und der Entlastung des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichte von mitunter schwierigen und lang- wierigen Prüfungen der dem Familienangehörigen persönlich drohenden Ge- fahren maßgeblich der Aufrechterhaltung der Familieneinheit zu dienen be- stimmt.

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Dieser Zweck kommt in gleicher Weise bei Familienangehörigen zum Tragen, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten ha- ben und wegen der ihnen drohenden Gefahren nicht in das Herkunftsland abge- schoben und ob ihrer im Bundesgebiet bestehenden familiären Bindungen re- gelmäßig auch nicht in den anderen Mitgliedstaat rückgeführt werden dürfen.

Dass der Gesetzgeber die statusrechtliche Gleichstellung und damit die effektive Wahrnehmung der aus dem internationalen Familienschutz erwachsenden Rechte solchen Familienangehörigen ungeachtet des Umstands vorzuenthalten gedachte, dass diese in der Regel rechtmäßig einen auf Dauer angelegten

Aufenthalt im Bundesgebiet nehmen werden und daher das Ziel, eine Sekundär- migration von Personen, die internationalen Schutz bereits in einem anderen Mitgliedstaat erhalten haben, einzudämmen, nicht (mehr) erreicht werden kann, liegt mit Blick auf die historische Genese des § 26 AsylG jedenfalls nicht nahe. Dagegen spricht nachhaltig, dass der Gesetzgeber für diesen Personen- kreis keine Notwendigkeit gesehen hat, die Umsetzung des Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU anderweitig zu regeln.

(b) Sinn und Zweck des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gebieten kein abweichendes Normverständnis.

Die Norm, die Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU in nationales Recht umsetzt, bezweckt die Vermeidung ineffektiver Doppelprüfungen und di- vergierender behördlicher wie gerichtlicher Entscheidungen. Sie gründet maß- geblich auf der zentralen Zwecksetzung des Gemeinsamen Europäischen Asyl- systems, irreguläre Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwischen den Mitgliedstaaten einzudämmen (vgl. nur Erwägungsgrund 13 RL 2011/95/EU; ferner EuGH, Urteil vom 17. März 2016 - C-695/15 [ECLI:EU:C:2016:188], Mirza - Rn. 52; BVerwG, Vorlagebeschluss vom 27. April 2016 - 1 C 22.15 - Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- u. Asyl- recht Nr. 81 Rn. 26). Weder Schutzsuchenden noch Schutzberechtigten soll ein Anreiz geboten werden, in einen anderen Mitgliedstaat weiterzuwandern, um in diesem erneut um die Zuerkennung internationalen Schutzes vor in dem Her- kunftsland drohenden Gefahren nachzusuchen.

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Haben Mitglieder einer Kernfamilie (Eltern und ihre minderjährigen Kinder) - aus welchen Gründen auch immer - in unterschiedlichen Mitgliedstaaten in- ternationalen Schutz erhalten, steht der Hauptzweck des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - die Verhinderung von Sekundärmigration - einem abgeleiteten Schutzstatus indes nicht entgegen. In diesem Fall kann ein gemeinsames Familienleben na- turgemäß nur in einem Mitgliedstaat verwirklicht werden. Damit führt die Wie- derherstellung der Familieneinheit in einem Mitgliedstaat, der einem Familien- mitglied internationalen Schutz gewährt hat, nicht zu einer unionsrechtlich un- erwünschten Sekundärmigration, die durch Rückführung in einen anderen Mit- gliedstaat verhindert werden muss. Gegen die Annahme einer unionsrechtlich unerwünschten Sekundärmigration sprechen auch die bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vorrangig anzuwendenden familienbezogenen Zu- ständigkeitskriterien in Art. 8 bis 10 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013, die ge- rade zum Schutz des Wohles des Kindes und des Familienverbands beitragen sollen (EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - C-582/17 und C-583/17 [ECLI:EU:C:

2019:280], - Rn. 83; vgl. ferner Erwägungsgründe 13, 14 und 16 sowie Art. 6 Abs. 3 Buchst. a, Art. 11, 16 und 17 Abs. 2 VO (EU) Nr. 604/2013). Würde in Fäl- len, in denen von diesen Möglichkeiten der Familienzusammenführung bereits während des Asylverfahrens - aus welchen Gründen auch immer - kein Ge- brauch gemacht worden ist und dadurch Mitglieder einer Familie in unter- schiedlichen Mitgliedstaaten internationalen Schutz erhalten haben, eine Fami- lienzusammenführung im Bundesgebiet nur auf der Ebene des Aufenthaltstitel- rechts ermöglicht, müsste das in einem anderen Mitgliedstaat schutzberechtigte Familienmitglied auf den ihm wegen ihm selbst drohender Gefahren gewährten Schutzstatus im Bundesgebiet verzichten. Die Gesetzesmaterialien lassen einen darauf gerichteten Willen des nationalen Gesetzgebers nicht erkennen. Das Uni- onsrecht, insbesondere die Art. 23 ff. RL 2011/95/EU enthalten auch keinen Hinweis darauf, dass die an eine Schutzgewähr anknüpfenden Rechte für Fami- lienangehörige nur im Mitgliedstaat der zeitlich ersten Antragstellung oder Schutzzuerkennung bestünden.

Eine Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m.

Abs. 1 bis 3 AsylG hätte zudem unweigerlich Wertungswidersprüche zur Folge.

