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ÖPNV: Planung für ältere Menschen

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Academic year: 2021

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ÖPNV: Planung für ältere Menschen Ein Leitfaden für die Praxis

Impressum Herausgeber

Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) Wissenschaftliche Begleitung

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)

Bearbeitung

Technische Universität Dortmund, Fakultät Raumplanung (Auftragnehmer) Prof. Dr.-Ing. Christian Holz-Rau (Leitung)

Stephan Günthner, Florian Krummheuer Planersocietät Dortmund

Marc Lucas Schulten, Axel Beyer, Henning Tams

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, Bonn (Auftraggeber) Thomas Wehmeier (Leitung)

Vervielfältigung Alle Rechte vorbehalten Zitierhinweise

BMVBS (Hrsg.): ÖPNV: Planung für ältere Menschen. Ein Leitfaden für die Praxis. BMVBS-Online-Publikation 09/2010.

Die vom Auftragnehmer vertretene Auffassung ist nicht unbedingt mit der des Herausgebers identisch.

ISSN 1869-9324 © BMVBS März 2010

Ein Projekt des Forschungsprogramms „Stadtverkehr“ des Bundesministeriums für Ver­ kehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) betreut vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR).

(2)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 4

2

5 Daseinsvorsorge und Dienstleistungsqualität in der

Nahverkehrsplanung

2.1 Der ÖPNV - eine Aufgabe der öffentlichen Hand 5

2.2 Ziele und Zielkonflikte 6

2.3

12

Rechtliche Stellung und wachsende Bedeutung von Nahverkehrsplänen

2.4 Dienstleistungsqualität in der Nahverkehrsplanung 15

3 Demographischer Wandel und ÖPNV 20

3.1 Räumliche Strukturen des demographischen Wandels 20 3.2 Folgen des demographischen Wandels für den ÖPNV 22

3.3 Zusammenfassung 27

4 Ältere Menschen und ÖPNV 28

4.1 Einschränkungen der Mobilität im Alter 30

4.2 Verkehrsverhalten älterer Menschen 35

4.3 Anforderungen älterer Menschen 42

5

48 Der Prozess der Nahverkehrsplanung und das Instrument des

Nahverkehrsplans

5.1 Relevanz eines vollständigen Planungsprozesses 48

5.2 Vororientierung 51

5.3 Probleme analysieren 52

5.4 Maßnahmen untersuchen 54

5.5 Umsetzen und Wirkungen kontrollieren 55

5.6 Informieren und beteiligen 55

5.7 Evaluieren 56

6 Praxistipps zur Nahverkehrsplanung für ältere Verkehrsteilnehmer 57

6.1 Bewusstseinsbildung und Aktivierung älterer Menschen 59 6.2 Anpassungen des Liniennetzes und des Leistungsangebotes 68

6.3 Information und Verkauf 76

(3)

6.5 Gestaltung von Haltestelle und Fahrzeug 98 6.6 Persönliche Betreuung und Unterstützung 106 6.7 Dienstleistungsqualität unter Berücksichtigung älterer Menschen 118 6.8

124 Zentrale Planungsgrundlagen zur Berücksichtigung des

demographischen Wandels

6.9 Umsetzungskonzepte und Handlungsprogramme 133

7 Anhang 140

7.1 Literaturverzeichnis 140

7.2 Abbildungsverzeichnis 147

(4)

1

Einleitung

Nahverkehrspläne bilden die Grundlage der Angebotsgestaltung im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Für diese Angebotsgestaltung können unterschied-liche Ziele wie Umweltstandards, Erreichbarkeit oder wirtschaftunterschied-licher Betrieb mit-einander im Konflikt stehen. Auch die Ansprüche unterschiedlicher Nutzergruppen können miteinander im Konflikt stehen. Beispiele sind Pendler, die ihren Weg schnell zurücklegen wollen und in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkte ältere Menschen, die kürzere Fußwege und damit eine engmaschigere Erschließung benötigen. Andererseits gibt es Angebotsqualitäten, die allen Nutzergruppen glei-chermaßen zu Gute kommen: Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Anschlussicherung. Die Aufgabenträger des Nahverkehrs sind mit der Frage konfrontiert, die Interes-sen und Ziele abzuwägen und ein Nahverkehrsangebot zu entwickeln, das eine möglichst hohe Qualität bei wirtschaftlichem Betrieb ermöglicht. Ein Weg dazu kann die bessere Berücksichtung unterschiedlicher Zielgruppen sein.

In fast allen Regionen Deutschlands werden die Anzahl und der Anteil älterer Menschen zunehmen. Die Nahverkehrsplanung thematisiert ältere Menschen bis-her fast ausschließlich in Zusammenhang mit Barrierefreiheit. Die wissenschaftli-che Auseinandersetzung mit den Interessen älterer Menswissenschaftli-chen zeigt jedoch, dass Barrierefreiheit alleine nicht ausreicht, um deren Mobilität zu sichern. Es gibt zahl-reiche weitere Handlungsansätze, um ältere Menschen (wieder) an den ÖPNV heran zu führen und sie als Kunden zu gewinnen.

Die Empfehlungen dieses Leitfadens sind ein Ergebnis des Forschungsprojektes „Daseinsvorsorge und Dienstleistungsqualität in der Nahverkehrsplanung unter besonderer Berücksichtigung der Belange älterer Verkehrsteilnehmer“ des For-schungsprogramms Stadtverkehr (FoPS). Die methodischen Grundlagen und wei-tere Ergebnisse u. a. zur Praxis der Nahverkehrsplanung wurden in der BMVBS-Online-Publikation Nr. 5/2010 veröffentlicht.

Dieser Leitfaden orientiert sich in seinem Aufbau an der zunehmenden Konkreti-sierung der Aussagen im Zuge eines Planungsprozesses. Kapitel 2 setzt sich mit grundlegenden Begriffen, der Zielfindung und dem aktuellen Thema Dienstleis-tungsqualität auseinander. Kapitel 3 stellt die Folgen des demographischen Wanl-dels für Betrieb und Planung des öffentlichen Personennahverkehrs zusammen. Kapitel 4 erläutert mögliche Einschränkungen, denen die Mobilität älterer Men-schen unterworfen ist, stellt deren Verkehrsverhalten dar und formuliert auf dieser Basis Anforderungen älterer Menschen an den ÖPNV. Im Kapitel 5 wird der ge-sellschaftliche Prozess der Verkehrsplanung für die Nahverkehrsplanung konkreti-siert. Das abschließende Kapitel 6 enthält konkrete Praxistipps zu neun zentralen Handlungsfeldern, die einen Beitrag zur Mobilitätssicherung älterer Menschen und zu ihrer Gewinnung als interessante Kundengruppe für den öffentlichen Perso-nennahverkehr beitragen können. Zahlreiche gute Beispiele machen die Hinweise anschaulich.

(5)

2

Daseinsvorsorge und Dienstleistungsqualität in

der Nahverkehrsplanung

Als strategisches Instrument der mittel- und langfristigen Planung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) erstellen die zuständigen Aufgabenträger den Nahverkehrsplan. Darin thematisieren sie im Wesentlichen die Angebotsplanung, in vielen Fällen aber auch Infrastrukturbelange. Der Nahverkehrsplan hat dabei sowohl eine Integrationsfunktion (flächendeckendes Verkehrsnetz, verschiedene Bedienungsformen und deren Verknüpfung, einheitliche Ausstattungsstandards) als auch eine Koordinationsfunktion (zwischen Verkehrsunternehmen, benachbar-ten Aufgabenträgern und Aufgabenträgern von ÖPNV und SPNV, kreisangehöri-gen Städten und Gemeinden). Der Nahverkehrsplan stellt sicher, dass die Gestal-tung des ÖPNV durch die kommunalen VerwalGestal-tungen nachvollziehbar und trans-parent geschieht. Außerdem dient der Nahverkehrsplan bei vielen kommunalen Verwaltungen als Instrument der Selbstbindung und als Argumentationshilfe in öffentlichen und politischen Diskussionen.

2.1

Der ÖPNV - eine Aufgabe der öffentlichen Hand

Mit der Novelle des Personenbeförderungsrechts Mitte der 1990er Jahre haben sich die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für den öffentlichen Personen-nahverkehr (ÖPNV) und die Planungsinstrumente deutlich verändert. Die Novelle des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG 1996) führte den Begriff der „Aufga-benträger“ ein. Die Aufgabenträger haben die Aufgaben- und Finanzverantwor-tung sowie die Möglichkeit und VerpflichFinanzverantwor-tung, den öffentlichen Personennahver-kehr in ihrem Bereich zu gestalten.

Konkretisiert wird die Rolle der Aufgabenträger in den ÖPNV-Gesetzen der Län-der. Eine Ausnahme bildet Hamburg, das kein eigenes ÖPNV-Gesetz erlassen hat. In den meisten Bundesländern sind Verkehrsverbünde oder Landesgesell-schaften die Aufgabenträger für den Schienenpersonennahverkehrs (SPNV). Sie sind zuständig für den Verkehr mit Vollbahnen im Nahverkehr gemäß dem Allge-meinen Eisenbahngesetz (AEG). Aufgabenträger für den übrigen ÖPNV (auch „straßengebundener“ ÖPNV) sind überwiegend die kreisfreien Städte und Land-kreise. In Ihre Zuständigkeit fällt also der Nahverkehr mit Bussen, Straßenbahnen, U-Bahnen und O-Bussen.

Gemäß dem Regionalisierungsgesetz (RegG) ist „die Sicherstellung einer ausrei-chenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im öffentlichen Per-sonennahverkehr (…) eine Aufgabe der Daseinsvorsorge.“ (§ 1 Abs. 1 RegG). Auch die meisten Landesgesetze definieren die Sicherstellung eines ausreichen-den ÖPNV als einen Teil der Daseinsvorsorge. Dabei besteht in der Planungspra-xis kein einheitliches Verständnis des Begriffs der Daseinsvorsorge. Vielmehr las-sen sich drei Auffassungen des Begriffs der Daseinsvorsorge erkennen:

(6)

− In der verkehrsplanerischen Literatur (u. a. Kirchhoff und Tsakarestos 2007: 1; FGSV 2009: 24) wird unter Daseinsvorsorge häufig eine Grundsicherung der Erreichbarkeit verstanden. Eine Analyse von 50 zufällig ausgewählten Nahverkehrsplänen1 zeigte dieses Begriffsverständnis allerdings nur in we-nigen Plänen (BMVBS 2010: 39 f.).

