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Immer mehr Menschen sind der Ansicht, dass die Wirtschaft in den entwickelten

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mmer mehr Menschen sind der Ansicht, dass die Wirtschaft in den ent- wickelten Ländern nicht zum Wohle der Arbeiter- und teilweise ebenso wenig zu dem der Mittelschicht funktioniert. Diese Auffassung wird vermut- lich nirgends so vehement vertreten, und das aus guten Gründen, wie in den Vereinigten Staaten – wo das Einkommen der Arbeiterschicht seit 1980 stag- niert, wo die Lebenserwartung fällt, wo die Ultrareichen weniger Steuern zahlen als Lehrer und einfache Angestellte, und wo junge Erwachsene ihr Erwerbsleben mit enormen Schulden beginnen.

Wie aber kam die Regierung eines Landes, das jahrzehntelang hohe Ein- kommen mit 90 Prozent besteuert hatte, Mitte der 1980er Jahre auf den Gedanken, dass stattdessen 28 Prozent besser wären? Wie kam es, dass Ronald Reagan an jenem 22. Oktober 1986 den Tax Reform Act durch seine Unterschrift in Kraft setzen konnte, womit die USA, die jahrelang Vorreiter bei der quasikonfiskatorischen Besteuerung hoher Einkommen gewesen waren, alsbald den niedrigsten Spitzensteuersatz in der industrialisierten Welt ansetzen würden? Und wie kam es, dass nach drei Wochen Plenarde- batte der Gesetzentwurf im Senat mit 97 zu 3 Stimmen angenommen wurde?

Denn die Demokraten Ted Kennedy, Al Gore, John Kerry und Joe Biden stimmten damals alle enthusiastisch mit Ja.

Dabei war das Gesetz in der Bevölkerung keineswegs sonderlich popu- lär. Aber man kann schwerlich übertreiben, auf welch hohe Begeisterung es unter den politischen und intellektuellen Eliten des Landes stieß. Für sie repräsentierte es den Triumph der Vernunft – den Sieg des Allgemeinwohls über das Eigeninteresse und den Beginn einer neuen Ära von Wachstum und Wohlstand. Mittlerweile gilt das Gesetz dagegen weithin als eine der Haupt- ursachen für die explosionsartige Zunahme der Ungleichheit. Und dennoch denken diejenigen, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren, bis heute gerne an jenen Moment zurück. Für die Parteigänger unter den Ökono- men an amerikanischen Universitäten kommt es einer beruflichen Verpflich- tung gleich, auf die Verdienste des Gesetzes hinzuweisen. Diese fundamen- tale Kehrtwende von 1986 spiegelt teilweise dramatische Veränderungen in

Wie die Ungerechtigkeit triumphierte

Von Emmanuel Saez und Gabriel Zucman

* Der Beitrag basiert auf dem dritten Kapitel von „Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert“, dem neuen Buch von Emmanuel Saez und Gabriel Zucman, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Übersetzung aus dem Englischen: Frank Lachmann.

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Politik und Ideologie wider, die zu Reagans Wahlsieg sechs Jahre zuvor bei- getragen hatten – und die in erheblichem Maße bis heute anhalten. Indem sie die Anti-Steuer-Rhetorik des Südens aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg reak- tiviert und ihr einen modernen Anspruch verliehen hatte, war es der Repu- blikanischen Partei gelungen, eine Allianz aus gut verdienenden Wählern im ganzen Land und weißen Südstaatlern zu schmieden. Die seit ihrer Grün- dung im Jahr 1947 von der Mont Pèlerin Society vertretenen Vorstellungen von einem schlanken Staat, verkörpert im Jahr 1964 durch den Präsident- schaftskandidaten Barry Goldwater und in den 1970er Jahren weiter verbrei- tet durch ein Netzwerk konservativer Stiftungen, hatten ihren Weg in den Mainstream gefunden und wurden zu den politisch vorherrschenden Ideen.

Die Regierung schützt das Eigentum

Nach dieser Ideologie besteht die primäre Aufgabe von Regierungen darin, Eigentumsrechte zu schützen. Der wichtigste Wachstumsmotor sind die nach Profitmaximierung strebenden Unternehmen, die ihre Steuerlast zu mini- mieren versuchen. Dieser Weltanschauung zufolge „gibt es so etwas wie die Gesellschaft nicht. Es gibt bloß individuelle Männer und Frauen“, so Reagans wichtigste Mitstreiterin, die britische Premierministerin Margret Thatcher.1 Für den atomisierten Einzelnen bedeutet Steuern zu zahlen einen Totalver- lust zu erleiden, der einem legalisierten Raub gleichkommt.

Und tatsächlich prangerte Reagan bei seiner Ansprache auf dem Rasen des Weißen Hauses, den Füller im Anschlag, ein Steuersystem an, das „uname- rikanisch“ geworden sei. Sein „steil progressiver Charakter“ habe „das wirt- schaftliche Leben des Einzelnen in seinem Innersten getroffen“. Das neue Gesetz sei dagegen „das beste Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen, das jemals aus dem Kongress der Vereinigten Staaten hervorgegangen ist“.2

Doch allein deswegen wäre Reagans Steuerreform wohl nicht durch den von den Demokraten kontrollierten Kongress gekommen – ganz zu schwei- gen davon, dass sie mit einer so überwältigenden Mehrheit im Senat ange- nommen worden wäre. Hinter ihrem Siegeszug steckte noch etwas anderes.