So würden Familienangehörige, denen in einem anderen Mitgliedstaat der 33

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Europäischen Union wegen ihnen im Herkunftsland drohender Gefahren inter- nationaler Schutz zuerkannt wurde, in Bezug auf die Gewährung internationa- len Familienschutzes und die damit im Bundesgebiet verbundenen Vorteile schlechter gestellt als Familienangehörige, deren Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat keinen Erfolg hatte. Sie benachteiligt auch minderjährige Kinder, denen in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zugesprochen wurde, gegenüber im Bundesgebiet nachgeborenen Kindern. Derartige Un- gleichbehandlungen ließen sich im Lichte des Rechts auf Achtung des Familien- lebens (Art. 8 EMRK, Art. 7 und 24 GRC) nicht damit rechtfertigen, dass ein in einem anderen Mitgliedstaat schutzberechtigter Ausländer in Deutschland kei- nes Schutzes bedarf, weil ihm eine effektive Inanspruchnahme dieser Rechte ohne Aufgabe des wiederhergestellten Familienverbands regelmäßig nicht mög- lich ist.

bb) Das Asylgesetz enthält auch keine das Verhältnis des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG ausdrücklich regelnde Kollisionsnorm. Ein Rückgriff auf § 31 Abs. 4 AsylG, dem zufolge für den Fall, dass der Asylantrag nach § 26a AsylG als unzulässig abgelehnt wird, § 26 Abs. 5 AsylG in den Fällen des § 26 Abs. 1 bis 4 AsylG unberührt bleibt, scheidet aus.

§ 31 Abs. 4 AsylG schließt die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG auf einen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 bis 4 AsylG aus. Die Norm steht in unmittelbarem sachlichem Zusammenhang mit

§ 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Denn jedenfalls seit der Einfügung dieser Vorschrift kann ein Asylantrag im Hinblick auf einen sicheren Drittstaat nicht mehr "nur nach § 26a AsylG" abgelehnt werden, sondern nur noch im Wege einer Unzuläs- sigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 (i.V.m. § 26a) AsylG unter Beach- tung der dort genannten Voraussetzungen (vgl. näher BVerwG, Urteil vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 - juris Rn. 16).

Der Umstand, dass sich der Gesetzgeber im Zuge der grundlegenden Umgestal- tung des § 29 Abs. 1 AsylG durch Art. 6 Nr. 7 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) auf die Streichung der nicht mehr erforderlichen Regelung des § 31 Abs. 4 Satz 1 AsylG in der bis zum 5. August 2016 gültigen 35

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Fassung und auf eine bloße "Anpassung" des § 31 Abs. 4 Satz 2 AsylG a.F. be- schränkt und weder seinerzeit noch in der zeitlichen Folge eine Ergänzung die- ser nach seinem ausdrücklichen Willen auf § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG bezogenen Regelung (BR-Drs. 266/16 S. 53) um weitere Kollisionsnormen vorgenommen hat, weist darauf, dass sich der Regelungsinhalt des § 31 Abs. 4 AsylG nicht auf die übrigen Unzulässigkeitstatbestände erstreckt. Auch die auf Fälle des § 26a AsylG beschränkte, ursprüngliche Intention des Gesetzgebers, durch § 31 Abs. 4 AsylG "klarzustellen", dass Familienangehörigen, denen aus eigenem Recht we- gen der Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht, die Beru- fung auf abgeleitete Rechte aus § 26 AsylG nicht abgeschnitten ist (BT-Drs.

15/420 S. 110; vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerwG, Urteil vom 6. Mai 1997 - 9 C 56.96 - BVerwGE 104, 347 <348 ff.>), lässt keine unmittelbaren Rückschlüsse auf vom Wortlaut nicht erfasste Fallkonstellationen zu.

Im Lichte dieses Normverständnisses ist im Ergebnis Raum weder für die An- nahme eines Umkehrschlusses des Inhalts, dass § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m.

Abs. 1 bis 3 AsylG in den Fällen einer Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht unberührt bleiben soll, noch für eine analoge Anwendung des § 31 Abs. 4 AsylG.

cc) Die statusrechtliche Begünstigung des bereits in einem anderen Mitglied- staat der Europäischen Union schutzberechtigten Familienangehörigen steht auch im Einklang mit Art. 3 RL 2011/95/EU.

Danach können die Mitgliedstaaten günstigere Normen zur Entscheidung dar- über, wer als Flüchtling gilt und zur Bestimmung des Inhalts des internationa- len Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie verein- bar sind. Eine günstigere Norm ist mit der Richtlinie 2011/95/EU vereinbar, wenn sie die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährdet.

Unvereinbar sind demgegenüber nationale Normen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Drittstaatsangehörige oder Staatenlose vorsehen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des in- ternationalen Schutzes aufweisen (EuGH, Urteil vom 18. Dezember 2014 - C-542/13 [ECLI:EU:C:2014:2452], M’Bodj - Rn. 44). Unterfallen Familienan- gehörige eines anerkannten Flüchtlings keinem der in Art. 12 RL 2011/95/EU 38

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geregelten Ausschlussgründe und weist ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des in- ternationalen Schutzes auf, so gestattet es Art. 3 RL 2011/95/EU einem Mit- gliedstaat, diesen Schutz auf andere Angehörige dieser Familie zu erstrecken (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2018 - C-652/16 [ECLI:EU:C:2018:801], Ahmedbekova und Ahmedbekov - Rn. 74).

Der Situation eines in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union schutzberechtigten Familienangehörigen, der internationalen Familienschutz begehrt, ist wegen des schutzwürdigen Interesses, den Familienverband wieder- herzustellen, ein Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes regelmäßig, so auch hier, nicht abzusprechen.

3.Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 155 Abs. 2 VwGO. Ge- richtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.

Prof. Dr. Berlit Dr. Fleuß Dr. Rudolph

Böhmann Dr. Wittkopp

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