− Ein eher staatswissenschaftliches Verständnis von Daseinsvorsorge weist dem Begriff kein inhaltliches Ziel zu, sondern betrachtet ihn als Verantwor-tungszuweisung an die öffentliche Hand (vgl. Barth 2000: 82). Diese Auffas-sung kommt der ursprünglichen Idee von Daseinsvorsorge nahe (Forsthoff 1958: 23), die eine Verantwortung der öffentlichen Hand für solche Güter und Dienstleistungen sieht, die der Markt nicht erbringen kann, die aber für die Gesellschaft notwendig sind. Dieser Interpretation folgten ebenfalls nur wenige der untersuchten Nahverkehrspläne (BMVBS 2010: 39 f.).

− Etwas häufiger wird der Begriff als Zuständigkeitszuweisung verstanden, die zusätzlich Ziele begründet, die über die Sicherung der Erreichbarkeit hi-nausgehen (BMVBS 2010: 39 f.). So formuliert beispielsweise der Rhein-Main-Verkehrsverbund, dass der ÖPNV „die Mobilität zwischen Wohnstand-orten und Arbeits-, Bildungs-, und Versorgungs- sowie Freizeit- und Erho-lungsstätten ökologisch verträglich sicherstellen soll“ (Rhein-Main-Verkehrsverbund 2004: 11).

In der überwiegenden Zahl der Pläne wurde der Begriff der Daseinsvorsorge da-gegen nicht verwendet oder nur auf ihn verwiesen, ohne dass ein bestimmtes Be-griffsverständnis deutlich wird (BMVBS 2010: 39 f.).

In der Praxis der Nahverkehrsplanung zeigt sich also ein uneinheitliches Ver-ständnis des Begriffs der Daseinsvorsorge. Planungsverantwortliche bei den Auf-gabenträgern sehen in dem Begriff teilweise eine Zuständigkeitsbestimmung oder die Verpflichtung der Erreichbarkeitssicherung. Vielfach vermeiden sie den Begriff wegen seiner Unbestimmtheit. In jedem Fall einheitlich ist das Bild in einem Punkt: Die Aufgabenträger nehmen ihre Zuständigkeit für die Planung und Gestaltung des ÖPNV und die damit verbundene Verantwortung an.

2.2

Ziele und Zielkonflikte

Die ÖPNV-Gesetze der Bundesländer enthalten Ziele, die mit dem ÖPNV erreicht werden sollen. Genannt werden vor allem umweltpolitische Ziele, daneben auch verkehrs- und raumordnungspolitische Ziele sowie die Berücksichtigung bestimm-ter Nutzergruppen.

1

Im Rahmen dieses Projektes wurden bundesweit 50 Nahverkehrspläne zufällig ausgewählt und vereinfacht analysiert. Die Ergebnisse dieses Screenings sind in der BMVBS-Online-Publikation

5/2010 dokumentiert. Diese ist verfügbar unter Menüpunkt Veröffentlichungen,

Untermenü: BBMVBS-Veröffentlichungen, Unterpunkt: BMVBS-Online-Publikationen. www.bbsr.bund.de

(7)

2.2.1

Zielfelder Verkehr, Umwelt und Raumordnung

In fast allen Bundesländern soll der ÖPNV einen Beitrag zum Umweltschutz leis-ten (Tabelle 1). Dazu können auch die strategischen Ziele der Verlagerung von Verkehr vom MIV auf den ÖPNV, eines möglichst frühzeitigen Übergangs vom MIV auf den ÖPNV sowie der Ausbau des ÖPNV als („attraktive“ bzw. „vollwerti-ge“) Alternative zum MIV gezählt werden. Wesentlich seltener werden Ziele in Be-zug auf das Verkehrssystem, wie die Schaffung eines integrierten Gesamtver-kehrssystems oder die Verbesserung der Infrastruktur genannt. Auch das raum-ordnungspolitische Ziel der Herstellung und Sicherung gleichwertiger Lebensver-hältnisse wird nur von einem Teil der Länder in den ÖPNV-Gesetzen genannt. Zu-sammenhänge zwischen der räumlichen Struktur der Länder und den jeweils ge-nannten Zielen, zum Beispiel eine besondere Betonung der Verlagerung auf den ÖPNV in den Stadtstaaten, sind nicht feststellbar.

Weitere Ziele des ÖPNV nennen die Länder in ihren Landesentwicklungsplänen, Landesentwicklungsprogrammen und Verkehrsplänen unterschiedlicher Art. Auch die Regionalpläne enthalten häufig Ziele für den ÖPNV. Schließlich werden die Aufgabenträger durch verschiedene Vorschriften zu einem wirtschaftlichen Um-gang mit öffentlichen Mitteln angehalten.

Tabelle 1:

Ziele der ÖPNV-Gesetze der Länder zu Verkehr, Umwelt und Raumordnung

Ber lin Br anden b urg Baden- Wür ttemberg Ba y er n Bremen He ssen Mec k lenb urg-V o rpommer n Nieder sa ch sen Nordrh ein-W e stf ale n Rheinla nd-P fal z Saar land Sach sen-An halt Sach sen Schle s wig-Hol s tein Thür ingen Umweltschutz X X X X X X X X X X X X X X Verlagerung vom MIV

auf den ÖPNV

X X X X X

Möglichst frühzeitiger Übergang vom MIV auf den ÖPNV

X X X

(„attraktive“ bzw. „voll-wertige“ Alternative zum MIV X X X X X X X X X Integriertes Gesamtver-kehrssystem X X X X X X X Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur X X X X X

Herstellung und Siche-rung gleichwertiger Lebensverhältnisse

X X X X X X

(8)

2.2.2

In der Praxis werden diese Ziele von vielen Nahverkehrsplänen bereits genannt. Häufig besteht jedoch eine Lücke zwischen der allgemeinen Formulierung dieser Ziele und ihrer regionalen Konkretisierung und Operationalisierung zu messbaren Standards (BMVBS 2010: 25 ff.). Andererseits werden häufig definierte Standards nicht aus den Zielen der ÖPNV-Gesetze hergeleitet (ebd.). Die Konkretisierung von Zielen ist jedoch eine wichtige politische Entscheidung bei der Gestaltung des ÖPNV, die im Rahmen der Nahverkehrsplanung transparent vollzogen werden sollte (vgl. Abschnitt 5.3, Seite 52).

Unterschiedliche Ansprüche der Fahrgäste

Neben den umwelt-, verkehrs- und raumordnungspolitischen Zielen bestehen sei-tens verschiedener Nutzergruppen unterschiedliche Ansprüche an den ÖPNV. Viele Länder tragen in ihren ÖPNV-Gesetzen der Nahverkehrsplanung die Be-rücksichtigung unterschiedlicher Nutzergruppen auf. Besonders häufig werden Frauen und ältere Menschen genannt (Tabelle 2).

Tabelle 2:

Verweise auf Nutzergruppen in den ÖPNV-Gesetzen der Länder

Ber lin Br anden b urg Baden- Wür ttemberg Ba y er n Bremen He ssen Mec k lenb urg-V o rpommer n Nieder-s a c h s en Nordrh ein-W e stf alen Rheinla nd-P fal z Saar land Sach sen-An halt Sach sen Schle s wig-Hol s tein Thür ingen Berücksichtigung verschiedener Gruppen X X X X X X X X X X X x X X X Berücksichtigung von Frauen X X X X X X X X X X Berücksichtigung von älteren Men-schen

X X X X X X X

Quelle: Eigene Zusammenstellung

In Nahverkehrsplänen wird häufig davon ausgegangen, dass die Verbesserung des ÖPNV-Systems für eine „schwächere“ Nutzergruppe, zum Beispiel für Behin-derte, für alle Nutzergruppen Verbesserungen schafft (BMVBS 2010: 48). Dies ist in dieser Pauschalität aber nicht immer richtig. Beispielhaft können die Interessen von Erwerbstätigen und Schülern (je ohne Mobilitätseinschränkungen), teilzeiter-werbstätigen Müttern mit Kindergartenkindern und älteren Menschen mit Mobili-tätseinschränkungen betrachtet werden (Tabelle 3). Die unterschiedlichen Interes-sen beziehen sich auf fast alle Bereiche der Angebotsplanung, auf die Netzstruk-tur, die Bedienungszeiten und Bedienungshäufigkeit, auf die Gestaltung der Hal-testellen und Fahrzeuge.

Die Orientierung an den Ansprüchen eingeschränkt mobiler älterer Menschen wird die Erreichbarkeit und einfache Nutzbarkeit des ÖPNV-Angebots in den Mit-telpunkt stellen. Aufgrund kurzer Zu- und Abgangswege und damit kurzer

(9)

Halte-stellenabstände, zahlreicher Direktverbindungen und längerer Übergangszeiten für Umstiege wird das ÖPNV-Angebot über größere Entfernungen eher langsam sein. Damit verliert es für Erwerbstätige an Attraktivität und somit an Potenzial zur Umweltentlastung durch Verkehrsverlagerung. Selbst Ansprüche im Bereich der Barrierefreiheit sind mit Konflikten verbunden: Sie sind zwar für alle Gruppen be-quemer, für die meisten aber eher unwichtig. Da sie aber die Kosten erhöhen, re-duzieren sie bei gleichem Mitteleinsatz die Spielräume für Angebotsverbesserun-gen für andere Gruppen oder senken die Wirtschaftlichkeit. Hinzu kommen unter-schiedliche Quelle-Ziel-Beziehungen und Nachfragezeiten der Gruppen sowie im Detail unterschiedliche Ansprüche zum Beispiel von Seh- und Gehbehinderten.