Sowohl Reagan als auch den Demokraten zufolge, die den Gesetzentwurf begrüßt hatten, blieb dem Gesetzgeber gar keine andere Wahl. Die Einkom- mensteuer war ein einziges Chaos, der Missbrauch hatte ungeheure Aus- maße angenommen. In dieser Situation blieb der Regierung angeblich nur eins: die Steuersätze senken und gleichzeitig Schlupflöcher schließen, um die geringeren Einnahmen wettzumachen. Der Tax Reform Act von 1986 ver- anschaulicht damit exemplarisch, wie ein System progressiver Besteuerung stirbt. Es geht nicht demokratisch zugrunde, es wird nicht vom Wählerwil- len zerlegt, sondern es wird bewusst zugrunde gerichtet. Wenn man sich die

1 Margaret Thatcher im Interview mit dem britischen Magazin „Woman‘s Own“ im September 1987, www.margaretthatcher.org/document/ro6689.

2 Ronald Reagan, Bemerkungen vor der Unterzeichnung des Tax Reform Act am 22. Oktober 1986, www.americanrhetoric.com.

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meisten der größten Rücknahmen progressiver Besteuerung ansieht, stößt man stets auf ein bestimmtes Muster: Als Erstes nimmt die Steuerumgehung massiv zu. Dann folgt die Klage von Regierungen, die Reichen zu besteuern sei unmöglich geworden. Anschließend werden deren Steuersätze gekürzt.

Diese Spirale zu begreifen – Wie kommt es überhaupt zur Steuervermei- dung? Und warum gebieten die Regierungen ihr nicht Einhalt? – ist entschei- dend, um die bisherige Geschichte der Steuern zu verstehen und um eine steuergerechtere Zukunft zu schaffen.

Der Preis für eine zivilisierte Gesellschaft

In der simplifizierten Welt der Ökonomen ist der Steuervollzug eine einfache Angelegenheit: Um sicherzustellen, dass die Menschen zahlen, muss man lediglich mit regelmäßigen Steuerprüfungen drohen, Steuerhinterzieher bestrafen und ein unkompliziertes Steuersystem ohne Schlupflöcher etablie- ren. Diese Dinge sind zweifellos wichtig und nötig. Wenn Steuerhinterzieher mit großer Wahrscheinlichkeit entdeckt werden und hohe Strafen zu erwar- ten haben, werden weniger Menschen betrügen. Weist die Steuergesetz- gebung hingegen zahlreiche Ausnahmen für Sonderinteressen auf, dann werden mehr und mehr Menschen den Fiskus zu umgehen versuchen.

In der wirklichen Welt aber braucht es mehr als unkomplizierte Gesetze und gewissenhafte Prüfer, damit die Besteuerung funktioniert. Nötig ist ein System geteilter Überzeugungen: dass kollektives Handeln Vorzüge hat (die Vorstellung, dass wir wohlhabender sind, wenn wir unsere Ressourcen bün- deln, statt isoliert zu handeln); dass dem Staat bei der Organisation dieses kollektiven Handelns eine zentrale Rolle zukommt; und dass die Demokratie wertvoll ist. Wenn diese Überzeugungen dominieren, kann sogar das pro- gressivste Steuersystem überdauern. Wenn sie sich aber nicht durchsetzen, werden die entfesselten und legitimierten Kräfte der Steuerumgehung selbst die raffiniertesten Steuerbehörden in die Knie zwingen und die beste Steuer- gesetzgebung aushebeln.

Diese Geschichte – zunächst die Akzeptanz und schließlich die Aufgabe des Glaubens an das kollektive Handeln – ist die des wahrscheinlich progres- sivsten Steuersystems der Weltgeschichte, einer Hinterlassenschaft des New Deal. Es besteuerte erfolgreich 30 Jahre lang die Reichen – nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich. Die 80- bis 90prozentigen Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer, die von den 1930er bis in die 1970er Jahre galten, betrafen zwar absichtlich nur wenige Personen. Doch wenn man alle Steuern zusammennimmt, überstiegen die effektiven Steuersätze für die sehr Wohl- habenden 50 Prozent. Die Steuerhinterziehung war unter Kontrolle.

In den 1930er Jahren entwickelte Franklin D. Roosevelt als Erster jene Strategie des Steuervollzugs, die Steuerhinterziehung und -vermeidung in den folgenden Jahrzehnten in Schach halten sollte. Er stattete die Bundes- steuerbehörde IRS mit den nötigen rechtlichen Befugnissen und finanziellen Mitteln aus, um den Geist der Steuergesetzgebung durchzusetzen. Wichti-

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ger noch: Er nahm sich Zeit, um den Menschen zu erklären, warum Steuern wichtig waren. Er appellierte an die Moral und zeigte Steuerhinterziehern die kalte Schulter: „Richter Holmes3 hat gesagt: ‚Steuern sind das, was wir für eine zivilisierte Gesellschaft bezahlen‘ [jene Worte, die über dem Ein- gang zum Hauptsitz des Internal Revenue Service in Washington, DC, pran- gen]. Zu viele aber möchten die Zivilisation zum Sonderpreis haben.“ So for- mulierte es Roosevelt in seiner Rede vor dem Kongress am 1. Juni 1937: Von der Eindämmung der Steuerhinterziehung hing die Zivilisation ab. Und bis in die 1970er Jahre hinein begrenzten soziale Normen wie diese tatsächlich die Nachfrage unter den Steuerzahlern nach zweifelhaften Tricks und Knif- fen. Gesetze und Regulierungen, die diese Normen explizit machten, hielten die meisten US-Bürger davon ab, Schlupflöcher im Bundessteuergesetz aus- zunutzen.

Das Steuersystem des New Deal war nicht perfekt. Die wichtigste Schwä- che bestand darin, dass Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften von den 1930er Jahren bis zum Jahr 1986 geringer besteuert wurden als andere Einkommensarten. Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften liegen immer dann vor, wenn ein Vermögenswert – wie zum Beispiel Unterneh- mensanteile – teurer verkauft wird, als er erworben wurde. Der resultierende Profit wird in den USA zwar dem zu versteuernden Einkommen zugerechnet, aber steuerlich begünstigt. Als der Spitzensatz bei der Einkommensteuer die 90-Prozent-Marke überschritt, wurden Gewinne aus privaten Veräuße- rungsgeschäften mit nur 25 Prozent besteuert.4 Man kann über die Vor- und Nachteile ermäßigter Steuersätze auf diese Profite streiten. Ein offensicht- licher Mangel einer solchen Politik besteht aber darin, dass sie die Wohlha- benden dazu animiert, ihr Einkommen in Form von Gewinnen aus privaten Veräußerungsgeschäften statt als Dividenden oder Arbeitseinkommen zu erzielen. Sie eröffnet Möglichkeiten zur Steuervermeidung.