Tabelle 3:

Interessenkongruenzen und Interessenkonflikte unter ausgewählte Nutzergruppen Erwerbstätige

ohne Mobilitäts-einschränkungen

Schüler weiter-führender Schu-len ohne Mobili- tätseinschrän-kungen

Teilzeiterwerbstä-tige Mütter mit Kindergartenkin-dern Ältere, einge-schränkt mobile Personen vorrangige Aktivi-täten (Orte)

Arbeitsplatz Schule Arbeitsplatz,

Kin-dergarten, Ein-kauf medizinische Versorgung, Einkäufe, alltäg-liche Freizeit hohe Geschwin-digkeit

wichtig teilweise wichtig wichtig unwichtig

kurze Zugangs-wege

unwichtig unwichtig wichtig wichtig

Direktverbindun-gen

unwichtig unwichtig teilweise wichtig wichtig

längere Über-gangszeiten beim Umsteigen

unerwünscht unerwünscht wichtig wichtig

Pünktlichkeit wichtig wichtig wichtig wichtig

Anschlusssiche-rung

wichtig wichtig wichtig wichtig

hohe Bedie-nungshäufigkeit wichtig (abhängig von Arbeitszeit-regelung) teilweise wichtig, teilweise Fahrten für den Schüler-verkehr organi-siert wichtig unwichtig Sitzplatzverfüg-barkeit abhängig von Fahrtweite abhängig von Fahrtweite

teilweise wichtig wichtig

Barrierefreiheit unwichtig unwichtig teilweise wichtig wichtig

(10)

2.2.3

Umgekehrt ist es wichtig auch Interessenkongruenzen von Nutzergruppen zu er-kennen und diese gegebenenfalls in den Mittelpunkt der ÖPNV-Strategie zu stel-len. Solche Interessenkongruenzen betreffen vor allem die Zuverlässigkeit des Systems, die Pünktlichkeit und die Sicherung von Anschlüssen (rot in Tabelle 3). Mit diesen Interessenkongruenzen und Interessenkonflikten ist im Rahmen der Nahverkehrsplanung umzugehen. Aus ihrer Gewichtung können sich unterschied-liche Folgerungen für die Gestaltung des Nahverkehrssystems (oder seiner Teile) ergeben, die transparent dargestellt werden sollten.

Zielkonflikte

Die Festlegung der Ziele und ihre Abwägung bei Zielkonflikten bilden wesentliche Entscheidungen im Rahmen der Nahverkehrsplanung. Vereinfachend können bei-spielhaft drei Oberziele betrachtet werden, die mit dem ÖPNV verfolgt werden (können): Dies sind in der sozialen Dimension die Mobilitätssicherung, in der öko-logischen Dimension die Umweltentlastung und in der ökonomischen Dimension die Kostendeckung des Angebots. Auf Basis dieser drei möglichen Ziele lassen sich unterschiedliche Strategien der ÖPNV-Planung skizzieren. Abbildung 1 spitzt anhand von Zielgewichten mögliche Strategien zu. Daneben sind auch andere Ziele wie die Stärkung der Zentren, die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse oder die Stärkung der Funktionsfähigkeit einer Stadt insgesamt möglich.

− Eine Strategie der Mobilitätssicherung (rot in Abbildung 1) könnte sich vor al-lem an den Ansprüchen von Personen ohne Pkw und Personen mit Mobili-tätseinschränkungen orientieren. Konzeptionelle Schlussfolgerungen wären ein flächendeckend barrierefreies Netz mit zahlreichen Direktverbindungen und geringen Haltestellenabständen. Ein solches ÖPNV-System würde aber nur eine relativ geringe Systemgeschwindigkeit erreichen und wäre damit nur für wenige Personen mit Pkw eine attraktive Alternative. Die Effekte zur Entlastung der Umwelt und der Kostendeckungsgrad blieben gering.

− Eine Strategie der Umweltentlastung (grün in Abbildung 1) zielte auf eine Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) zum ÖPNV und auf einen schadstoffarmen und leisen Betrieb des ÖPNV. Konzeptionell könnte sich eine solche Strategie auf aufkommensstarke MIV-Relationen konzent-rieren und auf diesen Verbindungen ein besonders hochwertiges Angebot bieten. Dieses Netz könnte Lücken der Erreichbarkeitssicherung aufweisen und unter Umständen aufgrund des hohen Standards nur eine geringe Kos-tendeckung erreichen.

− Eine Strategie, die die Wirtschaftlichkeit des Angebots in den Mittelpunkt stellt, (blau in Abbildung 1) legte das Augenmerk vor allem auf die Belastung des öffentlichen Haushalts. Ein entsprechendes ÖPNV-Konzept würde sich auf ertragsstarke Linien beschränken. Das Netz würde entsprechende Lü-cken und damit auch LüLü-cken der Erreichbarkeitssicherung aufweisen. Die Umwelteffekte würden zumindest in Räumen mittlerer und geringer Dichte gering bleiben, da die Angebotsstandards relativ niedrig wären.

(11)

Abbildung 1:

Pointierte Strategie-Typen der Nahverkehrsplanung auf Basis von drei möglichen Oberzielen

Eigene Darstellung

Jedes abstrakte Zielsystem impliziert also Zielkonflikte und führt im Grundsatz zu spezifischen Strategien, die aus dem jeweiligen politischen Willen und der Situati-on vor Ort herzuleiten sind.

Eine in Abbildung 1 nicht dargestellte „zentrale Position“, die den drei dargestell-ten Zieldimensionen gleiches Gewicht gibt, lässt sich am ehesdargestell-ten in hoch verdich-teten Räumen realisieren, die gleichzeitig eine hohe wirtschaftliche Prosperität aufweisen. Je geringer die verfügbaren finanziellen Mittel, umso wichtiger wird in der Regel der Aspekt der Kostendeckung. Bei einem insgesamt geringen Nach-fragepotenzial - also auf nachfrageschwachen Relationen, in nachfrageschwa-chen Räumen oder Zeiten - reduzieren sich die drei hier dargestellten Oberziele weitgehend auf die Dimensionen der Erreichbarkeitssicherung und der Kostende-ckung, da auf einem Niveau der „Mindestbedienung“ kaum mit Verlagerungseffek-ten vom MIV zum ÖPNV zu rechnen.

In der Regel werden diese Zielvorstellungen wie auch weitere Ziele, zum Beispiel die Stärkung von Zentren oder die Entlastung des Straßennetzes, innerhalb des Bedienungsgebiets nach Teilräumen und innerhalb der Betriebszeit nach Zeiträu-men differenziert. Gilt es etwa in den Siedlungskernen oder entlang wichtiger Achsen den ÖPNV als Konkurrenz zum MIV zu entwickeln, kommen für dünner

(12)

2.3.1

besiedelte Gebiete geringere Standards zur Anwendung, die allein auf eine Er-reichbarkeitssicherung hinauslaufen. Entsprechendes gilt auch im Vergleich von Hauptverkehrszeiten mit Neben- und Schwachverkehrszeiten.

Diese Entscheidungen in einem transparenten Verfahren zu fällen, wird durch die systematische Erarbeitung eines Nahverkehrsplans erleichtert (Abschnitt 5.1 Relevanz eines vollständigen Planungsprozesses, Seite 48).

2.3

Rechtliche Stellung und wachsende Bedeutung von

Nahverkehrsplänen

Nahverkehrspläne wurden 1996 durch die Novelle des Personenbeförderungsge-setzes eingeführt. Sie sind von den Aufgabenträgern aufzustellen, zu beschließen und bilden den Rahmen für die Entwicklung des öffentlichen Personennahver-kehrs. Nahverkehrspläne definieren das öffentliche Verkehrsinteresse im Rahmen der Vergabe von Liniengenehmigungen im Nahverkehr und bilden die Grundlage für die Vergabe gemeinwirtschaftlicher Verkehre. Zudem entwickeln sie sich immer mehr zum zentralen strategischen Planungsinstrument für den ÖPNV. Gegenüber den Ansprüchen einer integrierten Verkehrsplanung erscheint die „Nahverkehrs-planung“ – die Planung allein für den ÖPNV – wie ein Relikt vergangener Zeit. Daher ist die Verbindung dieser sektoralen ÖPNV-Planung mit weiteren Planun-gen, vor allem mit der Verkehrsentwicklungsplanung und der Flächennutzungs-planung, von besonderer Bedeutung.

Nahverkehrspläne als Abwägungsbelang bei der

Linienge-nehmigung

Nahverkehrspläne sind zunächst behördeninterne2

Dokumente in der Kommuni-kation zwischen Aufgabenträgern und Genehmigungsbehörden, die den Rahmen für die Entwicklung des ÖPNV bilden (vgl. PBefG § 8 Abs. 3). Sie sind von den Genehmigungsbehörden – meist den Regierungspräsidien – bei der Genehmi-gung von Linienverkehren zu berücksichtigen. LiniengenehmiGenehmi-gungen werden als Verwaltungsakt erlassen und sind dementsprechend Abwägungsentscheidungen. Die Inhalte der Nahverkehrspläne werden also von der Genehmigungsbehörde gegen andere Belange abgewogen. Daher sind die Inhalte der Nahverkehrspläne nicht verbindlich: Sie stehen in einem Spannungsfeld zwischen dem Grundrecht der Verkehrsunternehmen, im Rahmen ihrer Berufsfreiheit Nahverkehrsdienstleis-tungen anzubieten, und der Verantwortung der Kommunen, den ÖPNV als Teil der Daseinsvorsorge zu entwickeln. Zur Berücksichtigung dieser Berufsfreiheit sieht § 8 III PBefG eine Mitwirkung der Verkehrsunternehmen bei der Aufstellung von Nahverkehrsplänen vor (Abbildung 2).

2

Davon unberührt ist die Veröffentlichungspflicht der Nahverkehrspläne in den Bundesländern Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein.

(13)

2.3.2

Abbildung 2:

Nahverkehrspläne bei der Liniengenehmigung

Eigene Darstellung

Diesem Regelungsmechanismus entsprechend, ist auch der Rechtsschutz gegen Nahverkehrspläne eingeschränkt: Nahverkehrspläne als behördeninterne Doku-mente sind nicht justiziabel. Von ihren Festsetzungen betroffene Anwohner oder auch Verkehrsunternehmer können nicht gegen sie vorgehen. Erst der Verwal-tungsakt „Liniengenehmigung“ entfaltet Rechtswirkung, gegen den mit den In-strumenten des Verwaltungsrechtes vorgegangen werden kann.

Nahverkehrspläne als zentrales öffentliches Planwerk für den

ÖPNV

Bei ihrer Einführung in den 1990 Jahren wurde den Nahverkehrsplänen nur eine geringe Bedeutung zugesprochen (Metz, Wente 1996: 21). Doch sind Nahver-kehrspläne heute in der kommunalen Praxis etabliert. Sie entfalten jenseits ihres formal-rechtlichen Charakters sowohl gegenüber den Verkehrsunternehmen als auch innerhalb der Verwaltungen eine größere Verbindlichkeit, als angenommen wurde. Nahverkehrspläne haben sich zum zentralen Planungsinstrument für den öffentlichen Personennahverkehr entwickelt. Dies verdanken die Aufgabenträger und ihre Nahverkehrspläne zum einen dem Aufbau eigener planerischer Kompe-tenzen. Zum anderen wurde die Position der Aufgabenträger gegenüber den Ver-kehrsunternehmen durch europarechtliche Vorgaben gestärkt. Hierzu trugen z. B. die 4 Kriterien des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH 2003) und die Vorwir-kungen der neuen EU-Verordnung 1370/2007 sowie geänderte Finanzierungs-strukturen, wie beispielsweise in Brandenburg (Hickmann et al. 2005: 46 ff.), bei: Dort fließen seit der Reform die Finanzmittel für den Schülerverkehr vom Land über die Aufgabenträger zu den Verkehrsunternehmen. Zuvor wurden diese direkt an die Verkehrsunternehmen bezahlt.

Die planenden Verwaltungen schätzen die Nahverkehrspläne auch wegen ihrer selbst bindenden Funktion. Im politischen Raum dienen die Pläne nach ihrer

(14)

Ver-2.3.3

2.3.4

2.3.5

abschiedung als Argumentationshilfe. Schließlich können sie vor allem für ge-meinwirtschaftliche Verkehre – die von den Aufgabenträgern finanziert werden – konkretere Regelungen enthalten und als Grundlage für Ausschreibungen und Verkehrsverträge dienen.

Steigende Bedeutung strategischer Planung

Die Bedeutung dieser aktiven strategischen Planung durch die Aufgabenträger wird aufgrund der sich verändernden rechtlichen Rahmenbedingungen weiter steigen. Mittelfristig könnte das hier darstellte Planungsverfahren durch Vorgaben zur Strategischen Umweltprüfung (SUP) zu ergänzen sein. So unterliegen bereits heute die NVP niedersächsischer Agglomerationen einer SUP-Pflicht (vgl. Bon-gardt/Krummheuer 2008: 235 ff.), aus der sich spezifische formelle Anforderungen an das Verfahren ergeben.

Rolle der Nahverkehrspläne im geänderten europäischen

Rechtsrahmen

Inwiefern die Implementierung der neuen Verordnung 1370/2007 in das deutsche Personenbeförderungsrecht die Rolle des NVP verändert, ist noch nicht absehbar. Tendenziell wird sowohl die Vergabe von gemeinwirtschaftlichen Verkehren als auch die Gewährung ausschließlicher Rechte im Rahmen der Genehmigung ei-genwirtschaftlicher Verkehre als öffentlicher Dienstleistungsauftrag bzw. öffentli-che Dienstleistungskonzession gesehen und unterliegt damit den vergaberechtli-chen Anforderungen an Offenheit, Transparenz und Diskriminierungsfreiheit im europäischen Verkehrsmarkt. Der Nahverkehrsplan als Instrument könnte ein Bei-trag sein, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Allerdings wird sich seine Bedeutung erst zeigen können, wenn die Implementierung der VO 1370/2007 in das nationale Recht, insbesondere ins PBefG abgeschlossen ist.

Nahverkehrsplanung als integrierte und strategische Planung

Die Verkehrsentwicklung auf kommunaler und regionaler Ebene erfordert einen verkehrsträgerübergreifenden in die weitere räumliche Planung integrierte strate-gische Verkehrsplanung. Der geläufigste Begriff ist der der Verkehrsentwicklungs-planung. Innerhalb dieser strategischen Raum- und Verkehrsplanung erfordert die Planung des ÖPNV wie auch anderer Verkehrsträger weiterhin eine Konkretisie-rung. Diese Konkretisierung leistet für den ÖPNV die Nahverkehrsplanung als Prozess und der Nahverkehrsplan als beschlossenes Dokument.

Die Nahverkehrsplanung erlaubt einerseits eine abstrakte Zieldefinition in Ab-stimmung mit der Regional- und der Flächennutzungsplanung sowie mit Fachpla-nungen, zu denen auch ein Verkehrsentwicklungsplan gehört. Gleichzeitig konkre-tisiert sie eine mittel- bis langfristige ÖPNV-Strategie, die weder durch eine klein-teiligere oder kurzfristigere Betriebsplanung noch in den übergreifenden Plänen zu leisten ist.

(15)

2.3.6

2.4.1

Nahverkehrsplanung als Grundlage des Nahverkehrsplans

Ein weiteres Ergebnis der Nahverkehrsplanung ist der Nahverkehrsplan als be-schlossenem Dokument. Er ist von dem Prozess der Nahverkehrsplanung zu un-terscheiden. Im Rahmen der Nahverkehrsplanung werden umfangreiche Analyse-schritte und konzeptionelle Überlegungen durchgeführt und teilweise begründet verworfen. Diese müssen nicht zwingend in dem politisch beschlossenen Doku-ment des Nahverkehrsplans niedergelegt sein. Im Prinzip könnte sich der Nahver-kehrsplan auf den beschlossenen konzeptionellen Teil der NahverNahver-kehrsplanung beschränken. Wichtig bleibt es aber im Hinblick auf die Transparenz der Planung und Entscheidung, den Planungsprozess mit seinen Methoden und Ergebnissen sorgfältig zu dokumentieren. Dies kann auch in einem Erläuterungsbericht ge-schehen. Eine solche Dokumentation bildet auch die unverzichtbare Grundlage, um für die Nahverkehrsplanung der folgenden Generation aus dem vorherigen Planungsprozess zu lernen. Dabei setzt sich der Prozess der Nahverkehrspla-nung kontinuierlich fort und findet im Beschluss des Nahverkehrsplans nur einen zwischenzeitlichen politischen Abschluss (ausführlicher in Kapitel 5, ab Seite 48).

2.4

Dienstleistungsqualität in der Nahverkehrsplanung

Wie in den vorangegangen Abschnitten bereits angesprochen teilen sich die Pla-nungskompetenzen zwischen Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen auf. Zunehmend bilden sich dabei Besteller-Ersteller-Strukturen aus. Die genaue Ab-grenzung der Gestaltungsbereiche von Aufgabenträgern und Verkehrsunterneh-men ist von Ort zu Ort unterschiedlich. „Dennoch sind die VerkehrsunternehVerkehrsunterneh-men als Ersteller in jedem Fall für die Betriebsabwicklung und die Aufgabenträger als Besteller für die Definition des Leistungsangebotes und die Beachtung der Bedie-nungsstandards des Nahverkehrsplans verantwortlich“ (FGSV 2006a: 6).

Zusätzlich haben die Fahrgäste ihre eigene Sicht auf das Produkt ÖPNV. Sie erle-ben das Gesamtangebot des ÖPNV nur in Ausschnitten und vergleichen diesen Ausschnitt mit anderen Verkehrsmitteln, zum Beispiel mit dem motorisierten Indi-vidualverkehr. Da die Fahrgeldeinnahmen im Verhältnis zu anderen Finanzströ-men geringer als in vielen anderen Märkten sind, können die Fahrgäste das An-gebot weniger beeinflussen als in anderen Märkten. Daher müssen die Aufgaben-träger das Interesse der Allgemeinheit und die Interessen der Fahrgäste vertreten und in die Sicherung der Dienstleistungsqualität einbringen. An der Sicherung der Dienstleistungsqualität des ÖPNV sind also nicht zwei Akteure (Anbieter und Kundschaft), sondern mehr (u. a. Anbieter, Aufgabenträger und Kundschaft) betei-ligt.

Dienstleistungsqualität

Dienstleistungsqualität bezeichnet den Grad, mit dem ein Angebot oder eine Leis-tung das vom Auftraggeber oder der Kundschaft erwartete Ziel erreicht. Im Fall der Nahverkehrsplanung bezieht sich Dienstleistungsqualität auf die erreichte Qualität der Verkehrsdienstleistung, vor allem aus Sicht des Fahrgastes und der Allgemeinheit, die beide vom Aufgabenträger vertreten werden.

(16)

Abbildung 3:

Qualitätskreislauf nach DIN-EN 13816

Eigene Darstellung nach DIN-EN 13816

Abbildung 4:

Erweiterter Qualitätskreislauf für den ÖPNV

(17)

In der Norm DIN-EN 13816 wird Dienstleistungsqualität definiert als „Reihe von Qualitätskriterien und geeigneten Maßnahmen, für die der Dienstleistungsanbieter [...] verantwortlich ist.“ Der Begriff „Dienstleistungsqualität“ wird teilweise synonym mit „Servicequalität“ verwendet, was ungenau ist, da Service im öffentlichen Nah-verkehr nur einen Teil des Produktes umfasst.

Für den öffentlichen Verkehr unterscheidet die DIN-EN 13816 vier „Qualitätssicht-weisen“. In Abbildung 3 ist das Verhältnis zwischen Fahrgästen und Verkehrsun-ternehmen dargestellt, wenn das VerkehrsunVerkehrsun-ternehmen aus eigenem Interesse Qualitätskontrollen durchführt.

Die erwartete Dienstleistungsqualität ist der Qualitätsanspruch der Fahrgäste. Im Sinne moderner Qualitätsphilosophien stellt die erwartete Dienstleistungsqualität den zentralen Maßstab dar.

Aus Sicht des Anbieters – also des Verkehrsunternehmens – werden die ange-strebte und die erbrachte Dienstleistungsqualität unterschieden. Die angeange-strebte Dienstleistungsqualität beschreibt das Qualitätsniveau, das das Unternehmen erreichen will. Dieses Qualitätsniveau kann intern vom Unternehmen festgelegt oder mit dem Aufgabenträger vertraglich vereinbart sein. Die angestrebte Dienst-leistungsqualität stellt einen Abgleich zwischen der von den Fahrgästen erwarte-ten Qualität und den zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie sonstigen Rah-menbedingungen dar. Hinsichtlich der angestrebten Qualität müssen jeweils die Leistung und das Niveau, mit dem diese Leistung realisiert werden soll, darge-stellt und ein Schwellenwert definiert werden, ab dem die Dienstleistung als nicht ausreichend erbracht gilt und Korrekturmaßnahmen ergriffen werden müssen (vgl. DIN-EN 13816: 7).

Die erbrachte Qualität ist die vom Verkehrsunternehmen „im jeweiligen Tagesge-schäft erreichte Qualitätsstufe“ (DIN-EN 13816: 7). Bei ihrer Messung ist die Sicht der Fahrgäste einzunehmen. Der Vergleich von erwarteter und erbrachter Dienst-leistungsqualität zeigt die Leistungsfähigkeit des Anbieters.