Angesichts der hohen Spitzensteuersätze in den Nachkriegsjahrzehnten liegt natürlich die Vermutung nahe, dass die Steuerumgehung außer Kont- rolle geriet. Die Reichen werden der Verlockung ja sicher nicht widerstanden haben, aus steuerlichen Gründen ihre hoch besteuerten Arbeitseinkommen und Dividenden in weniger besteuerte Gewinne aus privaten Veräußerungs- geschäften zu transformieren.

Doch schauen wir uns die Daten an: Seit 1986 machen Gewinne aus pri- vaten Veräußerungsgeschäften jährlich 4,1 Prozent des durchschnittlichen Nationaleinkommens aus. Von 1930 bis 1985, als die Spitzensteuersätze für diese Profite deutlich niedriger waren als die für reguläres Einkommen – und daher auch die Anreize zur Umdeklarierung regulärer Einkommen in Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften viel größer waren –, lag der entsprechende Wert bei 2,2 Prozent. Trotz massiver steuerlicher Begüns-

3 Gemeint ist Oliver Wendell Holmes Jr., von 1902 bis 1932 Richter am Obersten Gerichtshof der Ver- einigten Staaten; Anm. d. Übers.

4 Seit 1922, als die ermäßigten Steuersätze auf Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften ein- geführt wurden, lag der höchste Steuersatz für die langfristigen dieser Profite immer unter 40 Pro- zent. Der Höchstsatz belief sich von 1942 bis 1964, der Ära der quasikonfiskatorischen Spitzensätze bei der Einkommensteuer, auf 25 Prozent.

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tigung waren die Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften in den Jahrzehnten nach dem Krieg also gering. Einige wohlhabende Steuerzah- ler werden ihr reguläres Einkommen damals sicher in Gewinne aus priva- ten Veräußerungsgeschäften umgegliedert haben, doch im großen Maßstab geschah dies nicht.

Warum nicht? Weil es die Regierungen nicht erlaubten. Es gibt nicht unend- lich viele Möglichkeiten, reguläre Einkommen wie Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften aussehen zu lassen. Die wichtigste Strategie waren Aktienrückkäufe. Wenn Unternehmen Anteile an sich zurückkaufen, hat dies, ebenso wie die Ausschüttung von Dividenden, den Effekt, dass Barmit- tel aus den Firmen in die Taschen der Anteilseigner fließen. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Arten von Auszahlungen sind ihre steuer- lichen Folgen: Aktienrückkäufe generieren Gewinne aus privaten Veräuße- rungsgeschäften für die Anteilseigner, die den Unternehmen ihre Anteile verkaufen. Vor 1982 waren Aktienrückkäufe illegal. Die gesellschaftliche Norm, so wie sie in Gesetzen Gestalt angenommen hatte, lautete, dass Firmen Gewinne in Form von Dividenden an ihre Eigentümer auszahlen sollten. Und Dividenden unterlagen der progressiven Einkommensbesteuerung.5

Die Strategie der Steuervermeidung

Eine weitere Möglichkeit, wie Wohlhabende Steuern vermeiden konnten, bestand darin, von ihren Arbeitgebern Einkommen in Form steuerfreier Sachzuwendungen zu beziehen: Firmenjets, luxuriös ausgestattete Büros, opulente Essen, Firmen-„Seminare“ auf Cape Cod oder in Aspen und so wei- ter. Diese Dinge sind schwerer zu beziffern als Gewinne aus privaten Veräu- ßerungsgeschäften. In den zeitgenössischen Berichten über den Lebensstil von Führungskräften in den 1940er, 1950er und 1960er Jahren finden sich jedoch keine Belege dafür, dass solche Sachleistungen besonders häufig oder umfangreich gewesen wären. Der Ökonom Challis Hall untersuchte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Entlohnung von Führungskräften. Er kam zu dem Schluss, dass „Ausgaben, welche die Kosten für die leitenden Ange- stellten tatsächlich verringern und ein zusätzliches Einkommen darstellen, von großen Firmen nur in einem vernachlässigbaren Umfang übernommen werden“.6 Nun, heute dinieren CEOs nicht unbedingt sparsam. Auch bei der Nutzung firmeneigener Jets sind sie nicht gerade zurückhaltend. Aber bis zu den 1980er Jahren war ein verschwenderischer Umgang mit Firmengeldern für Manager einfach keine gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweise.

Tricks und Kniffe zur Steuervermeidung kamen zwar regelmäßig auf, wur- den aber rasch untersagt. 1935 wurde der Spitzensteuersatz bei der Einkom- mensteuer durch den Revenue Act auf 79 Prozent angehoben, den bislang

5 Die Ökonomen, blind für diese gesellschaftliche Norm, konnten nicht begreifen, warum Firmen Dividenden zahlten, und nannten dies das „Dividendenrätsel“.

6 Vgl. Challis A. Hall, Effects of Taxation on Executive Compensation and Retirement Plans, Bd. 3, Boston 1951, S. 54.

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höchsten Satz. Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes suchten die Rei- chen nach Möglichkeiten, sich vor ihren neuen Abgaben zu drücken. Nach seiner Rede an den Kongress im Jahr 1937 ließ Roosevelt dem Parlament einen Brief des damaligen Finanzministers Henry Morgenthau Jr. zukom- men, der acht Instrumente zur Steuervermeidung auflistete, die sich ver- breitet hatten und sofort verboten werden sollten. Das erste davon war „die Methode, Steuern zu umgehen, indem ausländische persönliche Holding- gesellschaften auf den Bahamas, in Panama, Neufundland und an anderen Orten gegründet werden, wo die Steuern niedrig und das Gesellschaftsrecht lasch ist“.7 1936 hatten reiche US-Amerikaner Dutzende Offshore-Briefkas- tenfirmen gegründet, denen sie das Eigentum an ihrem Aktienbestand und ihren Anleiheportfolios übertrugen. Diese Briefkastenfirmen strichen dann anstelle ihrer leibhaftigen Eigentümer Dividenden und Zinsen ein und ent- zogen sich damit der Besteuerung in den Vereinigten Staaten. Die Regierung reagierte darauf schnell mit einer Gesetzesänderung, mit der dieses Vor- gehen ausdrücklich untersagt wurde. Von 1937 an wurde sämtliches Ein- kommen, das von ausländischen Holdings unter der Kontrolle von US-Ame- rikanern erwirtschaftet wurde, unmittelbar in den USA steuerpflichtig. Der Besitz ausländischer Holdinggesellschaften aus Gründen der Steuervermei- dung wurde damit auf einen Schlag sinnlos.

Auf ähnliche Weise hatte in den 1960er Jahren eine wachsende Zahl rei- cher US-Bürger das Recht zum eigenen Vorteil genutzt, indem sie steuerlich absetzbare wohltätige Spenden an private Stiftungen zahlten, die sie selbst kontrollierten. „Wohltätig“ waren diese Spenden indes nicht: Die Stiftungen ließen ihre finanziellen Zuwendungen ihren Gründern, deren Familien oder Freunden zukommen oder machten politisch motivierte Geschenke. Der Tax Reform Act von 1969 griff hart gegen solche missbräuchlichen Prakti- ken durch und erzielte unmittelbar Ergebnisse: Innerhalb von nur wenigen Jahren, nämlich von 1968 bis 1970, brach die Zahl neu gegründeter privater Stiftungen um 80 Prozent ein. In der Folge dieser Reform gingen die „wohl- tätigen“ Spenden der Reichen dauerhaft um 30 Prozent zurück.8

Roosevelts Strategie funktionierte so lange, wie die nachfolgenden Regie- rungen das Glaubenssystem aus der Ära des New Deal aufrechterhielten.

Das änderte sich in den frühen 1980er Jahren. „Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems, die Regierung ist das Problem“, so der berühmte Ausspruch Reagans in seiner Antrittsrede im Januar 1981.9 Sollte so man- cher dazu verlockt sein, die Steuer zu umgehen, könne ihm kein Vorwurf gemacht werden, denn die Steuersätze waren hoch und damit „unamerika- nisch“. In der neuen Ideologie, die in den frühen 1980er Jahren die USA im Sturm eroberte, wurde die Steuerumgehung zu einer patriotischen und – da dem wiederbelebten libertären Credo zufolge galt, dass „Besteuerung Raub

7 Joint Committee on Tax Evasion and Avoidance, Report of the Joint Committee on Tax Evasion and Avoidance, S. 1.

8 Vgl. Gabrielle Fack und Camille Landais (Hg.), Charitable Giving and Tax Policy. A Historical and Comparative Perspective, Oxford 2016, Abb. 4.5 und 4.7.

9 Ronald Reagan, Amtsantrittsrede vom 20. Januar 1981, www.reaganfoundation.org/media/r28614/

inaguration.pdf.

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ist“ – auch zu einer moralischen Pflicht. Bis in die 1970er Jahre hatten die Regierungen die Steuervermeidungsindustrie bekämpft. Nach dem Einzug Reagans ins Weiße Haus 1981 konnte sie mit staatlichem Segen agieren. Der Irrsinn mit den Steuersparmodellen konnte beginnen.

Wobei „Irrsinn“ das Ausmaß dessen, was sich abspielte, nicht einmal ansatzweise einfängt. Die Industrie verzeichnete ein explosionsartiges Wachstum. Ein ganzes Netzwerk aus Finanzunternehmern, Promotern und Beratern stürmte auf den Markt. Einige Anbieter verlangten von ihren Mit- arbeitern eine neue Idee pro Woche.10 Sie sprudelten über vor Kreativität und brachten bahnbrechende Verfahren zur Steuerumgehung hervor. Für jedes besonders unverfrorene Verfahren, das vom IRS untersagt wurde, entstan- den gleich mehrere neue, die im „Wall Street Journal“ und in den Finanztei- len führender Zeitungen beworben wurden wie Zahnpasta. Die Magie der Marktwirtschaft war vollkommen entfesselt; der Wettbewerb ließ die Preise für solche Steuersparpläne purzeln. Und wie bei jedem anderen Produkt in einer Marktwirtschaft bereicherte auch deren Erfindung sowohl ihre Her- steller als auch die Konsumenten: Finanziers, Promoter und Berater strichen Provisionen ein, und die Steuervermeider erhöhten ihre Nettoprofite. Auf diese Weise entstanden große Mengen von Mehrerträgen, wie die Ökono- men diese Gewinne nennen. Allerdings mit einem kleinen Haken, denn diese Mehrerträge wurden Dollar für Dollar auf Kosten der übrigen Gesellschaft erzielt.

Der Urknall der Steuerumgehung

Das ikonische Produkt der Reagan-Ära – der iPod der Steuerumgehung, wenn man so will – wurde als Steuersparmodell (tax shelter) bekannt. Es funktionierte wie folgt: Die Einkommensteuer erlaubt es den Steuerpflich- tigen, Unternehmensverluste mit jeder Art von Einkommen zu verrechnen.

Die Steuervermeidungsindustrie begann daher, Investitionen in Unterneh- men zu verkaufen, deren einziger Vorzug darin bestand, dass sie Verluste machten. Diese Unternehmen waren keine regulären Gesellschaften, son- dern Partnerschaften und unterlagen als solche nicht der Körperschaftsteuer.