Die erbrachte Dienstleistungsqualität wird vom einzelnen Fahrgast jedoch nicht objektiv wahrgenommen. Er nimmt nur einen Ausschnitt der Leistung wahr. Diese subjektiv erlebte Leistung wird mit dem Begriff „wahrgenommene Dienstleistungs-qualität“ bezeichnet. Diese kann mit der vom Fahrgast explizit oder implizit erwar-teten Dienstleistungsqualität verglichen werden. Sie ist der Maßstab der Kunden-zufriedenheit.

Im erweiterten Qualitätskreislauf ist zusätzlich der Aufgabenträger als politische Instanz dargestellt (Abbildung 4). Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass der Aufgabenträger als Besteller von Verkehrsdienstleistungen sowohl das Angebot mit gestaltet, als auch „als Kunde des Verkehrsunternehmens auf dem ÖPNV-Markt anzusehen“ ist (FGSV 2006a: 6).Abbildung 4 stellt das Verhältnis zwischen Fahrgästen, Aufgabenträger, Allgemeinheit und Verkehrsunternehmen dar. Der Aufgabenträger bestimmt mit der Definition der ausreichenden Verkehrsbedienung die vorgegebene Dienstleistungsqualität. Dabei sollte der Aufgabenträger die von den Fahrgästen wahrgenommene und erwartete Dienstleistungsqualität sowie die ergänzenden Anforderungen der Allgemeinheit berücksichtigen. Zu letzteren ge-hören die Wirtschaftlichkeit des ÖPNV, der Beitrag des ÖPNV zur Qualität des Gesamtverkehrssystems und der Funktionsfähigkeit der Städte und Regionen, die

(18)

2.4.2

Stärkung von Zentren und Umwelteffekte. Anschließend sollte der Aufgabenträger die von ihm gewünschte (vorgegebene) Dienstleistungsqualität vertraglich mit dem Verkehrsunternehmen vereinbaren, um die Übereinstimmung der vom Un-ternehmen angestrebten Qualität mit seinen Vorgaben zu sichern.

Qualitätsmanagement

Allgemein können unter Qualitätsmanagement „alle Tätigkeiten zum Leiten und Lenken einer Organisation (...) verstanden [werden], die sich auf die Qualität der Prozesse und Produkte beziehen.“ (FGSV 2007: 7).

Soll ein Qualitätsmanagement durchgeführt werden, so müssen nach DIN-EN 13816 unter anderem sicher gestellt werden dass: (DIN-EN 13816: 9)

1. die expliziten und impliziten Erwartungen der Fahrgäste an die Qualität des ÖPNV identifiziert werden,

2. rechtliche, politische, finanzielle, technische und andere Sachzwänge be-rücksichtigt werden,

3. bestehende Qualitätsstufen und Bereiche, in denen Verbesserungen erfol-gen können, ermittelt werden,

4. die Ziele unter Berücksichtigung der genannten Punkte definiert werden,

5. die Leistung gemessen wird,

6. Korrekturmaßnahmen ergriffen werden,

7. die Wahrnehmung der erbrachten Leistung durch die Fahrgäste ermittelt wird,

8. geeignete Aktionspläne vorbereitet und durchgeführt werden, um den Un-terschied zwischen erbrachter und wahrgenommener Qualität sowie zwi-schen erwarteter und wahrgenommener Qualität verringert werden.

Zusätzlich sollte der Aufgabenträger die weiteren Interessen der Allgemeinheit berücksichtigen (siehe oben).

a) Zum Verhältnis von Nahverkehrsplan und Qualitätsmanagement

Sowohl im Nahverkehrsplan als auch im Qualitätsmanagement ist es sinnvoll, konkrete Anforderungsprofile zu definieren. Um Widersprüche zwischen den An-forderungen des Nahverkehrsplans und den AnAn-forderungen der Qualitätssiche-rung zu vermeiden, sollte sich die Auswahl der Messgrößen und der angestrebten Standards des Qualitätsmanagements am Nahverkehrsplan orientieren. So wird gleichzeitig sichergestellt, dass die Standards politisch legitimiert sind.

Bei der Abstimmung der Anforderungen des Nahverkehrsplans und des Quali-tätsmanagements ist gleichzeitig zu berücksichtigen, dass nicht alle Anforderun-gen eines Nahverkehrsplans von Verkehrsunternehmen beeinflussbar sind. So können z. B. Verspätungen im Busverkehr, die durch zu knapp kalkulierte Fahr-zeugumläufe verursacht werden, vom einzelnen Verkehrsunternehmen beeinflusst werden. Nicht direkt beeinflusst werden, können dagegen Verspätungen, die durch hoch belastete Verkehrswege oder Wartezeiten auf verspätete Fahrzeuge anderer Verkehrsunternehmen entstehen.

(19)

Schließlich sollten die Qualitätskriterien und Standards mit benachbarten und ü-bergeordneten Aufgabenträgern abgestimmt bzw. Regeln über die gegenseitige Anerkennung oder Ausnahmen vereinbart werden.

Zur Vorbereitung der politischen Entscheidung über die zu verfolgenden Ziele und Standards und zur Verbesserung der Umsetzungswahrscheinlichkeit der geplan-ten Maßnahmen, empfiehlt sich ein planerisches Vorgehen in mehreren Phasen. Ein „guter Planungsprozess“ wie er in Kapitel 5 (ab Seite 48) dargestellt wird, er-höht die Chancen für einen guten ÖPNV.

(20)

3

Demographischer Wandel und ÖPNV

Die wesentlichen Bestimmungsgrößen der Bevölkerungsentwicklung sind Verän-derungen der Lebenserwartung, der Geburtenrate und WanVerän-derungen. Die seit Langem in Deutschland steigende Lebenserwartung und eine Geburtenrate, die deutlich unterhalb der Reproduktionsrate liegt, führen zu einem veränderten Al-tersaufbau der Bevölkerung mit einem höheren Anteil älterer sowie einem gerin-geren Anteil jüngerer Menschen. Parallel sinkt die Bevölkerungszahl, sofern nicht stärkere internationale Zuwanderungsströme als bisher erwartet diesen Rückgang kompensieren. Infolge kontinuierlicher Zuwanderung aus dem Ausland bei gleich-zeitigem Rückgang der ansässigen Bevölkerung steigt der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Diese drei Elemente werden mit der Kurzform „weniger, älter, bunter“ charakterisiert und unter dem Begriff des „demographischen Wan-dels“ zusammengefasst. Diese Prozesse verlaufen regional unterschiedlich und stellen damit Städte, Gemeinden und Regionen vor unterschiedliche planerische Herausforderungen.

3.1

Räumliche Strukturen des demographischen

Wan-dels

Insgesamt erwarten die aktuellen Bevölkerungsprognosen bis 2025 nur einen ge-ringen Rückgang der Einwohnerzahl von 2 % gegenüber 2005. Die Anzahl der Menschen ab 60 Jahren soll dabei um 5,8 Mio. (+28 %) steigen, während die jün-geren Altersgruppen deutlich abnehmen (unter 20 Jahre: -3,2 Mio., -20 % und 20 bis unter 60 Jahre: -4,2 Mio., -9 %) (eigene Berechnungen nach BBR 2008: 8). Dabei wird die Anzahl älterer Menschen in allen Teilräumen deutlich zunehmen. Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung von Teilräumen wird stark be-stimmt durch die wanderungsgeprägten Veränderungen in den anderen Alters-gruppen. Räumlich differenzieren sich diese Entwicklungen teilweise deutlich (im Weiteren vor allem BBR 2008):

− Der Rückgang der Bevölkerung betrifft die neuen Länder stärker als die alten Länder. Dabei wird der Anteil älterer Menschen auch aufgrund der Abwande-rung Jüngerer stark zunehmen.

− In peripheren Räumen werden sich der Rückgang der Bevölkerung und der Prozess der Alterung stärker vollziehen als in städtisch geprägten Räumen. Auch hier trägt die Abwanderung jüngerer Menschen aus den peripheren Räumen zu einer besonders starken Zunahme des Anteils der höheren Al-tersgruppen bei.

− In wirtschaftlich prosperierenden Räumen verbleibt eine kleiner werdende Gruppe von Städten und Gemeinden, die noch mit teils kräftigem Bevölke-rungswachstum rechnen können. Hier werden der Sterbeüberschuss der Wohnbevölkerung und die Alterung durch nationale und internationale Zu-wanderung teilweise überkompensiert.

(21)

Abbildung 5:

Der Demographische Wandel im Raum bis 2025

(22)

3.2.1

− Die internationale Zuwanderung konzentriert sich auf die alten Länder, vor allem auf wirtschaftlich prosperierende Räume und die Kernstädte.

− Die Suburbanisierung schwächt sich ab. Eine Umkehrung dieses jahrzehnte-langen Prozesses im Sinne des Stichworts „Reurbanisierung“ ist bisher un-gewiss. Eine Rückkehr Älterer aus dem Stadtrandbereich in die Kernstädte in nennenswertem Umfang ist bisher nicht erkennbar. Vielmehr erscheint das negative Wanderungssaldo der Kernstädte in der Altersgruppe ab 60 Jahren relativ stabil. Dagegen ist das positive Wanderungssaldo der Kernstädte in der Phase der bildungs- und arbeitsplatzbedingten Umzüge in den letzten Jahren immer stärker ausgefallen. Das negative Wanderungssaldo in den Folgejahren hat dagegen abgenommen. (Hahn 2009: 83 ff.)

− In suburbanen Räumen wird der Anteil älterer Menschen stärker wachsen als in den Kernstädten. Hier „altern“ vor allem die homogenen Siedlungsbe-reiche der 1960er bis 1980er Jahre, in denen viele ältere Menschen mög-lichst lange verbleiben („aging in place“).

Diese Prozesse können regional und auch kleinräumig sehr unterschiedlich aus-fallen. Es empfiehlt sich daher im Rahmen der Nahverkehrsplanung einen mög-lichst konkreten Überblick über die zu erwartende Bevölkerungsentwicklung im Planungsraum zu gewinnen. Empirische Grundlagen hierfür können auf der Ebe-ne von RegioEbe-nen und Gemeinden in der Regel den Bevölkerungsprognosen der Statistischen Landesämter entnommen werden. Kleinräumigere Entwicklungen, zum Beispiel starke Alterungsprozesse in homogenen Siedlungsbereichen, las-sen sich meist aus Ortskenntnis und in Rücksprache der Aufgabenträger mit der übrigen planenden Verwaltung gewinnen. Einen großräumigen Überblick gibt Abbildung 5.