In einer Partnerschaft wird der Gewinn jedes Jahr auf die Investoren (die Partner) aufgeteilt und deren eigenem Einkommen hinzugerechnet (oder, im Falle eines Verlusts, davon abgezogen) und unterliegt der persönlichen Einkommensteuer. Wer immer in diese verlustbringenden Partnerschaften investierte, konnte einen Anteil am Verlust für sich beanspruchen. Ein sehr gut verdienender Angestellter konnte zum Beispiel mit einem zehnprozenti- gen Anteil an einer Partnerschaft, die einen Verlust von einer Million Dollar machte, 100 000 Dollar von seinen Einkünften abziehen und seine Einkom- mensteuer entsprechend reduzieren. Gleiches galt für eine wohlhabende Einzelperson, die ihr Einkommen aus Zinsen oder Dividenden bezog.

10 Ben Wang, Supplying the Tax Shelter Industry. Contingent Fee Compensation for Accountants Spurs Production, in: „Southern California Law Review“, 76 /2002, S. 1237-1273, hier: S. 1252.

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Einige dieser Partnerschaften waren Scheinfirmen ohne jede wirtschaftli- che Betätigung. Ihr Daseinsgrund bestand allein darin, fiktive Buchverluste zu verzeichnen, die in die Steuererklärungen ihrer Eigentümer übertragen werden konnten. Andere waren echte Geschäftsbetriebe, die tatsächlich profitabel waren, aber aufgrund bestimmter Klauseln im Steuerrecht, wie zum Beispiel großzügigen Abschreibungsregelungen für die Öl-, Gas- und Immobiliensektoren, steuerliche Verluste erzeugten. Das erste Steuergesetz der Reagan-Ära, der Economic Recovery Tax Act von 1981, erlaubte es Unter- nehmen, ihre Vermögenswerte schneller abzuschreiben, was die Effektivität dieser Art von Steuersparmodell erheblich steigerte.

Die Steuersparindustrie entstand zwar schon ein paar Jahre vor Reagans Amtsantritt, erlebte ihren wahren Boom aber erst in den frühen 1980er Jahren. Werfen wir einen Blick auf die Zahlen: Im Jahr 1978 entsprach die Summe von Verlusten aus Partnerschaften, die in persönlichen Einkommen- steuererklärungen angegeben wurden, vier Prozent des Gesamteinkom- mens vor Steuern des obersten einen Prozents. Zunächst stieg sie nur lang- sam an, dann aber exponentiell und entsprach im Jahr 1986 dem Gegenwert von zwölf Prozent des Einkommens des obersten einen Prozents – der höchste Stand, der jemals in der Geschichte der Einkommensteuer in den USA zu ver- zeichnen war. Von 1982 bis 1986 überstiegen die von den Investoren in Steu- ersparmodellen gemeldeten fiktiven Verluste die Gesamtprofite, die durch echte Partnerschaften im ganzen Land erwirtschaftet wurden.11 Jawohl, so ist es: Die Gesamtsumme des in den Steuererklärungen angegebenen Netto- einkommens aus Partnerschaften – Profite minus Verluste – war negativ, ein wahrlich einzigartiges Phänomen. Sogar während der Großen Depression war das nicht so. 1982 war ein Rezessionsjahr, doch von 1983 bis 1986 erholte sich die Wirtschaft und wuchs schnell. Das Steuersparen hatte hingegen ein so enormes Ausmaß erreicht, dass ganze Industrien, vom Immobilien- bis zum Ölsektor, dem Anschein nach Verluste machten – Buchverluste, die vom persönlichen Einkommen ihrer Eigentümer steuerlich absetzbar waren.

Die Konsequenz: Die Einnahmen aus der Einkommensteuer brachen ein.

Bis Mitte der 1980er Jahre hatten die Einnahmen aus den Einkommensteu- ern auf Bundesebene – der persönlichen und der körperschaftlichen – antei- lig zum Nationaleinkommen ihren niedrigsten Stand seit der Rezession von 1949 erreicht, einem der stärksten Abschwünge in der modernen US-ameri- kanischen Geschichte. Das Haushaltsdefizit der USA stieg derweil zwischen 1982 und 1986 auf über fünf Prozent des Nationaleinkommens an, den höchs- ten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg.

Diese explosionsartige Zunahme der Steuerumgehung stärkte letztlich Reagans Position in den Verhandlungen über den Tax Reform Act von 1986. Zu jenem Zeitpunkt war das Defizit so hoch, dass die Demokraten darauf bestan- den, Veränderungen an dem Gesetzentwurf dürften den Haushalt nicht noch mehr belasten. Reagan kam der Forderung nach: Die Steuersätze wurden

11 Diese Berechnungen wurden von den Verfassern anhand öffentlich zugänglicher Steuerdaten angestellt, die von der Abteilung für Einkommensstatistik des Internal Revenue Service (IRS) ver- öffentlicht wurden.

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zwar gesenkt, doch weil gleichzeitig Steuersparmodelle verboten wurden, sollten keine weiteren Verluste entstehen. Vorbei waren die Zeiten, in denen ein fiktiver Buchverlust von 100 000 Dollar ein reales Einkommen von 100 000 Dollar verschwinden lassen konnte. Unternehmensverluste konnten von die- sem Zeitpunkt an nur noch mit Unternehmensgewinnen verrechnet werden.

Angesichts des Ausmaßes, das das Steuersparen Mitte der 1980er Jahre erreicht hatte, versprach das Stopfen dieses Schlupflochs Milliardeneinnah- men. Und tatsächlich funktionierte es. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes machten die Partnerschaften wie von Zauberhand keine Verluste mehr. Die Gesamtsumme der Verluste aus Partnerschaften, die das oberste eine Pro- zent zu verzeichnen hatte, sank von zwölf Prozent ihres Einkommens vor Steuern auf fünf Prozent im Jahr 1989 und auf drei Prozent im Jahr 1992. In den frühen 1990er Jahren waren die Steuersparmodelle verschwunden.

Steuervermeidung versus Steuerhinterziehung – eine verfehlte Diskussion Märkte sind die mächtigste bisher erfundene Institution zur Befriedigung der unzähligen menschlichen Wünsche und die effizienteste Methode, um unterschiedliche Produkte bereitzustellen, die auf die sich wandelnden Bedürfnisse von Milliarden von Individuen reagieren. Aber sie sind intrin- sisch völlig frei von jeder Sorge um das Allgemeinwohl. Dieselben Märkte, die uns immer schnellere Mobiltelefone und immer besser schmeckende Frühstücksflocken liefern, können, ohne mit der Wimper zu zucken, auch Dienstleistungen ohne oder mit negativem gesellschaftlichen Wert liefern – Dienstleistungen, die einen Teil der Gesellschaft bereichern und einen anderen oder sogar uns alle kollektiv ärmer werden lassen. Der Steuerver- meidungsmarkt ist ein Beispiel dafür. Er erwirtschaftet nicht einen einzigen Dollar an Wert. Er macht die Reichen auf Kosten des Staates reicher – und das heißt auf unser aller Kosten. Hinter jeder Steuerumgehungsepidemie steht nicht eine plötzliche Abneigung gegen das Besteuertwerden in der Bevölke- rung, sondern ein Kreativschub auf dem Markt für Steuertricks.

Natürlich sind nicht alle Dienstleistungen, die Steueranwälte und Steuer- beratungsfirmen anbieten, von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus betrachtet wertlos. Manche helfen Einzelpersonen und Unternehmen, das Steuerrecht zu verstehen, Unklarheiten aufzuklären oder, noch einfacher, Steuerformulare in ihrem Namen auszufüllen. Diese Angebote sind alle legi- tim. Doch Produkte hervorzubringen, die keinen anderen Zweck erfüllen, als geschuldete Steuern zu kürzen, unterscheidet sich nicht sehr davon, Werk- zeuge für einen Einbruch zu verkaufen. Jedenfalls wurden solche Aktivitä- ten vor 1980 noch so behandelt: Der Markt für Steuertricks galt als absto- ßend; man ließ nicht zu, dass er wuchs und gedieh. Kein Markt existiert in einem luftleeren Raum – Regierungen entscheiden, welche es geben darf und welche nicht, oder zumindest, welche von ihnen streng reguliert werden.

Steuervermeidung zu tolerieren, ist eine Entscheidung, die Regierungen treffen. Was uns zu einer Reihe interessanter Fragen führt. Die erste Frage

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lautet: Wenn das Umgehen von Steuern schlicht Diebstahl ist, wie verleiht sich die Steuerumgehungsindustrie dann Legitimität?

Schuld soll nur der Staat sein, der Steuerschlupflöcher lässt

Die Rhetorik, die Tricksereien bei den Steuern billigt, reicht in den USA bis zu den Anfängen der progressiven Besteuerung zurück. 1933 machte die „New York Times“ öffentlich, dass J. P. Morgan – einer der Titanen des Reichtums in Amerika – keine Einkommensteuer für die Jahre 1931 und 1932 gezahlt hatte.

Der Senatsausschuss für das Bankenwesen nahm ihn ins Visier, woraufhin der Finanzier ob der Beschämung von Steuertricksern durch die Demokraten und Roosevelt zusehends ungehaltener wurde.12 Deren Vergehen in seinen Augen? Steuerhinterziehung und Steuervermeidung in einen Topf zu werfen.

Steuerhinterziehung verstieß gegen das Gesetz; alle waren sich einig, dass sie schlecht war. Aber Steuervermeidung brach kein Gesetz. Sie bestand einfach nur darin, Schlupflöcher zu nutzen, um mehr vom eigenen Einkommen zu behalten. Es gab, wie er betonte, keine moralische Verpflichtung dazu, Steuer- schlupflöcher zu meiden. Die Verantwortung lag bei der Regierung: Wenn Schlupflöcher existierten, dann hatten die Politiker sie zu stopfen. Bis dahin war denjenigen, die schlau genug waren, sie sich zunutze zu machen, nichts vorzuwerfen. Es ist also keine Überraschung, dass Morgan stets insistierte, er selbst vermeide lediglich Steuern, habe aber nie welche hinterzogen.

Diese Rechtfertigung liegt auch heute noch den Verteidigungsstrategien der Steuerumgehungsindustrie zugrunde. Doch sie war schon falsch, als J. P.

Morgan sich ihrer bediente, und sie ist es immer noch. Warum?

Weil das US-amerikanische Recht – wie das der meisten anderen Länder auch – eine Reihe von Vorschriften enthält, die unter der Bezeichnung „Eco- nomic Substance Doctrine“ (zu Deutsch etwa: Grundsatz der wirtschaftli- chen Substanz; Anm. d. Übers.) bekannt sind und jede Transaktion für ille- gal erklären, die keinen anderen Zweck verfolgen als den, die Steuerschuld zu verringern. Jeder weiß, dass der Markt für Steuertricks den Regierungen immer einen Schritt voraus sein wird, denn es ist unmöglich, die unzähligen Arten und Weisen vorauszuahnen, auf die hoch bezahlte und hoch motivierte Steuerberater versuchen werden, das Gesetz zu umgehen. Deshalb erklärt die Economic Substance Doctrine bereits vorbeugend solche Transaktionen für ungültig, die keinem anderen Zweck als der Steuervermeidung dienen. In Scheinpartnerschaften investieren, um steuerlich absetzbare Buchverluste zu generieren? Briefkastenfirmen auf den Bermudas gründen, mit dem ein- zigen Ziel, der Steuer zu entgehen? Selbst wenn solche Transaktionen nicht ausdrücklich gesetzlich untersagt sind, so verletzen sie doch den erwähnten Grundsatz und sind als solche illegal.