Die Entwicklungslinien des demographischen Wandels haben für die Gestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs unterschiedliche Folgen. Thematischer Schwerpunkt dieses Leitfadens sind die Anforderungen älterer Menschen (vgl. Kapitel 4, Seite 28). Im Folgenden sollen einige darüber hinausgehende Hinweise im Kontext des demographischen Wandels und weiterer absehbarer Veränderun-gen gegeben werden.

3.2

Folgen des demographischen Wandels für den

ÖPNV

Die verschiedenen Aspekte des demographischen Wandels haben unterschiedli-che, teils einander kompensierende, teils einander verstärkende Folgen für den öffentlichen Personennahverkehr.

Rückgang der Einwohnerzahl

Zurückgehende Einwohnerzahlen senken die Zahl potenzieller Nutzer von priva-ten und öffentlichen Einrichtungen und Angebopriva-ten. Dies kann die Zahl der Fahr-ten mit dem ÖPNV verringern. Entsprechendes gilt auch für die Nachfrage nach anderen privaten und öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. Die jeweiligen Anbieter geben unter Umständen in der Folge Dienstleistungen und Standorte auf

(23)

3.2.2

3.2.3

und tragen so zu weiteren Distanzen im Einkaufs-, Freizeit-, Ausbildungs- und Berufsverkehr.

Zunahme der Anzahl älterer Menschen und steigende

Moto-risierung

Auch in Räumen mit stärkerem Bevölkerungsrückgang wird in der Regel die An-zahl älterer Menschen zunehmen. Ihre zukünftige ÖPNV-Nachfrage wird ent-scheidend von der Pkw-Verfügbarkeit im Alter abhängen. Aufgrund von Kohorten-effekten ist mit einem weiteren Anstieg der privaten Motorisierung in den höheren Altersgruppen zu rechnen. Damit werden ältere Menschen zukünftig in geringe-rem Maße vom ÖPNV abhängig sein (vgl. Beckmann, Holz-Rau, Rindsfüßer, Scheiner 2005: 65). Dieser wird vor allem von älteren Frauen getragen, während die meisten Männer in höheren Altersgruppen bereits jetzt über einen Pkw verfü-gen. Diese Entwicklung kann aus zwei Gründen abgeschwächt verlaufen:

− Mit einem höheren Anteil älterer Autofahrerinnen und Autofahrer erscheinen Fahrtauglichkeitsprüfungen im Alter wahrscheinlicher. Dies würde den Anteil älterer Menschen mit Pkw gegenüber der bisherigen Entwicklung senken.

− Der Anteil älterer Menschen mit geringen Altersbezügen wird absehbar stei-gen. Auch dies kann zu einer frühzeitigeren Abkehr vom Pkw beitrastei-gen. Neben diesen Entwicklungen wird die Nachfrage im ÖPNV in der Gruppe der Äl-teren entscheidend durch die Qualität der ÖPNV-Angebote bestimmt. Den An-sprüchen älterer Menschen angepasste ÖPNV-Angebote werden vor allem in Ka-pitel 6 (ab Seite 57) beschrieben.

Rückgang der Schülerzahlen

Insbesondere in den suburbanen und ländlichen Räumen, am stärksten in den neuen Ländern, ist mit einem deutlichen Rückgang der Schülerzahlen zu rechnen. Gerade hier hat aber der Schülerverkehr eine besondere Bedeutung für den ÖPNV. In manchen Kreisen beträgt der Anteil des Schülerverkehrs am ÖPNV 90 %. Eine sinkende Anzahl von Schülern wird die Zahl der Schulwege verringern. Jedoch ist andererseits die Zusammenlegung von Schulen absehbar. Dies würde die Distanzen im Schülerverkehr erhöhen und den Nachfragerückgang abschwä-chen. Das aktuelle Modellvorhaben der Raumordnung „Regionalplanerische Handlungsansätze zur Gewährleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge“ zeigt, dass die erhöhten Wegekosten die Einsparungen durch Schulschließungen deut-lich verringern können (Gutsche et al. 2008: 133 ff.). Weitere Veränderungen der Schullandschaften, wie die Einführung von (offenen) Ganztagsschulen und ver-stärkte Kooperationen von Schulen, können die Verkehrszeiten verlagern und die Zahl der Wege zwischen einzelnen Bildungseinrichtungen erhöhen.

All dies erfordert eine enge, häufig nicht einfache Abstimmung der Planungen der Schulträger und der ÖPNV-Aufgabenträgern. Je nach örtlicher Situation sind un-terschiedliche Lösungen zu entwickeln, um einerseits die Länge der zurückzule-genden Wege für die Schülerinnen und Schüler verträglich zu halten und ande-rerseits wirtschaftliche Verkehrsströme zu schaffen. Dazu kann es sowohl nötig

(24)

3.2.4

sein, Verkehre zu räumlich zu und zeitlich zu konzentrieren als auch sie besser zu verteilen.

Möglich sind:

− die Staffelung der Zeiten von Unterrichtsbeginn und –ende

− die zeitliche Konzentration oder Verteilung von Nachmittagsunterricht gege-benenfalls auch in Kombination mit außerschulischen Aktivitäten und Ver-sorgungszeiten.

− die Öffnung des Schülerverkehrs für den allgemeinen Verkehr

Schließlich können durch neue Fahrzeug-Konzepte je angepasste Kapazitäten zur Verfügung gestellt und somit die Betriebskosten gesenkt werden (vgl. Abbildung 6).

Abbildung 6: Kleinbus mit Anhänger

Photo: Verkehrsbetrieb Hüttebräucker GmbH, Leichlingen

Rückgang der Zahl Erwerbstätiger

Nach den derzeitigen Prognosen wird die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähi-gen Alter abnehmen. Allerdings wird dies hinsichtlich der Zahl der Erwerbstätierwerbsfähi-gen zumindest teilweise kompensiert durch längere Lebensarbeitszeiten – höheres Renteneintrittsalter und eine geringere Zahl von Frühverrentungen – und einen zunehmenden Anteil der Frauenerwerbstätigkeit. Mittelfristig und in der Summe ist daher nur mit einem relativ geringen Rückgang des Berufsverkehrs zu rechnen, teilweise jedoch mit deutlichen regionalen Unterschieden. Aber auch ein Rück-gang der ÖPNV-Nachfrage im Berufsverkehr führt nicht zwingend zu einer Schwächung des ÖPNV. Scheiner verweist dazu auf abnehmende Spitzenbelas-tungen und damit verbundene mögliche Einsparungen (Scheiner 2006a: 36). Mög-liche Ansätze im Umgang mit einer Abnahme der ÖPNV-Fahrten im Berufsverkehr sind beispielsweise:

− Frei werdende Kapazitäten zu den Spitzenzeiten werden abgebaut, um Kos-ten zu sparen.

(25)

3.2.5

3.2.6

− Eingesparte Mittel werden für Angebotsverbesserungen im Freizeitverkehr und für andere Nutzergruppen genutzt.

− Durch Mobilitätspläne für Unternehmen, Job-Tickets und Mobilitätsberatun-gen werden die ÖPNV-Fahrten im Berufsverkehr stabilisiert oder erhöht.

Suburbanisierung, Zunahme der Distanzen und disperse

Quell-Ziel-Beziehungen

Die Entwicklung suburbaner Wohnstandorte erhöht den Verkehrsaufwand (Holz-Rau, Scheiner 2004b: 345; ähnlich FGSV 2006b: 18) Auch bei einer abge-schwächten Suburbanisierung wird die räumliche Entwicklung in hohem Maße verkehrsabhängig bleiben. Die verbleibenden Suburbanisierungstendenzen selbst und ihre Verbindung mit anderen Veränderungen der Nachfragemuster (zuneh-mende Spezialisierung in Beruf und Ausbildung, differenziertere Ansprüche in Versorgung und Freizeit) führen zu längeren Distanzen und dispersen Verflech-tungen. Dabei können bisher auto-orientierte Bewohnerinnen und Bewohner in Siedlungsbereichen mit schlechten Versorgungsangeboten im Alter vom ÖPNV abhängig werden, wenn sie das Pkw-Fahren reduzieren oder aufgeben müssen.

• Seitens des ÖPNV lässt sich hierauf mit flexiblen Bedienungsformen zur Sicherung eines Mindestangebots reagieren. Je nach Siedlungsdichte soll-ten angepasste Bedienungskonzepte entwickelt werden (hierzu BMVBS/BBSR 2009a). Eine attraktive Alternative zum Pkw stellen diese Angebote jedoch nur in Ausnahmefällen dar.

• Eine wesentliche Bedeutung kommt hier der räumlichen Planung zu, die wesentlichen Einfluss auf die Verflechtungsmuster nehmen kann. Gerade in Räumen mit sinkender Einwohnerzahl können Strategien eines an den Verkehrsangeboten orientierten Rückbaus zu ÖPNV-affineren und ver-kehrssparsameren Strukturen führen.

• Mit barrierefreien Wohnungen in Orts- und Stadtteilzentren können Wohn-alternativen für ältere Menschen aus Siedlungen mit schlechten Versor-gungsangeboten geschaffen werden, ohne dass diese ihren angestamm-ten Ort oder Stadtteil verlassen müssen.

• Anbieter von Dienstleistungen der medizinischen Versorgung und Pflege sollten auf die Bedeutung der Nähe des ÖPNV hingewiesen werden, um diese Angebote an Standorten guter ÖPNV-Erreichbarkeit zu konzentrie-ren.

„Aging in Place“ - „Aging of the Place“

„Aging in Place“ bezeichnet das Verbleiben der Bevölkerung im Alter an ihrem gewohnten Wohnstandort. Aufgrund dessen kann gleichzeitig von einem „Aging of the Place“ gesprochen werden. Diese Entwicklung wird für viele Siedlungseinheit, die in einem kurzen zeitlichen Kontext entwickelt wurden, zu einer kritischen Pha-se führen (Huber, Baum 2005: 164). Die gleichzeitige Bezugszeit der Bewohner gleichartiger Wohneinheiten lässt sie ähnliche Lebensabschnitte gleichzeitig durchlaufen: Nach der Familienphase ziehen die Herangewachsenen weg. Diese

(26)

3.2.7

3.2.8

Abwanderung und Sterbefälle können die Nachfrage nach Diensten und Versor-gungseinrichtungen so weit senken, dass die Tragfähigkeit der örtlichen Infrastruk-tur gefährdet ist. Betroffen sind vor allem nicht sanierte Siedlungen der 1950er/1960er Jahre und Großwohnsiedlungen der 1970er/1980er Jahre (Huber, Baum 2005: 166). Auch für Einfamilienhausgebiete sind solche Entwicklungen möglich (vgl. Rosenbohm 2006). Die Folgen des „Aging in Place“ für den ÖPNV fallen je nach Größe, Baustruktur und benachbarten Gebieten unterschiedlich aus. So können benachbarte Siedlungen in anderen Altersphasen die Entwicklung kompensieren, benachbarte Siedlungen in der gleichen Phase die Entwicklung verstärken.