Natürlich kann es schwer zu ermitteln sein, warum einzelne Steuerpflich- tige bestimmte Transaktionen vornehmen. Manchmal dienen Maßnahmen,

12 Vgl. Joseph J. Thorndike, Historical Perspective. Pecora Hearings Spark Tax Morality, Tax Reform Debate, in: „Tax Notes 101” (10. November 2003).

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die eindeutig wie Steuertricks aussehen, auch einem legitimen wirtschaftli- chen Ziel. Regierungen nutzen zudem das Steuersystem, um bestimmte Akti- vitäten zu fördern, zum Beispiel Investitionen in kommunale Anleihen (deren Zinszahlungen in den Vereinigten Staaten steuerfrei sind). Solche Anreize zu schaffen, ist oft schlechte Politik – weil dies das Steueraufkommen aus zwei- felhaften Gründen verringert, häufig unter dem Druck von Interessengrup- pen –, aber sie für sich auszunutzen, ist nicht verwerflich. Insofern hatte J. P.

Morgan recht. Das Problem ist nur, dass ein großer Teil der angeblich „voll- kommen legalen“ Steuertricksereien, wie die Gründung von Briefkasten- firmen auf kleinen tropischen Inseln, offenkundig die Economic Substance Doctrine verletzt und daher gegen geltendes Recht verstößt.13

Die Politik und die Grenzen des Steuervollzugs

Was uns zur zweiten grundlegenden Frage bringt: Wenn viele Transaktionen, die die Steuereinnahmen um Milliarden reduzieren, in Wirklichkeit illegal sind, warum werden sie dann nicht vor Gericht problematisiert? Was hält den Staat davon ab, den Grundsatz der wirtschaftlichen Substanz durchzusetzen?

Um dieses Rätsel zu verstehen, müssen wir mit der Tatsache beginnen, dass die Steuerbehörden unmöglich alle verdächtigen Transaktionen überprüfen können. Hier besteht also zunächst einmal ein grundlegendes Informations- problem: Es braucht Zeit, sich mit dem Universum von Tricks und Kniffen bekannt zu machen, die überall auftauchen, und die Steuervermeidungsin- dustrie kann die Prüfungskapazitäten des IRS mit Leichtigkeit überfordern.

1980 waren beim Bundessteuergericht der USA 5000 Fälle im Zusammen- hang mit Steuersparmodellen anhängig; 1982, als der Steuerumgehungs- wahn an Fahrt aufnahm, hatte sich diese Zahl auf 15 000 Fälle verdreifacht.14 Innerhalb weniger Monate musste das Gericht sich mit Tausenden unter- schiedlicher Steuerspartricks vertraut machen, die entstanden waren, und über sie urteilen – eine unmögliche Aufgabe.

Außerdem gibt es ein Ressourcenproblem. Die am meisten steueraversen US-Bürger geben insgesamt Milliarden von Dollar jährlich für die Ausarbei- tung ihrer Steueroptimierungsstrategien aus, und diese Summe wird immer größer. Die personellen und monetären Ressourcen des IRS sind geringer und schrumpfen sogar noch. Das macht es nicht nur schwieriger, Trick- sereien aufzudecken, sondern auch, illegale Transaktionen zu untersuchen, zu verfolgen und letztlich für nichtig zu erklären. Selbst wenn ein zweifel- hafter Trick identifiziert wird, können gutbetuchte Steuerpflichtige die bes- ten Anwälte (darunter auch ehemalige Politiker) engagieren, um sich vertei- digen zu lassen. Sie können den Rechtsstreit auf Jahre ausdehnen und ihre Chancen auf einen Sieg vor Gericht massiv erhöhen.

13 David Cay Johnstons Buch Perfectly Legal. The Covert Campaign to Rig Our Tax System to Benefit the Super Rich – and Cheat Everybody Else (New York 2003), stellt die Zunahme der Steuervermei- dung der Reichen seit Mitte der 1970er Jahre dar.

14 Vgl. Dennis J. Ventry, Tax Shelter Opinions Threatened the Tax System in the 1970s, in: „Tax Notes“

111 (22. Mai 2006), S. 947.

(12)

In einer idealen Welt würde der IRS auf die Kräfte der Selbstregulierung innerhalb der Steuerplanungsindustrie setzen. Steueranwälte und Steuerbe- rater würden hohen ethischen Standards folgen und es als Teil ihrer beruf- lichen Pflichten betrachten, dem Geist des Gesetzes zur Durchsetzung zu verhelfen; sie würden keine Steuertricks vermarkten, die dem Grundsatz der wirtschaftlichen Substanz zuwiderlaufen. Das Problem ist aber, dass diese Anwälte und Berater eben gerade von den Förderern und Anwendern von Steuertricks bezahlt werden und somit vor einem ernsthaften Interessenkon- flikt stehen.

Entscheidend ist der politische Wille

Dieses Problems lässt sich gut mit einem Handel veranschaulichen, der sich seit den 1980er Jahren entwickelt hat. Dabei werden aggressive Steuertricks zusammen mit schriftlichen juristischen Stellungnahmen verkauft, die ihre voraussichtliche Legalität feststellen. Diese Stellungnahmen dienen faktisch als eine Betrugsversicherung, mit der sich Steuervermeider vor einer mög- lichen Strafe schützen für den Fall, dass die von ihnen angewendeten Metho- den vom IRS als gesetzeswidrig beurteilt werden. Steueranwälte sind durch Ethikrichtlinien (und ihr Gewissen) verpflichtet, eine faire rechtliche Ein- schätzung abzugeben. Doch in die Beurteilung, ob ein Steuertrick in einem Graubereich eher am schwarzen oder am weißen Rand anzusiedeln ist, geht ein Gutteil an subjektiver Meinung ein, und wenn die monetäre Belohnung groß genug ist, dann kann die Versuchung, die „richtige“ Einschätzung abzugeben – also diejenige, die noch den schmutzigsten Plan reinwäscht –, überwältigend sein.