Um die jeweilige Entwicklung von Siedlungseinheiten und Stadtteilen im Pla-nungszeitraum eines Nahverkehrsplans abzuschätzen, sollten vorhandene Fort-schreibungen der Einwohnerentwicklung und Altersstruktur genutzt werden. Dabei ist es nicht unbedingt notwendig, das Alter detailliert zu erheben. In der Regel wird es ausreichen ohne detaillierte Prognose Gebiete mit besonderen Alterungs-prozessen zu identifizieren und entsprechend zu berücksichtigen. Teilweise sind entsprechende Daten und Wissen bei den jeweils zuständigen Fachverwaltungen vorhanden. Sie sollten bei der Planung des Nahverkehrs unbedingt zu Rate gezo-gen werden.

Internationale Zuwanderung

Die Kernstädte und städtischen Räume sind die vorrangigen Zielgebiete internati-onaler Zuwanderung. Da (ältere) Migranten und Migrantinnen seltener einen Füh-rerschein besitzen und seltener Auto fahren, stellen sie eine mögliche Nutzer-gruppe für den ÖPNV dar (Limbourg, Matern 2008: 360 ff.).

• Ein Grund für die Unsicherheit von (älteren) Menschen mit Migrationshin-tergrund sind Informationsdefizite. Zentrale Informationsangebote und Me-nüführungen von Automaten sollten auch in den Sprachen der wichtigsten Zuwanderergruppen angeboten werden.

• Um sprachliche und kulturelle Barrieren zu überwinden sind Einrichtungen und Initiativen ethnischer Gruppen geeignete Kooperationspartner (vgl. Praxistipp 6.3: Beispiel Birmingham).

Defizite in der Bestandserhaltung

Zudem verschärfen steigende Defizite in der Bestandserhaltung, beim Betrieb von Verkehrsnetzen und anderer öffentlicher Infrastruktur den Handlungsdruck zur Anpassung durch Schließung und Rückbau (vgl. Winkel, Greiving 2007: 12 f.). Diese Situation ist speziell für den schienengebundenen öffentlichen Verkehr problematisch: Die spezifischen Ersatz- und Erhaltungskosten der Infrastruktur und damit die Kosten des ÖPNV-Angebotes pro Kopf wachsen. Einsparungen sind aber kaum bei der Infrastruktur, sondern nur im Betrieb durch Einschränkung des Angebotes möglich. Dies ist „umso problematischer“, „da gegenwärtig auch in Schrumpfungsregionen noch weiterer Infrastrukturausbau betrieben wird“. (FGSV 2006b: 16; ähnlich Huber, Baum 2005: 165). Aufgabenträger sollten Infrastruktur-ausbau nur betreiben, wenn eine sachgerechte Bestandserhaltung gesichert ist.

(27)

3.3

Zusammenfassung

Die unterschiedlichen Aspekte des demographischen Wandel unterscheiden sich zwischen den neuen und alten Bundesländern, zwischen peripheren und städ-tisch geprägten Räumen, zwischen Suburbia und den Kernstädten. Aber auch innerhalb dieser Raumeinheiten kann es beispielsweise zwischen benachbarten Quartieren zu deutlichen Unterschieden der Bevölkerungsentwicklung kommen. Hier steht die Nahverkehrsplanung vor der Aufgabe zunächst die regionalen und lokalen Entwicklungen zu recherchieren und im Hinblick auf die Verkehrskonse-quenzen zu analysieren.

Die Planung von Raum und Verkehr wird sich zukünftig überwiegend mit beste-henden Infrastrukturen, deren Betrieb, Erhaltung oder Rückbau beschäftigen. Raum und Verkehr müssen integrativ und über die Grenzen von Ressorts und Gebietskörperschaften hinweg organisiert werden. Der demographische Wandel verlangt einen „Paradigmenwechsel vom gesteuerten Wachstum zum gestalteten Umbau“ (BBR 2008: 7). Erhalt und Qualifizierung des Bestandes sind wichtiger als Neu- und Ausbau. In der Diskussion über weitere Infrastrukturinvestitionen müs-sen die möglichen Veränderungen der Nachfrage über die gesamte Lebensdauer des Vorhabens berücksichtigt werden (vgl. Beckmann et al 2005: 67 f.).

In praktisch allen Räumen ist mit einer wachsenden Anzahl älterer Menschen zu rechnen. Daneben ist zu berücksichtigen, dass die Abnahme von Schülerinnen und Schülern sowie in wirtschaftlich schwächeren Räumen auch der Erwerbstäti-gen das Nachfragepotenzial und die Einnahmemöglichkeiten der Verkehrsunter-nehmen senken kann. Dies macht es für den ÖPNV erforderlich, die an Bedeu-tung gewinnende Gruppe älterer Menschen als wichtige Zielgruppe zu betrachten. Da diese voraussichtlich in Zukunft zu noch höheren Anteilen als zurzeit über ei-nen Pkw verfügen werden, setzt dies besondere Anstrengungen voraus.

(28)

4

Ältere Menschen und ÖPNV

In den kommenden Jahrzehnten werden in allen Teilräumen Deutschlands die Anzahl und der Anteil älterer Menschen zunehmen. Ihre Ansprüche an den ÖPNV werden durch gesundheitliche, private, altersbedingte, soziale und wirtschaftliche Bedingungen geprägt. Gerade ältere Menschen stellen aufgrund der Vielfalt ihrer Lebenssituationen - von den gut situierten, fitten und anspruchsvollen Senioren bis zu den gesundheitlich und finanziell stark eingeschränkten älteren Menschen - sehr unterschiedliche Anforderungen an den ÖPNV. Diese Vielfalt der Anforde-rungen älterer Menschen wird in den untersuchten Nahverkehrsplänen bisher kaum berücksichtigt. Ältere Menschen werden meist nur im Zusammenhang mit dem Thema Barrierefreiheit angesprochen (BMVBS 2010: 47 f., 55 ff. und 105 ff.). Der ÖPNV trägt bei älteren wie jüngeren Fahrgästen zur individuellen Beweglich-keit bei. Aber gerade bei älteren Menschen kann das ÖPNV-Angebot eine selbst-ständige Lebensführung erleichtern oder sogar erst ermöglichen. Die Kernbegriffe sind Mobilität und Erreichbarkeit.

Mobilität ist individuelle Beweglichkeit. Sie hängt ab von den persönlichen

Fähig-keiten und den Verkehrsbedingungen, insbesondere (Abb. 7):

− von den persönlichen Verkehrskompetenzen (zum Beispiel körperliche und kognitive Fähigkeiten zum Gehen, Rad- und Autofahren sowie zur Nutzung des ÖPNV),

− von individuellen verkehrsrelevanten Ressourcen (zum Beispiel Fahrrad- oder Autobesitz, Einkommen),

− von den ÖPNV-Angeboten (zum Beispiel Netzstruktur, Bedienungszeiten, Ta-rifen) sowie

− von weiteren nutzerrelevanten Bedingungen (zum Beispiel Barrierefreiheit, Qualität der Zu- und Abgangswege, Möglichkeiten zum Ausruhen).

Auch der Alltag älterer Menschen wird geprägt durch Aktivitäten außer Haus, durch Einkäufe, Arztbesuche, Spaziergänge und soziale Kontakte. Dies setzt Mo-bilität voraus, aber auch die konkrete Erreichbarkeit der jeweiligen Ziele.

Erreichbarkeit aus Sicht der Personen ist die Möglichkeit zu Aktivitätsorten zu ge-langen. Sie basiert:

− auf der individuellen Mobilität (Verkehrsbedingungen und –kompetenzen)

− auf der räumlichen Verteilung der Gelegenheiten einschließlich ihrer Einbin-dung in die Verkehrsangebote

− auf weiteren nutzerrelvanten Bedingungen (zum Beispiel der Barrierefreiheit der Angebote).

(29)

Aktiv und selbständig Teilhabe und Teilnahme

Verkehrs-angebote Gelegenheiten im Raum Verkehrskompetenzen und -ressourcen

Abbildung 7: Bedingungen zur Teilhabe

Eigene Darstellung

Aktivitäten außer Haus setzen Ortsveränderungen, also Verkehr voraus. Diese Ortsveränderungen sind „Mittel zum Zweck“. Sie sind realisierte Beweglichkeit und in der Regel realisierte Erreichbarkeit. Sie bilden eine wesentliche Grundlage von Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Mobilität, Erreichbarkeit und ihre Realisierung als Ortsveränderungen sind wesentliche Voraussetzungen von Zufriedenheit, Selbstständigkeit und Selbstwertgefühl im Alter. Gleichzeitig fördern Aktivitäten außer Haus und damit die verbundene Bewegung gerade bei älteren Menschen Beweglichkeit und Gesundheit. Umgekehrt erfahren ältere Menschen Einschränkungen ihrer Mobilität und damit ihrer Aktivitäten häufig aus gesundheitlichen Gründen, aber auch durch Mängel der Verkehrsangebote und durch fehlende Gelegenheiten im für sie erreichbaren Raum.

Selbstständige Mobilität ist eine zentrale Voraussetzung für Lebensqualität: Die Möglichkeit ohne individuelle Unterstützung anderer Menschen verschiedene Orte aufsuchen zu können, ist zentral für Selbstwert, Selbstständigkeit, Selbstverwirkli-chung und die Realisierung sozialer Kontakte mit Freunden, Familie, Bekannten sowie generell für gesellschaftliche Teilhabe. Insbesondere Wege zu Fuß spielen für die Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit, Gesundheitsvorsorge sowie sozia-ler Kontakte eine wichtige Rolle (vgl. Kasper, Scheiner 2005). Neben Fußwegen wird als Verkehrsmittel dem ÖPNV eine besonders hohe Bedeutung beigemes-sen. Zusätzlich sind eine nahräumliche Versorgung mit Geschäften, sozialen Diensten etc., sowie familiäre und nachbarschaftliche Hilfestellungen besonders wichtig (BMVBS 2010: 129 ff.).

Im Mittelpunkt der (Nah-)Verkehrsplanung steht damit der Alltag der Menschen, ihre Aktivitäten, ihre Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in allen Lebensphasen. Dabei kann der ÖPNV einen wesentlichen Beitrag leisten für ein aktives Leben im Alter. Als Leitsatz lässt sich formulieren: „Aktiv und selbstständig

bis ins hohe Alter.“ Dies setzt in der Planung voraus, die spezifischen

Lebenssitu-ationen und Anforderungen älterer Menschen, insbesondere die Einschränkungen der Beweglichkeit im Alter, wahrzunehmen und zu berücksichtigen. In diesem Sin-ne hat die Sicherung der Mobilität breiter Bevölkerungsschichten, teilweise auch explizit älterer Menschen, bereits als Ziel Eingang in die ÖPNV-Gesetze zahlrei-cher Bundesländer gefunden (vgl. Tabelle 2, Seite 8).

(30)

4.1

Einschränkungen der Mobilität im Alter

In Nahverkehrsplänen werden ältere Menschen wenn überhaupt, dann fast aus-schließlich in Zusammenhang mit Barrierefreiheit, teilweise reduziert auf Barriere-freiheit von Haltestellen, Bahnsteigen und Fahrzeugen, angesprochen (BMVBS 2010: 47 f., 55 ff. und 105 ff.). Dabei sind für viele ältere Menschen nicht einzelne Barrieren unüberwindbar: Schwierigkeiten bereitet die Summe der vielfältigen in-dividuellen Herausforderungen. Von besonderer Bedeutung sind daher die großen Unterschiede innerhalb der Gruppe ältere Menschen (vgl. Holz-Rau, Kasper, Scheiner 2004: 189). Die unterschiedliche Verfügbarkeit materieller Ressourcen, regionale Differenzierungen, die soziokulturelle Einbettung älterer Menschen, ihre Wünsche und Präferenzen sowie schließlich der gesellschaftliche Wandel des Alterns lassen kaum generalisierende Aussagen zu. Die Verkehrsplanung thema-tisiert diese Vielfalt bisher wenig. Sie nimmt „ältere Menschen“ häufig als einheitli-che Zielgruppe wahr. Sieinheitli-cherlich sind diese vielfältigen Dimensionen für die vkehrsplanerische Praxis nur teilweise relevant. Von besonderer Bedeutung er-scheinen die jeweiligen Verkehrskompetenzen und –ressourcen und deren Beein-trächtigungen.

Das Altern ist mit dem Abbau von Leistungsfähigkeit verbunden, die zu geringerer physischer und geistiger Beweglichkeit führt. Dazu werden viele ältere Menschen von Ängsten belastet. Dabei verändern sich die Situationen älterer Menschen im Laufe des Alterns nicht linear. Es gibt Phasen der Stabilität, des allmählichen Kompetenzverlustes, plötzlichen Einbrüche, aber auch Phasen in denen neue Kompetenzen entwickelt oder verlorene wieder erlangt werden (Kasper 2007: 3 ff.).

Die Nahverkehrsplanung sollte diese Vielfalt erkennen und zur differenzierteren Auseinandersetzung zumindest drei Gruppen älterer Menschen prototypisch un-terscheiden:

1. fitte Ältere, deren Mobilität sich kaum, deren Ziele und Aktivitäten sich aber dennoch von der übrigen Bevölkerung unterscheiden,

2. Ältere mit leichten altersbedingten Beeinträchtigungen und Unsicherheiten bei der Nutzung von Verkehrsmitteln, die aber noch keine wesentliche Be-einträchtigungen erfahren,

3. Ältere mit körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen, deren An-forderungen an Verkehrsangebote denen anderer in ihrer Mobilität beein-trächtigten Menschen ähneln (Anforderungen an Barrierefreiheit, Lichtver-hältnisse, Beschilderungen usw.).

Hinzu kommen Differenzen in den finanziellen Ressourcen und der Pkw-Verfügbarkeit, die eng verbunden sind mit der Unterscheidung zwischen älteren Frauen und Männern sowie zwischen älteren Menschen mit und ohne Migrations-hintergrund.

Die Gesundheit ist die von älteren Menschen mit Abstand am häufigsten erwähn-te Einschränkung der eigenen Mobilität (Hieber et al. 2006: 63 f.). Daneben tragen eingeschränkte finanzielle Ressourcen, die Pflegebedürftigkeit von Familienange-hörigen, der Verlust von Freundinnen und Freunden oder Angehörigen zu Ein-schränkungen und zum Verzicht auf Aktivitäten. Ähnliche Effekte können von

(31)

feh-4.1.1

hörigen, der Verlust von Freundinnen und Freunden oder Angehörigen zu Ein-schränkungen und zum Verzicht auf Aktivitäten. Ähnliche Effekte können von feh-lenden Angeboten und schlechten Bedingungen am Wohnort und im Verkehrssys-tem ausgehen.

Einschränkungen des Körpers und der Sinne

Medizinisch gesehen treten im Alter folgende Gesundheitseinschränkungen be-sonders häufig auf (vgl. Cebulla 2007: 99 ff., Kocherscheid/Rudinger 2005: 22 ff.):

− Das Sehvermögen und die Sehschärfe lassen nach. Die Lichtbedürftigkeit steigt. Die Anpassung des Auges an die Dunkelheit ist verzögert und das Sehen in der Dämmerung eingeschränkt. Die Orientierungsfähigkeit und die Geschwindigkeitseinschätzung mit den Augen werden langsamer und neh-men ab. Die Abbildungen 9 bis 13 zeigen die Kreuzung der Abbildung 8 mit einigen im Alter häufigen Sehbehinderungen.

− Der Rückgang des Hörvermögens erschwert die akustische Orientierung und das Wahrnehmen von Motorengeräuschen, Signal- und Warntönen so-wie das Verstehen von Gesprochenem.

− Die Muskelkraft, die Knochenstärke und die Beweglichkeit gehen zurück. Die motorische Koordination wird schwieriger. Bei diesen Aspekten ist Trai-ning möglich. Alltägliche Wege können hierzu einen Beitrag leisten.

− Häufig auftretende gesundheitliche Probleme wie Arthrose (Abnutzung von Gelenkflächen), Herzkreislauferkrankungen oder neurologische Störungen schränken die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit ein.

− Im Alter häufiger verwendete Medikamente senken die Leistungsfähigkeit im Verkehr, was für die Betroffenen häufig nicht ersichtlich ist.

(32)

Abbildung 9: Kreuzung mit grünem Star (Glaukom) gesehen

Bild: Sehbehinderungs-Simulator des Allgemeinen Bilden- und Sehbehindertenvereins Berlin gegr. 1874 e. V (www.absv.de)

Abbildung 8: Straßenkreuzung, wie mit gesunden Augen gesehen

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Abbildung 10: Kreuzung mit Retinopathia Pigmentosa (auch Retinitis Pigmentosa) gesehen

Bild: Sehbehinderungs-Simulator des Allgemeinen Bilden- und Sehbehindertenvereins Berlin gegr. 1874 e. V (www.absv.de)

Abbildung 11: Kreuzung mit grauem Star (Katarakt) gesehen

(34)

Abbildung 12: Kreuzung mit Makula-Degeneration gesehen

Bild: Sehbehinderungs-Simulator des Allgemeinen Bilden- und Sehbehindertenvereins Berlin gegr. 1874 e. V (www.absv.de)

Abbildung 13: Kreuzung mit Diabetischer Retinopathie gesehen

(35)

digkeit, Schnelligkeit t im Alter. Das Altern

d Erfahrungswissen, Wortschatz und Sprachver-ständnis, die „kristalline Intelligenz“, mit dem Altern steigen. Sie wird erst im ho-hen Alter durch biologische Proz

07: 19). Ängste äußern sich auch darin,

der individuellen Beweglichkeit einschließlich der Verkehrskompetenzen ändern sich die relevanten Ziele und Aktivitäten und damit das realisierte Ver-kehrsv ältere Menschen ist der Austritt aus

dem Ber t sich stark und muss

4.2.1

Wichtige Ziele und Aktivitäten

dern und Parks (BMVBS 2010: 124 f.).

4.1.2

Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit und

Reakti-onsgeschwindigkeit

Die Intelligenzforschung fasst Fähigkeiten wie geistige Wen und Flexibilität als „fluide Intelligenz“ zusammen. Diese sink

verringert auch die Konzentrationsfähigkeit. Insbesondere in Situationen unter Zeitdruck verzögert sich die Reaktion, da mehrere Dinge nur begrenzt gleichzeitig verarbeitet und Entscheidungsprozesse verlangsamt werden. Verlangsamungen der Reaktionsfähigkeit werden von einem großen Teil der älteren Menschen selbst wahrgenommen (Limbourg, Matern 2008: 30 f.).

Dagegen können Allgemein- un

esse begrenzt.

4.1.3

Ängste

Ältere Menschen büßen auch durch Ängste Lebensqualität ein. Im Zusammen-hang mit Mobilität erleben je über 20 % der Befragten „die Angst vor Stürzen, die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, und die Angst vor Kfz-Lenkern“ (Haindl, Risser 2007: 19).3 Je über 10 % der Befragten fürchten sich davor gesto-ßen oder umgeworfen zu werden und davor, dass es ihnen in einer belebten Stra-ße schwindelig wird (Haindl, Risser 20

dass viele ältere Menschen, vor allem Frauen, vermeiden, bei Dunkelheit unter-wegs zu sein (Limbourg, Matern 2008: 33 ff.).

4.2

Verkehrsverhalten älterer Menschen

Neben

erhalten im Verlauf des Lebens. Für

ufsleben von zentraler Bedeutung: Der Alltag änder

neu strukturiert werden. Im Folgenden wird ein Überblick über das Verkehrsverhal-ten älterer Menschen gegeben.

Mit dem Eintritt in die Rente gehen für Erwerbstätige meist starke Veränderungen im Alltag einher: Das verfügbare Zeitbudget wird stark erweitert und die Berufs-wege entfallen. Der Alltag ist verkehrlich nun vor allem durch Versorgungs- und selbstbestimmte Freizeitwege geprägt (vgl. Kasper 2004a). Die wichtigsten Ziele für ältere Menschen sehen Expertinnen und Experten in den Bereichen medizini-sche Versorgung und Pflege, im Besuch von Familienmitgliedern, Freundinnen und Freunden, in kleineren Lebensmittelgeschäften sowie in Grünanlagen,

3

Im Forschungsprojekt SIZE wurden u. a. 3 309 Menschen über 65 Jahren in acht europäischen Ländern befragt. (www.size-project.at) (Haindl, Risser 2007)

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