Schließlich kann es, was vielleicht am wichtigsten ist, auch am politischen Willen zum Steuervollzug mangeln. Der eindeutigste Fall in diesem Zusam- menhang ist der langsame Tod der Nachlasssteuer. Während die Einnahmen aus der Nachlass- und Schenkungssteuer sich in den frühen 1970er Jahren noch auf 0,2 Prozent des Nettovermögens der privaten Haushalte beliefen, haben sie seit 2010 gerade einmal 0,03 bis 0,04 Prozent pro Jahr erreicht – ein Rückgang um mehr als den Faktor fünf. Ein Teil dieser Reduktion ist der Anhebung von Freibeträgen und der Absenkung des Spitzensteuersatzes (von 77 Prozent im Jahr 1976 auf 40 Prozent heute) geschuldet, doch der aller- größte Teil ist auf einen Zusammenbruch des Steuervollzugs zurückzufüh- ren. 1975 nahm der IRS bei 65 Prozent der 29 000 größten im Vorjahr einge- reichten Nachlasssteuererklärungen Prüfungen vor. 2018 wurden nur noch 8,6 Prozent der 34 000 im Jahr 2017 eingereichten Nachlasssteuererklärun- gen geprüft.15

Verließen wir uns auf die Vermögensangaben in den Erklärungen der letzten Jahre, müssten wir den Eindruck gewinnen, dass es entweder quasi gar keine reichen Menschen in den USA gibt oder dass sie niemals sterben,

15 Diese Statistiken zur Steuerprüfung werden jährlich vom IRS veröffentlicht und sind online verfüg- bar unter: www.irs.gov/pub/irs-soi/r8databk.pdf.

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so umfassend war die Kapitulation des Steuervollzugs. Wenn wir diesen Angaben glauben, dann ist der Wohlstand in den Vereinigten Staaten heute gleichmäßiger verteilt als in Frankreich, Dänemark und Schweden.16 Stirbt eine Person auf der „Forbes“-Liste der 400 reichsten US-Amerikaner, beläuft sich das als ihr Nachlass angegebene Vermögen im Durchschnitt nur auf die Hälfte des von „Forbes“ geschätzten tatsächlichen Vermögens.17

Damit endlich wieder die Gesellschaft von Steuern profitiert

Was ist hier passiert? Nachlasssteuervermeidung gab es schon immer. Doch die Regierungen sind das Problem mit wechselndem Enthusiasmus ange- gangen, und seit den 1980er Jahren waren die diesbezüglichen Bemühun- gen, vorsichtig ausgedrückt, minimal. Von ihren Gegnern als „Todessteuer“

geschmäht, ist die Nachlasssteuer die einzige Bundessteuer, die auf Vermö- gen erhoben wird. Sie ist außerdem von allen Abgaben auf Bundesebene die progressivste; seit ihrer Einführung waren über 90 Prozent der Bevölkerung von ihr befreit.18 Als solche war sie eines der Hauptangriffsziele jener anti- egalitären Ideologie, die das Eigentum sakralisiert und die die amerikani- sche Politik seit den 1980er Jahren geprägt hat. Es ist unmöglich, den Erfolg der heutigen Nachlasssteuerplanungsindustrie – die Ausbreitung „wohltäti- ger“ Treuhandgesellschaften, den Missbrauch von Wertabschlägen, ganz zu schweigen von den gut dokumentierten Beispielen für unverhohlenen (und strafrechtlich nicht verfolgten) Betrug19 – unabhängig von diesem politi- schen Kontext zu verstehen.

Was folgt aus alledem? Die Politik bestimmt die Prioritäten des Steuer- vollzugs. Und die wichtigste dieser Entscheidungen ist die, ob man weiter- hin Transaktionen tolerieren will, die ausschließlich dem Zweck dienen, die eigene Steuerschuld zu schmälern – oder ob man wieder der Economic Sub- stance Doctrine zur Geltung verhilft, damit endlich auch wieder die Gesell- schaft von wirtschaftlichen Vermögenstransaktionen im Milliarden- oder Millionenbereich profitiert.

16 Es ist möglich, auf die Vermögensverteilung unter der Gesamtbevölkerung aus Erbschaftsteuer- statistiken mittels der Estate Multiplier Method zu schließen, bei der das Vermögen zum Zeitpunkt des Todes reziprok mit der Sterblichkeitsrate je nach Alter, Geschlecht und Vermögen multipliziert wird. Vgl. zu einer detaillierten Diskussion und Bewertung dieses Verfahrens Emmanuel Saez und Gabriel Zucman, Wealth Inequality in the United States Since 1913. Evidence from Capitalized Income Tax Data, in: „Quarterly Journal of Economics”, 131/2 (2016), S. 519-578.

17 Vgl. Brian Raub u.a., A Comparison of Wealth Estimates for America’s Wealthiest Decedents Using Tax Data and Data from the Forbes 400, in: „Proceedings. Annual Conference on Taxation and Minu- tes of the Annual Meeting of the National Tax Association”, 103rd Annual Conference on Taxation (2010), S. 128-135.

18 Vgl. Wojciech Kopczuk und Emmanuel Saez, Top Wealth Shares in the Unit ed Stares, 1916-2000.

Evidence from Estate Tax Returns, in: „National Tax Journal“, Teil 2 (2004), S. 445-487, Tabelle 1, Spalte 2.

19 Donald Trump ist ein anschauliches Beispiel für einen Fall von Nachlasssteuerumgehung, wie es die „New York Times“ dokumentiert hat (vgl. David Barstow u.a., Trump Engaged in Suspect Tax Schemes as He Reaped Riches From His Father, in: „The New York Times“, 2.10.2018.).

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